1. Problemskizze: Konjunktur und Krise des Offenbarungsglaubens heute Einstieg: John Updike: „Gott und die Wilmots“ – ein Leitfaden der modernen
Verlustgeschichte
Nach der Selbstverständlichkeit des Offenbarungsglaubens: Ein methodisches Inventar
Offenbarung heute: Werbung als semiologisches Ersetzungsprogramm
2. Problembeschreibung: Zur Grammatik von Offenbarungserfahrungen Offenbarung(en)? Wahrnehmungsprobleme – entlang „Breaking the Waves“
Ein Offenbarungsmodell: „Die göttlichen Prinzipien“ von Sun Myung Moon
„Außergewöhnliche Erfahrungen“ – zwischen Pathologisierung und neuronaler Entschlüsselung
Die Normalität des Anormalen: Mystische Gotteserfahrung als Grenzfall Der erkenntnistheoretische Problemüberhang
3. Problematische Offenbarungsgeschichten – Zur Ideologiegeschichte des Offenbarungsdiskurses
Der Traum des Konstantin
Ein religionspolitischer Anfang: Die altägyptische Königstheologie Delphi als politischer Offenbarungsort
Ein neuzeitlicher Diskurswechsel: Die politische Offenbarungstheologie in Thomas Hobbes´ „Leviathan“
Eine totalitäre Offenbarungspolitik der Moderne: Die Offenbarungstheologie des Joseph Goebbels
4. Philosophische Problematisierung: Zur Kritik des Offenbarungsglaubens Offenbarungskritik – ein historischer Einstieg
Offenbarungskritik – antik‐mittelalterliche Spurensuche Neuzeitliche Kritikformate
„Critik aller Offenbarung“? Fichte als Schaltstelle
Exemplarische Fortsetzungen – ein synchrones Panorama
Der soteriologische Überhang der modernen Offenbarungskritik: Adornos aporetischer Messianismus
Der kulturtheoretische Übertrag der Offenbarungswahrheit: Slavoy Zizeks dekonstruktive Lektüre des Christentums
5. Problemverschiebung: Offenbarungsglaube im fundamentalistischen Zwielicht
Religionspolitische Auftritte
Positionsbestimmung. „Fundamentals“ interreligiös Fundamentalismus als Problem der Moderne
Fundamentalismus – jenseits seiner modernen Entfesselung Fundamentalistische Offenbarungspolitiken
Theologische Reflexionsmuster – entlang „Dei Verbum“
6. Aktuelle Problemkonzentration: Gewalt als Offenbarungsformat Die Faszination der Gewalt – „Sin City“
Religiöse Gewalt, offenbarend
Religiöser Terror – eine Offenbarungsmacht Apokalyptische Szenarien
7. Problemorientierung: Die biblische Rede vom offenbar‐verborgenen Gott Die ambivalente Macht der Offenbarung
Der Gewinn der Ambivalenzen: Die Josephs‐Tetralogie Thomas Manns als Humanisierungsprojekt des Offenbarungsdiskurses
Ein ambivalenter Raum der Offenbarung: Die Schrift als Kanon
Die offenbarungstheologische Bedeutung der Ambivalenzen: Biblische Orte, biblische Situationen
8. Systematische Problemeröffnung: Entwicklungslinien
Einstieg: Offenbarungsnot mit fremden Offenbarungsorten – Das Votum des Bischofs der Sahara zu den Armen als locus theologicus (Problem: Wo offenbart sich uns Gottes Wille heute?)
Theologische Orientierungspunkte – bis zum 2. Vatikanischen Konzil Theologische Sprechversuche – Autoren und Konzepte
Ökumenischer Problemhorizont: Offenbarung und Tradition
9. Problemfall Christologie: Zur Grammatik des christlichen Offenbarungsglaubens
Das Problem mit falschen Messias‐Figuren – Von Bar Kochba über Sabbatai Zwi bis zum Lubawitscher Rebbe Meneachem Mendel Schneerson
Das Problem: Gottes Offenbarung im Menschen? Offenbarungserfahrungen mit Jesus von Nazaret
Die Lösungsperspektive: Das Unsagbare sagen!
Die bleibende Bedeutung
10. Problemerweiterung: Offenbarungsvorstellungen, interreligiös Hindu‐Religionen
Buddhistische Traditionen Islam
Das weitere religionsgeschichtliche Spektrum: Modelle Ein kritischer Sonderfall: die Anfrage der PRT
11. Vom unmöglichen Ort her: Offenbarungstheologische Inversionen Die negative Offenbarung Gottes: Theologie nach Auschwitz
Agamben – Offenbarung im Passiv des Muselmanns?
Erfahrung und Interpretation: Jüdische Auffassungen als Orientierung (Orthodoxe, Konservative, Reformjudentum – vgl. Henrix, 82)
Offenbarung und geschichtstheologische Inversion Theologie in den Zeichen der Zeit
Offenbarung und Weltende…
1. PROBLEMSKIZZE:
KONJUNKTUR UND KRISE DES OFFENBARUNGSGLAUBENS HEUTE
Eine moderne Verlustgeschichte:
John Updikes Roman „Gott und die Wilmots“
„In dem Augenblick, da Mary Pickford ohnmächtig wurde, fühlte Reverend Clarence Arthur Wilmot im Pfarrhaus der Vierten Presbyterianischen Kirche unten an der Ecke Straight Street und Broadway, wie die letzten Reste seines Glaubens ihn verließen. Es war eine sehr deutliche Empfindung – ein Kapitulieren in den Eingeweiden, eine Handvoll dunkler funkelnder Luftbläschen, die nach oben entwichen.“1
Wilmot ist Prediger der Vierten Presbyterianischen Kirche in einer Kleinstadt in New Jersey und hat soeben „die Offenbarung dieses Nachmittags“ (65) empfangen, die ihm seinen Gott nahm. Zur gleichen Zeit, im Frühjahr 1910, wird einer der ersten Kinofilme abgedreht, und es ist der kurze Schwenk des Erzählers, der vom Set zum eigentlichen Schauplatz der Geschichte führt und damit einen eigenwilligen Zusammenhang herstellt. Im Kino, im Laboratorium der Träume, muss Clarence Wilmot fortan nach seinen kleinen Offenbarungen suchen, die ihn anrühren und mitreißen und das letzte verbliebene Stück Erlösung versprechen, dessen göttliche Gewähr ihm soeben geraubt wurde.
Clarence hatte das Buch „Einige Irrtümer des Mannes Mose“ von Robert Ingersoll gelesen und, statt seinen apologetischen Furor an diesem Werk zu entfachen, die intellektuellen Waffen seines Glaubens niederlegen müssen. „Ruf zu den Waffen“ – so hieß auch der Film des Romananfangs, und er handelte von einem unendlich wertvollen Edelstein, der verloren war. Für Clarence war dieser Ruf zu den Waffen auf der Suche nach seinem verlorenen Glauben nun gegenstandslos. Er war unrettbar weg. Nach den ganzen Lektüren und Kämpfen mit den Atheisten seiner Zeit blieb nichts als das, was offensichtlich da war. Clarence fehlte jetzt die Kraft, noch einmal gegen die materialistische Versuchung aufzustehen.
„Der Körper leidet seinen Schmerz und sucht sein Vergnügen; gibt es, ohne Offenbarung, mehr zu wissen als dies?“ (35)
Für ihn war die Zeit des möglichen Widerstands, die Zeit des Glaubens an die Offenbarung vorbei. Neue Offenbarungen kündigten sich an: die Ästhetik der Filme, die ihm über die folgenden Jahre der Enttäuschung und der ökonomischen Niederlagen hinwegtrösten sollten.
1 John Updike, Gott und die Wilmots. Roman, Reinbek bei Hamburg 1998 (Orig. In the Beauty of the Lilies, New York 1996), 15. Fortan mit Seitenzahlen im Text zitiert.
„Seit seiner Offenbarung vor drei Jahren, daß es Gott nicht gab, hatte er ein grindiges taubes Gefühl mit sich herumgetragen, ein in ihm festklebendes Empfinden, sich verirrt zu haben“. (161)
Nur in den Lichtspielhäusern mit den neuen „Andächtigen“ (160) dieser neuen Zeit kann er sich eine Geborgenheit leihen, die etwas von einem modern verschobenen heiligen Commercium hat:
„Er nahm die leidenschaftliche, komische, rasch sich bewegende Handlung auf der mit hellen Kratzern gesprenkelten Leinwand wie eine lebenswichtige Speise zu sich, die ihm bislang vorenthalten worden war.“ (161)
Hier wartete jener „Raum unbegrenzter Möglichkeit“ (162), der sich ihm in seiner Kirche verschlossen hatte. Aber auch dieser Raum ist nur auf Zeit gemietet. Der Abschied vom Gott der Offenbarung kann auch durch die kleinen Offenbarungen von Glück und Liebe und Leidenschaft nicht wettgemacht werden. Und so setzt sich die Verlustgeschichte des Offenbarungsglaubens in ihm fort.
„Die Filme anzusehen kostete keine Kraft, wohl aber, sich von ihnen zu erholen – herauszusteigen aus ihrem schimmernden Bad und es wieder aufzunehmen mit den grauen Fakten des Lebens, seines Lebens, das geplündert war durch Gottes Verschwinden.“ (166)
Die Offenbarung vom Ende der Offenbarung nimmt für Clarence ein tödliches Ende. Er scheitert in seinem neuen Leben, das kaum mehr eins ist. Widerstandslos stirbt er und hinterlässt eine Familie, die im Schatten des toten Gottes die Offenbarungen ihrer Gegenwart entgegenzunehmen hat. Um ihre Geschichte rankt sich der Roman im Folgenden. Teddy Wilmot, Clarences Sohn, wird sein Leben ohne Gott führen. Für die gelegentlichen Kontakte sorgt seine Frau, aber er hat den Abschied des Vaters in der eigenen Verbitterung über die familiären Folgen dieses Gottestodes übernommen. Was Gott einmal war, offenbart sich ihm und mehr noch seiner Frau später in der gemeinsamen Tochter. Sie wird wörtlich zur Diva, zur Filmgöttin, die nur um sich selbst kreist und alle Welt in den Bann ihrer unerschöpflich kalten Liebe zieht. Die Geschichte des Gottesverlustes setzt sich in den Verlustgeschichten ihres Lebens um: Sie kommt nicht zur Ruhe. Ihre Karriere kreist um die Liebe, die sie nicht einmal für ihren Sohn aufzubringen vermag. Von Gott hat sie ihm nichts erzählt, und so steht er später irritiert vor der Selbstverständlichkeit, mit der ihn eine Zufallsbekanntschaft in ihrem Glauben konfrontiert. Zunächst wegen dieser Frau, aber auch fasziniert von der Erfahrung des Sektenführers Jesse schließt er sich seiner religiösen Gemeinschaft an. Gott hat sich der Familie Wilmot noch einmal offenbart: dem Urenkel des alten Predigers, der 1987 in den „Tempel des Wahren und Wirkenden Glauben“ eintritt, aber auch seiner Mutter, Alma, denn „sie war ihn los, Gott hatte ihn ihr abgenommen.“ (537)
Das gilt wörtlich, denn Clark stirbt am Ende. Er hat sich in Jesses gewalttätige Offenbarungsgeschichte verwickeln lassen. Bei allem guten Willen zu glauben hatte er den Zweifel seines Großvaters, die Anfechtungen des Jahrhunderts geerbt. Die neue Glaubenswelt blieb ihm immer zugleich fremd. Den ungebrochenen Biblizismus seiner Glaubensgeschwister kann er nicht widerstandslos teilen. Als sich schließlich ein militärischer Konflikt mit der Außenwelt ergibt und Jesse die verbliebenen Frauen und Kinder umbringen will, schreitet Clark ein. Er wird zum Retter, der sein Leben hingibt – ein kleines christologisches Motiv am Rande, freilich ohne theologische Bedeutung. Die letzte Offenbarung des Romans findet stattdessen erneut als Film statt, via TV. Teddy, die verbindende Figur von Anfang bis Ende, lässt sich die Apokalypse im „Tempel des Wahren und Wirkenden Glauben“ in jener Nachrichtensendung vorführen, in der sein Enkel die Hauptrolle spielt.
Updikes Familienroman erzählt die Geschichte eines Jahrhunderts, das seine traurigen Offenbarungen nicht nur in einem neuen Medium distanzierter und gesteuerter Wahrnehmung auflegt, eben im Film, sondern das vor allem den Offenbarungsgeschichten Gottes alle Glaubwürdigkeit zu rauben scheint. Waren es eingangs die religionskritischen Anfechtungen der Moderne, die Clarence aus den Glaubensgleisen warfen, so sind es schließlich, nach den Jahrzehnten der umstandslos gelebten Gottesermattung, gerade die neuen Religiösen, die Zeloten der Gottessicherheit und Offenbarungsgewissheit, die diesem Glauben den Garaus machen – erneut wörtlich, physisch am Ende.
Offenbarunge n der Gewalt
„Gott und die Wilmots“ lässt sich als exemplarische Offenbarungsgeschichte nach dem Ende der Offenbarungen lesen. Der entsprechende Glaube hält sich jenseits der Schwellen seiner intellektuellen Selbstverständlichkeit. Und so offensiv seine Eiferer auch auftreten, sind sie doch die Transporteure dieser großen Einbuße, gerade weil sie als Fremdkörper, in Eigenwelten abgedrängt, begegnen. Im Europa des begonnenen 3. Jahrtausends sind sie der Sonderfall der Gotteserwählung und ein Sinnbild seiner Marginalisierung.
Nach der Selbstverständlichkeit des Offenbarungsglaubens: Ein methodisches Inventar
Lange Zeit hat der Topos Offenbarung in der Theologie einen sehr selbstverständlichen Ort eingenommen. Offenbarung Gottes – das war eine evidente Vorstellung. Nicht nur für die Theologie des 20. Jahrhunderts bildete sie einen entscheidenden Haftpunkt. Um sie herum gruppierten sich die modernen Linien theologischer Auseinandersetzung und Schulbildung: vom polemisch eingeführten Markenzeichen eines „Offenbarungspositivismus“, wie er Karl Barth zugeschrieben wurde, über das Entmythologisierungsprogramm eines Rudolf Bultmann bis hin zu Karl Rahners Großentwurf einer transzendentalen oder Hans Urs von Balthasars Modell einer ästhetischen Theologie der Offenbarung. Wolfhart Pannenbergs Skizze einer „Offenbarung als Geschichte“ gehört ebenso hierher wie die religionspluralistische Umsiedlung des Offenbarungsglaubens in die unabsehbaren Weiten der vorfindlichen Religionen. Gerade weil die Rede von einer Offenbarung
Offenbarungs theologien des 20.
Jahrhunderts
Gottes religionsgeschichtliches Herzgelände erschließt, gerade weil der Glaube an die Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus für christliche Theologie unverzichtbar bleibt, muss die allmähliche Erschöpfung dieses Konzepts Fragen aufwerfen.
In seiner 1996 veröffentlichen „Einführung in die Theologie der Offenbarung“ hat Hans Waldenfels bereits vom Ende dieser theologischen Schlüsselkategorie gesprochen – genauer: vom Ende jener Epoche, „in der die Theologie der Offenbarung im Zentrum christlichen Selbstverständnisses stand“.2 Jede Theologie hat ihre Zeit; aber das gilt auch umgekehrt. Theologie schafft neue Interpretationskategorien ihrer Gegenwart. Zugleich ist sie in eigenen Machtproportionen den unterschiedlichen Umstellungen in den Wissensformen und den lebensweltlichen Vermessungen der Wirklichkeit ausgesetzt. Erschien vor zehn Jahren noch der Pluralismus als die entscheidende Herausforderung des Offenbarungsglaubens, so steht man heute vor seinen radikalen Konsequenzen: In Zeiten einer sich abzeichnenden Marginalisierung des theoriestarken westlichen Christentums, zumindest was seine großkirchlichen Auftritte betrifft, wird das Verständnis dessen, was Offenbarung einmal meinte, zunehmend weltloser. Die Vorstellung selbst ist kulturell unterwandert und fremdsprachlich abgedriftet. Sie ist aus dem Netz jener Begriffe gefallen, mit denen wir unsere Wirklichkeit einzufangen suchen. Offenbarung scheint für das, was uns widerfährt, keine Deutungsreserven mehr zu versprechen. Offenbarung kommt nicht vor, weil man keine Offenbarungen erfährt – jedenfalls kaum in theologisch strengem, also kritischem Sinn.
Ende einer theologischen Schlüsselkate gorie
Das war schon das Problem der Aufklärung, auf den Punkt gebracht vom suchenden Glaubenden Gotthold Ephraim Lessing:
„Ich leugne gar nicht, daß in Christo Weissagungen erfüllt worden; ich leugne gar nicht, daß Christus Wunder getan: sondern ich leugne, daß diese Wunder, seitdem ihre Wahrheit völlig aufgehöret hat, durch noch gegenwärtig gangbare Wunder erwiesen zu werden; seitdem sie nichts als Nachrichten von Wundern sind, (mögen doch diese Nachrichten so unwidersprochen, so unwidersprechlich sein, als sie immer wollen) mich zu dem geringsten Glauben an Christi anderweitige Lehren verbinden können und dürfen.“3
G. E. Lessing (1729‐1781):
Die fehlenden Erweise „des Geistes und der Kraft“
Der Titel „Offenbarung“ fehlt hier. Aber er ist mit der Offenbarungsform des Wunders gemeint. Jede mögliche Offenbarung geht in den Zufällen der Geschichte unter.4 Sogar und zumal eine wundertätige. Nicht nur, weil sie im Vorgang ihrer weiteren Vermittlung an Authentizität verliert, sondern weil sie eben ein Teil bloßer Geschichte bleibt, also kontingent, anfällig für Verfälschung und Missbrauch. Vor
2 Hans Waldenfels, Einführung in die Theologie der Offenbarung, Darmstadt 1996, 1.
3 Gotthold Ephraim Lessing, Über den Beweis des Geistes und der Kraft, in: Werke in drei Bänden. Dritter Band (Bibliothek deutscher Klassiker 4), hrsg. v. Herbert G. Göpfert, München‐Wien 1982, 347‐354; hier: 353f.
4 Zur Offenbarungskritik Lessings vgl. auch seine „Gegensätze des Herausgebers“ der Schrift „Von Duldung der
Deisten. Fragment eines Ungenannten“, in: Werke in drei Bänden. Dritter Band, 327‐348.
allem: Sie ist für Lessing als Geschichte das glatte Gegenteil des Behaupteten – eben kein Absolutes. Seit der Aufklärung hat sich die Theologie mit z. T. sehr erfolgreichen Lösungsvorschlägen auf dieses Problem eingestellt – wovon noch genauer zu reden sein wird.5 Vor allem eine Strategie versprach Erfolg: der Wechsel von einem äußeren Bezugssystem in die Innerlichkeit des Subjekts.
Transzendentaltheologie auf den Spuren Kants und des deutschen Idealismus arbeitete an einem Begriff von Offenbarung, der bereits in den Wahrnehmungsbedingungen des Subjekts selbst vorliegen sollte:
„Die Konstituierung des Menschen geschieht durch Schöpfung und Selbstmitteilung Gottes, durch schöpfungsmäßige radikale Unterschiedenheit von Gott und Distanz zu ihm als dem absoluten heiligen Geheimnis und zugleich in gnadenhafter absoluter Nähe zu diesem Geheimnis. Insofern diese transzendentale Konstituierung des Menschen, sein Anfang, immer auch eine Einsetzung in eine konkrete Geschichtlichkeit als in den vorgegebenen Anfang und Horizont des Menschen in seiner Freiheit ist, und insofern diese Konstitution logisch und sachlich – wenn vielleicht auch nicht greifbar
Karl Rahner (1904‐
1984):
Transzend entale Methode
zeitlich – seiner freien und zwar schuldhaften Selbstinterpretation vorausgeht, können wir vom paradiesischen Anfang der transzendentalen und kategorialen Offenbarung Gottes, von der transzendentalen und kategorialen Uroffenbarung sprechen.“6
Karl Rahner verbindet hier die raum‐zeitlich erfahrbare („kategoriale“) Geschichte mit den Bedingungen der Möglichkeit, sie wahrzunehmen („transzendental“). Beides gehört zusammen. Der Mensch, der von Gott geschaffen wurde, ist auf diesen Gott als das Geheimnis seines Ursprungs hingeordnet – er ist sein „Horizont“. Der Mensch überschreitet sich auf das Absolute hin.
„Der Mensch ist das Wesen der Transzendenz, insofern alle seine Erkenntnis und seine erkennende Tat begründet sind im Vorgriff auf das ‚Sein’ überhaupt, in einem unthematischen, aber unausweichlichen Wissen um die Unendlichkeit der Wirklichkeit“.7
Der Mensch ist über sich hinaus. Das setzt sich in seinen sämtlichen Vollzügen durch. Er fragt im Horizont des Unendlichen nach Anfang und Ende und Sinn von allem. Genau darin zeigt sich Rahners „Uroffenbarung“. Das ist der Anfang vor allen geschichtlichen Anfängen. Das ist die transzendentale Spur Gottes im Menschen und insofern seine Selbstmitteilung. Sie liegt in der Grammatik jedes Weltzugangs verborgen: dass der Mensch nämlich an diesem Horizont des Unendlichen, an dem Zwang, immer weiter über sich hinauszugehen, nicht vorbeikann.
Gott bleibt gegenüber dem Menschen souverän. Aber er wird in den Innenraum seiner Erfahrungswelt verschoben. Damit zeichnet sich eine wichtige
5 Zur Problemgeschichte vgl. den konzisen Überblick von Max Seckler, Aufklärung und Offenbarung (CGG 21),
Freiburg u.a. 1980, 5‐78.
6 Karl Rahner, Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, Freiburg u.a. 1984, 166.
7 Ebd., 44.
Antwortmöglichkeit auf Lessings Frage ab. Sie kostet freilich ihren Preis: Von einer Offenbarung Gottes ist fortan indirekt zu sprechen, letztlich transzendental, nicht länger vor allem kategorial, also im engeren Sinn geschichtsnah.
Mentalitätsgeschichtlich hat Lessing Recht behalten. Sein garstiger breiter Graben trennt nach wie vor zwei Welten. Wer sich heute auf eine Offenbarung beruft, die er in dieser Welt festmacht, ist in den Augen des „aufgeklärten“ Zeitgenossen ein Fall für den Psychiater.
Freilich ist das gegenwärtige Bild uneinheitlicher, szenenreicher, überraschender.
Es gibt den Anspruch auf Offenbarungen unterschiedlichster und wohl auch zweifelhaftester Provenienz. Oft begegnet er verdeckt, unausdrücklich. Immer öfter steht er politisch ins Haus. Aber gerade deshalb hat sich über den Begriff eine Patina aus Unbehagen, Zweifel und Verstörung gelegt. Für eine kulturwissenschaftlich argumentierende Theologie muss Offenbarung deshalb in den Hintergrund der neuen Stellungswechsel rücken. Zwischen Karl Barth und gegenwärtiger Theologie hat sich hier Entscheidendes verschoben. Ein Beispiel zwischen den Zeiten: Für den evangelischen Systematiker Friedrich Wilhelm Graf ist, durchaus mit Barth, die entscheidende Aufgabe der Theologie, von Gott zu reden. Aber wie? Bei Barth heißt es markant:
„Das Wort Gottes ist die ebenso notwendige, wie unmögliche Aufgabe der Theologie.“
Für Barth ist es nun kennzeichnend, in dieser Aporie von Gott zu sprechen. Dieser Gott ist nicht einfach da, und sein Wort steht menschlich nicht einfach zur Verfügung. Der Theologe hat zu sagen, was sich nicht sagen lässt – und muss genau das zum Ausdruck bringen. D.h. er muss die Notwendigkeit von Gott zu sprechen in der Unmöglichkeit aussagen, dass der Mensch von Gott sprechen soll.
„Wir können nicht von Gott reden. Denn von Gott reden würde, wenn es ernst gelten soll, heißen, auf Grund der Offenbarung und des Glaubens reden. Von Gott reden würde heißen, Gottes Wort reden, das Wort, das nur von ihm kommen kann, das Wort, daß Gott Mensch wird. Diese vier Worte können wir sagen, aber wir haben damit noch nicht das Wort Gottes gesagt, in dem das Wahrheit ist. Das zu sagen, daß Gott Mensch wird, aber als Gottes Wort, wie es eben wirklich Gottes Wort ist, das wäre unsere theologische Aufgabe.
Das müßte wie mit Posaunen schallen erschallen in unseren Kirchen und wahrhaftig auch in unseren Hörsälen, und aus den Kirchen und aus den Hörsälen hinaus auf die Straßen, wo die Menschen unsrer Zeit darauf warten, daß ihnen das gesagt werde, aber anders als wir Schriftgelehrten pflegen. Dazu stehen wir auf unsren Kanzeln und Kathedern, um ihnen das zu sagen. Solange wir ihnen das nicht sagen, reden wir an ihnen vorbei, enttäuschen wir sie. Denn das allein, aber wohl gemerkt: als Gottes Wort, ist die Antwort, die echte Transzendenz besitzt und gerade darum die Kraft hat, das Rätsel der Immanenz aufzulösen… Diese Antwort sollten wir geben und eben diese Antwort können wir nicht geben… Und eben so genau ist zu bedenken, daß es mit unsrer Aufgabe so steht, daß von Gott nur Gott selber reden kann. Die Aufgabe der Theologie ist das Wort Gottes… Es könnte ja sein, daß das die lebendige Wahrheit wäre, die über Ja und Nein ist, die Wirklichkeit Gottes, über die ich nicht zu verfügen habe mit einer dialektischen
Umkehrung, in der es aber aus eigener Macht und Liebe verfügt sein könnte, daß Verheißung eingegangen ist in unsre Bedrängnis, daß das Wort, das Wort Gottes, das wir nie sprechen werden, angenommen hat unsre Schwachheit und Verkehrtheit, so daß unser Wort in seiner Schwachheit und Verkehrtheit fähig geworden wäre, wenigstens Hülle und irdenes Gefäß des Wortes Gottes zu werden.“8
Die Antwort auf die Frage, was Theologie denn noch soll, wird hier aus dem prekären Gedanken der Offenbarung gegeben. Nach Barth muss man das Unmögliche zum Thema machen und darf darauf hoffen, dass es gerade in dieser Gestalt zu Wort komme – als es selbst. Im Allerletzten ist dieses Wort ein konkreter Mensch: Jesus von Nazareth. Was für Lessing nicht mehr möglich schien, darauf setzt Barth ganz entschieden.
„Wer >Jesus Christus< sagt, der darf nicht sagen: >es könnte sein<, sondern: es ist. Aber wer von uns ist in der Lage >Jesus Christus< zu sagen? Wir müssen uns vielleicht begnügen mit der Feststellung, daß Jesus Christus gesagt ist von seinen ersten Zeugen.
Auf ihr Zeugnis hin zu glauben an die Verheißung und also Zeugen von ihrem Zeugnis zu sein, also Schrifttheologen, das wäre dann unsre Aufgabe.“9
Auch für Barth ist die Rede von einer Offenbarung Gottes alles Andere als selbstverständlich. Indem er die theologischen Anfechtungen seiner Gegenwart aufnimmt, kann er allerdings zeigen, dass sie konstitutiv zur Sache des Glaubens selbst gehören. Wo Lessing von Kraft sprach, bringt Barth die Schwachheit ins Spiel.
Ein signifikanter Vorgang. Nach Barth ist Gott genau hier zu suchen. Unter den Bedingungen dieser Wirklichkeit nimmt sich das fragwürdig aus. Und das muss es sein, jedenfalls wenn man der Eigenlogik jener Texte folgt, auf die Barth jeden Theologen als Schrifttheologen verpflichtet.
Demgegenüber folgt eine kulturwissenschaftlich ansetzende Theologie einer anderen Strategie. Auch für Friedrich Wilhelm Graf steht, achtzig Jahre nach Barth, dieselbe Frage im Raum, diesmal universitätspolitisch unter heikel veränderten Bedingungen: „Wozu noch Theologie?“ Ganz offensichtlich kann man sich im Rahmen der angestammten Wissenschaftsdiskurse den Rückgriff auf einen theologisch vorausgesetzten Offenbarungsglauben nur um den Preis der eigenen Verständlichkeit leisten. Mit gutem Grund. Zu unverträglich erscheinen die vielen Optionsscheine auf eine göttliche Offenbarung. Theologie übernimmt von daher nach Graf eine nuanciert verschobene Aufgabe:
„Theologie will durch rationale Vergegenwärtigung des christlichen Glaubens auch das Bewusstsein seiner Ideologisierbarkeit präsent halten.“10
8 Karl Barth, Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie
9 Ebd.
10 Friedrich Wilhelm Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2004, 276. Die
oben zitierte Frage leitet diese Passage ein.
Damit stehen einerseits die Ansprüche auf eine mögliche Gottesoffenbarung kriteriologisch auf dem Prüfstand der Vernunft. Andererseits rückt ein neues Bewährungsfeld der Theologie in den Blick, und das steht jenseits der offenbarungstheologischen Begründungsdiskurse. Graf will Theologie als Grenzwissenschaft unter doppelten Bedingungen entwerfen: unter der Maßgabe der biblischen Schriften mit ihrer Trennschärfe zwischen Gott und Mensch, aber auch unter den Bedingungen ausdifferenzierter Wissenskulturen, in denen gerade die theologischen Traditionsträger ins Vergessen abgedrängt zu werden drohen. Graf sucht die Anschlüsse für die theologischen Erinnerungsspuren zu legen, indem er die kulturwissenschaftlichen Erbschaftsverhältnisse aufdeckt:
„Die modernen Geistes‐ und Kulturwissenschaften entstanden im Deutschland des späten 18. und 19. Jahrhunderts häufig aus Teildisziplinen oder Hilfswissenschaften der protestantischen Theologie und einer stark protestantisch geprägten Philosophie… Nur sehr wenig Kantianismus oder deutscher Idealismus ohne protestantischen Subtext, keine frühe Germanistik ohne implizite Konfessionsgrammatik und Konstruktion eines protestantischen Kanons der Nationalkultur, keine Erfindung des modernen Individualismus aus dem Geiste der Renaissance ohne die Basler Pfarrhaussozialisation und tiefe religiöse Krise des Theologiestudenten Jacob Burckhardt.“11
Auch für Graf bleibt es theologische Erstaufgabe, von Gott zu sprechen. Aber die Vorzeichen sind gegenüber Barth transponiert, beinahe aufgelöst. Der alte offenbarungstheologische Begründungsdiskurs hat seine Plausibilitäten kulturwissenschaftlich abtreten müssen. Bescheidener, leiser, auch sensibler für die eigenen Risikopotenziale kommt der alte Glaube daher. Die Agenden der Unmittelbarkeit Gottes unter den Voraussetzungen eines individuellen, z. B.
prophetisch begeisterten Offenbarungsträgers oder eines Gruppenichs in der exemplarischen Gestalt apokalyptisch aufgebrachter Bewegungen stellt jeden Offenbarungssatz unter Vorbehalt. Die Stärke aller Gottrede markiert ihre Schwäche:
Sie ist interpretativ offen, also flexibel in Situationen mit transzendentem Erklärungsbedarf, aber zugleich dementsprechend leicht ideologisch nutzbar.
„Rationale Theologie gewann in der Alten Kirche deshalb so großes Gewicht, weil Grenzen des Sagbaren markiert und leicht mögliche Fehldeutungen zentraler christlicher Symbole verhindert werden sollten… Gott, Christus und Heiliger Geist – der politisch irrationale, theologisch ungeklärte Gebrauch dieser Begriffe kann unendlich viel Schaden anrichten. Himmel und Hölle, Heil und Verderben, Sünde und Erlösung, Diesseits und Jenseits, Natur und Gnade: Die leitenden Begriffe christlich‐religiöser Sprache lassen sich immer auch für tendenziell totalitäre Programme einer umfassenden Integration oder Unterdrückung des Individuums instrumentalisieren. Politische Auslegung religiöser
Friedrich Wilhelm Graf (* 1949):
Kultur‐
historische Methode
Vorstellungen, Zeichen und Begriffe ist dabei keineswegs ein bloß vormodernes Phänomen, zu finden allein in den Herrscherkulten der Antike oder des Mittelalters.
Auch die Religionsgeschichten der Moderne lassen vielfältige Formen der
11 Ebd., 264f.
Beharrungskraft politischer Religion und >politischer Theologie< erkennen, innerhalb wie außerhalb des Christentums.“12
Solche Politiken haben immer wieder und fast durchgängig Offenbarungsgrund.
Die kritische Methode zur Beurteilung von Offenbarungssätzen trägt freilich ihren blinden Fleck nicht aus. Alle Kritik zehrt von einem Maßstab, der in diesem Fall das sein soll, was zur Bewertung ansteht. Auch das Evangelium von der Würde des Individuums und einer „Religionskultur humaner Selbstbegrenzung des Menschen“13 ist theologisch begründungsbedürftig – oder als theologische Stellung bereits nach dem letzten Rückzug ins kulturgeschichtliche Hinterland aufgegeben.
Was ist aber, streng theologisch und also kritisch, unterscheidungsstark gedacht, die Offenbarungsgröße, von der auch die kulturwissenschaftliche Rekonstruktion der Theologie zehrt? Welche Autorität kommt ihr auf welcher Basis zu? Es sind gerade die Schwierigkeiten mit einem selbstverständlichen Gebrauch des Offenbarungsgedankens, die seine Unvermeidlichkeit in Form gesteigerter Problemlasten markiert. Man kommt um ihn theologisch nicht herum. Das macht ihn in seiner Schwäche so stark.
Von Grafs impliziten, über den methodischen Zugriff ausgetragenen – und im Kontext der Moderne unzweifelhaft berechtigten – Schwierigkeiten mit einem Rekurs auf´s Offenbarungstheologische liegt der Weg zu einem funktionslogischen Verständnis von Offenbarung nahe. Niklas Luhmann steht hier Pate. Religion erschließt für ihn das, was sich nicht genau bezeichnen lässt, aber für den religiösen Menschen wirklich ist. Die Doppelcodierung des Bekannten und Unbekannten verlangt ein eigenes Beschreibungssystem.14 Es übernimmt die Funktion, die Komplexität unserer Welt zu verarbeiten, indem sie sie reduziert. Mit anderen Worten: Religion macht die Wirklichkeit zugänglich, weil sie verstehbar wird.
Religion kann für das Problem der Entstehung der Welt die Vorstellung von einem Schöpfergott anbieten. Damit hängt die Lösung eines weiteren Problems zusammen:
Religion setzt anstelle der anonymen Zufälle des Lebens eine personale Sinngröße ein, die es gegebenenfalls erlaubt, Schicksalsschläge zu verarbeiten und möglicherweise auch die eigene Todesangst in das Leben zu integrieren.
Niklas Luhmann (1927‐1998):
Funktions‐
logische Methode
„Religion hat demnach… für das Gesellschaftssystem die Funktion, die unbestimmbare, weil nach außen (Umwelt) und nach innen (System) hin unabschließbare Welt in eine bestimmbare zu transformieren, in der System und Umwelt in Beziehungen stehen können, die auf beiden Seiten Beliebigkeit der Veränderung ausschließen.“15
Was hat das mit Offenbarung zu tun? Das entsprechende Dogma hat seinerseits die Funktion, das Religionssystem mit einer Begründung zu versehen. Es wird auf dieser Basis belastbar durch externe wie interne Anfragen in Form offener Kritik
12 Ebd., 274f.
13 Ebd., 278.
14 Vgl. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft. Bd. 1, Frankfurt a. M. 1997, 232.‐ Vgl. zum gesamten
Ansatz ders., Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2000.
15 Niklas Luhmann, Funktion der Religion, Frankfurt a. M. 1982, 26.
oder sublimen Zweifels. Damit betreibt es die Rationalisierung des eigenen Systems und kann es verallgemeinern:
„Das Dogma der Offenbarung dient als koordinierende Generalisierung. Es kombiniert (1) eine universell verwendbare Autorschaft (Gott) mit (2) relativ verweisungsoffenen, deutungsfähigen Inhalten, deren Rationalität und Interpretierbarkeit gleichwohl garantiert ist, und (3) mit dem wirklichen Erscheinen einer Möglichkeit in der Form (4) eines besonderen historischen Ereignisses, das als ein besonderes (5) unmittelbare Evidenz hat und als ein historisch‐einmaliges (6) der variierenden Disposition durch die je gegenwärtige Gesellschaft entzogen ist, vielmehr allein einer theologischen Dogmenverwaltung unterliegt. Mit Hilfe dieser konzeptuellen Erfindung können universelle Relevanz und spezifische Kompetenz zugleich begründet werden, und in einem damit wird das Kommunikationsmedium der Religion als symbolisch generalisiertes, sprach‐ und kommunikationsfähiges Interpretationsmittel glaubhaft gemacht: Die Offenbarung liefert und begründet den Code des Mediums. Zugleich liegt in der historischen Faktizität der Offenbarung ein im Laufe der Zeit sich steigernder Abstraktionszwang, dem nur durch Interpretation Rechnung getragen werden kann.“16
Entscheidend ist dabei, dass das Konzept Offenbarung die Kraft zur Selbstbegründung hat. Man muss sich zum Glauben entscheiden, dass sich Gott selbst in einer Offenbarung als Wort, Schrift oder Ereignis vermittelt. Eine besondere Rationalisierungsleistung liegt dabei mit dem Modell jener Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte vor, mit der die gespannte Doppelcodierung jedes Systems, das Bekanntes und Unbekanntes zu integrieren hat, bereits aufgenommen wird. Gott kann hier in seiner Offenbarung der Verborgene bleiben und umgekehrt. Man steht vor einem äußerst deutungsstarken Ensemble. Zugleich liegt hier ein Risiko: Man muss die ursprüngliche Offenbarung nicht nur interpretativ weiterentwickeln, und zwar angesichts konkreter Herausforderungen, sondern man fasst diese Probleme in einer zunehmenden Abstrahierung. Das Zugleich von „offenbar – verborgen“ liefert eine allgemeine Grammatik, die aber in der Gefahr steht, die Anfrage durch eine besondere Erfahrung (z. B. Leid oder Schuld) in ein universalisierbares, aber auch zu allgemeines Antwortregister zu verschieben. Hier lauern Plausibilitätsverluste – und genau damit hat es der Offenbarungsglaube nach Luhmann neuzeitlich zu tun.
„Ob dieses Dogma seine Funktion heute noch erfüllt, nachdem der gesellschaftliche Wandel des Zeitverständnisses es hat historisch werden lassen; ob hier noch eine ausreichende Artikulationsbasis für die Steuerung des Umweltverhältnisses der Religionssysteme liegt; ob, mit anderen Worten, Interpretation und Reinterpretation von Offenbarung die Funktion von Religion noch erfüllen kann oder ob nicht Interpretation durch Religion ersetzt werden müßte – das sind Fragen, die die Soziologie stellen, aber nicht beantworten kann. Vielleicht findet die Theologie Möglichkeiten, von Interpretation der Offenbarung und Interpretation des Interpretierens zur funktionsbewußten Reflexion des Interpretierens überzugehen.“17
16 Ebd., 170f.
17 Ebd., 180.
Mit dieser Kritik, zumal aber mit diesem Arbeitsauftrag steht die Theologie der Offenbarung zur Disposition. Die Totalität einer systemischen Beschreibung von Offenbarung behält dabei gerade dann noch ihr Recht, wenn zugleich an der Eigenlogik des Offenbarungsglaubens festgehalten wird.18
• Direkter • Transzendentale • Dialektische • Kulturhistorische • Fun
Zugriff (z. B. Methode Methode Methode Me
Wunder) • (Rahner) • (Barth) • (Graf) • (Lu
• (Biblizismus)
• Fokus: • Fokus: • Fokus: • Fokus: • Fok
• Sinnlich • Innenwelt des • Äußeres • (Kultur‐) • Inn
wahrnehmbar Subjekts Offenbarung Geschichtliches Sys
e Wirklichkeit swort Außen
Offenbarung heute: Werbung als semiologisches Ersetzungsprogramm
Die funktionale Beschreibung des Offenbarungsglaubens hat einen interessanten Nebeneffekt: Sie sensibilisiert dafür, wo und wie Offenbarungschiffren beansprucht und eingesetzt werden. Mit anderen Worten: welche Funktion sie aktuell übernehmen. Darüber bestimmt sich der Ort religiöser Zeichen und Überzeugungen in der Gegenwart.
Wie noch zu zeigen sein wird, hat sich mit dem Abschied vom instruktionstheoretischen Offenbarungsverständnis eine interessante Wende in der (katholischen) Theologie vollzogen. Offenbarung ist nicht länger ein göttliches Informationsprogramm. Es geht nicht vorgeordnet darum, ein bestimmtes Wissen über Gott zu erhalten. Stattdessen rückt eine komplexe Wahrnehmungslehre in den Vordergrund: Christlich ist Offenbarung schließlich an das konkrete Leben des Jesus von Nazareth gebunden. Es lässt sich nicht auf einen Begriff bringen, wie bereits die vielen christologischen Titel im NT andeuten. Eine ästhetische Perspektive, nämlich die Frage nach der Wahrnehmungsform von Offenbarung, erhält besonderes Gewicht. Als Modell für ein solches Verständnis kann die Heilung eines Blinden nach Mk 8,22‐26 dienen. Jesus öffnet ihm die Augen. Die Heilung besteht darin, dass er neu zu sehen lernt. Was er als erstes sieht, nachdem seine Augen dafür geschärft sind (V. 26), muss der gewesen sein, der vor ihm steht (V. 23): der Heiland, der Offenbarer selbst, den er (an)erkennt.
Der ästhetische Wechsel in der theologischen Wissensform hat Folgen. Die Figuren in John Updikes Roman „Gott und die Wilmots“ wechseln nicht zufällig das Medium ihrer existenziellen Anschauungsform und Selbstverständigung. Durch den Film drängt eine neue Offenbarungswirklichkeit mit eigenen soteriologischen Qualitäten
18 Vgl. Thomas Ruster, Distanzierte Beobachtung. Niklas Luhmanns „Religion der Gesellschaft“, in: HerKorr 55
(2001) 90‐96.
im gesellschaftlichen Bewusstsein und in den alltäglichen Lebensvollzügen nach oben. Die Dramen um all das, an dem letztlich das Heil oder das Unheil des Menschen und seiner Welt hängen, werden hier gespielt. Offenbarungen ganz eigener Art stehen an. Natürlich galt Entsprechendes zu jeder Zeit von allen Kunstformen: vom Bild, von Musik und Literatur, zumal auf dem Theater. Aber hier wird in der Verbindung der jeweiligen Ausdrucksmöglichkeiten eine ästhetische Totalität möglich, die eine besondere Aufmerksamkeit an sich zieht.
Die entsprechende Umstellung der Wahrnehmungsform für das, was sich offenbart, ist brisant. Es geht um die Tendenz zur Totalisierung im Zeichen des Marktes. Hier wird eine neue Heilsökonomie inszeniert, die sich ganz im Modus des Austauschs vollzieht. Sie wird vielleicht am sichtbarsten in einem lebensweltlich dominanten Gegenwartsformat: in der Werbung. Werbung hat es ganz ausdrücklich mit Offenbarung zu tun. Sie präsentiert das Produkt und nutzt dabei auffallend häufig religiöse Chiffren mit Offenbarungswert. Vom heiligen Commercium war bereits die Rede. Hier greift es marktlogisch durch. Werbung muss dabei als ein eigener Diskurs begriffen werden, der in seinen unterschiedlichen Praktiken eigene Wissensformen bereitstellt. Man steht vor einem komplexen Zeichensystem, in dem sich das kulturelle Wissen der Zeit hält. Verschiedene Traditionen werden aufgegriffen und virtuos angeordnet. Die Arrangements entsprechen dem jeweils fortgeschrittensten Stand z.B. von Computeranimationen und Verfertigungstechniken. Nicht selten erlaubt Werbung innovative Schritte. Filmtechnisch beispielsweise ließ sich das Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten durch experimentelle Werbefilme erweitern.
Die fließenden Übergänge zwischen Kunst und Ökonomie bestätigen, dass es sich hier um ein Wissen handelt, das in eine bestimmte Ordnung gebracht und ökonomisch zur Verfügung gestellt wird; das auf andere Wissensformen Einfluss nimmt – eben auch auf das religiöse Wissen – und die Selbstverständigung einer Zeit bestimmt. Dem entspricht eine eigene Grammatik. Die Bedeutung der einzelnen Zeichen, der Bilder, der gesamten Komposition hängt von mehreren Komponenten ab. Aus dem Hintergrund bestimmt das Werbemotiv den Sinn der einzelnen Zeichen.
Sie weisen auf ein Produkt hin, wobei die Bedeutung der Zeichen nicht immer eindeutig ist. Oft ergeben sich eher lose Beziehungen, die aus einem vagen Zusammenhang ein besonders Interesse schlagen.
Wenn zwei betende Nonnen in erotischer Unterwäsche auftreten, wenn der fromme Blick mit erotischem Augenaufschlag erfolgt, wenn der klassische Schwarz‐
Weiß‐Kontrast die Gleichzeitigkeit von gut und böse, von Heiliger und Hure simuliert, dann steigert die Ambivalenz der Zeichensprache das Interesse für das Produkt. Gezielt wird es in diesem Spiel nicht benannt. Es bleibt unbestimmt und tritt auf diese Weise umso nachhaltiger in Erscheinung. Das Namenlose zieht den Sinn an. Es fasziniert als etwas Geheimnisvolles, zugleich Anrüchiges, Verruchtes, an das sich sexuelle und also vitalste Bedürfnisse binden. Sie warten darauf, befriedigt zu werden. Schon auf dieser Linie wird deutlich, dass Werbung mit Kleinformen von Erlösung spielt: der Erfüllung von Wünschen und der Auflösung von triebbestimmten Spannungen. Freilich sind sie auf den Kreislauf des immergleichen Ablaufes angelegt, der in den abwechslungsreichen Verlaufsmustern immer neuer Produkte und Werbestrategien niemals stillstehen darf. Damit wird nicht nur der Fluss des Kapitals formal abgebildet, sondern eine Denkform eingesetzt, in der das Geld und seine Wertentsprechungen zur alles bestimmenden Wirklichkeit schlüpfen.
Thomas Ruster hat darauf hingewiesen, dass man damit vor einem entscheidenden Wechsel der Grundbezüge des Religiösen und zumal des Christlichen steht. Die Theologie war bis weit in die Neuzeit hinein dazu imstande, das christliche
„Gottesverständnis mit der Erfahrung der alles bestimmenden Wirklichkeit übereinzubringen, während ihr das heute nicht mehr gelingt. Das, was tatsächlich als die Wirklichkeit letztlich bestimmend wahrgenommen wird, findet heute andere Symbolisierungen und Repräsentationen als den christlichen Gottesbegriff.“ 19
Gerade das Beispiel der Werbung zeigt, dass dieser Prozess Zeichengrund hat. Im Zusammenspiel der Zeichen ergeben sich neue Sinnzusammenhänge. Weil Werbung Aufmerksamkeit erzeugen muss, treffen oft ungewöhnliche Zeichen aufeinander, um sich voneinander abzusetzen oder zu verschmelzen. In jedem Fall steht ein Zeichen für ein anderes ein: zunächst einmal ein Symbol für ein Produkt oder beispielsweise für ein politisches Programm. Die Anspielungen, mit denen ein Bild arbeitet, richten eine intertextuelle Zone ein.
19 Thomas Ruster, Der verwechselbare Gott. Theologie nach der Entflechtung von Christentum und Religion (QD
181), Freiburg u.a. 2000, 7.
Das Otto Kern‐Plakat stellt das Abendmahl von Leonardo da Vinci mit neuen Akteuren nach. Für die Bedeutung entscheidend, wird bereits die Perspektive des Originals verschoben. Leonardo bietet die Szene nicht auf Augenhöhe des Betrachters: „er muss sich gleichsam innerlich erheben, um den >richtigen<
Standpunkt einzunehmen.“20 Anders das neue Abendmahl. Der gegenwärtige Beobachter erlebt die Einsetzungsszene der Kommunion auf derselben Ebene wie die Handlungsträger des Bildes. Der transzendente Ausgangspunkt, den Leonardo wählt, verschiebt sich in Kommunikationsverhältnisse, die dafür keinen Raum mehr lassen. Zugleich ersetzt das neue Produkt die Produktion jener neuen Beziehungswirklichkeit, die katholisch als das Allerheiligste geglaubt wird. Erneut sprengt darüber hinaus der erotische Kontakt den ursprünglichen Horizont von Vereinigung, die sich im Zuge des Abendmahls zwischen Gott und Mensch vollzieht.
Die sexuelle Konnotation, die sich aus der Umgebung der Models ergibt, verschiebt diesen Sinn entscheidend. Das Pendant zu diesem Bild, mit umgekehrten Geschlechterrollen inszeniert, macht unmissverständlich deutlich, dass wir es hier mit einem Vorgang ungezügelter Austauschbarkeit der Bedeutungsträger zu tun haben. Der Tauschvorgang selbst wird damit indirekt zum Thema – die Grammatik von Werbung erscheint in Reinform. Worin besteht sie?
20 Christoph Wetzel, Das Reclam‐Buch der Kunst, Stuttgart 2001, 250.
Der Betrachter wird von unten her in eine Kathedrale geleitet. Das fließende Blau des weiten Raums verbreitet eine sakral‐ruhige Aura. Mit dem ersten Blick wird bereits die Perspektive eng geführt. Sie wird von einer Lichtquelle angezogen, die man hinter den roten Fenstern im Chorraum vermuten muss. Zugleich ist dieser Bereich in ein kaum zu durchdringendes Dunkel gehalten. Hier befinden sich in einer katholischen Kirche der Altar und das Allerheiligste. Auf diesem Prospekt bleiben sie verborgen. Ihr Ort ist unbestimmt. Dadurch steht er für eine andere Bezeichnung offen. Exakt über dem Altarbereich, auf der Fluchtlinie der Kapitelle, steht ein Einsetzungszeichen. „Ein Renault“ gibt der Bildkomposition ihren Sinn. Das Produkt wird dabei nicht selbst gezeigt. Es bleibt wie das Allerheiligste unsichtbar.
Aber es ist – kaum zufällig – als Schrift in die Anzeige eingeschaltet. Damit nimmt es selbst den Platz des Allerheiligsten ein. Als Automobil greift es im Übrigen einen gottverwandten Namen aus der Tradition auf – den des unbewegten Bewegers.
Dieses Ensemble macht – mit dem Untertitel – Sinn. Sinn, das ist Richtung. Sinn orientiert. Renault gibt hier allem Sinn, genauer: die Ingenieure mit ihrer Kreativität.
Und erneut fällt auf, dass man damit auf religiös eingesprungene Titel anspielt.
Hier geht es vor allem um den grammatischen Vorgang. Das Religiöse wird in seiner Zeichenpotenz gebraucht, um in einem ganz anderen als dem heiligen Commercium der Eucharistie durch eine fremde Größe ersetzt zu werden. An die Stelle Gottes tritt das Produkt.
Werbung muss auf dieser Linie als ein eigener Offenbarungsort verstanden werden.
Das Ironische dabei: seine Offenbarungen machen klar, dass die alten Offenbarungen nicht mehr en vogue sind. Sie werden ersetzt. Die Sprache der Werbung erschließt sich unmittelbar. Sie hat einen suggestiven Zug, dem man sich so wenig zu entziehen vermag, wie man der Allgegenwart von Werbung entgehen kann. Damit steht man
unausweichlich in einem veränderten Kommunikationsraum. Die Rede vom Gott der biblischen Offenbarung verkümmert demgegenüber in rationalen Lebenswelten zum esoterischen Sonderfall. Indem seine Chiffren verwendet werden, kommt er im Gebrauch und Verbrauch seiner Zeichen um. Nur weil man ohne ihn auskommt, mit anderen Worten: weil man ihn nicht mehr ernst nehmen muss, kann man ihn auf die gegebene Weise beanspruchen. Das aber ist als ein religionskritischer Vorgang zu verstehen.21 Religionskritik als Distanzierung des religiösen Gedankens schlägt hier als konkrete Praxis auf den Gottesglauben zurück. Was Offenbarung Gottes bedeutet, muss im Rahmen der Geschichte seiner Problematisierungen wie seiner lebensweltlichen Abwicklungen, und zwar gerade seiner gegenwärtigen, erzählt werden.
Wer heute von einer Offenbarung Gottes spricht, muss dies nach dem Ende der Selbstverständlichkeit des entsprechenden Glaubens tun. Die verschiedenen Rekonstruktionswege des Konzepts machen dies deutlich. Konnte man lange Zeit auf eine Offenbarung Gottes etwa in der Gestalt der biblisch gebotenen Wundergeschichten zurückgreifen, so hat sich die entsprechende Wissensform verändert. Offenbarung wurde zunehmend in den Innenraum menschlicher Wahrnehmungsbedingungen verlegt. Im Gegenzug wurden die geschichtlichen Vermittlungsmuster von Offenbarungserfahrungen thematisiert. Dabei behält das Konzept Offenbarung unter ästhetischen Gesichtspunkten eine besondere Bedeutung: Unsere Lebenswelt ist nicht zuletzt an die Offenbarungsleistungen des Marktes mit seinen Heilsversprechungen gebunden. Von daher ist der theologische Gedanke im Rahmen seiner Problemgeschichte(n) neu zu entwickeln. Dabei zeichnet sich ein Leitfaden ab: In der gespannten Dialektik der Innen‐ und Außenbezüge biblischen Offenbarungsglaubens ist von einer Hermeneutik des Unscheinbaren und einer Semiotik der Schwäche, der Ohnmacht auszugehen, die in den politischen und kulturellen Räumen des Eindeutigen, des Offensichtlichen eigene Offenbarungen über Gott und die Welt versprechen – gegen den Anschein des totalisierten Gottesverlusts in einer Welt der (ökonomischen) Verfügungsgewalten über alles und jeden.
21 Vgl. Gregor Maria Hoff, Religionskritik heute, Kevelaer 2004, 35‐39.