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Widerspruch als Erzählprinzip in der Vormoderne?

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Elisabeth Lienert

Widerspruch als Erzählprinzip in der Vormoderne?

Eine Projektskizze

DOI 10.1515/bgsl-2017-0003

Abstract: In premodern narratives contradictions are omnipresent – conflicting concepts, logical inconsistencies, acts of objection. In a narratological perspective

›contradiction‹ – conflicts of incompatible knowledges and narrative patterns;

inconsistencies in or between speech (by narrator or characters) and action; con- tradictory or inconsistent information and motivation–is apt to subvert, complica- te, or enrich the textual production of meaning. The project ›Contradiction as a Narrative Principle in Premodern Narrative‹(University of Bremen) explores diffe- rent types of contradictions in medieval epic and romance.

I. Erzählen im Widerspruch. Befund und Problemlage

Trotz der aktuellen interdisziplinären Konjunktur des›Widerspruch‹-Begriffs1sind Widersprüche keineswegs nur ein Phänomen der (Post-)Moderne, sondern auch in

Prof. Dr. Elisabeth Lienert: Universität Bremen, Fachbereich 10, Bibliothekstr, D28359 Bremen, E-Mail: elienert@uni-bremen.de

1 Vgl. u. a.: Elena Ficara: Contradictions: Logic, History, Actuality, Berlin 2014; Simone Furlani:

Verso la differenza: contraddizione, negazione e aporie dopo lidealismo, Padova 2012; Martin Jay: The Debate over Performative Contradiction: Habermas Versus the Poststructuralists, in:

Axel Honneth [u. a.] (Hgg.): Philosophical Interventions in the Unfinished Project of Enlight- enment, Cambridge, MA, 1992, S. 261279; Stefan Müller (Hg.): Jenseits der Dichotomie: Elemente einer sozialwissenschaftlichen Theorie des Widerspruchs, Wiesbaden 2013; Graham Priest: Truth and Contradiction, in: Philosophical Quarterly 50 (2000), S. 189195; Graham Priest: Why its Irrational to Believe in Consistency, in: Berit Brogaard u. Barry Smith (Hgg.): Rationality and Irrationality. Proceedings of the 23rdInternational Wittgenstein Symposium, Wien 2001, S. 284 293; Graham Priest: In Contradiction: A Study of the Transconsistent, 2ndedition, Oxford 2006;

ders.: Doubt Truth to be a Liar, Oxford 2009; Nigel Rapport u. Joanna Overing: Contradiction, in:

dies. (Hgg.): Social and Cultural Anthropology: the Key Concepts, London 2003, S. 7985.Das

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vormodernem Denken zentral. Während die Gelehrtenkultur des 12. und 13. Jahr- hunderts zunehmend von der Rezeption der aristotelischen Logik und deren Prinzip der Widerspruchsfreiheit (Widerspruch als›Entweder-oder‹) bestimmt wird, sind bis (mindestens) ins Spätmittelalter hinein das traditionelle (vor allem durch Augustinus geprägte) theologische Denken und die von der Lehre vom mehrfachen Schriftsinn getragene Exegese ebenso wie noch die Dialektik Abaelards (Sic et non) tendenziell durch die Möglichkeit des Nebeneinanders divergenter Positionen und unterschiedlicher Deutungen (Widerspruch als›Sowohl-als auch‹) gekennzeichnet.

Gegensätze und Widersprüche prägen vormoderne Literatur von der Ebene der Sprach- und Denkfiguren (vgl. etwa rhetorische Figuren wie Antithese, Oxymoron, Paradoxon,Revocatio) bis hin zur Ebene der Ideen und Konzeptualisierungen; man denke etwa an den Dualismus von Gut und Böse; die grundsätzliche Gegen- überstellung von Diesseits und Jenseits, Säkularem und Religiösem nicht nur im mittelalterlichen Christentum; das Paradoxe amoureux der Trobadorlyrik; das Motiv des Liebeskriegs; den Typus des Sünderheiligen in der Legende; den›Wider- ruf‹der ovidianischen Liebeslehren in Ovids›Remedia amoris‹und der des Andreas Capellanus im dritten Buch von ›De amore libri tres‹; das Nebeneinander von Frauenpreis und Frauenschelte; gattungskonstitutive(n) Widerspruch und Gegen- rede in Streitgespräch und Tenzone.2

Auf poetologischer Ebene ist vor allem auch die Erzählliteratur (einschließlich der Geschichtsdichtung) betroffen: Auch in mittelalterlichem und frühneuzeitli- chem Erzählen sind Widersprüche auf verschiedenen Ebenen omnipräsent, von konträren Konzeptualisierungen und agonalen Problemkonstellationen über logi-

Widerspruch-Konzept steht im Zentrum der geisteswissenschaftlichen Verbundforschungsinitia- tiveWorlds of Contradictionan der Universität Bremen, der auch mein Explorationsprojekt

Widerspruch als Erzählprinzip in der Vormodernezugeordnet ist. Im Rahmen dieses Explo- rationsprojekts sind unter anderem eine TagungPoetiken des Widerspruchs(Bremen, März 2017), eine Abhandlung zu Widersprüchen in heldenepischem Erzählen (Elisabeth Lienert) und eine Dissertation zu Widersprüchen im höfischen Roman (Amina Šahinović) geplant. Für grundsätzliche Hinweise auf aktuelle Widerspruchskonzepte danke ich den Kolleginnen und Kollegen inWorlds of Contradiction, für bibliographische Unterstützung AminaŠahinović, Stephanie Baumgarten und Catharina B. Haug.

2 Dieser Abschnitt folgt dem Überblick über mittelalterliche Positionen zuWiderspruchund

Widersprüchlichkeitbei Sarah Kay: Courtly Contradictions. The Emergence of the Literary Object in the Twelfth Century, Stanford 2001 (Figurae), bes. S. 1125; Catherine Brown: Contrary Things. Exegesis, Dialectic and the Poetics of Didacticism, Stanford 1998 (Figurae), bes. S. 114, zur Exegese S. 1535, zu Abaelard S. 6390, zu Andreas Capellanus S. 91115.

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sche Inkonsistenzen und Kohärenzstörungen3bis hin zu offenen Akten der Wider- rede. In narratologischer Perspektive umfasst ›Widerspruch‹ – jenseits antago- nistischer Problemkonfigurationen und in Abgrenzung von anderen Erscheinungs- formen mehrdeutigen Erzählens oder narrativer Kohärenzstörung (siehe III)–das Gegeneinander unvereinbarer (oder scheinbar unvereinbarer) Informationen und Wissensbestände, kollidierender Erzählmuster, unterschiedlicher Erzählinstanzen;

Unvereinbarkeiten auf den verschiedenen Kommunikationsebenen der Texte, zwi- schen Reden und Handeln der Figuren, zwischen Erzählerrede und Diegese; in erster Linie geht es um Inkonsistenzen, sich gegenseitig ausschließende Informa- tionen und/oder Wertungen, ausdrückliche Akte des (Sich-)Widersprechens.

Um nur einige wenige (bekannte) Beispiele zu geben:4Zahlreiche Chroniken referieren (mit der bekannten FormelAlii dicunt) unterschiedliche, teils unver- einbare Versionen von Ereignissen und Konstellationen. Frutolf von Michelsberg etwa verweist in seinem ›Chronicon universale‹ auf den in Anachronismen resultierenden Widerspruch zwischen Jordanes’Gotengeschichte und der Diet- richsage5und prägt damit über Jahrhunderte die historiographische Sagenkritik.

Im ›Nibelungenlied‹6 werden Siegfried zwei unvereinbare Jugendgeschichten zugeschrieben, eine höfisch behütete in Xanten durch den Erzähler (NL, Av. 2) und eine zeitlich und räumlich unbestimmte heroische mit Horterwerb und Drachentötung durch Hagen (NL, Str. 86–100).7Im zweiten Teil des Epos unter-

3Der Kohärenzbegriff wird hier ohne Einbeziehung seiner textlinguistischen Implikationen verwendet.

4Auf eine auch nur annähernd vollständige Auflistung der jeweils einschlägigen Forschung muss hier aus Platzgründen verzichtet werden.

5Ekkehardi Chronicon universale, in: Chronica et annales aevi Salici, hg. v. Georg Waitz, Hannover 1844 (MGH SS 6) [Nachdruck: Stuttgart 1980, S. 33231, hier S. 130]; für weitere Literaturhinweise vgl. Elisabeth Lienert [u. a.] (Hgg.): Dietrich-Testimonien des 6. bis 16. Jahrhun- derts, Tübingen 2008 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 4), Nr. 83 (S. 71 f.).

6Zitiert nach: Das Nibelungenlied und die Klage. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Mittelhochdeutscher Text, Übersetzung u. Kommentar, hg. v. Joachim Heinzle, Berlin 2013 (Bibliothek des Mittelalters 12) (Sigle: NL).

7Zu Siegfrieds doppelter Jugendgeschichte vgl. z. B. Ursula Schulze: Siegfriedein Heldenle- ben? Zur Figurenkonstitution imNibelungenlied, in: Matthias Meyer u. Hans-Jochen Schiewer (Hgg.): Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters.

Festschrift Volker Mertens, Tübingen 2012, S. 669689, hier S. 675678; Jan-Dirk Müller: Spielre- geln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998, hier S. 121140; Volker Mertens: Hagens WissenSiegfrieds Tod. Zu Hagens Erzählung von Jungsiegfrieds Abenteuern, in: Harald Haferland u. Michael Mecklenburg (Hgg.): Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit, München 1996 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19), S. 5969; Elisabeth Lienert: Aspekte der Figurenkonstitution in mittelhochdeutscher Heldenepik, in: PBB 138 (2016), S. 5175, hier bes. S. 4, 8 f.

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stellt der Erzähler, Kriemhild opfere ihren Sohn für ihre Rache (NL, Str. 1912), während doch gleichzeitig der Konflikt außerhalb des Festsaals durch Blödelins Massaker an den burgundischen Knappen in die Wege geleitet wird. In Wolframs von Eschenbach›Parzival‹8preist der Erzähler die Mutter des Helden, Herzeloyde, überschwenglich als Inbegriff dertriuwe(bes. Pz. 113,30; 116,19–117,2; 128,20–28);

ihre Handlungsrolle aber erweist sich als fatal für den jungen Parzival, den sie durch Vorenthalten höfischer Erziehung und durch zweifelhafte Ratschläge in seinen Weg des Fehlermachens treibt. Der Einsiedler Trevrizent belehrt Parzival (und mit ihm das Publikum) umfassend über die Bewandtnisse des Grals und der Gralsfamilie (Pz. 456,29–502,28), erklärt ihm aber später, er habe ihn belogen, um ihn von der Gralssuche abzubringen:ich louc durch ableitens list/vome grâl, wiez umb in stüende (Pz. 798,6 f.). In Gottfrieds von Straßburg›Tristan‹9stehen die Erzählerkommentare, die die Ehebruchsliebe der Protagonisten tendenziell po- sitivieren, im Widerspruch zur Handlungsebene, die die Ambivalenz der Wertun- gen ausschreibt.10In der berühmten Polemik gegen die Motivierung von Markes Werbung um Isolde mit dem goldenen Frauenhaar, das eine Schwalbe zum Nestbau aus Irland nach Cornwall bringt (Tris., V. 8601–8628), widerspricht Gottfrieds Erzähler ausdrücklich einem auf unwahrscheinliche Zufälle gegründe- ten Erzählen, wie es die Tristan-Tradition u. a. mit Eilharts von Oberg›Tristrant‹ vorgibt. Die Beispiele ließen sich, vor allem im Bereich narrativer Mikrostrukturen und bei der Informationsvergabe durch und an handelnde Figuren, nahezu beliebig vermehren.

Widersprüche eröffnen sich auf der Ebene der Sujetfügung zwischen unter- schiedlichen Versionen einer Episode, gelegentlich verbunden mit ausdrücklicher Widerrede gegen Tradition und Quellen, zwischen unterschiedlichen Handlungs- motivationen, widersprüchlichen Begründungen für Handlung und Figurenverhal- ten; auf der Ebene der Figurenkonstitution zwischen verschiedenen Schichten von Zuschreibungen und Wissensbeständen, zwischen Erzähler-Lob und fataler Hand-

8 Zitiert nach: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Mittelhochdeutscher Text nach der 6. Aus- gabe v. Karl Lachmann. Übersetzung v. Peter Knecht. Einführung zum Text v. Bernd Schirok, 2. Aufl., Berlin u. New York 2003 (Sigle: Pz.).

9 Zitiert nach: Gottfried von Strassburg: Tristan und Isold, hg. v. Walther Haug u. Manfred Günter Scholz. Mit dem Text des Thomas hg., übers. u. kommentiert v. Walther Haug, 2 Bde., Berlin 2011 (Bibliothek des Mittelalters 10 u. 11) (Sigle: Tris.).

10 Zu Aporien und Widersprüchen in GottfriedsTristan(und zu Widersprüchen als adäquater Reaktion auf die Aporien der Liebe) vgl. in jüngerer Zeit, neben vielen anderen, Klaus Grubmül- ler:cristallîniu wortelîn. Gottfrieds Stil und die Aporien der Liebe, in: Elizabeth Andersen [u. a.]

(Hgg.): Literarischer Stil. Mittelalterliche Dichtung zwischen Konvention und Innovation.

XXII. Anglo-German Colloquium Düsseldorf, Berlin u. Boston 2015, S. 179190, hier bes. S. 188 f.

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lungsrolle; auf der Ebene der Erzählerrolle und der Erzählperspektive bzw. Fokali- sierung11 zwischen verschiedenen Erzählerkommentaren, zwischen Erzähler- und Figurenrede, zwischen Reden verschiedener Figuren, teilweise (Trevrizent) sogar zwischen verschiedenen Reden der gleichen Figur; auf der Ebene des Textwissens zwischen verschiedenen Wissensfeldern12; auf der Ebene der Intertextualität zwi- schen aktueller Erzählung und anzitierten Prätexten. Neben jeweils textspezifischen Befunden (z. B. perspektivischem Erzählen, Widersprüchen zwischen unterschiedli- chen Figurenreden, in Wolframs›Parzival‹13) scheint es auch tendenziell gattungs- spezifische sowie gattungsübergreifende Muster zu geben: Gattungsspezifisch etwa für die Heldenepik sind Widersprüche zwischen aktueller Erzählung und Sagenwis- sen; für den höfischen Roman Diskrepanzen zwischen Erzählerlob von Figuren und deren oft nicht lobwürdiger Handlungsrolle. Gattungsübergreifend lassen sich z. B.

Widersprüche in den textinternen Zeitstrukturen feststellen: Weit über Hystera- Protera hinausgehend, erscheint Dietrich von Bern selbst bei seinen allerersten Kampf- oder Aventiureerfahrungen in ›Virginal‹ und ›Dietrichs Flucht‹ zugleich schon als der größte aller Sagenhelden, Witege noch in seiner Zeit als Dietrichheld in›Rosengarten‹D bereits als der Verräter, als der er sich erst später erweisen wird;

in der›Crône‹greift Gawans Tatenkatalog auf künftige Ereignisse voraus.14

11Vgl. Gert Hübner: Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung imEneas, im

Iweinund imTristan, Tübingen u. Basel 2003 (Bibliotheca Germanica 44).

12Vgl. grundsätzlich auch Manfred Eikelmann u. Udo Friedrich [unter Mitarbeit von Esther Laufer u. Michael Schwarzbach] (Hgg.): Praktiken europäischer Traditionsbildung im Mittelalter.

WissenLiteraturMythos, Berlin 2013.

13Vgl. bes. Martin Schuhmann: Reden und Erzählen. Figurenrede in WolframsParzivalund

Titurel, Heidelberg 2008 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 49); Elke Brüggen: Irisierendes Erzählen. Zur Figurendarstellung in WolframsParzival, in: Wolfram-Studien 23 (2014), S. 333 357; Uta Störmer-Caysa: Ein Schatten aus möglichen Vergangenheiten. Effekte konfligierender und widersprüchlicher Begründungen in Wolframs Parzival, in: Florian Kragl u. Christian Schneider (Hgg.): Erzähllogiken in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Akten der Heidelberger Tagung vom 17. bis 19. Februar 2011, Heidelberg 2013 (Studien zur historischen Poetik 13), S. 7189.

14Vgl. Dietrichs Flucht. Textgeschichtliche Ausgabe, hg. v. Elisabeth Lienert u. Gertrud Beck, Tübingen 2003 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 1), V. 24872490; zur Stelle vgl. Elisabeth Lienert: DiehistorischeDietrichepik. Untersuchungen zuDietrichs Flucht,

RabenschlachtundAlpharts Tod, Berlin u. New York 2010 (Texte und Studien zur mittelhoch- deutschen Heldenepik 5), S. 141 f.;Wiener Virginal, in: Virginal. Goldemar, hg. v. Elisabeth Lienert [u. a.], 3 Bde., Berlin u. Boston 2017 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Helden- epik 10,I/II/III), hier Bd. II, V12101,11102,10 u. ö.; Rosengarten, hg. v. Elisabeth Lienert [u. a.], 3 Bde., Berlin [u. a.] 2015 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 8,I/II/III), hier Bd. II, V. 1190, 1199, 23562374; Heinrich von dem Türlin: Die Krone (Verse 112281), nach der Handschrift 2779 der Österreichischen Nationalbibliothek hg. v. Fritz Peter Knapp [u. a.], Tübingen

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Widerspruch und Sich-Widersprechen können bereits in vormoderner Erzähllitera- tur narrative Bedeutungskonstitution unterlaufen, verkomplizieren oder berei- chern; für die Erzeugung semantischer Mehrschichtigkeit in mittelalterlichen Tex- ten erweisen sie sich als zentral: Erzählen im Widerspruch rüttelt an der Ordnung der Welt und stört die erwartbare Ordnung der Texte; Text- und Sinnkonstitution sind konzeptionell und narratologisch betroffen: Kohärenzstörungen und Ver- uneindeutigungen des Sinns können einander bedingen–das schafft auch eine Brücke zwischen den beiden grundlegenden Aspekten des›Widerspruch‹-Begriffs (siehe III). Widersprüche können aber in der Akkumulation unterschiedlicher Wissensbestände und Deutungen auch der Selbstvergewisserung des Erzählens durch Rückversicherung bei einer vielstimmigen Tradition dienen.

II. › Widersprüchlichkeit ‹ mittelalterlichen Erzählens: Forschungsstand –

Forschungsvorhaben

Grundsätzlich hat vor allem Armin Schulz15auf »Widersprüchlichkeit als Erzähl- prinzip«16 in mittelalterlichen Texten hingewiesen. Insgesamt fehlt freilich eine systematische Darstellung des Phänomens›Widerspruch‹in mittelalterlichem und frühneuzeitlichem Erzählen, ebenso eine auch nur annähernd vollständige Be- standsaufnahme, schon gar unter poetologischem Aspekt. Die einzige mir be- kannte Monographie zum Thema ›Widerspruch‹ in der mittelalterlichen Erzähl- literatur, Sarah Kays›Courtly Contradictions‹(2001),17bezieht sich nicht in erster Linie auf narrative Verfahren (obwohl Strategien des Abstreitens oder Relativierens verschiedener Positionen – ggf. sogar der eigenen Erzählung – mit diskutiert werden), sondern auf den Bereich der Konzeptualisierungen, vor allem auf den

2000 (Altdeutsche Textbibliothek 112), V. 88539054; dazu vgl. Fritz Peter Knapp: Kausallogisches Denken unter den weltanschaulichen und pragmatischen Bedingungen des 12. und 13. Jahrhun- derts, in: Kragl u. Schneider [Anm. 13], S. 187205, hier S. 198 f.

15 Armin Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, hg. v. Manuel Braun [u. a.], 2. Aufl., Berlin u. Boston 2015, bes. S. 119158, 348366; vgl. auch ders.: Poetik des Hybriden.

Schema, Variation und intertextuelle Kombinatorik in der Minne- und Aventiureepik.Willehalm von Orlens‹ – ›Partonopier und Meliur‹ – ›Wilhelm von Österreich‹ – ›Die schöne Magelone, Berlin 2000 (Philologische Studien und Quellen 161); Matías Martínez (Hg.): Handbuch Erzählli- teratur. Theorie, Analyse, Geschichte, Stuttgart [u. a.] 2011, bes. S. 193 f.,Erzählen als Wider- spruch und als Kompromiss.

16 Schulz 2015 [Anm. 15], S. 348.

17 Vgl. Kay [Anm. 2].

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Gegensatz religiöser und säkularer Denkmuster und Werte in höfischem Roman, Trobadorlyrik und Hagiographie der Romania im 12. Jahrhundert; aufgrund der fragwürdigen Verquickung des Ansatzes mit Theorien Lacans wurde die Arbeit in der germanistischen Mediävistik wenig rezipiert. Stärker auf die›Kompromisse‹, den prekären Ausgleich zwischen antagonistischen Positionen, weniger auf Wider- sprüche als solche, heben die ebenfalls auf Konzeptualisierungen und auf deren Verhandlung in bestimmten Erzählkernen ausgerichteten Studien von Jan-Dirk Müller (2007)18ab. Omnipräsent, auch in der Mediävistik, sind Studien zu Ambi- guität bzw. Ambivalenz vor allem komplexer und bedeutender Einzeltexte;19 zu beachten ist insbesondere der neueste Sammelband von Oliver Auge und Chris- tiane Witthöft (2016).20Widersprüche im Sinn von Unvereinbarkeit/Uneindeutig- keit werden dabei dem Komplex Ambiguität meist ohne genauere Abgrenzung mit subsumiert. Widersprüche im Sinn von narrativer Inkonsistenz werden im Zusam- menhang mit dem gesteigerten narratologischen Interesse21auch der germanisti- schen Mediävistik seit den späten 1990er Jahren berücksichtigt; die Frage nach der Alterität22 oder Nicht-Alterität vormodernen Erzählens schließt einen Fokus auf Kohärenzdefizite und Kohärenzstrategien mittelalterlicher Epen, Romane, Ge- schichtserzählungen ein. Im Vordergrund stehen dabei freilich nicht die Wider- sprüche selbst, sondern tendenziell deren Gegenteil, die Formen›fremder‹Kohä- renz,23Konzepte paradigmatischen24oder metonymischen25Erzählens, aber auch

18Vgl. Jan-Dirk Müller: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007.

19Vgl. etwa Irene Lanz-Hubmann: Nein unde jâ. Mehrdeutigkeit imTristanGottfrieds von Strassburg. Ein Rezipientenproblem, Bern [u. a.] 1989; Marina Münkler: Narrative Ambiguität.

Die Faustbücher des 16. bis 18. Jahrhunderts, Göttingen [u. a.] 2011.

20 Oliver Auge u. Christiane Witthöft (Hgg.): Ambiguität. Formen zeitgenössischer Reflexion und interdisziplinärer Rezeption, Berlin 2016 (Trends in Medieval Philology 30); grundsätzlich Matthias Bauer [u. a.]: Dimensionen der Ambiguität, in: LiLi 40, Heft 158: Ambiguität (2010), S. 775.

21Vgl. insbesondere die Sammelbände mediävistisch-narratologischer Tagungen: Harald Hafer- land u. Matthias Meyer (Hgg.): Historische NarratologieMediävistische Perspektiven, Berlin u.

New York 2010 (Trends in Medieval Philology 19); Kragl u. Schneider [Anm. 13]; vgl. auch Haferland u. Mecklenburg [Anm. 7]; Ludger Lieb u. Stephan Müller (Hgg.): Situationen des Erzählens. Aspekte narrativer Praxis im Mittelalter, Berlin u. New York 2002 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 20).

22Vgl. Anja Becker u. Jan Mohr (Hgg.): Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren, Berlin 2012 (Deutsche Literatur. Studien und Quellen 8); Manuel Braun (Hg.): Wie anders war das Mittelalter? Fragen an das Konzept der Alterität, Göttingen 2013 (Aventiuren 9).

23Vgl. Armin Schulz: Fremde Kohärenz. Narrative Verknüpfungsformen im Nibelungenlied und in der Kaiserchronik, in: Haferland u. Meyer [Anm. 21], S. 339360.

24Vgl. Ursula Schulze: Das Nibelungenlied, Stuttgart 2013.

25Vgl. Harald Haferland: Metonymie und metonymische Handlungskonstruktion. Erläutert an der narrativen Konstruktion von Heiligkeit in zwei mittelalterlichen Legenden, in: Euphorion 99

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den Erzähllogiken möglicherweise korrespondierende alteritäre kulturelle Logiken wie das Prinzip der Kontiguität.26Innerhalb der verschiedenen Formen von Kohä- renz-›Störung‹(Motivationslücken, Brüche, Löcher, Leerstellen einerseits; Redun- danz und Mehrfach- bzw. Überdetermination andererseits)27wird der Teilbereich der Widersprüche wenig ausdifferenziert.

Seit jeher viel beachtet sind Widersprüche in der Handlungsmotivation und Figurenkonstitution der Heldenepik, vor allem im ›Nibelungenlied‹.28 Joachim Heinzle29führt die logischen Widersprüche in heldenepischem Erzählen bekannt- lich zurück auf den Entstehungsprozess der Texte, den Übergang von der Münd- lichkeit zur Schriftlichkeit: In der Mündlichkeit kursieren verschiedene Versionen der Sagen, sogar für einzelne Episoden, ohne dass Widersprüche auffallen (vor- getragen wird ja nur jeweils eine Version); erst beim Übergang in die Schriftlich- keit manifestiert sich die Vielgestaltigkeit und Vielstimmigkeit der Überlieferung als Widerspruch. Die weitere Verschriftlichung vollzieht sich tendenziell als Glättung, Einebnung von Widersprüchen: Die *C‑Fassung des›Nibelungenlieds‹ beseitigt etliche der Widersprüche, die in der *B‑Fassung noch erhalten sind.

Diese Tendenz zeigt sich, über die formale Erzähllogik hinaus, auch mit Blick auf Konzeptionelles: Die widersprüchlichen Bewertungen Hagens und Kriemhilds im ersten und zweiten Teil des Epos werden in der *C‑Fassung in Richtung Abwer- tung Hagens und Entlastung Kriemhilds vereinheitlicht. Ähnlich vereindeutigen Versionen des›Laurin‹die widersprüchlichen Bewertungen von Held und Ant- agonist in der älteren Fassung der Älteren Vulgatversion, indem sie entweder Laurin als Frauenräuber eindeutig zur Negativfigur stilisieren (jüngere Fassung der Älteren Vulgatversion) oder eindeutig Dietrich problematisieren (›Walberan‹).

(2005), S. 323364; Harald Haferland u. Armin Schulz: Metonymisches Erzählen, in: DVjs 84 (2010), S. 343; Schulz [Anm. 23]; Jan-Dirk Müller: Einige Probleme des BegriffsMetonymisches Erzählen, in: Poetica 45 (2013), S. 1940.

26 Harald Haferland: Verschiebung, Verdichtung, Vertretung. Kultur und Kognition im Mittelal- ter, in: IASL 33 (2008), S. 52101; Harald Haferland: Kontiguität. Die Unterscheidung vormoder- nen und modernen Denkens, in: Archiv für Begriffsgeschichte 51 (2009), S. 61104.

27 Knapp zusammenfassend bes. Kragl u. Schneider [Anm. 13], S. 614.

28 Vgl., unter vielen anderen, Joachim Heinzle: Traditionelles Erzählen. Beiträge zum Verständnis von Nibelungensage und Nibelungenlied, Stuttgart 2014 (ZfdA Beiheft 20); darin bes.:Traditio- nelles Erzählen. Zur Poetik desNibelungenliedes‹‹, S. 125135;Gnade für Hagen? Die epische Struktur des Nibelungenliedes und das Dilemma der Interpreten. Mit einer Nachschrift über

LeerstellenundLöcher‹‹, S. 149164 (zuerst 1987); Müller [Anm. 7], S. 121140; zu Brüchen und Widersprüchen in der historischen Dietrichepik Lienert 2010 [Anm. 14], S. 138153; zu vergleichba- ren Phänomenen im frühmittelalterlichen Heldenepos vgl. Heike Sahm: Unversöhnte Motivierun- gen. Der Schatz als Hindernis kohärenten Erzählens imBeowulf, in: PBB 131 (2009), S. 442460.

29 Vgl. Heinzle [Anm. 28] u. v. a.

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Jan‑Dirk Müller30 erklärt die meisten Widersprüche im ›Nibelungenlied‹ als lediglich scheinbar; erzählt werde vielfach nicht mit der Tradition, sondern bewusst gegen sie. Zum›Nibelungenlied‹und zur Dietrichepik wurde demgegen- über auch der Eigenwert des Anschlusses an traditionelles Sagenwissen hervor- gehoben.31

Widersprüchlichkeit im höfischen Roman ist anhand von Einzelbeobachtun- gen für verschiedene Texte vielfach thematisiert worden, vor allem für Wolframs von Eschenbach›Parzival‹(nicht zuletzt angesichts des Ambivalenz-Programms im Prolog, Pz. 1,3–9),32 Gottfrieds von Straßburg ›Tristan‹ (vor allem für die ambivalente Bewertung der Ehebruchsliebe)33 oder Heinrichs von dem Türlin

›Crône‹.34 Punktuelle, zueinander durchaus bisweilen widersprüchliche Aus- künfte in Bezug auf Wolframs Figuren oder deren Vorgeschichte, »Alternativen der Handlungslogik«,35 die zur Relativierung und Komplexionssteigerung des Erzählens beitragen, haben vor allem Elke Brüggen36und Uta Störmer-Caysa37

30 Vgl. Müller [Anm. 7].

31Vgl. Lienert [Anm. 7], bes. S. 59; Lienert 2010 [Anm. 14], hier bes. S. 153; vgl. auch Cordula Kropik: Reflexionen des Geschichtlichen. Zur literarischen Konstituierung mittelhochdeutscher Heldenepik, Heidelberg 2008 (Jenaer germanistische Forschungen N. F. 24).

32Vgl. z. B. Walter Haug: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Eine Einführung, 2. Aufl., Darmstadt 1992, S. 155178; Ulrich Ernst: Formen analytischen Erzählens im Parzival Wolframs von Eschenbach. Marginalien zu einem narrativen System des Hohen Mittelalters, in: Friedrich Wolfzettel (Hg.): Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze, Tübingen 1999, S. 165198; Bruno Quast: Diu bluotes mâl. Ambiguisierung der Zeichen und literarische Programmatik in Wolframs von EschenbachParzival, in: DVjs 77 (2003), S. 4560;

Larissa Schuler-Lang: Wildes ErzählenErzählen vom Wilden.Parzival,BusantundWolf- dietrich D, Berlin 2014.

33Vgl. Anm. 10; vgl. ferner z. B. Walter Haug: Gottfrieds von StraßburgTristan: sexueller Sündenfall oder erotische Utopie, in: Albrecht Schöne (Hg.): Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985, Tübingen 1986, Bd. 1, S. 4152 [wieder in: Walter Haug: Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters, Tübingen 1989, S. 600611]; Robert Glendinning: Gottfried von Straßburg and the School-Tradition, in: DVjs 61 (1987), S. 617638; Klaus Grubmüller:In unwarheit warbæren.

Über den Beitrag des Gottesurteils zur Sinnkonstitution in Gottfrieds Tristan, in: Ludger Grenzmann [u. a.] (Hgg.): Philologie als Kulturwissenschaft. Studien zur Literatur und Geschichte des Mittelalters. Festschrift für Karl Stackmann zum 65. Geburtstag, Göttingen 1987, S. 149163;

Lanz-Hubmann [Anm. 19].

34Vgl. bes. Nicola Kaminski:Wâ ez sich êrste ane vienc, Daz ist ein teil unkunt. Abgründiges Erzählen in derKroneHeinrichs von dem Türlin, Heidelberg 2005; kritisch dazu Knapp 2013 [Anm. 14], S. 198 f.

35Störmer-Caysa [Anm. 13], S. 83.

36Vgl. Brüggen [Anm. 13].

37 Vgl. Störmer-Caysa [Anm. 13].

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herausgearbeitet. Gerade die Brüche und Widersprüche in den Figurenkonzeptio- nen rücken zunehmend in den Fokus.38

Insgesamt begegnen in der Forschung verschiedene Erklärungsmodelle für Widersprüche: (1) Widersprüche sind Fehler;39 beabsichtigt ist – jedenfalls in schriftliterarischem Erzählen–Widerspruchsfreiheit. Dafür sprechen Tendenzen zur Einebnung von Widersprüchen in der handschriftlichen Überlieferung (z. B., wie erwähnt, in Fassung *C des ›Nibelungenlieds‹, verglichen mit der *B‑Fas- sung) und in späteren Bearbeitungen (z. B. im›Prosa-Lancelot‹gegenüber Chré- tiens›Chevalier de la Charrete‹40); dafür spricht die Ausrichtung der mittellatei- nischen Poetiken des 13. Jahrhunderts (wohl bereits vor dem Hintergrund der aristotelischen Logik) auf linear-syntagmatisch plausibles (verisimile) und wider- spruchsfreies kausallogisches Erzählen.41 (Inwieweit diese Poetiken für volks- sprachliche Texte relevant sind, bleibt zu untersuchen.) (2) Widersprüche sind wenig relevant und fallen wenig auf: Angesichts mündlicher Vortragsform vieler Texte sind Gedächtnisschwächen leicht möglich.42Zudem werden Widersprüche überspielt durch die performative Poetik43 der Heldenepik mit ihrer um den szenenübergreifenden Zusammenhang relativ unbekümmerten Konzentration auf die Einzelszene. (3) Widersprüche sind in der Regel nur scheinbar;44 Kon- sistenz und Erzählkohärenz ergeben sich mittels anderer als linear-kausaler Erzähllogiken.45Weiter nachzugehen ist (4) der›Ästhetik des Widerspruchs‹, für

38 Vgl. etwa Christoph Huber: Brüchige Figur. Zur literarischen Konstruktion der Partonopier- Gestalt bei Konrad von Würzburg, in: Matthias Meyer u. Hans-Jochen Schiewer (Hgg.): Litera- rische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift Volker Mertens, Tübingen 2012, S. 283308; Brüggen [Anm. 13]; Elisabeth Lienert:wildekeitund Wider- spruch. Poetik der Diskrepanz bei Konrad von Würzburg (Vortrag bei der Tagung der Wolfram von Eschenbach-Gesellschaft 2016); Elke Brüggen: Überblendungen. Effekte und Funktionen divergenter Sichtweisen in der literarischen Gestaltung weiblicher Figuren imParzivalWolf- rams von Eschenbach (Vortrag bei der TagungPoetiken des Widerspruchs, Bremen 2017).

39 Vgl. bes. Heinzle [Anm. 28]; Knapp 2013 [Anm. 14].

40 Vgl. Knapp 2013 [Anm. 14], bes. S. 192194.

41 Vgl. vor allem Christian Schneider:Narrationis contextus. Erzähllogik, narrative Kohärenz und das Wahrscheinliche in der Sicht der hochmittelalterlichen Poetik, in: Kragl u. Schneider [Anm. 13], S. 155186.

42 Knapp 2013 [Anm. 14], S. 200 f.

43 Vgl. Volker Mertens: Inszenierte Mündlichkeit und szenisches Erzählen. Überlegungen zu einer performativen Poetik des Nibelungenliedes, in: Danielle Buschinger u. Jean-Francois Candoni (Hgg.): Les Nibelungen, Amiens 2001, S. 85110.

44 Vgl. bes. Müller [Anm. 7].

45 Vgl. bes. Haferland [Anm. 25]; Haferland u. Schulz [Anm. 25]; Schulz [Anm. 23].

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die etwa Walter Haug plädiert hat,46der thematischen und/oder poetologischen Funktion von Widersprüchen,47insbesondere indem sie zu einem komplexen, vielschichtigen Erzählen beitragen und/oder dazu dienen, Sinnbildungsprozesse und Sinnbildungskompetenzen des Publikums zu aktivieren.

Das Bremer Explorationsprojekt›Widerspruch als Erzählprinzip in der Vor- moderne‹analysiert die disparaten Phänome von Widerspruch und Widerrede in mittelhochdeutscher Erzählliteratur (perspektivisch auch in frühneuhochdeut- scher Prosa). Erscheinungsformen von›Widerspruch‹sind zu differenzieren und gegenüber verwandten Phänomenen abzugrenzen. Anders als in der mediävisti- schen Erzählforschung der letzten Jahre liegt der Schwerpunkt des Erkenntnis- interesses nicht auf den›Erzähllogiken‹48 oder alteritären Verfahren narrativer Kohärenzstiftung in vormodernen Erzähltexten, sondern auf Verfahren und Funk- tionen von Phänomenen der Unvereinbarkeit, des Widerspruchs und Einspruchs auf und zwischen verschiedenen Erzählebenen (besonders: Handlungsmotivati- on, Figurenkonstitution, Erzähler- und Figurenrede, Wissensfelder und inter- textuelle Bezüge). In erster Linie geht es um Widersprüche in Wissensvergabe und Wertung, die nicht als Fehler zu begreifen sind (ohne dass deren Existenz bestritten wird) und die tatsächlich Unvereinbares markieren. Eine möglichst systematische Bestandsaufnahme und exemplarische Analysen paradigmatischer mittelalterlicher Erzähltexte aus unterschiedlichen Gattungen (Heldenepik und heldenepikaffine Texte, höfischer Roman, Legende, Bibel- und Geschichtsdich- tung, Verserzählung, Prosaauflösungen und frühneuzeitliche Erzählprosa) sollen über die bisherige Konzentration auf vergleichsweise wenige markante Einzel- beispiele hinausführen, die Untersuchung auf eine breitere Materialgrundlage stellen und so eine Neubewertung des Phänomens ermöglichen. Auch Fassungs- unterschiede und Überlieferungsvarianz sollen einbezogen werden, und zwar nicht nur die bekannte Beseitigung von Widersprüchen, sondern auch deren Neuentstehung z. B. durch Kompilation in Sammelhandschriften und Fortset- zungszusammenhängen (siehe auch IV). Herausgearbeitet werden sollen, über

46Vgl. Walter Haug: Für eine Ästhetik des Widerspruchs. Neue Überlegungen zur Poetologie des höfischen Romans, in: Nigel F. Palmer (Hg.): Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Ergebnisse der Berliner Tagung, 9.11. Oktober 1997, Tübingen 1999, S. 211228 [wieder in: Walter Haug (Hg.): Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Tübingen 2003, S. 172184].

47Vgl. bes. Störmer-Caysa [Anm. 13]; Brüggen [Anm. 13]; vgl.für die Lyrikauch Jan-Dirk Müller: Performativer Selbstwiderspruch. Zu einer Redefigur bei Reinmar, in: PBB 121 (1999), S. 379405.

48Vgl. bes. Kragl u. Schneider [Anm. 13].

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Aspekte der Komplexionssteigerung in herausragenden Einzeltexten hinaus,

›Poetiken des Widerspruchs‹(so der Titel der Bremer Tagung im März 2017), die auf die Wechselwirkung zwischen narrativen Brüchen und Sinnkomplexion fokussieren. Die Untersuchung der Widersprüche trägt ferner bei zu einer diffe- renzierteren Betrachtung von heldenepischem und romanhaftem, traditionellem und›modernem‹Erzählen (etwa in der Frage, inwieweit die Übergänge von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit, vom Vers zur Prosaform den Umgang mit dem Widersprüchlichen und Unvereinbaren verändern). Widerspruch als Denk- und Erzählform dürfte sich nicht erst für die Moderne, sondern bereits für vormoderne Texte als zentral erweisen. Ob die Widersprüche bei Wissensvergabe und Wer- tung in ihrer Disparatheit und in der Vielzahl möglicher Funktionen tatsächlich als intentional und als übergreifendes poetologisches Prinzip beschreibbar sind, werden die Analysen zeigen.

III. Was sind Widersprüche und wer nimmt sie wahr?

Schon auf elementarer Ebene bezeichnet Widerspruch bekanntlich (mindestens) zwei unterschiedliche Phänomene: explizite Widerrede und implizite logische Un- vereinbarkeit. Für mittelalterliche Erzähltexte ist beides relevant: Einsprüche des Erzählers (oder von Figuren bzw. anderen Erzählinstanzen) und Widersprüche in Erzähllogik und Sinnkonstitution. Wenig operationalisierbar sind hingegen histori- sche (mittelalterliche) Begriffe und Definitionen von Widerspruch und Widerrede:

Die historische Semantik der Widerrede (widerstrît,widerspruchund Ähnliches)49ist für Widerspruch als narrative Inkonsistenz oder semantische Uneindeutigkeit wenig ergiebig. Währendvuogedurchaus auf eine »Semantik der moralischen und kultu- rellen Stimmigkeit«,50consonantia, mit stilistischen, wohl auch narratologischen Implikationen zu zielen scheint, gilt das für das Gegenteil,unvuoge, nicht. Auch die Abgrenzung vonopposita (als Oberbegriff),contraria,privativa, relativaund con- tradictiones(als zugeordnete Unterbegriffe) in der mittelalterlichen Logik, etwa bei Martianus Capella,51führt für volkssprachliche Erzähltexte nicht weiter; sie zielt vor

49 Geprüft wurden Interpretamente und Belegstellen zu den einschlägigen Lemmata in den gängigen Wörterbüchern und Begriffsdatenbanken; eine Spezialuntersuchung ist mir nicht bekannt.

50 Annette Gerok-Reiter: DieKunst dervuoge: Stil als relationale Kategorie. Überlegungen zum Minnesang, in: Andersen [Anm. 10], S. 97118, hier S. 103.

51 Hier nach Brown [Anm. 2], S. 12.

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allem auf das Verhältnis von Einzelbegriffen zueinander, weniger auf komplexe Aussagen, und gerade diecontradictio bezeichnet dort im Wesentlichen nur den Gegensatz von Affirmation und Negation–ein für mittelalterliches Erzählen viel zu grobmaschiges Raster. Auszugehen ist also zunächst von der Doppelbedeutung

›Einspruch, Widerrede‹und›Inkonsistenz, Unvereinbarkeit‹.

Akte der Widerrede sind eindeutig zu identifizieren (in ihren Funktionen freilich durchaus komplex). Sie begegnen (von verbalen Auseinandersetzungen der Figuren abgesehen, die hier in den Hintergrund treten müssen) meistens als Widerrede des Erzählers, etwa wenn Wolframs von Eschenbach Erzähler Orgeluse in Schutz nimmt gegen die Negativurteile anderer Figuren, vielleicht auch des Publikums (Pz. 516,3– 14); wenn Konrads von Würzburg Erzähler im›Trojanerkrieg‹52mitDaz wil ich hân für eine lüge(Tk., V. 31012) protestiert gegen den Hector in der Benoît-Tradition zur Last gelegten Raub der Rüstung des Patroclus; bei allen Erscheinungsformen von Quellenkritik oder Polemik, wenn sich etwa Wolfram von Eschenbach gegen die Buchtradition und Chrétien de Troyes (Pz. 115,25–116,4; 827,1 f.) oder Gottfried von Straßburg gegen andere Quellen als Thomas d’Angleterre (Tris., V. 131–154) wen- den. Es begegnen jedoch auch Einsprüche gegen den Erzähler (vgl. z. B.Dune hâst niht wâr, Hartman, Iw., V. 298253), gelegentlich sogar (Selbst-)Dementis einer extra- oder intradiegetischen Erzähl- oder Belehrungsinstanz (das bekannteste Beispiel dürfte Trevrizents Widerruf in Wolframs›Parzival‹sein, siehe oben S. 72).

Widersprüche in Sinnkonstitution und Erzähllogik, Phänomene von Nicht- Eindeutigkeit und Nicht-Kohärenz, sind schwerer zu fassen: Da fragt sich zunächst, ob Widersprüche überhaupt wahrgenommen werden–und wenn, von wem. Das betrifft vor allem Widersprüche in der Erzähllogik, die, so das zentrale Ergebnis mediävistischer Narratologie, für mittelalterliche Texte nicht moderner (kausaler) Erzähllogik entsprechen muss. Hinzu kommen Abgrenzungsprobleme (siehe oben S. 75 f.): Phänomene von Nicht-Eindeutigkeit und Nicht-Kohärenz liegen selbst auf unterschiedlichen Ebenen (auch wenn Kohärenzbrüche Uneindeutigkeit bedingen und befördern können). Für Widerspruch als (narrative) Inkonsistenz54ist Abgren- zung von anderen (vermeintlichen) narrativen Kohärenzstörungen so erforderlich wie im Einzelfall schwierig; Analoges gilt für Widerspruch als Unvereinbarkeit von Aussagen, semantische Uneindeutigkeit: Bezeichnenderweise subsumiert Schulz

52Zitiert wird nach: Konrad von WürzburgTrojanerkriegund die anonym überlieferte Fort- setzung. Kritische Ausgabe v. Heinz Thoelen u. Bianca Häberlein, Wiesbaden 2015 (Wissenslite- ratur im Mittelalter 51) (Sigle: Tk.).

53Zitiert wird nach: Hartmann von Aue: Iwein. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hg. u.

übersetzt v. Rüdiger Krohn, kommentiert v. Mireille Schnyder, durchges. Ausg., Stuttgart 2012 (RUB 19011) (Sigle: Iw.).

54Knapp zusammenfassend bes. Kragl u. Schneider [Anm. 13], S. 614.

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dem Etikett›Widersprüchlichkeit‹ein ganzes Bündel unterschiedlichster Formen nicht-eindeutigen oder nicht im modernen Sinn kohärenten Erzählens.55 Ver- wandte Phänomene narrativer Doppel- und Mehrdeutigkeit sind vor allem per- spektivisches Erzählen, Polyphonie und Dialogizität, Pluralisierung, die Poetik der

»abgewiesenen Alternative«.56verrätselndes Erzählen; unzuverlässiges Erzählen, in gewisser Weise sogar Ironie und Parodie.

Den Erscheinungsformen »der Verschmelzung divergierender Erzählmodelle, -stoffe, -mo- tive oder des spielerischen Erprobens neuer Kombinationsmöglichkeiten, des unvermittel- ten Nebeneinanders konkurrierender Deutungsansprüche, der Diskursivierung von Werten und deren normativer Dynamisierung, der Verhandlung diverser kultureller Ansprüche oder der Partizipation an ganz unterschiedlichen literarischen Traditionen, Wissensberei- chen und Bildungstraditionen«57ist die neuere Erzählforschung unter Bezeichnungen wie

»Hybridität, Brüchigkeit, Ambivalenz, Ambiguität, Heterogenität, Überblendung, Subver- sion oder Amalgamierung«58nachgegangen.

Eine intersubjektiv gültige Terminologie fehlt. Widersprüche im engeren Sinn sind nur schwer eineindeutig von verwandten Phänomenen zu unterscheiden, zumal die Funktion vergleichbar sein dürfte: Widersprüchlichkeit und Verwandtes, im Strukturellen und Semantischen, deuten auf Kontingenz, schließen neben Verunsi- cherung aber auch die Möglichkeit von Vergewisserung durch Akkumulation unterschiedlichen Wissens und unterschiedlicher Handlungsmöglichkeiten ein.

Antagonistische Konzeptualisierungen und konzeptionelle Widersprüche (geistlich vs. weltlich, höfisch vs. unhöfisch, höfisch vs. heroisch, heroisch vs. pragmatisch), die mittelalterliches Erzählen prägen, seine Aporien und Dilemmata können prob- lemlos als Dichotomien gefasst werden, auch wenn die Texte sie eher in Form von

›Kompromissen‹verhandelt (siehe oben S. 75). Die›Widersprüchlichkeit‹textueller Logiken hingegen beruht nicht in erster Linie auf Polaritäten und bedient sich eher der Addition als des Ausschlusses, eher »spielerische[r] Unschärfe«59als eindeuti- ger Zuweisungen. Das könnte die Verwendung des›Widerspruch‹-Begriffs in Frage

55 Vgl. Schulz 2015 [Anm. 15], S. 119158, 348366.

56 Zum Begriff vgl. zuerst Peter Strohschneider: Einfache Regelnkomplexe Strukturen. Ein strukturanalytisches Element zum Nibelungenlied, in: Wolfgang Harms u. Jan-Dirk Müller (Hgg.): Mediävistische Komparatistik. Festschrift Franz Josef Worstbrock zum 60. Geburtstag, Stuttgart 1997, S. 4374; zusammenfassend Schulz 2015 [Anm. 15], S. 350359.

57 Silvia Reuvekamp: Perspektiven mediävistischer Stilforschung. Eine Einleitung, in: Andersen [Anm. 10], S. 113, hier S. 8 f.

58 Reuvekamp [Anm. 57], S. 8.

59 Markus Stock: Poetologien der Oberfläche: Das Beispiel der mittelhochdeutschen Antikenepik.

Mit einigen Bemerkungen zumNew Formalism, in: Andersen [Anm. 10], S. 141156, hier S. 144.

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stellen, entspricht jedoch der Tendenz neuerer›Contradiction Studies‹, Widersprü- che gerade »Jenseits der Dichotomie«60zu denken.

Angesichts solcher Abgrenzungsprobleme geht das Bremer Explorationspro- jekt ›Widerspruch als Erzählprinzip in der Vormoderne‹ notwendig von einem heuristischen ›Widerspruch‹-Begriff im doppelten Sinn (›Unvereinbarkeit‹ und

›Einspruch‹) aus, der sukzessive befund- und problembezogen reflektiert, modi- fiziert und präzisiert werden soll. Im Vordergrund stehen markierte Widersprü- che; dabei kann die Markierung durch explizite Akte der Widerrede oder durch verschiedene Techniken des Ausstellens von Dissonanzen und Unvereinbarkeiten erfolgen. Die Textanalysen zielen auf Formen und Funktionen einer Narrativik des Widerspruchs.

Was markiert, gar ausgestellt ist, wird wohl unterschiedlich wahrgenommen;

vor allem Abweichungen vom zu Erwartenden sind notwendig zu historisieren.

Sicherheit ist dabei schwerlich zu gewinnen. Ganz offenbar haben mittelalterliche Rezipienten nicht die gleiche Wahrnehmung von Widersprüchen wie moderne:

Die Gesandten König Hetels in der›Kudrun‹61 etwa geben sich während ihrer gefährlichen Brautwerbung am gleichen Ort als Kaufleute und als landvertrie- bene Recken aus, ohne dass das textintern Verdacht weckt (Kudr., Str. 294–318);62 ob das textexterne Publikum vergleichbar reagiert hat, wissen wir nicht.

Dafür, dass nicht nur dekonstruktiv gegen den Strich lesende postmoderne Interpreten, sondern auch zeitgenössische Autoren, Bearbeiter, Rezipienten Widersprüche als Unstimmigkeiten bzw. Unvereinbarkeiten wahrgenommen haben, gibt es immerhin einige Indizien: Handschriftliche Fassungen und Ver- sionen, die Widersprüche zumindest teilweise beseitigen (so etwa›Nibelungen- lied‹*C und die erwähnten Fassungen des›Laurin‹), belegen, dass zeitgenössi- sche Rezipienten und Bearbeiter die Widersprüche bemerkt und daran Anstoß genommen haben. Vor allem die bereits genannten (siehe oben S. 81) Akte des Einspruchs und der Widerrede, die in den Texten inszeniert werden, stützen die Annahme eines zeitgenössischen Bewusstseins von Widersprüchlichkeit. Beson- ders aufschlussreich ist Gottfrieds bereits erwähnte Polemik im Schwalbenhaar- Exkurs (siehe oben S. 72): Das Plädoyer für das Wahrscheinliche ist zugleich eine Kritik an (Eilharts?) nicht stimmigem Erzählen. Das Ideal der Stimmigkeit63von Erzählgegenstand und Erzählweise verweist immer auch auf sein Gegenteil, das

60 Müller [Anm. 1].

61Zitiert wird nach: Kudrun. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hg. v. Uta Störmer-Caysa, Stuttgart 2010 (RUB 18639) (Sigle: Kudr.).

62Vgl., unter vielen anderen, Schulz 2015 [Anm. 15], S. 365 f.

63Vgl. Gerok-Reiter [Anm. 50].

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nicht-transparente, schwer verständliche, vielleicht auch narrativ brüchige64 Erzählen. In sein ›Programm‹ kohärenten Erzählens im Prolog des ›Trojaner- kriegs‹ schließt Konrad von Würzburg die Diagnose von Widersprüchlichkeit und Brüchigkeit ein: Ich büeze im [dembuoch von Troie, V. 269] sîner brüche schranz (Tk., V. 276).65Das verweist auf quasi technische Defizite der (Haupt-) Quelle, denen mitrîmen,mit worten lûter unde glanz(Tk., V. 268, 275), d. h. mit sprachlichen Mitteln, abzuhelfen ist. Mitgedacht sein dürfte jedoch auch die Widersprüchlichkeit der vielstimmigen, disparaten Troja-Überlieferung, von vil maere(Tk., V. 239), mit unterschiedlichen, oft unvereinbaren Versionen für die gleichen Episoden, die Konrad nach Möglichkeit synthetisiert und harmoni- siert,66freilich nicht ohne verbleibende und neu entstehende Widersprüche.67 Vor allem Gottfried von Straßburg und Konrad von Würzburg liefern auch eine Terminologie narrativer Widersprüchlichkeit mit, über die gängige Stildichoto- mie vonfacilisunddifficilis, transparent und opak, hinaus: Konrad spricht von brüche[n] und schranz (Tk., V. 276), also gleichsam objektiven Defekten der Vorlage, Gottfried von Straßburg vonlispe[n] undspelle[n], von Lüge oder Wirr- nis: […]hie spellet sich der leich,/hie lispet daz maere(Tris., V. 8614 f.). Auch diese Terminologie aus dem Umfeld widersprüchlichen Erzählens ist freilich (wie für mittelhochdeutsche ästhetische Termini nicht anders zu erwarten) nicht trennscharf – und nicht auf Widersprüche im engeren Sinn fokussiert. Das Problem ist aber zugleich Teil des Befunds: Widersprüche in mittelalterlichen Erzähltexten bewegen sich jenseits simpler Dichotomien und immer im Kontext verwandter Phänomene und Begriffe.

64 ZunarratologischenAspekten derobscuritasbereits in mittelalterlichen Poetiken (Diskonti- nuitäten, Brüche, Widersprüche) vgl. Päivi Mehtonen: Obscure Language, Unclear Literature.

Theory and Practice from Quintilian to the Enlightenment, Helsinki 2003, S. 107116.

65 Zur viel diskutierten Stelle vgl. in jüngerer Zeit z. B. Esther Laufer: Das Kleid dertriuweund das Kleid der Dichtung.maere erniuwenals Verfahren stilistischer Erneuerung bei Konrad von Würzburg, in: Andersen [Anm. 10], S. 157175, hier bes. S. 172 ff.

66 Vgl. bereits Wolfgang Monecke: Studien zur epischen Technik Konrad von Würzburg. Das Erzählprinzip derwildekeit. Mit einem Geleitwort von Ulrich Pretzel, Stuttgart 1968, S. 83; genaue Untersuchungen zur Behandlung und Synthetisierung der disparaten Quellen bei Elisabeth Lienert: Geschichte und Erzählen. Studien zu Konrads von WürzburgTrojanerkrieg, Wiesbaden 1996 (Wissensliteratur im Mittelalter 22), S. 30222.

67 Vgl. demnächst Lienert [Anm. 38]; dies.: Knowledges and Contradictions in Premodern Narrative (in Vorbereitung; erscheint in: Gisela Febel [u. a.] [Hgg.]: Contradiction Studies. An Interdisciplinary Approach, Wiesbaden 2017).

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IV. Ansätze einer Typologie narrativer Figurationen des Widerspruchs

Formen und Funktionen von Widersprüchen in mittelalterlicher Erzählliteratur sind, tendenziell gattungsabhängig, höchst unterschiedlich. Vor allem für beson- ders stark traditionsbezogene Gattungen wie Heldenepik und Antikenroman dürften Widersprüche vielfach als Summe gegenläufiger, aber anscheinend trotzdem zu- mindest teil- und zeitweise gleichermaßen gültiger Wissensformationen zu be- schreiben sein. Komplexere Strategien des Sich-Widersprechens vor allem in höfi- schen Romanen zielen dagegen direkt auf Sinnkomplexion und Aktivierung der Sinnbildungskompetenz des Rezipienten, lassen ggf. Wissen und Wahrnehmung grundsätzlich fragwürdig werden. Bereits im Vorfeld eingehenderer Studien deuten sich verschiedene Typen widersprüchlichen Erzählens an; eine Systematik mit exakten Grenzen verbietet sich freilich; auch hier sind die Ränder nicht trennscharf, gibt es Überschneidungen. Der–jederzeit erweiterungsfähige–Versuch sei trotz- dem gewagt; die verwendeten Begriffe sind zu diskutieren und ggf. zu modifizieren.

Ich unterscheide in erster Linie akkumulierend-aggregatives,68(häufig damit zu- sammenhängend) situativ-okkasionelles (meist szenisches), antinomisches, relati- vierendes, kritisches, irisierendes und irritierendes Erzählen; sinnvoll wäre vor allem auch eine Abgrenzung von paradoxalem und ironischem Erzählen.

Nicht berücksichtigt sind dabei (vermutliche) Fehler: Wenn etwa in Heldenepen und ver- wandten Texten Helden zweimal fallen (z. B. Alphart inDietrichs Flucht69durch Pitrunch und durch Reicher, DF, V. 9508, 9681), ist das Unachtsamkeit, nicht Erzählstrategie. Auch die doppelte Wiedererkennung gegen Ende derKudrundürfte als »schlichte Fehlleistung[ ]«70 zu werten sein, allenfalls hypothetisch (ohne die Möglichkeit, das je zu verifizieren) als Zugeständnis an eine Vortragssituation, in der die Erzählung bei neuer (Erzähl-)Gelegenheit und vor verändertem Publikum möglicherweise neu und womöglich auch im Widerspruch zum davor Erzählten ansetzt: Obwohl Kudrun und ihr Verlobter Herwig sich (mühsam genug) bereits am Strand erkannt haben, muss Herwig sich am nächsten Tag beim Überfall der Hegelinge auf Hartmuts Burg Kudrun nochmals umständlich vorstellen (Kudr., Str. 1483 1487). In der berüchtigten Ortlieb-Strophe desNibelungenlieds(NL, Str. 1912; siehe oben S. 71 f.) wird gegen die tatsächliche Motivation des Geschehens unterstellt, dass Kriemhild auf

68Zum Begriff des aggregativenErzählens vgl. auch Müller [Anm. 7], S. 136140; Müller differenziert freilich nicht wesentlich zwischen »ähnliche[n]« und »widersprüchliche[n]«

(S. 137) Elementen, die addiert werden.

69 Zitiert wird nach: Dietrichs Flucht. Textgeschichtliche Ausgabe, hg. v. Elisabeth Lienert u.

Gertrud Beck, Tübingen 2003 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 1) (Sigle: DF).

70 Knapp 2013 [Anm. 14], S. 201.

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die Ermordung ihres Kindes durch Hagen spekuliert; Fassung *C korrigiert.71Über eine in der Tat auch finale Motivation des Motivs (Hagen wird Ortlieb tatsächlich töten, freilich ohne dass Kriemhild hätte damit rechnen können) geht die Anschuldigung weit hinaus. Hier ist das Relikt einer älteren Stofftradition stehen geblieben.

Unabhängig von solchen Fehlern ruht »traditionelles« Erzählen72–nicht nur in der in jahrhundertelanger Mündlichkeit wurzelnden heroischen Überlieferung, sondern auch in der wesentlich schriftlichen Überlieferung antiker Erzählstoffe– grundsätzlich auf einem Hintergrund überlieferter Wissensbestände auf, die durchaus unterschiedlich, ja unvereinbar sein können.73Heldenepik misst dem Anschluss an das traditionelle Sagenwissen des Publikums (etwa Siegfried im

›Nibelungenlied‹als Drachentöter und Horterwerber mit der Hornhaut, nicht nur als höfischer Prinz;74die Helchesöhne in der ›Rabenschlacht‹75 als trotzig den Kampf erzwingende Heldenjünglinge, nicht nur als verirrte Kinder) so viel Gewicht bei, dass Widersprüche offenbar bewusst in Kauf genommen werden.

Die Antikenromane entscheiden sich eher für jeweils eine der überlieferten Versionen (z. B. beim Trojastoff meist für die Dares-/Dictys-Tradition, nicht die homerische) oder harmonisieren, wie Konrad von Würzburg (siehe oben S. 84), die verschiedenen Geschichten des jeweiligen Stoffkreises. Doch begegnet auch hier das Phänomen der Akkumulation widersprüchlichen Wissens: Im Cpg 368 steht Herborts von Fritzlar›Liet von Troye‹(mit Eneas als Verräter seiner Heimat- stadt Troja) Heinrichs von Veldeke›Eneas‹(mit Eneas als Flüchtling und gott- bzw. göttergewolltem Romgründer)76voran, ohne jede Abstimmung in Bezug auf die widersprüchliche Rolle und Bewertung des Eneas. Vergleichbar sind die Fortsetzungen, etwa zu Wolframs von Eschenbach ›Willehalm‹, Gottfrieds von Straßburg ›Tristan‹ oder Konrads von Würzburg ›Trojanerkrieg‹, die anderen Quellen folgen als der jeweilige Grundtext und vielfach einen diesem entgegen- gesetzten (in der Regel weit weniger komplexen) Sinn entfalten. Bei der anony- men›Trojanerkriegs-Fortsetzung‹kommt es auch zu rein stofflichen Widersprü- chen; z. B. ist der bei Konrad unverwundbare Achill (Tk., bes. V. 31168–31181)

71 Aus der Vielzahl der Literatur zur Ortlieb-Szene nenne ich nur Knapp 2013 [Anm. 14], S. 202 ff., der Forschungspositionen (Heinzle, Müller) referiert.

72 Vgl. Heinzle [Anm. 28].

73 Zu diesem Komplex vgl. demnächst eingehender Lienert [Anm. 67]; hier nur einige Andeu- tungen.

74 Vgl. unter vielen anderen Knapp 2013 [Anm. 14], S. 204 f.

75 Rabenschlacht. Textgeschichtliche Ausgabe, hg. v. Elisabeth Lienert u. Dorit Wolter, Tübin- gen 2005 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 2), Str. 339463; vgl. Lienert 2010 [Anm. 14], bes. S. 148150, 153.

76 Vgl. http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg368 (Abrufdatum: 08.09.16).

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verwundbar und kann problemlos erstochen werden (Tk., V. 43865–43874). In solchen Fällen akkumulierend-aggregativen Erzählens kommt es auf die Voll- ständigkeit der Geschichten, auf die Summe des Wissens an; die Frage der Stimmigkeit oder Widersprüchlichkeit spielt anscheinend keine Rolle. Vor allem in der Heldenepik dient die Addition aus der Tradition (»Inklusivität«77) der eigenen Selbstvergewisserung und der Gattungskonstitution.

Gerade in der Heldenepik müssen Störungen im linearen Erzählverlauf ange- sichts mündlichen Vortrags einerseits, der Konzentration auf die Szene anderer- seits nicht einmal aufgefallen sein; allgemein bekannte Paradebeispiele sind der Königinnenstreit (NL, Av. 14) oder die Hortforderungsszene (NL, Str. 2367–2373) im

›Nibelungenlied‹. Aber nicht nur Erzählen aus der Mündlichkeit zielt situativ auf szenische Effekte. Generell ist in mittelalterlichen Epen und Romanen eine Tendenz zum okkasionell-situativen Erzählen zu beobachten, das die Kohärenz oder Wider- sprüchlichkeit des Ganzen vor dem punktuellen Effekt in den Hintergrund treten lässt. Neben der vorrangigen Gestaltung der Einzelszene (vor allem großer Schau- szenen78) belegt das die omnipräsente Neigung zuad hoc-Erzählerkommentaren, die–fast grundsätzlich–Gültigkeit zunächst nur für die jeweils erzählte Situation haben. Ob die meist aufgesetztenmoralisationesder Märendichtung,79die stets auf eine simple Moral zielen und damit den komplexeren Texten und Subtexten oft widersprechen, auf einer vergleichbaren Ebene liegen, wäre zu untersuchen.

Antinomisches Erzählen spannt vor allem bei den Figuren Wertung und Sym- pathielenkung gleich-wertig zwischen vordergründige Positivierung und latente Problematisierung. In Konrads von Würzburg ›Trojanerkrieg‹ etwa werden mit wenigen Ausnahmen alle Figuren oberflächlich idealisiert, trotz moralisch verwerf- lichen oder in seinen Konsequenzen verheerenden Verhaltens:80 Die Mörderin

77 Stock [Anm. 59], S. 152; vgl. auch ders.: Vielfache Erinnerung. Universaler Stoff und partikulare Bindung in Ulrichs von EtzenbachAlexander, in: Jan Cölln [u. a.] (Hgg.): Alexanderdichtungen im Mittelalter. Kulturelle Selbstbestimmung im Kontext literarischer Beziehungen, Göttingen 2000 (Veröffentlichungen aus dem Göttinger Sonderforschungsbereich 529Internationalität nationaler LiteraturenA,1), S. 407448.

78Vgl. bes. Hugo Kuhn: Über nordische und deutsche Szenenregie in der Nibelungendichtung, in: Hermann Schneider (Hg.): Edda, Skalden, Saga. Festschrift zum 70. Geburtstag von Felix Genzmer, Heidelberg 1952, S. 279306 [wieder in: ders.: Dichtung und Welt im Mittelalter, Stuttgart 1959, S. 196219, 277283]; Joachim Heinzle: Das Nibelungenlied. Eine Einführung, München 1987, S. 8183.

79 Vgl. grundlegend Klaus Grubmüller: Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter: FabliauMäreNovelle, Tübingen 2006.

80 Vgl. dazu eingehender Lienert [Anm. 38].Anders verfährt Rudolf von Ems, der tendenziell durch radikale Reduktion des Problematischen Widersprüche idealisierend einebnet; dazu vgl.

demnächst dies.: Idealisierung und Widerspruch. Zur Figurenkonstitution von Rudolfs von Ems

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Medea, die plündernden, vergewaltigenden Griechen bei der ersten Zerstörung Trojas, die rücksichtslosen Kampfmaschinen des zweiten Trojanischen Kriegs erscheinen in den Erzählerzuschreibungen zumeist als vorbildliche höfische Da- men und Ritter; Hector ist als Inbegriff ritterlicher Idealität und Prototyp des gemeinschaftstragenden Helden gezeichnet, aber mitverantwortlich für Trojas Fall;

insbesondere derfemme fataleHelena gilt überschwenglichstes paradoxes Lob.81 Auf die Problematik der Diskrepanz zwischen Erzählerlob und Handlungsrolle der Herzeloyde-Figur im›Parzival‹wurde bereits hingewiesen (siehe oben S. 72).

Was die Figuren betrifft, die vom Erzähler oder anderen Figuren negativ bewertet werden (etwa die problematische Orgeluse, siehe oben S. 81), dienen gelegentlich Erzählereinsprüche deren Ehrenrettung. Relativierendes Erzählen korrigiert sich so quasi selbst. Ähnlich (wenn auch erheblich komplexer) sind die Erzählerkommentare des›Tristan‹im Verhältnis zum Handeln der Protagonisten angelegt. Umgekehrt kann auch Idealisierung auf der Handlungsebene unter- laufen werden durch kritische Erzählerkommentare, etwa im ›Willehalm von Orlens‹ oder›Barlaam und Josaphat‹des Rudolf von Ems.82Kritisches Erzählen (in Form entsprechender Erzählerkommentare) gilt freilich in der Regel weniger der eigenen Erzählschöpfung als intertextuell anderen Autoren (siehe oben S. 81, 83 f.): einer kritisierten Quelle (Wolfram über Chrétien) oder Erzähltradition (Gott- fried über die Eilhart-Tradition), einem künstlerisch weniger avancierten und zugleich weniger zuverlässigen Vorgänger (Rudolf von Ems über den Pfaffen Lambrecht83).

Häufig sind keine konkreten Einsprüche fassbar, keine Unvereinbarkeiten abzugrenzen, entsteht Uneindeutigkeit vielmehr durch unaufgelöst widersprüch- liche Informationen, Zuschreibungen, Bewertungen: Über die Nebenfiguren des

›Parzival‹ ist von verschiedenen Berichterstattern durchaus unterschiedliches Wissen im Umlauf; die Dissonanzen um die Bewertung der Figuren und den Sinn der Handlung z. B im›Trojanerkrieg‹Konrads von Würzburg lösen sich auf im ununterscheidbarem Glanz der Ostension.84Hierfür bietet sich, im Anschluss

Alexander (in Vorbereitung; erscheint voraussichtlich im Sammelband derRudolf von Ems- Tagung 2016, hg. v. Elke Krotz [u. a.], Stuttgart 2017 [Beihefte zur ZfdA]).

81 Zur Tradition des paradoxen Lobs der Helena seit Gorgias vgl. Rosalie L. Colie: Paradoxia Epidemica. The Renaissance Tradition of Paradox, Princeton 1966, Nachdruck 1976, S. 8 f., 278.

82 Florian Kragl und Mathias Herweg, mündlich.

83 Vgl. Rudolf von Ems: Alexander. Ein höfischer Versroman des 13. Jahrhunderts, hg. v. Victor Junk, 2 Bde., Stuttgart 1928 u. 1929 (StLV 272 u. 274), V. 1578315788 [Nachdruck: Darmstadt 1970].

84 Vgl. bes. Bent Gebert: Mythos als Wissensform. Epistemik und Poetik desTrojanerkriegs Konrads von Würzburg, Berlin [u. a.] 2013.

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