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Gemeinsam lernen aus Kinderschutzverläufen 9

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BERICHT

Gemeinsam lernen aus Kinderschutzverläufen

Eine systemorientierte Methode

zur Analyse von Kinderschutzfällen und

Ergebnisse aus fünf Fallanalysen

BEITRÄGE ZUR QUALITÄTSENTWICKLUNG IM KINDERSCHUTZ

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BEITRÄGE ZUR QUALITÄTSENTWICKLUNG IM KINDERSCHUTZ

BERICHT

Autorinnen:

Christine Gerber & Susanna Lillig

Gemeinsam lernen aus Kinderschutzverläufen

Eine systemorientierte Methode

zur Analyse von Kinderschutzfällen und

Ergebnisse aus fünf Fallanalysen

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Das Vorhaben, eine Methode zur Analyse proble- matischer Fallverläufe zu entwickeln, wäre ohne die Unterstützung von Familien, Institutionen und Fach- kräften nicht möglich gewesen. Wir möchten daher die Gelegenheit nutzen und uns auf diesem Wege nochmals ganz herzlich bei all diesen Personen be- danken!

Unser Dank gilt zunächst all den Eltern, die ihre Einwilligung gegeben haben, dass wir »ihren Fall«

nutzen durften. Auch wissen wir sehr zu schätzen, dass sie und andere Familienangehörige uns im Rah- men von Interviews ihre Sicht auf die Arbeit der Fach- kräfte zur Verfügung gestellt haben. Das hat nicht nur Zeit gekostet, sondern möglicherweise auch schwere und schmerzliche Zeiten in Erinnerung gerufen. Da- für unseren aufrichtigen Dank.

Wir möchten uns auch bei den Jugendämtern be- danken, die Interesse an dem Vorhaben hatten und die Initiative ergriffen haben, mit uns in Kontakt zu treten. Sowohl die Jugendämter als auch die koope- rierenden Einrichtungen haben sich bereit erklärt, die eigene Arbeit einer kritischen Reflexion zu unterzie- hen. Dafür danken wir ihnen sehr. Ganz besonders wissen wir die Offenheit und die Bereitschaft der Fachkräfte zu schätzen, die wir in den Analyseprozes- sen erleben durften. Sie haben sich nicht nur betei- ligt, sondern auch ihr eigenes Denken und Handeln zur Diskussion gestellt. In einem Arbeitsfeld, in dem die Auseinandersetzung mit Fehlern nach wie vor mit vielen Vorbehalten und Ängsten besetzt ist, ist dies keine Selbstverständlichkeit. Besonders hervorheben möchten wir die Kolleginnen und Kollegen vom All- gemeinen Sozialen Dienst (ASD). Als federführende Fachkräfte in den Fällen hatten sie sicherlich den schwereren Part in den Analysen. Umso mehr möch- ten wir an dieser Stelle unseren Respekt und unsere Anerkennung dafür zum Ausdruck bringen.

Zudem möchten wir uns für die Unterstützung von Dr. Sheila Fish vom Social Care Institute for Excel- lence (SCIE), Dr. Heinz Kindler und Dr. Liane Pluto vom Deutschen Jugendinstitut e. V. (DJI) herzlich be- danken. Sheila Fish war uns eine große Hilfe bei der Entwicklung des methodischen Vorgehens. Sie hat uns nicht nur das Vorgehen von SCIE zur Verfügung gestellt, sondern war immer gerne und leidenschaft- lich dazu bereit, mit uns auftretende Herausforde- rungen oder Schwierigkeiten zu diskutieren. Heinz Kindler, der im Auftrag des DJI das Gutachten im Fall Alessio erstellen sollte, hat uns die Gelegenheit gegeben, den Ansatz in einem »öffentlichen Fall« zu erproben. Liane Pluto, unsere Testleserin, hat einige Stunden mit dem Bericht verbracht und mit uns den Bericht reflektiert. Sie hat uns mit ihrem »Blick von außen« sehr geholfen, für uns Gewohntes verständ- lich zu Papier zu bringen.

Christine Gerber und Susanna Lillig Nationales Zentrum Frühe Hilfen, DJI

DANKSAGUNG

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5

INHALT

Einleitung 8

1 Aus Fehlern lernen im Kinderschutz 10 2 Entwicklung einer Methode zur Analyse

problematischer Fallverläufe 14

2.1 Konzeptionelle Grundlagen zur Entwicklung einer Methode 16 Was sind problematische Fallverläufe im Kinderschutz? 16 Welches Fehlerverständnis liegt dem Projekt zugrunde? 16

Grundprinzipien für die Methodenentwicklung 18

3 Ausgangspunkt der Methodenentwicklung:

Das Modell des Learning together to safeguard

children des Social Care Institute for Excellence 22 4 Gemeinsam lernen aus problematischen Fallverläufen

die Etappen der Methodenentwicklung 28

4.1 Die fünf analysierten Fälle im Überblick 29 4.2 Die Veränderungen im methodischen Vorgehen im Überblick 30

5 Gemeinsam lernen aus Kinderschutzverläufen – eine Methode zur systemorientierten Analyse

von problematischen Fallverläufen im Kinderschutz 36

5.1 Erkenntnisinteresse und Fallauswahl 37

5.2 Vorbereitung des Analyseprozesses 38

5.3 Durchführung des Analyseprozesses 39

5.4 Ermöglichung eines konstruktiven Lernklimas 44 5.5 Exkurs: Besonderheiten bei der Analyse eines medial

und politisch skandalisierten Falles 45

5.6 Fazit und Zusammenfassung: Wesentliche Voraussetzungen

und Arbeitsformen bei Fallanalysen 47

(6)

6 Ergebnisse aus den bisherigen Fallanalysen 50

6.1 Interaktion/Kommunikation Fachkräfte – Familie 52 Der Aufbau einer tragfähigen Arbeitsbeziehung

zu den (Stief-)Eltern gelingt nicht 52

Schwierige Themen werden vermieden/geschönt und Kompromisse in der Konzeption von Hilfe und Schutz eingegangen, die hinter

den Bedürfnissen des Kindes zurückbleiben 54

6.2 Konzeption von Hilfe und Schutz für das Kind und seine Familie 57 Wichtige Akteurinnen und Akteure im Familiensystem werden

nicht als Klientinnen und Klienten identifiziert oder in geeigneter

und notwendiger Form eingebunden 57

Wichtige Anforderungen und Ziel von Hilfe und Schutz gehen verloren;

Ziel und Konzeption von Hilfe und Schutz scheinen diffus 59 Das Kind und seine Belastungen/Schädigungen und die Behandlung bereits entstandener Defizite geraten aus dem Blick 60 Es werden Hilfen/Schutzmaßnahmen eingeleitet, die nicht ausreichend oder geeignet sind, um die notwendigen Veränderungen herbeizuführen oder um den Schutz des Kindes vor akuten Gefahren zu gewährleisten 62

6.3 Prozess der Gefährdungseinschätzung 63

Kooperationsbereitschaft wird mit Veränderungsfähigkeit gleichgesetzt 63 Die Gefährdungseinschätzung konzentriert sich insbesondere auf das Sammeln von äußerlich beobachtbaren und einfach zu bewertenden

Informationen und Verhaltensweisen 65

Die Gefährdungseinschätzung wird trotz neuer Informationen nicht

oder sehr spät revidiert 66

Ungeklärte Täterschaft bei körperlichen Verletzungen von Kindern

führt zu Verunsicherungen 68

Aktuelle Beobachtungen und familiäre Entwicklungen werden zu

wenig in Bezug zur Hilfegeschichte gesetzt 68

Die Inhalte von Meldungen werden falsch interpretiert oder nicht

in einem angemessenen Zeitraum bearbeitet 69

6.4 Organisationsübergreifende Kooperation und Kommunikation 77 Es gibt keine gemeinsame und abgestimmte Einschätzung

des Gefährdungsrisikos im Helfersystem; Unterschiede und Differenzen

werden eher zufällig bekannt 71

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7

Ein großes Netz von Helferinnen und Helfern vermittelt die Illusion

von Schutz und Sicherheit für das Kind 74

Wie Fachkräfte mit Dissens in der Risikoeinschätzung umgehen,

wird zum Risiko für das Kind 74

Mangelnde Kommunikation und Konflikte zwischen den Fachkräften

beeinträchtigen die Arbeit mit der Familie 77

Viele Fachkräfte sind nicht unbedingt vernetzte Fachkräfte 78 Rollen- und Auftragsunklarheiten der Fachkräfte beeinträchtigen den Erfolg der Hilfe und die Effizienz des Schutzes für das Kind 80 6.5 Arbeitsbedingungen, strukturelle Rahmenbedingungen

und soziale Infrastruktur 81

Familie und Kind erhalten die erforderliche Hilfe nicht in geeigneter Form, geeignetem Zeitraum oder geeignetem Umfang 81 Qualitätssichernde Verfahren und Regelungen entfalten keine Wirkung 82 6.6 Kinderschutz und psychisch erkrankte Eltern 84

(Schutz-)Bedürfnisse des Kindes geraten aus dem Blick, weil die erkrankte Mutter viel Fürsorge und Energie der Fachkräfte

in Anspruch nimmt sowie »Schonung« benötigt 84

Unterschiedliche therapeutische und pädagogische Ziele für die Klientin sind den Fachkräften wechselseitig nicht bekannt und werden auch

nicht miteinander ausgetauscht 85

Auswirkungen von psychischen Erkrankungen auf die Fürsorge- und Erziehungsfähigkeiten von Eltern werden falsch eingeschätzt 86

7 Empfehlungen für die Qualitätsentwicklung 88

8 Ausblick 94

9 Anhang: Erfahrungen der beteiligten Fachkräfte 96

Abbildungsverzeichnis / Literatur 110

(8)

Einleitung

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9

Im Jahr 2008 fassten die Regierungschefs der Län- der und die Bundeskanzlerin beim zweiten Kinder- schutzgipfel den gemeinsamen Beschluss, das Thema

»Lernen aus Fehlern« als Strategie für die Qualitäts- entwicklung im Kinderschutz stärker in den Fokus zu nehmen. Hierzu wurde das Nationale Zentrum Frühe Hilfen (NZFH), getragen von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) in Kooperation mit dem Deutschen Jugendinstitut e. V. (DJI), beauf- tragt, eine »Plattform für einen regelhaften Erfah- rungsaustausch zu problematisch verlaufenen Kin- derschutzfällen« einzurichten.

Im Rahmen des seitdem bestehenden Projektbe- reichs »Lernen aus problematischen Kinderschutz- verläufen« wurden vom NZFH verschiedene Projekte initiiert sowie Expertisen oder Leitfäden in Auftrag gegeben und veröffentlicht. Hierzu gehören z. B.:

• Forschungs- und Praxisentwicklungsprojekt:

Aus Fehlern lernen – Qualitätsmanagement im Kinderschutz (Wolff u. a. 2013)

• Rechtsgutachten: Rechtsfragen im Zusammen- hang mit der Analyse problematischer Kinder- schutzfälle (DIJuF 2013)

• Leitfaden: Krise im Jugendamt – Leitfaden zur strategischen Krisenkommunikation für Kom- munen (Schwarz u. a. 2016)

• Expertisen:

• Qualitätsindikatoren für den Kinderschutz in Deutschland (Kindler 2013)

• Kinder im Kinderschutz (Wolff u. a. 2013a)

• Das dialogisch-systemische Fall-Labor. Ein Methodenbericht zur Untersuchung proble- matischer Kinderschutzverläufe (Biesel u. a.

2014)

• Nationaler Forschungsstand und Strategien zur Qualitätsentwicklung im Kinderschutz (NZFH 2018)

Generelles Ziel des Projektbereiches ist es, die Qua- litätsentwicklung im Kinderschutz zu befördern.

Hierzu soll insbesondere mehr Wissen über Anforde- rungen, aber auch Risiken in der Kinderschutzarbeit generiert werden. Die praxistaugliche Aufbereitung des Wissens in Form von Empfehlungen oder Leit- fäden soll einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Kinderschutzpraxis leisten.

In dem hier vorgelegten Bericht werden Erfah- rungen und Ergebnisse vorgestellt, die im Rahmen eines Vorhabens zur Entwicklung einer Methode für die Analyse problematischer Fallverläufe im Kinder- schutz gesammelt wurden.

Zudem werden die Ergebnisse aus fünf verschiede- nen Fallanalysen vorgestellt, die im Rahmen der Me- thodenentwicklung mit unterschiedlichen Jugend- ämtern durchgeführt wurden.

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Aus Fehlern lernen

im Kinderschutz

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1

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Risikoreiche Industriezweige wie z. B. die Luft- und Raumfahrt oder die Atomindustrie nutzen systema- tische Fehleranalysen, um Sicherheitslücken in ihrem Gesamtsystem zu erkennen. Mithilfe dieser Analysen werden Hinweise auf notwendige Verbesserungen von organisationsspezifischen Abläufen, Strukturen und erforderlichem Wissen der Mitarbeitenden heraus- gearbeitet. Es werden entsprechende Empfehlungen formuliert, die zu wichtigen Veränderungen in den je- weiligen Unternehmen führen. In der amerikanischen Luftfahrt haben solche systematischen Analysen von kritischen Ereignissen und Katastrophen einen we- sentlichen Beitrag dazu geleistet, dass die Anzahl der Unfälle deutlich reduziert werden konnte.1

Mit dem Ziel des »Lernens für die Zukunft« wer- den in vielen Ländern auch Fälle, in denen Kinder zu Tode kamen oder verletzt wurden, routinemäßig untersucht. Die Auftraggeber solcher Untersuchun- gen, das Vorgehen und die jeweiligen Ziele sind da- bei unterschiedlich (für eine Übersicht siehe Axford 2005). So sind in England sogenannte Local Safegu- arding Children Boards (LSCB)2 gesetzlich verpflich- tet, in jedem Fall, in dem ein Kind zu Tode kam oder ernsthaft verletzt wurde und zudem bekannt ist (oder zumindest vermutet wird), dass Misshandlung oder Vernachlässigung eine Rolle gespielt haben, ein soge- nanntes Serious Case Review (SCR) durchzuführen.

Ziel eines SCR ist es, (1) aus den Erfahrungen der Fälle Lehren für die Arbeit und das Zusammenspiel der beteiligten Akteure im Kinderschutz zu ziehen;

(2) daraus Empfehlungen für die Weiterentwicklung der Praxis abzuleiten sowie (3) die Effektivität der interprofessionellen und Institutionen übergreifen- den Zusammenarbeit zu fördern. Das LSCB muss innerhalb eines Monats nach Bekanntwerden des Falles entscheiden, ob eine Fallanalyse durchgeführt werden muss. Es benennt sodann einen oder mehre- re Untersucherinnen und Untersucher, die die Fall-

analyse leiten. Diese müssen unabhängig vom LSCB und von sämtlichen am Fall beteiligten Organisati- onen sein. Zudem muss sichergestellt sein, dass die verschiedenen Fachkräfte und Organisationen, die mit dem Kind und seiner Familie gearbeitet haben, im Analyseprozess angemessen vertreten sind. Aus- löser, Auftraggeber sowie wesentliche Merkmale ei- nes SCR sind in dem vom Ministerium für Bildung veröffentlichten Leitfaden »Working Together to Safe- guard Children« festgelegt (HM Government 2015).

Die lokal erstellten Reviews müssen anschließend für mindestens zwölf Monate im Internet veröffentlicht werden, um sie einem breiten Fachpublikum zu- gänglich zu machen (siehe auch www.nspcc.org.uk, Aufrufdatum 19.11.2018). Darüber hinaus werden die Ergebnisse der SCR regelmäßig von einer Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus- gewertet und veröffentlicht (Brandon u. a. 2016).

In den USA wiederum gibt es in allen Bundesstaa- ten sogenannte Child Death Reviews (CDR), in deren Rahmen multidisziplinäre Teams generell Todesfälle von Kindern untersuchen. Ziel dieser Untersuchun- gen ist die Verbesserung der Prävention. CDR werden bei Todesfällen in Folge von Krankheit oder Unfall ebenso wie bei ungeklärter Todesursache oder einem Tötungsdelikt ausgelöst. In 33 der 50 Bundesstaaten werden Todesfälle im Kontext von Misshandlung und Vernachlässigung in speziellen Reviews analysiert (CFRP 2016). Die durch die Reviews gewonnen Da- ten werden vom National Center for Fatality Review and Prevention gesammelt und veröffentlicht.

In Belgien müssen seit 2005 alle tödlich verlaufe- nen Fälle im Kinderschutz der Youth Care Inspectorate gemeldet werden. Diese fordert in der Regel zunächst die beteiligten Organisationen auf, eine interne Un- tersuchung durchzuführen. Ist der Bericht aus der Sicht der Youth Care Inspectorate nicht zufrieden- stellend, führt sie eine eigene Untersuchung durch.

1 Fegert u. a. (2010), S. 123

2 In England müssen in allen Städten und Kommunen LSCBs eingerichtet werden. Mitglieder sind alle Institutionen und öffentlichen Stellen, die mit Minderjährigen zu tun haben. Das Gremium besteht insbesondere aus Vertreterinnen und Vertretern der Gemeinde/Stadtverwaltung, der Polizei, der Bewährungshilfe, der Jugendgerichte und der Jugendvoll- zugsanstalten, des National Health Services, aus Krankenhäusern, Schulen sowie aus Verfahrensbeiständen. Neben den professionellen Institutionen werden außerdem auch Laien in das Gremium eingebunden. Die Aufgabe des LSCB besteht darin, (1) alle Aktivitäten der Mitglieder, die das Wohlergehen und den Schutz von Minderjährigen betreffen, zu koordinieren sowie (2) deren Wirksamkeit zu prüfen und sicherzustellen.

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Parallel dazu können die Länder- und Provinzre- gierungen ebenso wie die Gemeinden eigene Un- tersuchungen in Auftrag geben. Eine systematische Veröffentlichung der Ergebnisse gibt es bisher nicht (Kuijvenhoven 2010).

Wie diese Beispiele zeigen, unterscheiden sich die Methoden und Konzepte zwischen, aber auch inner- halb der Länder hinsichtlich der Zielsetzungen3, der Datengrundlage4, dem methodischen Vorgehen so- wie der Dokumentation und Verwertung der Ergeb- nisse erheblich (vgl. Axford 2005).

In der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland steht die Analyse von problematischen Fallverläufen im Vergleich zu anderen Ländern noch am Anfang.

Zwar löst die mediale Aufmerksamkeit von Fall- verläufen, in denen Kinder schwer verletzt wurden oder zu Tode gekommen sind, neben den straf- oder dienstrechtlichen Untersuchungen (vgl. Bremische Bürgerschaft 2007; Finanzbehörde Innenrevision 2012) zunehmend auch Analysen mit dem Ziel des

»Lernens aus Fehlern« aus (vgl. Kindler u. a. 2008, Kindler u. a. 2016; Schrapper 2013). Eine Selbstver- ständlichkeit – z. B. als Bestandteil der Qualitätsent- wicklung – ist die Analyse kritischer Ereignisse jedoch noch nicht.

Zwei Aspekte könnten dies mitbegründen:

(1) Qualitätsentwicklung im Kinderschutz ist seit einigen Jahren hoch im Kurs. Im Mittelpunkt steht jedoch die Verbesserung der Struktur- und Prozessqualität. Der Ergebnisqualität wurde dagegen bisher nur wenig Aufmerksamkeit zuteil.

Bislang scheint es kaum gemeinsame Vorstellun- gen oder konkrete Indikatoren in der Kinder- und Jugendhilfe für den Erfolg oder Misserfolg in der Kinderschutzarbeit zu geben. In der Folge werden Fälle zuweilen erst dann als problema- tisch erkannt und gekennzeichnet, wenn ein Kind massiven Schaden erleidet. Wiederholte Gefährdungsmeldungen oder erneute Gefähr- dungsereignisse während der Arbeit mit der

Familie scheinen beispielsweise nicht »automa- tisch« zu Irritationen und einem Hinterfragen der bisherigen Schutz- und Hilfestrategie bei den Fachkräften zu führen.

(2) Fehler, kritische Ereignisse und unerwünschte Ergebnisse im Kinderschutz werfen schnell – und häufig begleitet von großem öffentlichen Interesse – Fragen nach der Verletzung von Garantenpflichten und damit strafrechtlich relevantem Tun oder Unterlassen von Fachkräf- ten auf. In der Folge scheint mit der Analyse von problematischen Fällen die Suche nach den Schuldigen untrennbar verbunden zu sein.

Zugleich besteht für Forscherinnen und Forscher gegenüber den Strafverfolgungsbehörden weder ein Zeugnisverweigerungsrecht i. S. d. §§ 52 bis 53a Strafprozessordnung (StPO), noch gibt es einen entsprechenden Schutz vor strafrechtlichen Maßnahmen im Rahmen der Forschung, wie er z. B. für Mitarbeitende in Presse und Rundfunk vorgesehen ist (DIJuF 2013). Zum Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen Presse und pri- vaten Informantinnen und Informanten besteht für Journalistinnen und Journalisten nicht nur ein ausdrückliches Zeugnisverweigerungsrecht in

§ 53 Abs. 1 Nr. 5 StPO, sondern in Entsprechung dazu auch ein spezielles Beschlagnahmeverbot in § 97 Abs. 5 StPO (DIJuF 2013). Unter diesen Voraussetzungen die Analyse von problemati- schen Fallverläufen im Kinderschutz offensiv anzugehen und eine selbstkritische und offene Kultur im Umgang mit Fehlern zu entwickeln, ist möglicherweise besonders schwierig.

Kinderschutzarbeit ist meist Arbeit in einem komplexen Risikokontext. Insofern lassen sich Fehler oder Fehleinschätzungen nicht gänzlich verhindern. Systematische Fallanalysen können einen wertvollen Beitrag zur Qualitätsentwick- lung im Kinderschutz leisten, indem sie helfen, riskante Denk- und Handlungsmuster sowie fehlerbegünstigende institutionelle Rahmen-

3 Ziele können z. B. sein: Lernen aus Erfahrung und Verbesserung des Kinderschutzes, öffentliche Aufklärung eines Falles, Klärung von Verantwortung und Schuld.

4 Zum Teil basieren die Untersuchungen allein auf Akten oder schriftlichen Berichten, z. T. werden ergänzend Interviews mit den Fachkräften und/oder Eltern geführt oder die Analyse selbst unter Beteiligung der Fachkräfte durchgeführt.

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bedingungen zu erkennen und zu verändern.

Die Erkenntnisse aus problematischen Fallver- läufen ermöglichen es, sowohl Organisationen risiko- und fehlersensibler zu gestalten als auch Fachkräfte für Risiken ihres eigenen Handelns zu sensibilisieren. Dadurch werden Fehlentwicklun- gen u. U. früher erkannt und können korrigiert werden, bevor Schaden für das Kind und/oder seine Familie entsteht. Darüber hinaus können Fallanalysen einen offenen und konstruktiven Umgang mit Fehlern innerhalb einer Organisati- on und zwischen unterschiedlichen Professionen und Organisationen fördern und so die Entwick- lung einer Fehlerkultur im Kinderschutz unter- stützen.

Vor diesem Hintergrund waren für die hier vorge- stellte Methodenentwicklung zur Analyse proble- matischer Kinderschutzfälle vor allem zwei Aspekte konzeptionell leitend:

(1) Entwicklung einer Kultur der selbstkritischen und offenen Auseinandersetzung mit problema- tischen Fallverläufen: Die Rekonstruktion und Analyse von problematischen Fallverläufen sollen Fehler, Risiken und Stolpersteine in der prakti- schen Arbeit deutlich machen.

(2) Partizipative Qualitätsentwicklung: Damit die Ergebnisse der Fallanalysen von der Praxis im Sinne einer Weiterentwicklung verarbeitet wer- den können, müssen Fachkräfte bei der Erarbei- tung dieser Ergebnisse durchgängig beteiligt sein.

Zudem sollten die verwandten Konzepte und Methoden von Fachkräften und Institutionen im Kinderschutz akzeptiert und anerkannt werden.

Um diesen beiden Anforderungen gerecht zu werden, wurde das Vorhaben der Entwicklung einer Methode zur Analyse von Fallverläufen in enger Zusammenar- beit mit der Praxis durchgeführt. Hierzu wurde das Vorgehen in Anlehnung an partizipative Forschungs- ansätze (von Unger 2014) sowie partizipative Quali- tätsentwicklung (Wright 2010) entwickelt und gestal- tet (vgl. 2.1).

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Entwicklung einer Methode

zur Analyse problematischer

Fallverläufe

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Ausgangspunkt für das Vorhaben der Entwicklung einer Methode zur Analyse problematischer Fallver- läufe war ein Workshop, der im Rahmen des Projekt- bereichs »Lernen aus problematischen Fallverläufen im Kinderschutz« vom NZFH am 9. und 10. Juli 2010 in München veranstaltet wurde. Der Titel des Work- shops lautete »Lernen aus Fehlern – nationale und internationale Erfahrungen im Kinderschutz«.5 Ziele des Workshops waren

(1) der Austausch über internationale und nationale Methoden und Konzepte des Lernens aus Fehlern sowie

(2) die Diskussion von Strategien und Eckpunkten für die Weiterentwicklung einer Methode zur Analyse von Fallverläufen in Deutschland.

Neben Prof. Roger Bullock6, der einen Überblick über internationale Konzepte zur Untersuchung von prob- lematisch verlaufenen Kinderschutzfällen gab, wurde von Prof. Eileen Munro7 und Dr. Sheila Fish8 der so- genannte »multy-systems approach for case reviews«

vorgestellt. Neben diesen internationalen Konzepten wurden schließlich auch verschiedene zum damali- gen Zeitpunkt in Deutschland angewandte oder dis- kutierte Ansätze vorgestellt.9

Folgende Empfehlungen für die Weiterentwicklung des »Lernens aus problematischen Kinderschutzver- läufen« in Deutschland wurden abschließend zusam- mengefasst (Ausschnitt aus dem unveröffentlichten Workshop-Protokoll):

• Die Konzepte und Methoden des Lernens aus Fehlern müssen gemeinsam zwischen Praxis und Wissenschaft entwickelt werden. Ohne einen Ein-

bezug der Jugendämter laufen die Initiativen Ge- fahr, von der Praxis nicht akzeptiert zu werden.

• Das Gelingen oder Scheitern von Kinderschutz- fällen wird nicht von einer Institution oder Person alleine verursacht. In der Regel handelt es sich um ein Helfersystem, das aus einer Vielzahl an Institutionen und Professionen besteht. Die Analyse von Fällen sollte sich daher nicht alleine auf die Praxis des Jugendamtes beziehen.

• Die Analyse von Einzelfällen sollte sich nicht nur auf spektakuläre Einzelfälle beschränken.

Die Impulse zum »Lernen aus Fehlern« müssen auch aus den Organisationen (z. B. Jugend- ämtern) selbst kommen. Fallanalysen können nicht gegen den Willen oder über die Köpfe der Jugendämter hinweg »verordnet« werden. Die Einrichtung einer Kommission, an die Fälle »ge- meldet« werden, wird sehr kritisch gesehen.

• Gesetzliche Verpflichtungen zur Durchführung von Fallanalysen werden abgelehnt.

• Vor dem Hintergrund der positiven Erfahrungen im Projekt »Aus Fehlern lernen – Qualitätsma- nagement im Kinderschutz«10 sollten auch die Klientinnen und Klienten in geeigneter Form in den Analyseprozess eingebunden werden.

Im Anschluss an diesen Workshop wurden in Ab- stimmung mit dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vom NZFH personel- le und finanzielle Ressourcen bereitgestellt, die die Durchführung des hier vorgestellten Vorhabens mög- lich gemacht haben.

5 Teilnehmer/-innen: Vertreter/-innen von Jugendämtern, Wissenschaflter/-innen, die sich mit dem Thema bereits beschäftigt hatten, sowie Politiker/-innen auf Bundes- und Landesebene

6 Fellow des Center for Social Policy in der Warren House Group in Dartington. Emeritierter Professor für Jugendhilfe- forschung der Bristol University

7 Damals Professorin of Social Policy an der London School of Economics 8 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Social Care Institute for Excellence (SCIE)

9 Prof. Dr. Christian Schrapper: »Qualitätsentwicklung für den Kinderschutz in Jugendämtern in Rheinland-Pfalz«;

Prof. Dr. Reinhart Wolff: »Aus Fehlern Lernen – Qualitätsmanagement im Kinderschutz«; Stefan Cinkl: »Expertise/

Machbarkeitsstudie für eine unabhängige Kommission zur Untersuchung von gravierenden Kinderschutzfällen«;

André Altermann: »Vergleichsring Kinderschutz – Risikomanagement qualifizieren«; Dr. Thomas Meysen: »Rechtliche Rahmenbedinungen für die Analyse von Fallverläufen in Deutschland«

10 Wolff u. a. 2013

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2.1 Konzeptionelle Grundlagen zur Entwicklung einer Methode

Folgende konzeptionellen Fragen waren für den Ent- wicklungsprozess des methodischen Vorgehens lei- tend:

• Was sind problematische Fallverläufe – welche Art von Fällen könnten/sollten einen Analyseprozess auslösen?

• Welches Fehlerverständnis bildet die Grundlage der Methode?

• An welchen Grundprinzipien soll sich das methodische Vorgehen orientieren?

Was sind problematische Fallverläufe im Kinderschutz?

Es ist ein berechtigtes Interesse der Öffentlichkeit, dass Fälle mit tragischem Verlauf, in denen Men- schen Schaden genommen haben und öffentliche In- stitutionen tätig waren, aufgearbeitet und analysiert werden. Hierzu gehören beispielsweise Todesfälle in Kliniken, die in Zusammenhang mit ärztlichem Han- deln gebracht werden, oder verletzte Personen im Kontext eines Polizeieinsatzes. Insofern sollten auch problematische Kinderschutzverläufe mit tragischem Ausgang (Tod oder erhebliche Verletzung des Kindes) in geeigneter Form aufgearbeitet werden. Da das Ziel der zu entwickelnden Methode jedoch nicht alleine die Aufarbeitung eines Falles ist, sondern auch das Lernen aus Erfahrung, ist es sinnvoll, die Kriterien für die Fallauswahl nicht allzu eng zu fassen.

Insofern wurde für dieses Vorhaben folgende Definition gewählt: Als »problematische Fallverläu- fe« im Kinderschutz werden Fallverläufe oder deren Ergebnisse bezeichnet, die aus Sicht von Fach- und Leitungskräften, aber auch aus der Sicht von Eltern, Kindern oder Jugendlichen nicht zufriedenstellend waren. Verletzte oder zu Tode gekommene Kinder oder eine unnötige Herausnahme eines Kindes aus der Familie sind dabei die massivsten Formen eines unerwünschten Ergebnisses.

Grundsätzlich soll die Fallauswahl den an einem Analyseprozess interessierten Jugendämtern und ih- ren Kooperationspartnern überlassen bleiben. Wichtig erscheint jedoch, dass der Auswahl ein selbstkritischer

Prozess vorausgeht, der nicht die Problematik der Fa- milie (z. B. besonders schwierige Familie), sondern die Problematik der Fallbearbeitung in den Vordergrund stellt. Insofern empfiehlt es sich, Fälle auszuwählen, deren Bearbeitungsverlauf oder deren Ergebnis von den Fach- und Leitungskräften kritisch bewertet wird, und bei denen zudem erkennbar ist, dass es sich um wiederkehrende problematische Arbeitsverläufe oder Entscheidungsprozesse handelt, die nicht nur auf ei- nen Einzelfall beschränkt sind.

In die Fallauswahl nicht aufgenommen wurden sogenannte »gut gelaufene Fälle«. Grund hierfür ist vor allem, dass dies das Vorhaben der Methodenent- wicklung überfrachten würde. Die Entwicklung einer Methode zur Analyse problematischer Fallverläufe setzt andere Akzente und sieht methodische Schrit- te vor, die bei der Analyse gut gelaufener Fälle ver- mutlich anders gestaltet werden müssten. Für beide Fallarten eine Methode zu konzipieren, würde das Projekt überfordern. Darüber hinaus soll das Pro- jekt, wie in Kapitel 1 beschrieben, einen Beitrag zur (selbst-)kritischen Auseinandersetzung der Praxis mit problematischen Fallverläufen sowie zur Ent- wicklung einer Fehlerkultur leisten.

Welches Fehlerverständnis liegt dem Projekt zugrunde?

Kritische Entscheidungen oder Fehler sind – auch im Kinderschutz – alltägliche Phänomene. In den meis- ten Fällen werden sie jedoch weder als solche identi- fiziert, noch führen sie zu katastrophalen Ergebnissen oder verursachen Schäden. Der Grund dafür ist, dass sie in aller Regel – oft auch unbemerkt oder zufällig – korrigiert werden. Katastrophen oder Schäden sind insofern meist die Folge einer Verkettung und des Zusammenspiels vieler unterschiedlicher kritischer Ereignisse, die dazu führen, dass sich Fehler fortset- zen oder kumulieren, anstatt korrigiert zu werden (vgl. Fegert u. a. 2010).

Ein Fehler in Organisationen wird entsprechend als Kette von Systemproblemen und nicht als das per- sönliche Versagen des Letzten in der Kette gesehen.

Der britische Psychologe James Reason, der sich mit der Erforschung menschlicher Fehler befasst hat, hat dieses Phänomen bereits 1990 anhand des »Schwei- zer-Käse-Modells« grafisch dargestellt (Reason 1990).

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Das Modell zeigt, dass es in der Regel mehrere Punkte im Bearbeitungsverlauf gibt, an denen eine kritische Entwicklung erkannt und/oder ein unerwünschtes Ereignis abgewendet werden könnte. Jede einzelne dieser Stellen ist für das Lernen aus Fehlern relevant, da sich dahinter jeweils Hinweise auf latente Risiken im System oder in der Arbeitsweise einer Organisati- on verbergen können.

Im Rahmen einer Fallanalyse müssen somit viel- fältige Einflussfaktoren und Ereignisse im Bearbei- tungsprozess rekonstruiert werden, die letztendlich zu dem unerwünschten Ereignis (z. B. Verletzung eines Kindes oder übereilte Herausnahme) beigetra- gen haben. Wie sind kritische Entscheidungen und Handlungen entstanden? Was hat sie begünstigt? Was hat dazu beigetragen, dass eine kritische Entwicklung nicht frühzeitig aufgefallen ist und korrigiert wurde?

Gelingt es, solche Prozesse zu rekonstruieren und zu verstehen, haben die Ergebnisse in zweierlei Hinsicht Bedeutung für die Qualitätsentwicklung im Kinderschutz:

(1) Lernen aus Fehlern: Kritische Entscheidungen oder Handlungsweisen weisen auf Schwachstel- len im System und damit auf Möglichkeiten der Qualitätsentwicklung hin.

(2) Sensibilisierung für Risiken: Nicht alle Fehler- risiken lassen sich durch qualitätsverbessernde Maßnahmen beseitigen. Je sensibler die Akteure in einem System jedoch für Risiken sind, umso größer ist die Chance, dass Fehler frühzeitig erkannt und größere Schäden verhindert werden können.

Vermeidbare und unvermeidbare Fehler Grundsätzlich kann unterschieden werden zwischen

»unvermeidbaren« und »vermeidbaren« Fehlern (Munro 1996).

»Unvermeidbare Fehler« stellen ein aufgabenim- manentes Risiko der Kinderschutzarbeit dar, das un- abhängig von der Institution, den handelnden Per- sonen und den strukturellen Gegebenheiten besteht.

Zur Verdeutlichung ein Beispiel: Im Kinderschutz basieren Prognosen und Entscheidungen häufig auf sehr begrenzten Informationen. Dieser Umstand ist ein wesentliches Charakteristikum der Arbeit, da das Denken und Handeln von Eltern und Kindern eben- so wie Beziehungen und Familiensysteme meist nur eingeschränkt zu erfassen und begrenzt durchschau- bar sind. Insofern kann es sein, dass umfangreiche Informationen erhoben, professionell abgewogen ABBILDUNG 1

GEFAHR AKTIVER FEHLER

UNERWÜNSCHTES EREIGNIS

LATENTE FEHLER IM SYSTEM

Abbildung adaptiert nach Reason, James. »Human error: models and management«, BMJ 2000; 320:768

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und bewertet werden und sich am Ende die Einschät- zung dennoch als falsch erweist und das Kind erneut misshandelt wird, da beispielsweise die erzieherische Überforderung des Vaters oder der Mutter in Aus- nahmesituationen nicht erkennbar war. In solchen Fällen kann man von einem sogenannten unver- meidbaren Fehler sprechen. Erkenntnisse über un- vermeidbare Fehler sind für die Qualitätsentwicklung im Kinderschutz vor allem deshalb interessant, weil sie dazu genutzt werden können, die Fehlersensibili- tät der Fachkräfte und der Abläufe zu erhöhen sowie das Risikomanagement organisationsintern und zwi- schen Kooperationspartnern zu qualifizieren. Denn je fehlersensibler und risikobewusster sowohl die be- teiligten Akteure als auch die Abläufe und Verfahren sind, umso eher können Fehlentwicklungen frühzei- tig erkannt und weitere oder noch größere Schäden verhindert werden.

»Vermeidbare Fehler« sind hingegen Fehler bzw.

Strukturen, die unter dem Einfluss fehlender Quali- fikation oder mangelhafter Instrumente zustande ge- kommen sind und damit – prinzipiell – vermeidbar gewesen wären. Dass ein Fehler vermeidbar gewesen wäre, bedeutet nicht zwangsläufig, dass die Betei- ligten schuldhaft oder absichtlich gehandelt haben.

Fachkräfte riskieren nicht absichtlich oder fahrlässig Leib und Leben von Kindern. Vielmehr ist davon aus- zugehen, dass Entscheidungen zu dem Zeitpunkt, zu dem sie getroffen wurden, den Fachkräften sinnvoll und richtig erschienen. Ein Beispiel für vermeidbare Fehler sind falsche Prognosen zum Gefährdungsrisi- ko des Kindes. So kann es zum Beispiel sein, dass zwar wesentliche Informationen bekannt sind, diese jedoch aufgrund fehlenden Fachwissens, unzureichender In- strumente zur Risikoeinschätzung oder ineffektiver Fallbesprechungsmethoden falsch interpretiert und bewertet werden. Ebenso kann es sein, dass Fach- kräfte bei der Gestaltung des Schutzkonzeptes davon ausgehen, dass eine ambulante Erziehungshilfe mit einmaligem wöchentlichen Kontakt zur Familie in einem Vernachlässigungsfall ausreichend ist, obwohl genug empirisch gesichertes Wissen zur Verfügung steht, das Zweifel an dieser Annahme auslösen könn- te. Das Erkennen von vermeidbaren Fehlern mithilfe der Analyse von Fallverläufen kann Führungskräften unmittelbare Hinweise für Qualitätsentwicklungsbe-

darfe auf den Ebenen von Organisations- und Koope- rationsstrukturen, der Angemessenheit eingesetzter Instrumente sowie der erforderlichen Qualifizierung von Fachkräften geben.

Grundprinzipien für die Methoden- entwicklung

A) Systemorientierung

Eine personenorientierte Analyse eines Falles en- det meist mit dem Finden eines Fehlers und dessen Verursachers. Eine systemorientierte Analyse nimmt dagegen den identifizierten Fehler als Ausgangspunkt für den Analyseprozess. Wird beispielsweise rückbli- ckend festgestellt, dass die Entscheidung der Rückfüh- rung des Kindes in die Herkunftsfamilie »ein Fehler«

war, wird bei einem systemorientierten Vorgehen die- se Entscheidung zum Ausgangspunkt einer detaillier- ten Analyse genommen. Ziel ist es, nachzuvollziehen, wie die Entscheidung zustande gekommen ist und warum sie zum damaligen Zeitpunkt richtig erschien.

Welche Informationen waren handlungsleitend? Wel- chen Informationen wurde ggf. weniger Bedeutung beigemessen – und weshalb? Wichtig ist folglich, die verursachenden Faktoren zu finden und daraus Lehren für die Qualitätsentwicklung und/oder das Risikomanagement zu ziehen. Strukturelle Rahmen- bedingungen, Instrumente und Verfahren spielen dabei ebenso eine Rolle wie fachliche Kompetenzen, Denk- und Handlungsmuster oder Formen mensch- licher Kommunikation (vgl. Munro 2005). Insofern geht es bei einer systemorientierten Fallanalyse nicht nur um menschliche Denk- und Handlungsprozesse, sondern auch um Managemententscheidungen, Res- sourcenallokation und Organisationsfragen (Fegert u. a. 2008).

Ausgangshypothesen einer systemorientier- ten Fallanalyse

Die systemorientierte Analyse kritischer Ereignis- se und Verläufe ist geprägt von einem systemischen Verständnis der Fehlerentwicklung. Entscheidungen und Handlungen Einzelner werden dabei im Kontext komplexer Zusammenhänge gesehen und verstan- den. Für die systemorientierte Analyse lassen sich folgende Ausgangshypothesen formulieren, die die

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Haltung der Beteiligten im Untersuchungsprozess prägen sollten:

In der gleichen Situation verhalten sich un- terschiedliche Menschen gleich oder ähnlich.

Menschen haben nicht immer die freie Wahl, wie sie sich verhalten.

Konzepte, Dienstanweisungen und Verfahren werden eingeführt, um das Denken, Handeln und Entscheiden von Fachkräften zu steuern. Da- rüber hinaus beeinflussen die strukturellen und organisatorischen Rahmenbedingungen sowie die Organisationskultur die Arbeit der Fachkräf- te. Insofern muss das Handeln der Personen im Kontext des Systems und seiner Rahmenbedin- gungen gesehen werden, um Fehler verstehen und Risiken erkennen zu können.

Fachkräfte machen nicht willentlich oder absicht- lich Fehler und riskieren Leib, Leben und Gesund- heit von Kindern.

Zum Zeitpunkt der Entscheidung gehen Fach- kräfte davon aus, dass ihre Entscheidung richtig, verhältnismäßig und angemessen ist. Im Mittel- punkt des Untersuchungsinteresses stehen daher all jene Faktoren, die die Einschätzung der Fach- kräfte zum damaligen Bearbeitungszeitpunkt geprägt haben. Ziel ist es, das Zustandekommen von Entscheidungen und Handlungen zu ver- stehen. Was hat das Denken und Handeln der Beteiligten zum damaligen Zeitpunkt beeinflusst?

Was stand im Fokus und was, ggf. weshalb, nicht?

Warum dachten sie damals, dass sie auf dem richtigen Weg sind? Was hat verhindert, dass sie gemerkt haben, dass sich der Fall in eine »falsche Richtung« entwickelt?

Entscheidungen in der Vergangenheit unter Ein- bezug des aktuellen Wissens zu bewerten, führt zu Verzerrungen (»hindsight bias«).

Kritische Entscheidungen (»Fehler«) können nur dann verstanden und rekonstruiert werden, wenn man ihre Entstehung chronologisch und unter ausschließlicher Einbeziehung des zum entsprechenden Zeitpunkt verfügbaren Wis- sens über die Familie und ihre Problemlagen

betrachtet. Der Einbezug des erst später hinzu- gewonnenen Wissens würde zu einer Verzerrung der Ergebnisse führen. Darüber hinaus muss die Bearbeitung des analysierten Falles im Kontext des Arbeitsalltags der Fachkräfte betrachtet wer- den. So können Einflussfaktoren erkannt werden, die relevant waren, aber nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Fall standen. Beispie- le hierfür sind: Welche anderen Fälle hatte die Fachkraft in Bearbeitung? Gab es ggf. persön- liche Belastungen oder Krisen? Wie waren die Arbeitsatmosphäre und die Arbeitsbelastung im Team?

Fehler können nur im Dialog mit den beteilig- ten Fachkräften verstanden und nachvollzogen werden.

Akten bilden das Denken und Entscheiden der Fachkräfte nur ungenügend ab. Um verstehen zu können, was Fachkräfte zum damaligen Zeitpunkt gedacht haben und was ihr Denken beeinflusst hat, müssen die fallbearbeitenden Fachkräfte am Analyseprozess beteiligt werden.

Die Befragung der beteiligten Akteure in der Fa- milie ermöglicht es, die professionelle Arbeit und das Zusammenspiel der Akteure aus der Perspek- tive der Klientinnen und Klienten zu sehen.

Im Mittelpunkt der Kinderschutzarbeit stehen die Kinder und ihre Familien. Insofern sollten auch bei der Rekonstruktion und Analyse von problematischen Fallverläufen die Sichtweisen und Wahrnehmungen wesentlicher Akteure der Familie (z. B. leibliche Eltern, Stiefeltern, Le- benspartnerinnen bzw. Lebenspartner, Großel- tern, Onkel und Tanten sowie ab einem gewissen Alter die Kinder) einbezogen werden. Gerade weil es sich um Hilfe im Zwangskontext handelt und sich damit der Erfolg oder Nutzen nicht alleine an der »Hilfe-Nachfrage« ablesen lässt, sollte den Klientinnen und Klienten Raum und Zeit eingeräumt werden, damit sie sich äußern und die Arbeit der professionellen Akteure vor dem Hintergrund ihrer Wünsche und Vorstellun- gen bewerten können.

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B) Beteiligungsorientierung

Die Rekonstruktion und kritische Analyse von Ar- beitsprozessen kann bei den betroffenen Fachkräf- ten, aber auch in ihren jeweiligen Institutionen viel Misstrauen und Sorge auslösen. Was kommt bei der Analyse heraus? Bin ich schuld an dem, was passiert ist? Welche Folgen haben die Ergebnisse – für mich und die Institution? Gelingt es nicht, diesen Sorgen angemessen Rechnung zu tragen, kann der Prozess der Analyse dadurch beschränkt werden, dass die Fachkräfte der verschiedenen Institutionen aus Angst vor negativen, selbstschädigenden Konsequenzen nur zurückhaltend Informationen preisgeben.11 Die Folge ist, dass z. B. wichtige Denk- und Handlungsmuster oder fehlerhafte Verarbeitungsprozesse von Informa- tionen, die gegebenenfalls typisch für die Arbeit oder die Organisation sind, nicht deutlich werden. Die Re- konstruktion von Fehlentwicklungen und das Nach- vollziehen von falschen Entscheidungen sind damit erheblich beeinträchtigt. Damit es trotzdem gelingt, in einen kritischen Dialog einzutreten, braucht es daher innerhalb der betroffenen Institutionen so- wie zwischen den beteiligten Akteuren im Hilfesys- tem eine offene und konstruktive Fehlerkultur. Die am Analyseprozess beteiligten Fachkräfte brauchen die Sicherheit und das Vertrauen, dass alle Beteilig- ten und ihre Organisationen sich offen und kritisch dem Analyseprozess stellen und zugleich respektvoll und wertschätzend miteinander umgehen. Je enger eine falsche Entscheidung mit individueller Schuld verknüpft wird, umso schwerer wird es, die Ursachen und Hintergründe problematischer Verläufe zu erfor- schen.

Eine weitere Folge von Misstrauen und Vorbe- halten von Fachkräften und Institutionen gegenüber einer Analyse ihrer Arbeitsweisen und Strukturen ist, dass die Ergebnisse, die mit Kritik an dem fachlichen Handeln oder vorhandenen Strukturen verbunden sind, als Angriff erlebt und daher herabgewürdigt und abgetan werden. Damit die Ergebnisse jedoch

im Sinne der Qualitätsentwicklung verarbeitet wer- den können, muss diese Kritik von den Betroffenen konstruktiv aufgenommen und verarbeitet werden können.

Da das hier vorgestellte Projekt der Entwicklung einer Methode zur Analyse problematischer Fallver- läufe beabsichtigt, selbstkritische Prozesse im Arbeits- feld des Kinderschutzes zu fördern und Erkenntnisse im Sinne des Lernens aus Erfahrung zu ermöglichen, ist eine hohe Akzeptanz und Unterstützung durch die Institutionen und ihre Fachkräfte eine wichtige Vo- raussetzung für sein Gelingen. Insofern ist die enge Beteiligung der mit »dem Fall« befassten Institutio- nen und Fachkräfte ein wesentlicher Bestandteil die- ser Art der Analyse von Fallverläufen.

Das methodische Vorgehen wurde daher in An- lehnung an partizipative Forschungsansätze und partizipative Qualitätsentwicklung entwickelt und gestaltet. In beteiligungsorientierten Forschungs- ansätzen sollen soziale Wirklichkeiten (wie z. B. die Kinderschutzarbeit) partnerschaftlich – von Wissen- schaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie handeln- den Akteuren erforscht und verändert werden. Auf diese Weise werden in Kinderschutzfällen beispiels- weise die Fachkräfte der Jugend- und Gesundheitshil- fe zu Co-Forscherinnen und –forschern im Hinblick auf Verbesserungsmöglichkeiten im Kinderschutz.

Die teilnehmenden Personen mit ihren Sichtweisen, ihren Lernprozessen und dem Ziel einer individu- ellen und kollektiven Befähigung stehen im Mittel- punkt. Sie stellen nicht nur Daten und Informationen zur Verfügung, sondern beteiligen sich aktiv an dem Analyseprozess und der Erarbeitung der Ergebnis- se. Insofern werden sowohl die Fallanalyse als auch der Prozess der Entwicklung einer Methode als Ge- meinschaftsprojekt von Fachkräften unterschiedli- cher Professionen und wissenschaftlichen Akteuren verstanden.12 Partizipative Qualitätsentwicklung ad- ressiert ebenfalls Praktikerinnen und Praktiker, die lernen, mithilfe beteiligungsorientierter Methoden

11 In sog. Critical Incident Reproting Systems (CIRS) werden beispielsweise in der Luftfahrt oder in der Medizin Beschäftigte aufgefordert, Fehler oder kritische Ereignisse zu melden, um sie der Möglichkeit des Lernens und der Verbesserung des Systems zugänglich zu machen. Damit die Betroffenen offen über ihre Fehler sprechen, wird ihnen Sanktionsfreiheit, Anonymisierung und De-Identifikation zugesichert.

12 Unger 2014, S. 1f.

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ihre eigene Arbeit qualitativ weiterzuentwickeln.13 Auch hierbei stehen Mitarbeitende und Vertreterin- nen und Vertreter der Zielgruppen im Zentrum von Verbesserungsbemühungen. Dies erzeugt eine Kultur der Qualitätsentwicklung »von unten und innen«.14 Veränderungsnotwendigkeiten können auf diesem Weg idealerweise von allen Beteiligten nachvollzogen und unterstützt werden.

C) Interdisziplinarität

Kinderschutzfälle werden in der Regel nicht von ei- ner Person alleine bearbeitet. Vielmehr setzt sich das Helfersystem im engeren und weiteren Umfeld der Kinderschutzarbeit aus einer Vielzahl von Akteuren unterschiedlicher Fachrichtungen zusammen: Fach- kräfte des Jugendamtes/ASD; die »meldende Stelle«;

die am Prozess der Risikoeinschätzung zu beteiligen- den Akteure, die mit der Familie in Kontakt stehen (z. B. KiTa, Schule); die speziell zur Abwendung der Gefahr hinzugezogenen Fachdienste (z. B. Familien- hilfen, Suchtberatung, Erwachsenenpsychiatrie, Ge- sundheitsfachkräfte); die Akteure im Rahmen eines familiengerichtlichen Verfahrens (z. B. Richterinnen und Richter, Gutachterinnen und Gutachter, Verfah- rensbeistände) und viele mehr. Um Hintergründe, Ursachen aber auch Lösungen für Schwierigkeiten an den Schnittstellen zwischen den Institutionen bzw.

den Systemen verstehen bzw. bearbeiten zu können, ist es sinnvoll, die unterschiedlichen Perspektiven der verschiedenen Fachkräfte zusammenzubringen und institutions- und professionsübergreifend zu disku- tieren.

Voraussetzungen für einen interdisziplinären, insti- tutionenübergreifenden Analyseprozess sind:

(1) Die betroffenen Institutionen stellen zeitliche und personelle Ressourcen für die Beteiligung am Analyseprozess bereit und wollen den Prozess sowie die Ergebnisse auch für die eigene instituti- onsinterne Qualitätsentwicklung nutzen.

(2) Das Jugendamt und die betroffenen Koope- rationspartner sind einem kritischen Diskurs gegenüber offen und bereit, ihre Arbeitsweisen, ihr Handeln und ihre Entscheidungen gegenüber Fachkräften anderer Institutionen transparent zu machen.

13 Wright 2010, S. 20

14 Rosenbrock 2008, zitiert in Wright 2010, S. 28

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Ausgangspunkt der

Methodenentwicklung:

Das Modell des Learning

together to safeguard children des Social Care Institute

for Excellence

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In England werden Kinderschutzfälle seit den 1940er Jahren analysiert. Bis 1988 handelte es sich dabei meist um Untersuchungen, die durch die öffentliche Aufmerksamkeit für einen Fall initiiert wurden. 1988 wurde die Durchführung von sogenannten Serious Case Reviews (SCR) erstmals in die nationalen eng- lischen Kinderschutzleitlinien Working Together auf- genommen. Bis heute wurden die Leitlinien und die darin enthaltenen Vorgaben für die Durchführung von SCR mehrfach überarbeitet.

Das Social Care Institut for Excellence (SCIE) in London wurde 2001 als unabhängige Wohlfahrtsor- ganisation gegründet und unterstützt in ganz England soziale und gesundheitsbezogene Organisationen bei der Verbesserung ihrer Dienstleistungen für Kinder, Erwachsene und Familien. Unter anderem befasst sich das Institut seit vielen Jahren mit der Analyse von Fallverläufen. 2009 veröffentlichte SCIE die Leitlinie Learning together to safeguard children: developing a multi-agency systems approach for case reviews (SCIE 2009). Neben Dr. Sheila Fish und Sue Bairstow von SCIE war auch Dr. Eileen Munro von der London School of Economics an der Entwicklung der darin vorgestellten systemorientierten Methode zum organi- sationalen Lernen beteiligt. Die Methode setzt an der von SCIE in 2005 anlässlich des tragisch verlaufenen Kinderschutzfalles »Victoria Climbié« veröffentlich- ten Leitlinie Managing risk and minimising mistakes an (Bostock u. a. 2005). Für die Methodenentwicklung wurden Veröffentlichungen aus dem Bereich des Si- cherheitsmanagements systematisch ausgewertet. Die auf dieser Grundlage entwickelte Methode wurde in Zusammenarbeit mit den zuständigen LSCB in zwei Fällen erprobt und auf der Grundlage der Rückmel- dungen der Beteiligten entsprechend überarbeitet. Die Methode des Learning together to safeguard children wurde seither in einer Vielzahl von Fällen angewandt und weiterentwickelt. Darüber hinaus bildet sie die Grundlage für die von SCIE durchgeführten Schu- lungen von Netzwerkpartnerinnen und -partnern, die Fallanalysen im Auftrag von LSCB durchführen.

Die Ergebnisse und Erfahrungen aus diesem Pro- zess der Methodenentwicklung flossen 2011 auch in den sogenannten Munro Report ein (Munro 2011).

Eileen Munro, die 2010 vom Bildungsministerium beauftragt worden war, eine unabhängige Bewertung

des englischen Kinderschutzsystems vorzunehmen, empfiehlt in ihrem Abschlussbericht, systemorien- tierte Ansätze zum methodischen Standard für die Analyse von Kinderschutzfällen zu erheben. In 2013 wurde die Kinderschutzleitlinie Working Together vom Bildungsministerium schließlich geändert und eine systemorientierte Vorgehensweise in den Seri- ous Case Reviews verpflichtend vorgegeben. Die Me- thode Learning together to safeguard children ist seit- her Grundlage und Vorbild für viele der in England durchgeführten Fallanalysen. Darüber hinaus stellte das Bildungsministerium SCIE Mittel zur Verfügung, um ein Trainingsprogramm für Personen zu entwi- ckeln und anzubieten, die Serious Case Reviews im Auftrag von LSCB durchführen.

Da es sich bei Learning together to safeguard child- ren um ein theoretisch fundiertes und methodisch er- probtes und ausgereiftes Konzept handelt, das in den wesentlichen Teilen den in Kapitel 2 beschriebenen Kriterien entspricht, bot es sich an, es auch als Aus- gangsbasis für eine Methode zur Analyse von Kinder- schutzfällen in Deutschland zu nutzen.

In der Folge wurde die Zusammenarbeit zwischen dem Social Care Institute for Excellence (SCIE) und dem NZFH intensiviert, die im Rahmen des Work- shops in 2010 (vgl. Kapitel 2) bereits begonnen hatte.

Neben persönlichen Austauschtreffen in München und London folgte ein intensiver telefonischer und schriftlicher Austausch. Darüber hinaus wurden ge- meinsam Ergebnisse und Erfahrungen auf der ersten und zweiten European Conference for Social Works Research in Oxford (2011) und Basel (2012) vorge- stellt und mit den Teilnehmenden diskutiert. Hieran beteiligte sich auch das Niederländische Jugendinsti- tut (NJI), das sich zu dieser Zeit mit der Übertragbar- keit des Learning together to safeguard children auf das niederländische Kinderschutzsystem befasste. Auf der Tagung Kinderschutz – Handeln mit Risiko des NZFH 2014 in Berlin wurden schließlich die Ergebnisse aus den ersten drei Fallanalysen in Deutschland und Er- gebnisse aus Fallanalysen von SCIE in England in einem gemeinsamen Vortrag präsentiert. Im Mittel- punkt des Vortrages stand die Frage, inwieweit – trotz unterschiedlicher Kinderschutzsysteme – die Ergeb- nisse ähnlich bzw. vergleichbar sind.

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Der intensive Austausch mit Dr. Sheila Fish sowie die bereitgestellten Materialien zu dem SCIE-Modell waren die Ausgangpunkte für die Entwicklung von Gemeinsam Lernen aus Kinderschutzverläufen. Die gemeinsame Diskussion und Reflexion des Prozesses haben das vorliegende Ergebnis stark geprägt. Nicht zuletzt weil sich sowohl die zeitlichen, finanziellen und gesetzlichen Rahmenbedingungen als auch der Stellenwert von Fallanalysen in den Kinderschutzsys-

temen Englands und Deutschlands erheblich unter- scheiden, weicht die vom NZFH entwickelte Methode dennoch erheblich von der Methode des Learning to- gether to safeguard children ab.

Um jedoch den Entwicklungsprozess nachvoll- ziehbar zu machen, wird in dem folgenden Abschnitt die Methode des Learning together to safeguard child- ren in Stichpunkten vorgestellt.15

15 Social Care Institute for Excellence (Hrsg.) 2009, S. 13-38

16 Fälle, bei denen Kinder zu Tode gekommen sind oder schwer verletzt wurden und der Verdacht besteht, dass Ver- nachlässigung oder Misshandlung hierbei eine Rolle gespielt haben könnten, müssen entsprechend der englischen Kinderschutzleitlinie Working together verpflichtend untersucht werden. Ob weniger gravierende Fälle einer Analyse unterzogen werden, bleibt den lokalen Institutionen überlassen. Auftraggeber einer Fallanalyse ist das Local Safe- guarding Borad (LSCB) (vgl. Kapitel 1).

17 In England gibt es inzwischen im Umfeld von SCIE ein Netzwerk sogenannter »lead reviewer« (leitende Gutachter), die von SCIE ausgebildet wurden und die die Fallanalysen freiberuflich im Auftrag der LSCB durchführen. Die lead reviewer werden im Hintergrund von SCIE beraten und unterstützt. Der Einfachheit halber wird in der folgenden Darstellung des Ablaufs von »SCIE« gesprochen, um deutlich zu machen, dass es sich um lead reviewer handelt, die nach der von SCIE entwickelten Methode arbeiten.

1. VORBEREITUNG DER FALLANALYSE (PREPARATION)

• Fallauswahl durch das Local Safeguarding Children Board (LSCB)16;

• Klärung der zentralen Untersuchungsfragen im Zusammenhang mit diesem Fall durch das LSCB und das Senior Management der am Fall beteiligten Institutionen mit Unterstützung von SCIE17;

• Zusammenstellung des sog. review-teams (Untersuchungsteams) durch das LSCB in Kooperation mit SCIE; das review-team sollte aus Vertreterinnen und Vertretern aller am Fall beteiligten Professionen bestehen. Wichtig ist, dass sie in dem zu analysierenden Prozess keine entscheidende Rolle hatten. Die Mitglieder des review-teams werden vor Beginn des Analyseprozesses über dessen Ablauf informiert und in ihre Aufgaben und Verantwortlichkeiten eingeführt.

• Zusammenstellung der sog. case-group (des Fall-Teams) durch das review-team in Kooperation mit SCIE; die case-group sollte einerseits nicht zu groß sein und anderer- seits aus möglichst vielen der am Fall beteiligten Fachkräfte unterschiedlicher Organisati- onen und Professionen bestehen. Die Mitglieder der case-group werden in einer Sitzung vor Beginn des Analyseprozesses über dessen Ablauf informiert. Sollten aus der Sicht der Mitglieder der case-group wichtige Akteure fehlen, werden diese noch einbezogen.

• Information der Familie; vor Beginn des Analyseprozesses werden die Familienmitglie- der über die Durchführung der Fallanalyse informiert.

Drei Arbeitsphasen strukturieren das Vorgehen:

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2. SAMMLUNG VON INFORMATIONEN (DATA COLLECTION)

• Die Daten werden von den Mitgliedern des review-teams in Kooperation mit SCIE erhoben.

• Hierzu werden

die wichtigsten Akten und schriftlichen Dokumente ausgewertet;

sog. Conversations18 mit wichtigen Fachkräften und bedeutsamen Bezugspersonen des betroffenen Kindes geführt. Im Mittelpunkt der Gespräche steht die persönliche Erinnerung an das damalige Fallgeschehen und deren Darstellung aus der jeweiligen individuellen Perspektive (»Wie habe ich den Fallverlauf erlebt?«; »Was ging mir damals durch den Kopf?«; »Was hat mir Angst gemacht?« etc.).

3. STRUKTURIERUNG UND ANALYSE DER DATEN (ORGANISING AND ANALYSING DATA)

Mehrere Arbeitsschritte kennzeichnen diese Phase der Fallanalyse:

a) Erstellung einer Fallgeschichte durch die Mitglieder des review-teams in Koopera- tion mit SCIE

Es wird eine Art Nacherzählung dessen erstellt, wie sich der Fall aus den unterschied- lichen Perspektiven der Fachkräfte entwickelt hat. Der Text enthält die konkreten Beschreibungen von Situationen, wie sie von den Fachkräften in den Conversations geschildert wurden. Die Fallgeschichte wird im Präsens geschrieben, um das Risiko einer rückblickenden Verzerrung19 zu verringern (vgl. 2.1) (z. B. »Die Sozialarbeiterin geht auf das Haus zu, und als sie sieht, dass das Fenster eingeschlagen ist, bekommt sie Angst.«). Die jeweilige Informationsquelle (z. B. aus Akte von wem?, Interview mit wem?) muss angegeben werden. Sollte sich bei der Erstellung der Fallgeschichte herausstellen, dass wichtige Unterlagen oder Perspektiven fehlen, können diese ergänzend eingeholt werden.

b) Darstellung des Falles in Form von sog. key practice episodes durch die Mitglieder des review-teams in Kooperation mit SCIE

In diesem Arbeitsschritt wird der gesamte Fallverlauf in einzelne Phasen (key practice episodes) untergliedert. Die Untergliederung des Falles orientiert sich an den Themen, die in den jeweiligen Phasen im Vordergrund standen (z. B.: »In der Klinik veranlasste Untersuchungen aufgrund der beobachteten Verletzungen des Kindes«). Die Länge der Phasen bzw. Episoden kann sehr unterschiedlich sein, z. B. einige Stunden, einen Tag oder mehrere Monate. Die von den Mitgliedern des review-teams und SCIE erarbeiteten key practice episodes werden von SCIE schriftlich dokumentiert.

Die einzelnen Episoden werden (noch in der gleichen Sitzung oder in einer folgenden Sit- zung) von den Mitgliedern des review-teams in Kooperation mit SCIE systematisch und

18 Die Informationen werden nicht in Form klassischer Interviews, sondern vielmehr in offenen Gesprächen gewonnen.

19 Die Erinnerung an frühere Vorhersagen oder Abläufe wird durch die Kenntnis des Ausgangs eines Ereignisses verfälscht. Dies wir als »rückblickende Verzerrung« (»hindsight bias«) oder Rückschaufehler bezeichnet.

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im Detail analysiert. Hierzu werden die unterschiedlichen Arbeitsschritte innerhalb der Episode zunächst beschrieben und bezüglich ihrer fachlichen Qualität bewertet (sowohl positiv als auch negativ). Im Mittelpunkt dieser Bewertung steht die Perspektive des Kin- des: »Welche Folgen hatte das Tun für das Kind?« »War die Entscheidung/die Aktivität aus der Perspektive des Kindes geeignet und ausreichend?«

Anschließend werden die das Denken und Handeln der jeweiligen Fachkraft beeinflus- senden Faktoren (contributory factors) rekonstruiert. Hierbei wird unterschieden zwi- schen den Ebenen »Fachkraft«20, »lokale Rahmenbedingungen«21 und »nationale Rah- menbedingungen«22. Die Ergebnisse dieses Arbeitsschrittes werden nach der Sitzung von SCIE in standardisierter Form schriftlich festgehalten.

c) Reflexion innerhalb von SCIE zur Qualitätskontrolle

Die Ergebnisse der analysierten Episoden werden zum Zweck der Qualitätskontrolle innerhalb von SCIE mit einer bisher nicht beteiligten und in dieser Arbeit sehr erfahrenen Kollegin bzw. einem Kollegen reflektiert.

d) Gemeinsame Sitzung des review-teams und der case-group unter Leitung von SCIE In einer gemeinsamen Sitzung werden den Fachkräften, die am Fall gearbeitet haben, die Ergebnisse des bisherigen Analyseprozesses vorgestellt. Hierbei haben die Fachkräf- te die Möglichkeit, Fehler (z. B. falsche Darstellungen in der Fallgeschichte) zu korrigie- ren. Darüber hinaus dient diese Sitzung dazu, den Fachkräften sowohl die Beurteilung ihrer Arbeit nachvollziehbar zu erläutern als auch mit ihnen die ihre Arbeit beeinflussen- den Faktoren zu diskutieren und ggf. zu ergänzen.

e) Prüfung der Übertragbarkeit/Generalisierbarkeit der Ergebnisse (patterns of systemic factors)

Die Mitglieder des review-teams prüfen, inwieweit es Hinweise darauf gibt, dass es sich bei den an diesem Fall deutlich gewordenen Schwierigkeiten und Fehlern um wieder- kehrende und damit für das lokale Kinderschutzsystem grundsätzlich relevante Probleme handelt.

Hierzu werden die herausgearbeiteten Probleme zunächst entsprechend der folgenden Typologien geordnet:

• human-tool operation: Einfluss und Anwendung von Instrumenten und Verfahren;

• human-management system operation: Einfluss von Strukturen und Vorgaben der Leitungsebene, die sich auf das fachliche Handeln im Einzelfall auswirken;

• communication and collaboration in multi-agency working in response to incidents/

crises: die Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Organisati- onen und Professionen in Krisen;

• communication and collaboration in multi-agency working in assessment and longer- term work: Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Organisa- tionen und Professionen bei der Risikoeinschätzung und längerfristigen Fallbearbei- tung;

20 »Front line factors«: z. B. Persönlichkeit, Rolle, Qualifikation, Arbeitsbedingungen allgemein und im Team 21 »Local strategic level factors”: z. B. Organisationskultur, Führung, finanzielle Ressourcen, Verfahren und Abläufe 22 »National/Government Level Factors«: z. B. landesweit geltende Regelungen und Gesetze

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• family-professional interactions: die Interaktion von Familie und Fachkräften in Kinder- schutzfällen;

• human judgement: menschliches Denken und Beurteilen.

Anschließend sammeln und sichten die Mitglieder des review-teams sowohl statistisches Material und frühere Fallanalysen als auch Berichte, die im Rahmen der Qualitätssiche- rung oder anlässlich von Organisationsuntersuchungen erstellt wurden.23 Das Material wird ausgewertet im Hinblick auf die Frage, ob und wenn ja in welchem Umfang und mit welcher Verbreitung das an dem Fall deutlich gewordene Problem bereits früher aufge- treten ist.

f) Gemeinsame Sitzung des review-teams und der case-group unter Leitung von SCIE Gemeinsam mit den Mitgliedern der case-group wird die Verallgemeinerbarkeit der herausgearbeiteten Probleme diskutiert. Hierbei werden die Praktikerinnen und Prak- tiker v. a. gebeten einzuschätzen, ob – vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen – es sich um ein wiederkehrendes Problem handelt und welche Bedeutung dieses für das Kinderschutzsystem im allgemeinen hat.

g) Reflexion innerhalb von SCIE zur Qualitätskontrolle

Die herausgearbeiteten Muster werden zum Zweck der Qualitätskontrolle innerhalb von SCIE mit der bereits bei Schritt c) involvierten Kollegin bzw. dem Kollegen reflektiert.

h) Erstellen des Abschlussberichtes

Die Mitglieder des review-teams erstellen in Kooperation mit SCIE einen Abschlussbericht, der eine kurze und vom Fall abstrahierte Darstellung der herausgearbeiteten Schwierig- keiten und von deren Ursachen enthält. Darüber hinaus werden in dem Bericht nur die im Analyseprozess erarbeiteten generalisierbaren und wiederholt auftretenden Problemmus- ter aufgenommen, die aus der Sicht der Mitglieder des review-teams und von SCIE für die Qualitätsentwicklung durch das LSCB von besonderer Bedeutung sind. Konkrete Empfeh- lungen, welche Maßnahmen ergriffen werden sollten, werden nicht gegeben. Vielmehr soll der Bericht dem LSCB die Probleme und ihre Entstehung nachvollziehbar erläutern, sodass es auf dieser Grundlage selbst Strategien zur Lösung und Qualitätsentwicklung entwickeln kann.

i) Präsentation der Ergebnisse

Zum Abschluss der Fallanalyse präsentiert SCIE (sofern möglich mit Unterstützung einer Vertreterin bzw. eines Vertreters aus dem review-team) dem LSCB die Ergebnisse des Analyseprozesses.

23 Die Kinderschutzleitlinie Working Together verpflichtet die im Kinderschutz tätigen Organisationen sowie die LSCB u. a., mithilfe von Audits oder Reviews die Qualität im lokalen Kinderschutzsystem laufend zu reflektieren und weiter- zuentwickeln.

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Gemeinsam lernen aus

problematischen Fallverläufen – die Etappen der Methoden-

entwicklung

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