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1. Problemskizze: Konjunktur und Krise des Offenbarungsglaubens heute 2. Problembeschreibung: Zur Grammatik von Offenbarungserfahrungen

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Academic year: 2022

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1. Problemskizze: Konjunktur und Krise des Offenbarungsglaubens heute    Einstieg: John Updike: „Gott und die Wilmots“ – ein Leitfaden der modernen 

Verlustgeschichte 

Nach  der  Selbstverständlichkeit  des  Offenbarungsglaubens:  Ein  methodisches  Inventar 

Offenbarung heute: Werbung als semiologisches Ersetzungsprogramm   

2. Problembeschreibung: Zur Grammatik von Offenbarungserfahrungen  Offenbarung(en)? Wahrnehmungsprobleme – entlang „Breaking the Waves“ 

Ein Offenbarungsmodell: „Die göttlichen Prinzipien“ von Sun Myung Moon 

„Außergewöhnliche Erfahrungen“ – zwischen Pathologisierung und neuronaler  Entschlüsselung 

Die Normalität des Anormalen: Mystische Gotteserfahrung als Grenzfall  Der  erkenntnistheoretische Problemüberhang 

 

3. Problematische Offenbarungsgeschichten – Zur Ideologiegeschichte des  Offenbarungsdiskurses 

Der Traum des Konstantin 

Ein religionspolitischer Anfang: Die altägyptische Königstheologie  Delphi als politischer Offenbarungsort 

Ein neuzeitlicher Diskurswechsel: Die politische Offenbarungstheologie in Thomas  Hobbes´ „Leviathan“ 

Eine totalitäre Offenbarungspolitik der Moderne: Die Offenbarungstheologie des  Joseph Goebbels 

 

4. Philosophische Problematisierung: Zur Kritik des Offenbarungsglaubens  Offenbarungskritik – ein historischer Einstieg 

Offenbarungskritik – antik‐mittelalterliche Spurensuche  Neuzeitliche Kritikformate 

„Critik aller Offenbarung“? Fichte als Schaltstelle 

Exemplarische Fortsetzungen – ein synchrones Panorama  

Der soteriologische Überhang der modernen Offenbarungskritik: Adornos  aporetischer Messianismus 

Der kulturtheoretische Übertrag der Offenbarungswahrheit: Slavoy Zizeks  dekonstruktive Lektüre des Christentums 

 

5. Problemverschiebung: Offenbarungsglaube im fundamentalistischen  Zwielicht 

Religionspolitische Auftritte 

Positionsbestimmung. „Fundamentals“ interreligiös  Fundamentalismus als Problem der Moderne 

Fundamentalismus – jenseits seiner modernen Entfesselung  Fundamentalistische Offenbarungspolitiken 

Theologische Reflexionsmuster – entlang „Dei Verbum“ 

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6. Aktuelle Problemkonzentration: Gewalt als Offenbarungsformat  Die Faszination der Gewalt – „Sin City“ 

Religiöse Gewalt,  offenbarend 

Religiöser Terror – eine Offenbarungsmacht  Apokalyptische Szenarien 

 

7. Problemorientierung: Die biblische Rede vom offenbar‐verborgenen Gott  Die ambivalente Macht der Offenbarung 

Der Gewinn der Ambivalenzen: Die Josephs‐Tetralogie Thomas Manns als  Humanisierungsprojekt des Offenbarungsdiskurses 

Ein ambivalenter Raum der Offenbarung: Die Schrift als Kanon 

Die offenbarungstheologische Bedeutung der Ambivalenzen: Biblische Orte,  biblische Situationen 

 

8. Systematische Problemeröffnung: Entwicklungslinien 

Einstieg: Offenbarungsnot mit fremden Offenbarungsorten – Das Votum des  Bischofs der Sahara zu den Armen als locus theologicus (Problem: Wo  offenbart sich uns Gottes Wille heute?) 

Theologische Orientierungspunkte – bis zum 2. Vatikanischen Konzil  Theologische Sprechversuche – Autoren und Konzepte 

Ökumenischer Problemhorizont: Offenbarung und Tradition   

9. Problemfall Christologie: Zur Grammatik des christlichen  Offenbarungsglaubens 

Das Problem mit falschen Messias‐Figuren – Von Bar Kochba über Sabbatai Zwi  bis zum Lubawitscher Rebbe Meneachem Mendel Schneerson  

Das Problem: Gottes Offenbarung im Menschen? Offenbarungserfahrungen mit  Jesus von Nazaret 

Die Lösungsperspektive: Das Unsagbare sagen! 

Die bleibende Bedeutung   

10. Problemerweiterung: Offenbarungsvorstellungen, interreligiös  Hindu‐Religionen 

Buddhistische Traditionen  Islam 

Das weitere religionsgeschichtliche Spektrum: Modelle  Ein kritischer Sonderfall: die Anfrage der PRT 

 

11. Vom unmöglichen Ort her: Offenbarungstheologische Inversionen  Die negative Offenbarung Gottes: Theologie nach Auschwitz 

Agamben – Offenbarung im Passiv des Muselmanns? 

Erfahrung und Interpretation: Jüdische Auffassungen als Orientierung (Orthodoxe,  Konservative, Reformjudentum – vgl. Henrix, 82)  

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Offenbarung und geschichtstheologische Inversion  Theologie in den Zeichen der Zeit 

Offenbarung und Weltende… 

   

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1. PROBLEMSKIZZE: 

KONJUNKTUR UND KRISE DES OFFENBARUNGSGLAUBENS  HEUTE 

 

 

Eine moderne Verlustgeschichte: 

John Updikes Roman „Gott und die Wilmots“ 

 

„In dem Augenblick, da Mary Pickford ohnmächtig wurde, fühlte Reverend Clarence  Arthur Wilmot im Pfarrhaus der Vierten Presbyterianischen Kirche unten an der Ecke  Straight Street und Broadway, wie die letzten Reste seines Glaubens ihn verließen. Es  war  eine  sehr  deutliche  Empfindung  – ein  Kapitulieren  in den  Eingeweiden,  eine  Handvoll dunkler funkelnder Luftbläschen, die nach oben entwichen.“1

 

Wilmot ist Prediger der Vierten Presbyterianischen Kirche in einer Kleinstadt in  New Jersey und hat soeben „die Offenbarung dieses Nachmittags“ (65) empfangen,  die ihm seinen Gott nahm. Zur gleichen Zeit, im Frühjahr 1910, wird einer der ersten  Kinofilme abgedreht, und es ist der kurze Schwenk des Erzählers, der vom Set zum  eigentlichen  Schauplatz  der  Geschichte  führt  und  damit  einen  eigenwilligen  Zusammenhang herstellt. Im Kino, im Laboratorium der Träume, muss Clarence  Wilmot fortan nach seinen kleinen Offenbarungen suchen, die ihn anrühren und  mitreißen und das letzte verbliebene Stück Erlösung versprechen, dessen göttliche  Gewähr ihm soeben geraubt wurde.  

Clarence hatte das Buch „Einige Irrtümer des Mannes Mose“ von Robert Ingersoll  gelesen und, statt seinen apologetischen Furor an diesem Werk zu entfachen, die  intellektuellen Waffen seines Glaubens niederlegen müssen. „Ruf zu den Waffen“ –  so hieß auch der Film des Romananfangs, und er handelte von einem unendlich  wertvollen Edelstein, der verloren war. Für Clarence war dieser Ruf zu den Waffen  auf  der  Suche  nach  seinem  verlorenen  Glauben  nun  gegenstandslos.  Er  war  unrettbar weg. Nach den ganzen Lektüren und Kämpfen mit den Atheisten seiner  Zeit blieb nichts als das, was offensichtlich da war. Clarence fehlte jetzt die Kraft, noch  einmal gegen die materialistische Versuchung aufzustehen. 

 

„Der Körper leidet seinen Schmerz und sucht sein Vergnügen; gibt es, ohne Offenbarung,  mehr zu wissen als dies?“ (35) 

 

Für ihn war die Zeit des möglichen Widerstands, die Zeit des Glaubens an die  Offenbarung vorbei. Neue Offenbarungen kündigten sich an: die Ästhetik der Filme,  die  ihm  über  die  folgenden  Jahre  der  Enttäuschung  und  der  ökonomischen  Niederlagen hinwegtrösten sollten.  

 

              

1 John Updike, Gott und die Wilmots. Roman, Reinbek bei Hamburg 1998 (Orig. In the Beauty of the Lilies, New  York 1996), 15. Fortan mit Seitenzahlen im Text zitiert. 

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„Seit seiner Offenbarung vor drei Jahren, daß es Gott nicht gab, hatte er ein grindiges  taubes Gefühl mit sich herumgetragen, ein in ihm festklebendes Empfinden, sich verirrt  zu haben“. (161)  

 

Nur in den Lichtspielhäusern mit den neuen „Andächtigen“ (160) dieser neuen  Zeit  kann  er  sich  eine  Geborgenheit  leihen,  die  etwas  von  einem  modern  verschobenen heiligen Commercium hat: 

 

„Er nahm die leidenschaftliche, komische, rasch sich bewegende Handlung auf der mit  hellen Kratzern gesprenkelten Leinwand wie eine lebenswichtige Speise zu sich, die ihm  bislang vorenthalten worden war.“ (161) 

 

Hier wartete jener „Raum unbegrenzter Möglichkeit“ (162), der sich ihm in seiner  Kirche verschlossen hatte. Aber auch dieser Raum ist nur auf Zeit gemietet. Der  Abschied vom Gott der Offenbarung kann auch durch die kleinen Offenbarungen  von Glück und Liebe und Leidenschaft nicht wettgemacht werden. Und so setzt sich  die Verlustgeschichte des Offenbarungsglaubens in ihm fort. 

 

„Die Filme anzusehen kostete keine Kraft, wohl aber, sich von ihnen zu erholen –  herauszusteigen aus ihrem schimmernden Bad und es wieder aufzunehmen mit den  grauen  Fakten  des  Lebens,  seines  Lebens,  das  geplündert  war  durch  Gottes  Verschwinden.“ (166) 

 

Die Offenbarung vom Ende der Offenbarung nimmt für Clarence ein tödliches  Ende. Er scheitert in seinem neuen Leben, das kaum mehr eins ist. Widerstandslos  stirbt  er  und  hinterlässt  eine  Familie,  die  im  Schatten  des  toten  Gottes  die  Offenbarungen ihrer Gegenwart entgegenzunehmen hat. Um ihre Geschichte rankt  sich der Roman im Folgenden. Teddy Wilmot, Clarences Sohn, wird sein Leben ohne  Gott führen. Für die gelegentlichen Kontakte sorgt seine Frau, aber er hat den  Abschied des Vaters in der eigenen Verbitterung über die familiären Folgen dieses  Gottestodes übernommen. Was Gott einmal war, offenbart sich ihm und mehr noch  seiner Frau später in der gemeinsamen Tochter. Sie wird wörtlich zur Diva, zur  Filmgöttin,  die  nur  um  sich  selbst  kreist  und  alle  Welt  in  den  Bann  ihrer  unerschöpflich kalten Liebe zieht. Die Geschichte des Gottesverlustes setzt sich in  den Verlustgeschichten ihres Lebens um: Sie kommt nicht zur Ruhe. Ihre Karriere  kreist um die Liebe, die sie nicht einmal für ihren Sohn aufzubringen vermag. Von  Gott  hat  sie  ihm  nichts  erzählt,  und  so  steht  er  später  irritiert  vor  der  Selbstverständlichkeit,  mit  der  ihn  eine  Zufallsbekanntschaft  in  ihrem  Glauben  konfrontiert. Zunächst wegen dieser Frau, aber auch fasziniert von der Erfahrung  des Sektenführers Jesse schließt er sich seiner religiösen Gemeinschaft an. Gott hat  sich der Familie Wilmot noch einmal offenbart: dem Urenkel des alten Predigers, der  1987 in den „Tempel des Wahren und Wirkenden Glauben“ eintritt, aber auch seiner  Mutter, Alma, denn „sie war ihn los, Gott hatte ihn ihr abgenommen.“ (537) 

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Das gilt wörtlich, denn Clark stirbt am Ende. Er hat sich in Jesses gewalttätige  Offenbarungsgeschichte verwickeln lassen. Bei allem guten Willen zu glauben hatte  er den Zweifel seines Großvaters, die Anfechtungen des Jahrhunderts geerbt. Die  neue  Glaubenswelt  blieb  ihm  immer  zugleich  fremd.  Den  ungebrochenen  Biblizismus seiner Glaubensgeschwister kann er nicht widerstandslos teilen. Als sich  schließlich  ein  militärischer  Konflikt  mit  der  Außenwelt  ergibt  und  Jesse  die  verbliebenen Frauen und Kinder umbringen will, schreitet Clark ein. Er wird zum  Retter, der sein Leben hingibt – ein kleines christologisches Motiv am Rande, freilich  ohne theologische Bedeutung. Die letzte Offenbarung des Romans findet stattdessen  erneut als Film statt, via TV. Teddy, die verbindende Figur von Anfang bis Ende,  lässt sich die Apokalypse im „Tempel des Wahren und Wirkenden Glauben“ in jener  Nachrichtensendung vorführen, in der sein Enkel die Hauptrolle spielt.  

Updikes  Familienroman  erzählt  die  Geschichte  eines  Jahrhunderts,  das  seine  traurigen  Offenbarungen  nicht  nur  in  einem  neuen  Medium  distanzierter  und  gesteuerter  Wahrnehmung  auflegt,  eben  im  Film,  sondern  das  vor  allem  den  Offenbarungsgeschichten Gottes alle Glaubwürdigkeit zu rauben scheint. Waren es  eingangs die religionskritischen Anfechtungen der Moderne, die Clarence aus den  Glaubensgleisen  warfen,  so  sind  es  schließlich,  nach  den  Jahrzehnten  der  umstandslos gelebten Gottesermattung, gerade die neuen Religiösen, die Zeloten der  Gottessicherheit  und  Offenbarungsgewissheit,  die  diesem  Glauben  den  Garaus  machen – erneut wörtlich, physisch am Ende.  

Offenbarunge n der Gewalt 

„Gott und die Wilmots“ lässt sich als exemplarische Offenbarungsgeschichte nach  dem Ende der Offenbarungen lesen. Der entsprechende Glaube hält sich jenseits der  Schwellen seiner intellektuellen Selbstverständlichkeit. Und so offensiv seine Eiferer  auch auftreten, sind sie doch die Transporteure dieser großen Einbuße, gerade weil  sie  als  Fremdkörper,  in  Eigenwelten  abgedrängt,  begegnen.  Im  Europa  des  begonnenen 3. Jahrtausends sind sie der Sonderfall der Gotteserwählung und ein  Sinnbild seiner Marginalisierung. 

   

Nach der Selbstverständlichkeit des Offenbarungsglaubens: Ein methodisches Inventar 

 

Lange  Zeit  hat  der  Topos  Offenbarung  in  der  Theologie  einen  sehr  selbstverständlichen Ort eingenommen. Offenbarung Gottes – das war eine evidente  Vorstellung. Nicht nur für die Theologie des 20. Jahrhunderts bildete sie einen  entscheidenden Haftpunkt. Um sie herum gruppierten sich die modernen Linien  theologischer Auseinandersetzung und Schulbildung: vom polemisch eingeführten  Markenzeichen eines „Offenbarungspositivismus“, wie er Karl Barth zugeschrieben  wurde, über das Entmythologisierungsprogramm eines Rudolf Bultmann bis hin zu  Karl Rahners Großentwurf einer transzendentalen oder Hans Urs von Balthasars  Modell einer ästhetischen Theologie der Offenbarung. Wolfhart Pannenbergs Skizze  einer  „Offenbarung  als  Geschichte“  gehört  ebenso  hierher  wie  die  religionspluralistische Umsiedlung des Offenbarungsglaubens in die unabsehbaren  Weiten der vorfindlichen Religionen. Gerade weil die Rede von einer Offenbarung 

Offenbarungs theologien  des 20. 

Jahrhunderts 

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Gottes religionsgeschichtliches Herzgelände erschließt, gerade weil der Glaube an  die  Selbstoffenbarung  Gottes  in  Jesus  Christus  für  christliche  Theologie  unverzichtbar bleibt, muss die allmähliche Erschöpfung dieses Konzepts Fragen  aufwerfen.  

In seiner 1996 veröffentlichen „Einführung in die Theologie der Offenbarung“ hat  Hans  Waldenfels  bereits  vom  Ende  dieser  theologischen  Schlüsselkategorie  gesprochen  –  genauer:  vom  Ende  jener  Epoche,  „in  der  die  Theologie  der  Offenbarung im Zentrum christlichen Selbstverständnisses stand“.2 Jede Theologie  hat  ihre  Zeit;  aber  das  gilt  auch  umgekehrt.  Theologie  schafft  neue  Interpretationskategorien  ihrer  Gegenwart.  Zugleich  ist  sie  in  eigenen  Machtproportionen den unterschiedlichen Umstellungen in den Wissensformen und  den lebensweltlichen Vermessungen der Wirklichkeit ausgesetzt. Erschien vor zehn  Jahren  noch  der  Pluralismus  als  die  entscheidende  Herausforderung  des  Offenbarungsglaubens, so steht man heute vor seinen radikalen Konsequenzen: In  Zeiten einer sich  abzeichnenden Marginalisierung  des  theoriestarken westlichen  Christentums,  zumindest  was  seine  großkirchlichen  Auftritte  betrifft,  wird  das  Verständnis  dessen, was  Offenbarung  einmal  meinte,  zunehmend weltloser.  Die  Vorstellung selbst ist kulturell unterwandert und fremdsprachlich abgedriftet. Sie ist  aus dem Netz jener Begriffe gefallen, mit denen wir unsere Wirklichkeit einzufangen  suchen. Offenbarung scheint für das, was uns widerfährt, keine Deutungsreserven  mehr zu versprechen. Offenbarung kommt nicht vor, weil man keine Offenbarungen  erfährt – jedenfalls kaum in theologisch strengem, also kritischem Sinn. 

Ende einer  theologischen  Schlüsselkate gorie 

Das  war  schon  das  Problem  der  Aufklärung,  auf  den  Punkt  gebracht  vom  suchenden Glaubenden Gotthold Ephraim Lessing: 

 

„Ich leugne gar nicht, daß in Christo Weissagungen erfüllt worden; ich leugne gar nicht,  daß Christus Wunder getan: sondern ich leugne, daß diese Wunder, seitdem ihre  Wahrheit völlig aufgehöret hat, durch noch gegenwärtig gangbare Wunder erwiesen zu  werden; seitdem sie nichts als Nachrichten von Wundern sind, (mögen doch diese  Nachrichten so unwidersprochen, so unwidersprechlich sein, als sie immer wollen)  mich zu dem geringsten Glauben an Christi anderweitige Lehren verbinden können  und dürfen.“3

G. E. Lessing  (1729‐1781): 

Die fehlenden  Erweise „des  Geistes und  der Kraft“ 

   

Der Titel „Offenbarung“ fehlt hier. Aber er ist mit der Offenbarungsform des  Wunders gemeint. Jede mögliche Offenbarung geht in den Zufällen der Geschichte  unter.4 Sogar und zumal eine wundertätige. Nicht nur, weil sie im Vorgang ihrer  weiteren Vermittlung an Authentizität verliert, sondern weil sie eben ein Teil bloßer  Geschichte bleibt, also kontingent, anfällig für Verfälschung und Missbrauch. Vor 

              

2 Hans Waldenfels, Einführung in die Theologie der Offenbarung, Darmstadt 1996, 1. 

 

3 Gotthold Ephraim Lessing, Über den Beweis des Geistes und der Kraft, in: Werke in drei Bänden. Dritter Band  (Bibliothek deutscher Klassiker 4), hrsg. v. Herbert G. Göpfert, München‐Wien 1982, 347‐354; hier: 353f. 

4 Zur Offenbarungskritik Lessings vgl. auch seine „Gegensätze des Herausgebers“ der Schrift „Von Duldung der 

Deisten. Fragment eines Ungenannten“, in: Werke in drei Bänden. Dritter Band, 327‐348. 

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allem: Sie ist für Lessing als Geschichte das glatte Gegenteil des Behaupteten – eben  kein  Absolutes.  Seit  der  Aufklärung  hat  sich  die  Theologie  mit  z.  T.  sehr  erfolgreichen Lösungsvorschlägen  auf dieses Problem eingestellt –  wovon  noch  genauer zu reden sein wird.5 Vor allem eine Strategie versprach Erfolg: der Wechsel  von  einem  äußeren  Bezugssystem  in  die  Innerlichkeit  des  Subjekts. 

Transzendentaltheologie  auf  den  Spuren  Kants  und  des  deutschen  Idealismus  arbeitete  an  einem  Begriff  von  Offenbarung,  der  bereits  in  den  Wahrnehmungsbedingungen des Subjekts selbst vorliegen sollte: 

   

„Die Konstituierung des Menschen geschieht durch Schöpfung und Selbstmitteilung  Gottes, durch schöpfungsmäßige radikale Unterschiedenheit von Gott und Distanz zu  ihm als dem absoluten heiligen Geheimnis und zugleich in gnadenhafter absoluter  Nähe  zu  diesem  Geheimnis.  Insofern  diese  transzendentale  Konstituierung  des  Menschen, sein Anfang, immer auch eine Einsetzung in eine konkrete Geschichtlichkeit  als in den vorgegebenen Anfang und Horizont des Menschen in seiner Freiheit ist, und  insofern diese Konstitution logisch und sachlich – wenn vielleicht auch nicht greifbar 

Karl  Rahner  (1904‐

1984): 

Transzend entale  Methode

zeitlich – seiner freien und zwar schuldhaften Selbstinterpretation vorausgeht, können  wir vom paradiesischen Anfang der transzendentalen und kategorialen Offenbarung  Gottes, von der transzendentalen und kategorialen Uroffenbarung sprechen.“6

 

Karl Rahner verbindet hier die raum‐zeitlich erfahrbare („kategoriale“) Geschichte  mit den Bedingungen der Möglichkeit, sie wahrzunehmen („transzendental“). Beides  gehört zusammen. Der Mensch, der von Gott geschaffen wurde, ist auf diesen Gott  als  das Geheimnis  seines Ursprungs hingeordnet – er  ist  sein „Horizont“. Der  Mensch überschreitet sich auf das Absolute hin.  

 

„Der Mensch ist das Wesen der Transzendenz, insofern alle seine Erkenntnis und seine  erkennende  Tat  begründet  sind  im  Vorgriff  auf  das  ‚Sein’  überhaupt,  in  einem  unthematischen,  aber  unausweichlichen  Wissen  um  die  Unendlichkeit  der  Wirklichkeit“.7

 

Der Mensch ist über sich hinaus. Das setzt sich in seinen sämtlichen Vollzügen  durch. Er fragt im Horizont des Unendlichen nach Anfang und Ende und Sinn von  allem. Genau darin zeigt sich Rahners „Uroffenbarung“. Das ist der Anfang vor allen  geschichtlichen Anfängen. Das ist die transzendentale Spur Gottes im Menschen und  insofern  seine  Selbstmitteilung.  Sie  liegt  in  der  Grammatik  jedes  Weltzugangs  verborgen: dass der Mensch nämlich an diesem Horizont des Unendlichen, an dem  Zwang, immer weiter über sich hinauszugehen, nicht vorbeikann. 

Gott bleibt gegenüber dem Menschen souverän. Aber er wird in den Innenraum  seiner  Erfahrungswelt  verschoben.  Damit  zeichnet  sich  eine  wichtige 

              

5 Zur Problemgeschichte  vgl. den konzisen Überblick von Max Seckler, Aufklärung und Offenbarung (CGG 21), 

Freiburg u.a. 1980, 5‐78. 

6 Karl Rahner, Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, Freiburg u.a. 1984, 166. 

7 Ebd., 44. 

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Antwortmöglichkeit auf Lessings Frage ab. Sie kostet freilich ihren Preis: Von einer  Offenbarung Gottes ist fortan indirekt zu sprechen, letztlich transzendental, nicht  länger  vor  allem  kategorial,  also  im  engeren  Sinn  geschichtsnah. 

Mentalitätsgeschichtlich hat Lessing Recht behalten. Sein garstiger breiter Graben trennt  nach wie vor zwei Welten. Wer sich heute auf eine Offenbarung beruft, die er in  dieser Welt festmacht, ist in den Augen des „aufgeklärten“ Zeitgenossen ein Fall für  den Psychiater.  

Freilich ist das gegenwärtige Bild uneinheitlicher, szenenreicher, überraschender. 

Es  gibt  den  Anspruch  auf  Offenbarungen  unterschiedlichster  und  wohl  auch  zweifelhaftester Provenienz. Oft begegnet er verdeckt, unausdrücklich. Immer öfter  steht er politisch ins Haus. Aber gerade deshalb hat sich über den Begriff eine Patina  aus Unbehagen, Zweifel und Verstörung gelegt. Für eine kulturwissenschaftlich  argumentierende Theologie muss  Offenbarung  deshalb in den  Hintergrund  der  neuen Stellungswechsel rücken. Zwischen Karl Barth und gegenwärtiger Theologie  hat sich hier Entscheidendes verschoben. Ein Beispiel zwischen den Zeiten: Für den  evangelischen Systematiker Friedrich Wilhelm Graf ist, durchaus mit Barth, die  entscheidende Aufgabe der Theologie, von Gott zu reden. Aber wie? Bei Barth heißt  es markant: 

 

„Das Wort Gottes ist die ebenso notwendige, wie unmögliche Aufgabe der Theologie.“ 

 

Für Barth ist es nun kennzeichnend, in dieser Aporie von Gott zu sprechen. Dieser  Gott  ist  nicht  einfach  da,  und  sein  Wort  steht  menschlich  nicht  einfach  zur  Verfügung.  Der Theologe hat zu sagen, was sich nicht sagen lässt – und muss genau  das zum Ausdruck bringen. D.h. er muss die Notwendigkeit von Gott zu sprechen in  der Unmöglichkeit aussagen, dass der Mensch von Gott sprechen soll.  

 

„Wir können nicht von Gott reden. Denn von Gott reden würde, wenn es ernst gelten  soll, heißen, auf Grund der Offenbarung und des Glaubens reden. Von Gott reden würde  heißen, Gottes Wort reden, das Wort, das nur von ihm kommen kann, das Wort, daß Gott  Mensch wird. Diese vier Worte können wir sagen, aber wir haben damit noch nicht das  Wort Gottes gesagt, in dem das Wahrheit ist. Das zu sagen, daß Gott Mensch wird, aber als  Gottes Wort, wie es eben wirklich Gottes Wort ist, das wäre unsere theologische Aufgabe. 

Das müßte wie mit Posaunen schallen erschallen in unseren Kirchen und wahrhaftig  auch in unseren Hörsälen, und aus den Kirchen und aus den Hörsälen hinaus auf die  Straßen, wo die Menschen unsrer Zeit darauf warten, daß ihnen das gesagt werde, aber  anders als  wir  Schriftgelehrten  pflegen.  Dazu  stehen wir  auf  unsren  Kanzeln  und  Kathedern, um ihnen das zu sagen. Solange wir ihnen das nicht sagen, reden wir an ihnen  vorbei, enttäuschen wir sie. Denn das allein, aber wohl gemerkt: als Gottes Wort, ist die  Antwort, die echte Transzendenz besitzt und gerade darum die Kraft hat, das Rätsel der  Immanenz  aufzulösen…  Diese  Antwort  sollten  wir  geben  und  eben  diese  Antwort  können wir nicht geben… Und eben so genau ist zu bedenken, daß es mit unsrer Aufgabe  so steht, daß von Gott nur Gott selber reden kann. Die Aufgabe der Theologie ist das Wort  Gottes… Es könnte ja sein, daß das die lebendige Wahrheit wäre, die über Ja und Nein  ist, die Wirklichkeit Gottes, über die ich nicht zu verfügen habe mit einer dialektischen 

(10)

Umkehrung, in der es aber aus eigener Macht und Liebe verfügt sein könnte, daß  Verheißung eingegangen ist in unsre Bedrängnis, daß das Wort, das Wort Gottes, das wir  nie sprechen werden, angenommen hat unsre Schwachheit und Verkehrtheit, so daß  unser Wort in seiner Schwachheit und Verkehrtheit fähig geworden wäre, wenigstens  Hülle und irdenes Gefäß des Wortes Gottes zu werden.“8

 

Die Antwort auf die Frage, was Theologie denn noch soll, wird hier aus dem  prekären  Gedanken  der  Offenbarung  gegeben.  Nach  Barth  muss  man  das  Unmögliche zum Thema machen und darf darauf hoffen, dass es gerade in dieser  Gestalt zu Wort komme – als es selbst. Im Allerletzten ist dieses Wort ein konkreter  Mensch: Jesus von Nazareth. Was für Lessing nicht mehr möglich schien, darauf  setzt Barth ganz entschieden.  

 

„Wer >Jesus Christus< sagt, der darf nicht sagen: >es könnte sein<, sondern: es ist. Aber  wer von uns ist in der Lage >Jesus Christus< zu sagen? Wir  müssen uns vielleicht  begnügen mit der Feststellung, daß Jesus Christus gesagt ist von seinen ersten Zeugen. 

Auf ihr Zeugnis hin zu glauben an die Verheißung und also Zeugen von ihrem Zeugnis  zu sein, also Schrifttheologen, das wäre dann unsre Aufgabe.“9

 

Auch für Barth ist  die  Rede  von  einer Offenbarung Gottes alles Andere  als  selbstverständlich.  Indem  er  die  theologischen  Anfechtungen  seiner  Gegenwart  aufnimmt, kann er allerdings zeigen, dass sie konstitutiv zur Sache des Glaubens  selbst gehören. Wo Lessing von Kraft sprach, bringt Barth die Schwachheit ins Spiel. 

Ein signifikanter Vorgang. Nach Barth ist Gott genau hier zu suchen. Unter den  Bedingungen dieser Wirklichkeit nimmt sich das fragwürdig aus. Und das muss es  sein, jedenfalls wenn man der Eigenlogik jener Texte folgt, auf die Barth jeden  Theologen als Schrifttheologen verpflichtet. 

Demgegenüber  folgt  eine  kulturwissenschaftlich  ansetzende  Theologie  einer  anderen Strategie. Auch für Friedrich Wilhelm Graf steht, achtzig Jahre nach Barth,  dieselbe  Frage im  Raum,  diesmal  universitätspolitisch unter  heikel veränderten  Bedingungen:  „Wozu  noch  Theologie?“  Ganz  offensichtlich  kann  man  sich  im  Rahmen  der  angestammten  Wissenschaftsdiskurse  den  Rückgriff  auf  einen  theologisch vorausgesetzten Offenbarungsglauben nur um den Preis der eigenen  Verständlichkeit leisten. Mit gutem Grund. Zu unverträglich erscheinen die vielen  Optionsscheine auf eine göttliche Offenbarung. Theologie übernimmt von daher  nach Graf eine nuanciert verschobene Aufgabe: 

 

„Theologie will durch rationale Vergegenwärtigung des christlichen Glaubens auch das  Bewusstsein seiner Ideologisierbarkeit präsent halten.“10

 

              

8 Karl Barth, Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie 

9 Ebd. 

10 Friedrich Wilhelm Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2004, 276. Die 

oben zitierte Frage leitet diese Passage ein. 

(11)

Damit  stehen  einerseits  die  Ansprüche  auf  eine  mögliche  Gottesoffenbarung  kriteriologisch  auf  dem  Prüfstand  der  Vernunft.  Andererseits  rückt  ein  neues  Bewährungsfeld  der  Theologie  in  den  Blick,  und  das  steht  jenseits  der  offenbarungstheologischen  Begründungsdiskurse.  Graf  will  Theologie  als  Grenzwissenschaft unter doppelten Bedingungen entwerfen: unter der Maßgabe der  biblischen Schriften mit ihrer Trennschärfe zwischen Gott und Mensch, aber auch  unter den Bedingungen ausdifferenzierter Wissenskulturen, in denen gerade die  theologischen Traditionsträger ins Vergessen abgedrängt zu werden drohen. Graf  sucht die Anschlüsse für die theologischen Erinnerungsspuren zu legen, indem er  die kulturwissenschaftlichen Erbschaftsverhältnisse aufdeckt: 

 

„Die  modernen  Geistes‐ und  Kulturwissenschaften  entstanden  im  Deutschland  des  späten 18. und 19. Jahrhunderts häufig aus Teildisziplinen oder Hilfswissenschaften der  protestantischen Theologie und einer stark protestantisch geprägten Philosophie… Nur  sehr  wenig Kantianismus  oder  deutscher  Idealismus ohne  protestantischen  Subtext,  keine frühe Germanistik ohne implizite Konfessionsgrammatik und Konstruktion eines  protestantischen  Kanons  der  Nationalkultur,  keine  Erfindung  des  modernen  Individualismus aus dem Geiste der Renaissance ohne die Basler Pfarrhaussozialisation  und tiefe religiöse Krise des Theologiestudenten Jacob Burckhardt.“11

 

Auch für Graf bleibt es theologische Erstaufgabe, von Gott zu sprechen. Aber die  Vorzeichen  sind  gegenüber  Barth  transponiert,  beinahe  aufgelöst.  Der  alte  offenbarungstheologische  Begründungsdiskurs  hat  seine  Plausibilitäten  kulturwissenschaftlich abtreten müssen. Bescheidener, leiser, auch sensibler für die  eigenen  Risikopotenziale  kommt  der  alte  Glaube  daher.  Die  Agenden  der  Unmittelbarkeit  Gottes  unter  den  Voraussetzungen  eines  individuellen,  z.  B. 

prophetisch  begeisterten  Offenbarungsträgers  oder  eines  Gruppenichs  in  der  exemplarischen  Gestalt  apokalyptisch  aufgebrachter  Bewegungen  stellt  jeden  Offenbarungssatz unter Vorbehalt. Die Stärke aller Gottrede markiert ihre Schwäche: 

Sie  ist  interpretativ  offen,  also  flexibel  in  Situationen  mit  transzendentem  Erklärungsbedarf, aber zugleich dementsprechend leicht ideologisch nutzbar. 

 

„Rationale Theologie gewann in der Alten Kirche deshalb so großes Gewicht, weil  Grenzen des Sagbaren markiert und leicht mögliche Fehldeutungen zentraler christlicher  Symbole verhindert werden sollten… Gott, Christus und Heiliger Geist – der politisch  irrationale, theologisch ungeklärte Gebrauch dieser Begriffe kann unendlich viel Schaden  anrichten. Himmel und Hölle, Heil und Verderben, Sünde und Erlösung, Diesseits und  Jenseits, Natur und Gnade: Die leitenden Begriffe christlich‐religiöser Sprache lassen sich  immer auch für tendenziell totalitäre Programme einer umfassenden Integration oder  Unterdrückung des Individuums instrumentalisieren. Politische Auslegung religiöser 

Friedrich  Wilhelm Graf  (* 1949): 

Kultur‐

historische  Methode 

Vorstellungen,  Zeichen  und  Begriffe  ist  dabei  keineswegs  ein  bloß  vormodernes  Phänomen, zu finden allein in den Herrscherkulten der Antike oder des Mittelalters. 

Auch  die  Religionsgeschichten  der  Moderne  lassen  vielfältige  Formen  der 

              

11 Ebd., 264f. 

(12)

Beharrungskraft politischer Religion und >politischer Theologie< erkennen, innerhalb  wie außerhalb des Christentums.“12

 

Solche Politiken haben immer wieder und fast durchgängig Offenbarungsgrund. 

Die kritische Methode zur Beurteilung von Offenbarungssätzen trägt freilich ihren  blinden Fleck nicht aus. Alle Kritik zehrt von einem Maßstab, der in diesem Fall das  sein soll, was zur Bewertung ansteht. Auch das Evangelium von der Würde des  Individuums  und  einer  „Religionskultur  humaner  Selbstbegrenzung  des  Menschen“13 ist theologisch begründungsbedürftig – oder als theologische Stellung  bereits nach dem letzten Rückzug ins kulturgeschichtliche Hinterland aufgegeben. 

Was ist aber, streng theologisch und also kritisch, unterscheidungsstark gedacht, die  Offenbarungsgröße, von der auch die kulturwissenschaftliche Rekonstruktion der  Theologie zehrt? Welche Autorität kommt ihr auf welcher Basis zu? Es sind gerade  die  Schwierigkeiten  mit  einem  selbstverständlichen  Gebrauch  des  Offenbarungsgedankens,  die  seine  Unvermeidlichkeit  in  Form  gesteigerter  Problemlasten markiert. Man kommt um ihn theologisch nicht herum. Das macht ihn  in seiner Schwäche so stark. 

Von Grafs impliziten, über den methodischen Zugriff ausgetragenen – und im  Kontext  der  Moderne  unzweifelhaft  berechtigten  –  Schwierigkeiten  mit  einem  Rekurs auf´s Offenbarungstheologische liegt der Weg zu einem funktionslogischen  Verständnis  von  Offenbarung  nahe.  Niklas  Luhmann  steht  hier  Pate.  Religion  erschließt für ihn das, was sich nicht genau bezeichnen lässt, aber für den religiösen  Menschen  wirklich  ist.  Die  Doppelcodierung  des  Bekannten  und  Unbekannten  verlangt  ein  eigenes  Beschreibungssystem.14  Es  übernimmt  die  Funktion,  die  Komplexität unserer Welt zu verarbeiten,  indem sie sie  reduziert. Mit anderen  Worten:  Religion  macht  die  Wirklichkeit  zugänglich,  weil  sie  verstehbar  wird. 

Religion kann für das Problem der Entstehung der Welt die Vorstellung von einem  Schöpfergott anbieten. Damit hängt die Lösung eines weiteren Problems zusammen: 

Religion setzt anstelle der anonymen Zufälle des Lebens eine personale Sinngröße  ein,  die  es  gegebenenfalls  erlaubt,  Schicksalsschläge  zu  verarbeiten  und  möglicherweise auch die eigene Todesangst in das Leben zu integrieren. 

Niklas  Luhmann  (1927‐1998): 

Funktions‐

logische  Methode 

 

„Religion hat demnach… für das Gesellschaftssystem die Funktion, die unbestimmbare,  weil nach außen (Umwelt) und nach innen (System) hin unabschließbare Welt in eine  bestimmbare zu transformieren, in der System und Umwelt in Beziehungen stehen  können, die auf beiden Seiten Beliebigkeit der Veränderung ausschließen.“15

 

Was hat das mit Offenbarung zu tun? Das entsprechende Dogma hat seinerseits  die Funktion, das Religionssystem mit einer Begründung zu versehen. Es wird auf  dieser Basis belastbar durch externe wie interne Anfragen in Form offener Kritik 

              

12 Ebd., 274f. 

13 Ebd., 278. 

14 Vgl. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft. Bd. 1, Frankfurt a. M. 1997, 232.‐ Vgl. zum gesamten 

Ansatz ders., Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2000. 

15 Niklas Luhmann, Funktion der Religion, Frankfurt a. M. 1982, 26. 

(13)

oder sublimen Zweifels. Damit betreibt es die Rationalisierung des eigenen Systems  und kann es verallgemeinern: 

 

„Das Dogma der Offenbarung dient als koordinierende Generalisierung. Es kombiniert  (1)  eine  universell  verwendbare  Autorschaft  (Gott)  mit  (2)  relativ  verweisungsoffenen,  deutungsfähigen Inhalten, deren Rationalität und Interpretierbarkeit gleichwohl garantiert  ist, und (3) mit dem wirklichen Erscheinen einer Möglichkeit in der Form (4) eines  besonderen historischen Ereignisses, das als ein besonderes (5) unmittelbare Evidenz hat und  als ein historisch‐einmaliges (6) der variierenden Disposition durch die je gegenwärtige  Gesellschaft  entzogen  ist,  vielmehr  allein  einer  theologischen  Dogmenverwaltung  unterliegt. Mit Hilfe dieser konzeptuellen Erfindung können universelle Relevanz und  spezifische  Kompetenz  zugleich  begründet  werden,  und  in  einem  damit  wird  das  Kommunikationsmedium  der  Religion  als  symbolisch  generalisiertes,  sprach‐  und  kommunikationsfähiges Interpretationsmittel glaubhaft gemacht: Die Offenbarung liefert  und begründet den Code des Mediums. Zugleich liegt in der historischen Faktizität der  Offenbarung ein im Laufe der Zeit sich steigernder Abstraktionszwang, dem nur durch  Interpretation Rechnung getragen werden kann.“16

 

Entscheidend  ist  dabei,  dass  das  Konzept  Offenbarung  die  Kraft  zur  Selbstbegründung hat. Man muss sich zum Glauben entscheiden, dass sich Gott  selbst in einer Offenbarung als Wort, Schrift oder Ereignis vermittelt. Eine besondere  Rationalisierungsleistung liegt dabei mit dem Modell jener Selbstoffenbarung Gottes  in der Geschichte vor, mit der die gespannte Doppelcodierung jedes Systems, das  Bekanntes und Unbekanntes zu integrieren hat, bereits aufgenommen wird. Gott  kann hier in seiner Offenbarung der Verborgene bleiben und umgekehrt. Man steht  vor einem äußerst deutungsstarken Ensemble. Zugleich liegt hier ein Risiko: Man  muss die ursprüngliche Offenbarung nicht nur interpretativ weiterentwickeln, und  zwar angesichts konkreter Herausforderungen, sondern man fasst diese Probleme in  einer zunehmenden Abstrahierung. Das Zugleich von „offenbar – verborgen“ liefert  eine allgemeine Grammatik, die aber in der Gefahr steht, die Anfrage durch eine  besondere Erfahrung (z. B. Leid oder Schuld) in ein universalisierbares, aber auch zu  allgemeines Antwortregister zu verschieben. Hier lauern Plausibilitätsverluste – und  genau damit hat es der Offenbarungsglaube nach Luhmann neuzeitlich zu tun. 

 

„Ob dieses Dogma seine Funktion heute noch erfüllt, nachdem der gesellschaftliche  Wandel  des  Zeitverständnisses  es  hat  historisch  werden  lassen; ob hier  noch  eine  ausreichende  Artikulationsbasis  für  die  Steuerung  des  Umweltverhältnisses  der  Religionssysteme liegt; ob, mit anderen Worten, Interpretation und Reinterpretation von  Offenbarung die Funktion von Religion noch erfüllen kann oder ob nicht Interpretation  durch Religion ersetzt werden müßte – das sind Fragen, die die Soziologie stellen, aber  nicht  beantworten  kann.  Vielleicht  findet  die  Theologie  Möglichkeiten,  von  Interpretation  der  Offenbarung  und  Interpretation  des  Interpretierens  zur  funktionsbewußten Reflexion des Interpretierens überzugehen.“17

              

16 Ebd., 170f. 

17 Ebd., 180. 

(14)

 

Mit dieser Kritik, zumal aber mit diesem Arbeitsauftrag steht die Theologie der  Offenbarung zur Disposition. Die Totalität einer systemischen Beschreibung von  Offenbarung  behält  dabei  gerade  dann  noch ihr  Recht,  wenn  zugleich  an  der  Eigenlogik des Offenbarungsglaubens festgehalten wird.18  

   

Direkter  Transzendentale  Dialektische  Kulturhistorische  Fun

Zugriff (z. B.  Methode  Methode  Methode  Me

Wunder)  (Rahner)  (Barth)  (Graf)  (Lu

(Biblizismus) 

Fokus:   Fokus:  Fokus:  Fokus:    Fok

Sinnlich  Innenwelt des   Äußeres  (Kultur‐)  Inn

wahrnehmbar Subjekts  Offenbarung Geschichtliches  Sys

e Wirklichkeit   swort  Außen  

 

Offenbarung heute: Werbung als semiologisches Ersetzungsprogramm 

Die funktionale Beschreibung des Offenbarungsglaubens hat einen interessanten  Nebeneffekt: Sie sensibilisiert dafür, wo und wie Offenbarungschiffren beansprucht  und  eingesetzt  werden.  Mit  anderen  Worten:  welche  Funktion  sie  aktuell  übernehmen. Darüber bestimmt sich der Ort religiöser Zeichen und Überzeugungen  in der Gegenwart.  

Wie  noch  zu  zeigen  sein  wird,  hat  sich  mit  dem  Abschied  vom  instruktionstheoretischen Offenbarungsverständnis eine interessante Wende in der  (katholischen)  Theologie  vollzogen.  Offenbarung  ist  nicht  länger  ein  göttliches  Informationsprogramm. Es geht nicht vorgeordnet darum, ein bestimmtes Wissen  über Gott zu erhalten. Stattdessen rückt eine komplexe Wahrnehmungslehre in den  Vordergrund: Christlich ist Offenbarung schließlich an das konkrete Leben des Jesus  von Nazareth gebunden. Es lässt sich nicht auf einen Begriff bringen, wie bereits die  vielen christologischen Titel im NT andeuten. Eine ästhetische Perspektive, nämlich  die  Frage  nach  der  Wahrnehmungsform  von  Offenbarung,  erhält  besonderes  Gewicht. Als Modell für ein solches Verständnis kann die Heilung eines Blinden  nach Mk 8,22‐26 dienen. Jesus öffnet ihm die Augen. Die Heilung besteht darin, dass  er neu zu sehen lernt. Was er als erstes sieht, nachdem seine Augen dafür geschärft  sind (V. 26), muss der gewesen sein, der vor ihm steht (V. 23): der Heiland, der  Offenbarer selbst, den er (an)erkennt. 

Der ästhetische Wechsel in der theologischen Wissensform hat Folgen. Die Figuren  in John Updikes Roman „Gott und die Wilmots“ wechseln nicht zufällig das Medium  ihrer existenziellen Anschauungsform und Selbstverständigung. Durch den Film  drängt eine neue Offenbarungswirklichkeit mit eigenen soteriologischen Qualitäten 

              

18 Vgl. Thomas Ruster, Distanzierte Beobachtung. Niklas Luhmanns „Religion der Gesellschaft“, in: HerKorr 55 

(2001) 90‐96. 

(15)

im  gesellschaftlichen Bewusstsein und in den alltäglichen Lebensvollzügen nach  oben. Die Dramen um all das, an dem letztlich das Heil oder das Unheil des  Menschen  und  seiner  Welt  hängen,  werden  hier  gespielt.  Offenbarungen  ganz  eigener  Art  stehen  an.  Natürlich  galt  Entsprechendes  zu  jeder  Zeit  von  allen  Kunstformen: vom Bild, von Musik und Literatur, zumal auf dem Theater. Aber hier  wird in der Verbindung der jeweiligen Ausdrucksmöglichkeiten eine ästhetische  Totalität möglich, die eine besondere Aufmerksamkeit an sich zieht.  

Die entsprechende Umstellung der Wahrnehmungsform für das, was sich offenbart,  ist brisant. Es geht um die Tendenz zur Totalisierung im Zeichen des Marktes. Hier  wird eine neue Heilsökonomie inszeniert, die sich ganz im Modus des Austauschs  vollzieht. Sie wird vielleicht am sichtbarsten in einem lebensweltlich dominanten  Gegenwartsformat:  in  der  Werbung.    Werbung  hat  es  ganz  ausdrücklich  mit  Offenbarung zu tun. Sie präsentiert das Produkt und nutzt dabei auffallend häufig  religiöse Chiffren mit Offenbarungswert. Vom heiligen Commercium war bereits die  Rede. Hier greift es marktlogisch durch. Werbung muss dabei als ein eigener Diskurs  begriffen werden, der in seinen unterschiedlichen Praktiken eigene Wissensformen  bereitstellt.  Man  steht  vor  einem  komplexen  Zeichensystem,  in  dem  sich  das  kulturelle Wissen der Zeit hält. Verschiedene Traditionen werden aufgegriffen und  virtuos angeordnet. Die Arrangements entsprechen dem jeweils fortgeschrittensten  Stand  z.B.  von  Computeranimationen  und  Verfertigungstechniken.  Nicht  selten  erlaubt  Werbung innovative  Schritte.  Filmtechnisch  beispielsweise ließ sich  das  Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten durch experimentelle Werbefilme erweitern. 

Die fließenden Übergänge zwischen Kunst und Ökonomie bestätigen, dass es sich  hier  um  ein  Wissen  handelt,  das  in  eine  bestimmte  Ordnung  gebracht  und  ökonomisch zur Verfügung gestellt wird; das auf andere Wissensformen Einfluss  nimmt – eben auch auf das religiöse Wissen – und die Selbstverständigung einer Zeit  bestimmt. Dem entspricht eine eigene Grammatik. Die Bedeutung der einzelnen  Zeichen, der Bilder, der gesamten Komposition hängt von mehreren Komponenten  ab. Aus dem Hintergrund bestimmt das Werbemotiv den Sinn der einzelnen Zeichen. 

Sie weisen auf ein Produkt hin, wobei die Bedeutung der Zeichen nicht immer  eindeutig  ist.  Oft  ergeben  sich  eher  lose  Beziehungen,  die  aus  einem  vagen  Zusammenhang ein besonders Interesse schlagen.  

 

(16)

Wenn  zwei  betende  Nonnen  in  erotischer  Unterwäsche  auftreten,  wenn  der  fromme Blick mit erotischem Augenaufschlag erfolgt, wenn der klassische Schwarz‐

Weiß‐Kontrast  die  Gleichzeitigkeit  von  gut  und  böse,  von  Heiliger  und  Hure  simuliert, dann steigert die Ambivalenz der Zeichensprache das Interesse für das  Produkt. Gezielt wird es in diesem Spiel nicht benannt. Es bleibt unbestimmt und tritt  auf diese Weise umso nachhaltiger in Erscheinung. Das Namenlose zieht den Sinn  an. Es fasziniert als etwas Geheimnisvolles, zugleich Anrüchiges, Verruchtes, an das  sich sexuelle und also vitalste Bedürfnisse binden. Sie warten darauf, befriedigt zu  werden. Schon auf dieser Linie wird deutlich, dass Werbung mit Kleinformen von  Erlösung  spielt:  der  Erfüllung  von  Wünschen  und  der  Auflösung  von  triebbestimmten Spannungen. Freilich sind sie auf den Kreislauf des immergleichen  Ablaufes angelegt, der in den abwechslungsreichen Verlaufsmustern immer neuer  Produkte und Werbestrategien niemals stillstehen darf. Damit wird nicht nur der  Fluss des Kapitals formal abgebildet, sondern eine Denkform eingesetzt, in der das  Geld und seine Wertentsprechungen zur alles bestimmenden Wirklichkeit schlüpfen. 

Thomas Ruster hat darauf hingewiesen, dass man damit vor einem entscheidenden  Wechsel der Grundbezüge des Religiösen und zumal des Christlichen steht. Die  Theologie war bis weit in die Neuzeit hinein dazu imstande, das christliche 

„Gottesverständnis  mit  der  Erfahrung  der  alles  bestimmenden  Wirklichkeit  übereinzubringen, während ihr das heute nicht mehr gelingt. Das, was tatsächlich als  die  Wirklichkeit  letztlich  bestimmend  wahrgenommen  wird,  findet  heute  andere  Symbolisierungen und Repräsentationen als den christlichen Gottesbegriff.“ 19

Gerade das Beispiel der Werbung zeigt, dass dieser Prozess Zeichengrund hat. Im  Zusammenspiel der Zeichen ergeben sich neue Sinnzusammenhänge. Weil Werbung  Aufmerksamkeit erzeugen muss, treffen oft ungewöhnliche Zeichen aufeinander, um  sich voneinander abzusetzen oder zu verschmelzen. In jedem Fall steht ein Zeichen  für ein anderes ein: zunächst einmal ein Symbol für ein Produkt oder beispielsweise  für ein politisches Programm. Die Anspielungen, mit denen ein Bild arbeitet, richten  eine intertextuelle Zone ein. 

 

              

19 Thomas Ruster, Der verwechselbare Gott. Theologie nach der Entflechtung von Christentum und Religion (QD 

181), Freiburg u.a. 2000, 7. 

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Das Otto  Kern‐Plakat stellt das Abendmahl von Leonardo  da Vinci mit neuen  Akteuren nach. Für die Bedeutung entscheidend, wird bereits die Perspektive des  Originals  verschoben.  Leonardo  bietet  die  Szene  nicht  auf  Augenhöhe  des  Betrachters:  „er  muss  sich  gleichsam  innerlich  erheben,  um  den  >richtigen< 

Standpunkt  einzunehmen.“20  Anders  das  neue  Abendmahl.  Der  gegenwärtige  Beobachter erlebt die Einsetzungsszene der Kommunion auf derselben Ebene wie die  Handlungsträger  des  Bildes.  Der  transzendente  Ausgangspunkt,  den  Leonardo  wählt, verschiebt sich in Kommunikationsverhältnisse, die dafür keinen Raum mehr  lassen.  Zugleich  ersetzt  das  neue  Produkt  die  Produktion  jener  neuen  Beziehungswirklichkeit, die katholisch als das Allerheiligste geglaubt wird. Erneut  sprengt darüber hinaus der erotische Kontakt den ursprünglichen Horizont von  Vereinigung, die sich im Zuge des Abendmahls zwischen Gott und Mensch vollzieht. 

Die sexuelle Konnotation, die sich aus der Umgebung der Models ergibt, verschiebt  diesen  Sinn  entscheidend.  Das  Pendant  zu  diesem  Bild,  mit  umgekehrten  Geschlechterrollen inszeniert, macht unmissverständlich deutlich, dass wir es hier  mit einem Vorgang ungezügelter Austauschbarkeit der Bedeutungsträger zu tun  haben. Der Tauschvorgang selbst wird damit indirekt zum Thema – die Grammatik  von Werbung erscheint in Reinform. Worin besteht sie?  

 

              

20 Christoph Wetzel, Das Reclam‐Buch der Kunst, Stuttgart 2001, 250. 

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Der Betrachter wird von unten her in eine Kathedrale geleitet. Das fließende Blau  des weiten Raums verbreitet eine sakral‐ruhige Aura. Mit dem ersten Blick wird  bereits die Perspektive eng geführt. Sie wird von einer Lichtquelle angezogen, die  man hinter den roten Fenstern im Chorraum vermuten muss. Zugleich ist dieser  Bereich in ein kaum zu durchdringendes Dunkel gehalten. Hier befinden sich in  einer katholischen Kirche der Altar und das Allerheiligste. Auf diesem Prospekt  bleiben sie verborgen. Ihr Ort ist unbestimmt. Dadurch steht er für eine andere  Bezeichnung offen. Exakt über dem Altarbereich, auf der Fluchtlinie der Kapitelle,  steht ein Einsetzungszeichen. „Ein Renault“ gibt der Bildkomposition ihren Sinn. Das  Produkt wird dabei nicht selbst gezeigt. Es bleibt wie das Allerheiligste unsichtbar. 

Aber es ist – kaum zufällig – als Schrift in die Anzeige eingeschaltet. Damit nimmt es  selbst den Platz des Allerheiligsten ein. Als Automobil greift es im Übrigen einen  gottverwandten Namen aus der Tradition auf – den des unbewegten Bewegers. 

Dieses Ensemble macht – mit dem Untertitel – Sinn. Sinn, das ist Richtung. Sinn  orientiert. Renault gibt hier allem Sinn, genauer: die Ingenieure mit ihrer Kreativität. 

Und erneut fällt auf, dass man damit auf religiös eingesprungene Titel anspielt. 

Hier geht es vor allem um den grammatischen Vorgang. Das Religiöse wird in  seiner  Zeichenpotenz  gebraucht,  um  in  einem  ganz  anderen  als  dem  heiligen  Commercium der Eucharistie durch eine fremde Größe ersetzt zu werden. An die  Stelle Gottes tritt das Produkt.  

Werbung muss auf dieser Linie als ein eigener Offenbarungsort verstanden werden. 

Das Ironische dabei: seine Offenbarungen machen klar, dass die alten Offenbarungen  nicht mehr en vogue sind. Sie werden ersetzt. Die Sprache der Werbung erschließt  sich unmittelbar. Sie hat einen suggestiven Zug, dem man sich so wenig zu entziehen  vermag, wie man der Allgegenwart von Werbung entgehen kann. Damit steht man 

(19)

unausweichlich in einem veränderten Kommunikationsraum. Die Rede vom Gott der  biblischen Offenbarung verkümmert demgegenüber in rationalen Lebenswelten zum  esoterischen  Sonderfall. Indem seine Chiffren verwendet werden, kommt  er  im  Gebrauch und Verbrauch seiner Zeichen um. Nur weil man ohne ihn auskommt, mit  anderen Worten: weil man ihn nicht mehr ernst nehmen muss, kann man ihn auf die  gegebene Weise beanspruchen. Das aber ist als ein religionskritischer Vorgang zu  verstehen.21 Religionskritik als Distanzierung des religiösen Gedankens schlägt hier  als  konkrete  Praxis  auf  den  Gottesglauben  zurück.  Was  Offenbarung  Gottes  bedeutet, muss im Rahmen der Geschichte seiner Problematisierungen wie seiner  lebensweltlichen Abwicklungen, und zwar gerade seiner  gegenwärtigen, erzählt  werden. 

   

Wer heute von einer Offenbarung Gottes spricht, muss dies nach dem Ende der  Selbstverständlichkeit  des  entsprechenden  Glaubens  tun.  Die  verschiedenen  Rekonstruktionswege des Konzepts machen dies deutlich. Konnte man lange Zeit auf  eine Offenbarung Gottes etwa in der Gestalt der biblisch gebotenen Wundergeschichten  zurückgreifen, so hat sich die entsprechende Wissensform verändert. Offenbarung  wurde  zunehmend  in  den  Innenraum  menschlicher  Wahrnehmungsbedingungen  verlegt.  Im  Gegenzug  wurden  die  geschichtlichen  Vermittlungsmuster  von  Offenbarungserfahrungen thematisiert. Dabei behält das Konzept Offenbarung unter  ästhetischen Gesichtspunkten eine besondere Bedeutung: Unsere Lebenswelt ist nicht  zuletzt an die Offenbarungsleistungen des Marktes mit seinen Heilsversprechungen  gebunden.  Von  daher  ist  der  theologische  Gedanke  im  Rahmen  seiner  Problemgeschichte(n) neu zu entwickeln. Dabei zeichnet sich ein Leitfaden ab: In der  gespannten Dialektik der Innen‐ und Außenbezüge biblischen Offenbarungsglaubens  ist von einer Hermeneutik des Unscheinbaren und einer Semiotik der Schwäche, der  Ohnmacht  auszugehen,  die  in  den  politischen  und  kulturellen  Räumen  des  Eindeutigen, des  Offensichtlichen eigene Offenbarungen über Gott  und die  Welt  versprechen – gegen den Anschein des totalisierten Gottesverlusts in einer Welt der  (ökonomischen) Verfügungsgewalten über alles und jeden. 

 

 

              

21 Vgl. Gregor Maria Hoff, Religionskritik heute, Kevelaer 2004, 35‐39. 

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