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Kindheit in deutsch-türkischer Migrationsliteratur

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Academic year: 2022

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Emre, Merle: Grenz(über)gänge 215

Rezensionen Info DaF 2/3 · 2016

 Emre, Merle:

Grenz(über)gänge. Kindheit in deutsch-türkischer Migrationsliteratur.

Würzburg: Königshausen & Neumann, 2014 (Interkulturelle Moderne, 5). – ISBN 978-3-8260-5551-5. 307 Seiten, € 44,00

(Klaus Hübner, München)

Die von Ortrud Gutjahr herausgegebene Buchreihe Interkulturelle Moderne widmet sich der Analyse von Narrativen und Szenerien in Literatur, Theater und Film, durch die kulturdifferente Zuschreibungsmuster und (post-)koloniale Identitäts- konstruktionen ästhetische Gestalt gewinnen. Der fünfte Band dieser Reihe, die Druckfassung einer Hamburger Dissertation, untersucht das Thema Kindheit in deutsch-türkischer Migrationsliteratur. In ihrer Einleitung stellt Merle Emre zu Recht fest, dass die deutschsprachige Literatur von Autoren mit türkischem Hinter- grund »inzwischen einen festen Bestandteil der Literaturlandschaft in Deutsch- land« bildet (16) – und dass die Bezeichnung »Migrationsliteratur«, unter die man diese Literatur gemeinhin subsumiert, eine zwar oft einleuchtende, aber eine nicht unumstrittene, keineswegs für alle entsprechenden Texte zutreffende und dem- nach notgedrungen eine vorläufige ist (17/18). Die Verfasserin macht auch gleich klar, dass sie, bezogen auf ihren Untersuchungsgegenstand, »Kindheit« nicht nur als eine frühe Lebensphase des Menschen begreift, »sondern in erster Linie als eine retrospektiv entworfene Konstruktion« (19), als einen durch spezifische Erzählverfahren geschaffenen Raum, der durchaus komplexer sein kann als das real Erlebte. Die vier von ihr intensiv durchleuchteten Kindheitsromane rechnet sie – mit Michaela Holdenried – der »literarischen Form der Autofiktion« zu, die vor allem dadurch gekennzeichnet sei, »dass ›Wirklichkeit‹ nicht mehr vorrangig durch eine subjektive Erzählperspektive, sondern gerade durch die erzählerische Distanz zwischen Subjekt- und Objektpol vermittelt wird« (24). Für die Kinderfi- guren der Texte bedeutet dies, dass sie in mehrfacher Hinsicht »Grenzgänger«

oder gar – be- und entgrenzt zugleich – »Grenzübergänger« werden (26). Das besondere Augenmerk dieser »Muster der Kindheitskonstruktion« in den Blick nehmenden Studie gilt der spannenden Frage, was durch das in den untersuchten Werken vorherrschende »Erzählverfahren der Naivität« zum Thema »Kindheit«

darstellbar wird (26/28).

Kindheit in der »Migrationsliteratur« sei jedenfalls, so lautet auch die Überschrift des ersten Kapitels, immer »kulturelle Konstruktion«. Wie es sich für eine Dissertation gehört, wird zunächst zusammengetragen, was »die verschiedenen interdisziplinären Ansätze der Kindheitsforschung« für das Thema hergeben (35).

Kindheit kann demnach als paradiesische Zeit, als Epoche eines wehrlosen Opferdaseins, als individuelle Bildungsgeschichte oder als Zeitzeugengeschichte inszeniert werden, und für solche Inszenierungen gilt: »Eine eindeutige Differen- zierung zwischen Erinnerung an und Interpretation von Kindheitserlebnissen ist

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216 Emre, Merle: Grenz(über)gänge

Info DaF 2/3 · 2016 Rezensionen

[…] nicht möglich, und (literarische) Erzählungen über Kindheitserinnerungen thematisieren häufig diese ›Unverlässlichkeit‹.« (40) Von einer narrativen Aneig- nung vergangener Erfahrungen durch Reflexion, Rekonstruktion und Reorganisa- tion der Kindheit, die meist eingebettet wird in den Gesamtzusammenhang des eigenen Gewordenseins, sei grundsätzlich auszugehen – und bei Migrationsge- schichten, in denen der Sprach- und Kulturwechsel oft als Ende der Kindheit dargestellt wird, ganz besonders. Und, nicht unwichtig: Mit dem Ankommen in der Fremde sei die Migration nicht vorbei – die schrittweise Aneignung des Fremden werde vielfach aus einer Situation drohender Identitätsauflösung heraus geschildert, die wiederum als Folge des oft als traumatisch Erlebten gesehen werden müsse.

Dem differenzierten und durchaus plausiblen Überblick über relevante kultur- wissenschaftliche Erkenntnisse zum Thema folgt der Hauptteil von Merle Emres Studie, nämlich die akribische Analyse von vier einschlägigen literarischen Texten: Schwarzer Tee mit drei Stück Zucker von Renan Demirkan (1991), Das Leben ist eine Karawanserei von Emine Sevgi Özdamar (1992), Die Tochter des Schmieds von Selim Özdogan (2005) und Leyla von Feridun Zaimoglu (2006). Diese Auswahl leuchtet unmittelbar ein, und es ist besonders hervorzuheben, dass der von Kritik und Lesern seinerzeit viel zu wenig beachtete Roman Die Tochter des Schmieds hier die Würdigung erfährt, die ihm zweifelsohne gebührt. Über den einst von Maria E. Brunner mit letztlich unhaltbaren Thesen vom Zaun gebrochenen Streit zwischen Emine Sevgi Özdamar und Feridun Zaimoglu erfährt man kaum Neues, und das ist vielleicht auch gut so.

Die vier Romane hätten hinsichtlich ihrer Darstellungsform inszenierter Kindlich- keit das »Erzählprinzip der Naivität« gemeinsam, stellt die Verfasserin fest, eine Textstrategie also, »die mit einer auf die kindlichen Hauptfiguren bezogenen Komplexitätsreduktion operiert« (267). Deren Hauptfunktion sei es, »vorgeblich sprachliche, soziale und/oder kulturelle Codes nicht zu kennen, um dadurch gezielt auf sie anspielen und kulturspezifisch Tabuisiertes zur Sprache bringen zu können« (267) – es gehe um ein »kulturelles Rollenspiel mit der Differenz zwischen Wissen und Nicht-Wissen« (270). Der Leser indes verstehe die Kind- heits- und Sozialisationsgeschichten aus der Türkei der fünfziger und sechziger Jahre immer auch in Relation zu ihrer späteren Reflexion – hinter der jeweiligen kindlichen Erzählmaske werde stets auch die erwachsene Erzählinstanz sichtbar, die die oft dramatischen Erfahrungen des Sich-fremd-Fühlens a posteriori kontex- tualisiert, sichtet und ordnet – und die außerdem mehrfach die schlichte Opfer- perspektive relativiert, indem sie »Entwicklungs- bzw. Ermächtigungsprozesse«

der Figuren vorführt, speziell die der weiblichen Gestalten. Die Verfasserin betont mehr als einmal, dass wir es in den genannten Romanen mit fiktiven Migrations- geschichten zu tun haben, die sowohl die Geschichte(n) der Vorfahren ihrer Protagonisten als auch deren eigene Geschichte rekonstruieren und sie dabei neu

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Espagne, Michel u. a. (Hrsg.): Afrikanische Deutschland-Studien und deutsche Afrikanistik 217

Rezensionen Info DaF 2/3 · 2016

ordnen, reale Erinnerungen also in fiktionale Narrationen übersetzen. Die in ihren jeweils ganz unterschiedlichen Mikrostrukturen akribisch untersuchten Texte gäben der ersten türkischen Einwanderergeneration Deutschlands ihre Ge- schichte zurück, indem sie Anfangs- und Entwicklungsnarrationen präsentierten, die ihren historischen Ort in genau diesem Kontext haben und dennoch darüber hinausweisen in eine weiter fortzuschreibende Zukunft.

Ohne hier ins Detail gehen zu können – selbstverständlich wird man manche Argu- mentation immer mal wieder ergänzen oder ihr auch widersprechen wollen –, sei resümierend festgehalten, dass jegliche Forschung, die sich in Zukunft den genann- ten Texten und Autoren zuwendet, die hier ausführlich und sorgfältig dargelegten Überlegungen zur Kenntnis zu nehmen hat. Mehr noch: Man wird Merle Emres solide Studie stets mit Gewinn heranziehen, wenn man sich, über diesen Teil der

»Migrationsliteratur« hinaus, mit der Geschichte der Türken in Deutschland näher befassen möchte.

 Espagne, Michel; Rabault-Feuerhahn, Pascale; Simo, David (Hrsg.):

Afrikanische Deutschland-Studien und deutsche Afrikanistik. Ein Spiegel- bild. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2014 (Saarbrücker Beiträge zur Vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft, 72). – ISBN 978-3-8260- 5489-1. 416 Seiten, € 58,00

(Karl Esselborn, München)

Die interkulturelle Literatur- und Kulturwissenschaft versteht sich als eine komparative Wissenschaft, die sowohl die eigene als auch die Sprache und Kultur der fremden Länder und ihre gegenseitige Wahrnehmung und Erklärung verglei- chend nebeneinanderstellt und die unterschiedlichen Perspektiven zusammen- führt. Der vorliegende Sammelband fasst entsprechend Beiträge von zwei ver- schiedenen Tagungen zusammen, einer Pariser Tagung von 2011 für Wissen- schaftler aus Afrika, Deutschland und Frankreich zur deutschen Afrikanistik und eines afrikanischen Germanisten-Kongresses Gedächtnis im interkulturellen Kontext 2012 in Lomé zur Problematik der afrikanischen Deutschland-Studien.

Die sich spät aus der Orientalistik verselbständigende Afrikanistik war anfangs vor allem von der Sprachwissenschaft und der frühen Anthropologie/Völker- kunde bestimmt und eng mit praktischen, kolonialen Zwecken verbunden. Aus dem missionarischen Eifer, die Bibel in verschiedene afrikanische Sprachen zu übertragen, entstanden im 19. Jahrhundert Dokumentationen und zunehmend wissenschaftliche linguistische Beschreibungen verschiedener mündlicher Lokal- sprachen. In der Hafenstadt Bordeaux wurde 1901 ein Institut colonial gegründet, in Deutschland entwickelte sich die Afrikanistik zunächst im Rahmen des Berliner Seminars für orientalische Sprachen, das vom Auswärtigen Amt und Reichskolo-

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