Der Antichrist und die „Apokalypse"
des Prokopios von Kaisareia
Von Berthold Rübin, Köln
Orientalisten und Byzanzforscher sind sich seit alters darüber einig,
wie eng die politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und religiösen
Beziehungen zwischen dem Oströmischen Reich und den nichtgriechi¬
schen Ländern des Ostens waren. Schon in vorislamischer Zeit stand
Byzanz in Berührung mit konkurrierenden oder befreundeten Staaten
des Ostens. Noch weniger blieb ihm die Auseinandersetzung mit natio¬
nalen und religiösen Minderheiten in den Ostprovinzen des eigenen
Staatsgebietes erspart. Es geht dabei nicht nur um Fragen der damaligen
Außen- und Innenpolitik, sondern auch um den Beitrag des Alten Orients
zur geistigen Situation des Zeitalters lustinians. Aus der Fülle der
Probleme soll hier nur eines herausgegriffen werden: Der Antichrist¬
gedanke und seine Bedeutung für die politische Oppositionsliteratur im
6. Jahrhundert^.
Das Denkmal, um dessen Verständnis es hier geht, ist die berühmte
und berüchtigte Geheimgeschichte des Prokopios von Kaisareia^. Das
Bild vom Herrscher wird in dieser Schrift bestimmt durch die Gleich¬
setzung lustinians mit dem Fürsten der Dämonen^''. Doch ist diese Auf¬
fassung des Kaisers als inkorporierter Satan nur der eine Leitgedanke
des Verfassers oder seiner Hintermänner. Der andere soll im folgenden
aufgezeigt werden, er steht im Zeichen des Antichristgedankens.
Die Vermischung beider Vorstellungen wird von den heutigen Theo¬
logen mit Recht abgelehnt. In den ersten Jahrhunderten des Christen¬
tums war jedoch die Bezeichnung ein und derselben Person als Dämonen¬
fürst und Antichrist teils aus Absicht teils aus Unkenntnis immerhin
möglich, was für die ausgesprochene Laientheologie eines Prokop eine
Rolle spielt. Satan und Saijjidvwv ap^wv sind Spezialfälle aus der all¬
gemeinen Dämonologie ; der Anteil der Orientalistik an der Erforsehung
~ ^ Zu Herrscherbild und Kaiserkritik vergleiche man die gleiehzeitig er¬
scheinende Arbeit: Das Zeitalter lustinians. Bd. I. Dort in einem Exkurs
(Anm. 546) das Material zur vorliegenden Studie.
2 ed. J. Haury, Procopii Caesariensis opera omnia, Vol. III, 1 Lipsiae
1906 (Historia aroana, 'AvfxSoTa).
^ Anekdotastellen und patristisches Vergleichsmaterial in meinem Bei¬
trag zur Dölger-Festschrift : Byzantin. Zeitschr. 44 (1951) 469—481.
56 Berthold Rubin
ihrer Geschichte übertrifft das angesichts der Herkunftsräume zu er¬
wartende Maß dank der besonders starken Durchsetzung des Lebens im
Vorderen Orient mit Dämonenfurcht und Höllenglauben. Aber auch die
Geschichte der Antichristidee kann ohne Benutzung von Materialien der
Orientalistik nicht studiert werden.
Die Geschichte dieser Forschung ist alt und komphziert. Eine gewisse
Rolle spielt, wenn aueh nicht für den Historiker, die weltanschauliche
Siclit. Für den protestantischen Standpunkt wäre etwa das Werlc von
Wilhelm Boiisset^ zu nennen, für die katholischen Auffassungen die
Arbeit von B. Rigaux*. Die katholische Deutung bevorzugt eine trans¬
zendente oder kollektive Erklärung der Antichristgestalt, während die
protestantische auf den Spuren eines Friedrich Delitzsch die ira¬
nische und babylonisch jüdische Eschatologie zur Vertiefung des ge¬
schichtlichen Hintergrundes heranzieht. Außerhalb dieser Sphären wäre
vor allem die Arbeit von E. Renan^ mit ihrer rationalistischen Grund¬
haltung zu erwähnen. Eine Äußerung aus orthodox-marxistischem Munde
dürfte deshalb nicht erhältlich sein, weil die Beschäftigung mit ,, imma¬
teriellen" Problemen dort als müßiger bürgerlicher Zeitvertreib gewertet wird.
In unserem Zusammenhang interessiert lediglich die politische Aus¬
wertung des Antichristmythos vor und im Zeitalter lustinians. Die theo¬
logischen Fragen liegen auf einer anderen Ebene als das Forschen nach
dem Gebrauch oder Mißbrauch des Mythos im historischen Raum.
Schwerlich gibt es jedoch religiöse Assoziationen mit noch größerer
Durchschlagskraft im Bereich der Politik.
Zunächst also die Herkunft des Begriffes. Bekanntlich betont eine
Gruppe moderner Forscher die Rolle iranischer und babylonischer
Elemente des Mythos, so etwa Gunkel, Bousset, Friedländer, teil¬
weise auch Charles*. Auch wenn ihre Thesen zutreffen, können wir die
literarische Ausprägung und politische Nutzanwendung des Antichrist¬
gedankens als Werk des jüdischen Geistes ansehen. Nach jüdischer Tra¬
dition stammt der Antichrist aus dem Stamme Dan'. Das bestätigen
auch die Zeugnisse der Väter*.
Der ägyptische Pharao (nicht nur der Zeitgenosse eines Moses, sondern
jeder Nachfolger) kann als Typ des Endfeindes im Sinne der politischen
' Der Antichrist in der Ü herlief erung des Judentums, des Neuen Testa¬
mentes und der Alten Kirche. Göttingen 1895.
* L'Antichrist et l'opposition au royaume messianique dans l'Ancien et le
Nouveau Testament. Paris 1932 (= Diss. Louvain 1931/2 No. 2005).
' L'Antichrist. Paris 1873.
• Vgl. A. AuDiNO, Anticristo. Enciclopedia Cattolica 1 (1948) 1433/41.
' Test. XII Patr. 5,6. Haggada über Gen 49,17 und Deut 23,22.
8 Iren. V 30, Hippolyt. Antichr. c. 15 = 11,18 Achelis.
Der Antichrist und die „Apokalypse" des Prokopios von Kaisareia 57
Antichristprägung gelten. Man vergleiche Ezechiel 29ff. und die künst¬
lerische Nachwirkung des Exodusberichtes — von Ezechiel dem Tra¬
giker* über die Weltliteratur bis zu heutigen Monstrefilmen im Stil eines
DE Mille. Weitere Herrschergestalten im Sinne der späteren Legende
sind Sanherib und Nebukadnezar. Bei Ezechiel werden ferner angeführt
der Fürst von Tyrus, die unbeschnittenen Könige und Gog. Zumeist steht
das Begriffspaar Gog und Magog in apokalyptischem Zusammenhang
und bezeichnet die Nordvölker, gelegenthch erscheint aber Gog auch als
Individuum^".
Grundlegend für die Genesis der Antichristgestalt ist die älteste jü¬
dische Apokalypse, die Prophetie Daniels, wenn auch seine Deutung im
einzelnen strittig bleibt. Daniel bekämpft den Seleukiden Antiochos
IV. mit apokalyptisch dunklen Worten, während dieselben politischen
Vorgänge im Makkabäerbuch in klarer historischer Erzählung wieder¬
gegeben werden. Besonders wichtig ist im Zusammenhang der Anti¬
christerwartung die Formel ßSeXurf^a rtf, epTjfXwoeMi; (Greuel der
Verwüstung) bei Daniel und anderen. Sie bezeichnet die Entweihung
des Tempels durch Ungläubigeii.
In apokalyptischen Verruf sind auch Pompeius und Herodes der Große^^
gekommen. Die allgemeine Antichristerwartung der vorchristlichen Zeit
wird in 4 Esra 5,6 ausgesprochen: ,,Zur Herrschaft kommt, auf den die
Erdbewohner nimmer hoffen".
In der geistigen Nachfolge Daniels sprieht die Johannesapokalypse
nun von den 7 Hörnern des Tiers, worunter 7 römische Kaiser zu ver¬
stehen sind. Einen solchen Kaiserkatalog finden wir z. B. in Sibylline
5,1 ff. Mustern wir also die Stellung der einzelnen römischen Kaiser im
apokalyptischen Schrifttum.
Caligula (37—41) gab als Strafe für den Aufstand des Jamnia dem Pe¬
tronius den Befehl seine Statue im Tempel aufzustellen. Der Auftrag
wurde zwar nicht ausgeführt, doch hielten die Juden den Fall des ßSdXuY[i,a 'crf, lp7)|jia)CT£co? schon durch die Absicht für gegeben und reagierten mit
Unruhe^». Ferner wird die apokalyptische Zahl Ape 13,18 gelegentlich
als Töäc, Katcrap gedeutet (d. h. Caligula).
Gegen den politischen Messiasgedanken hat Christus selbst, gegen die
Politisierung des Antichristmythos hat Paulus Stellung genommen, beide
freilich ohne die jüdischen Zeitgenossen zur Sublimierung ihrer poli-
" P. RiESZLER, Alt jüdisches Schrijttum, außerhalb der Bibel (Augsburg 1929) 343.
" Jubiläen 9,8; Buch des Elias 7 (Rieszleb 237).
" Dan 8,13; 9,27; 12,11; 1 Makk 1,54; Mt 24,15; Mc 13,14.
12 Ass. Mosis 6,2; Apo Esra 4,11.
ScHijBER, Geschichte des jüdischen Volkes V (1907) 503/5.
58 Bebthold Rubin
tischen Traumwelt überreden zu können^*. Gegen die moralische Um¬
deutung des Antichrist wirkt noch zu Lebzeiten des Paulus die Auf¬
peitschung der religiös-politischen Leidenschaften in der Nero-Ära,
späterhin auch der Mythos vom Nero redivivus. Das apokalyptische Zwie¬
licht um die Persönlichkeit Neros, der Widerhall seiner Persönlichkeit
im Orient hat dazu geführt, daß alte und neue Theologie lange in ihm die
geheimnisvolle Bezugsperson weiter Teile der Johannesapokalypse er¬
blickt haben".
Seit den Arbeiten von R. Schütz^* und E. Stauffer" steht jedoch
Domitian in diesem Zusammenhang im Vordergrund des Interesses. Es
gibt eine unübersehbare Menge von Deutungen der Zahl des Tieres
Ape 13,18 (666 bzw. 616). Schütz und Stauffer kommen auf Domitian,
indem sie mit dem lateinischen Zahlenwert von Kaisernamen und Re¬
gierungsjahr bzw. Titulatur operieren. Die Deutungen auf Nero stützen
sich auf die hebräischen Zahlenwerte des Namens. Für die Domitian-
Hypothese lassen sich nun aus Prokops Geheimgeschichte weitere
Argumente erbringen.
Zunächst noch einige ältere Zeugnisse. Eliasapokalypse und Esra-
apokalypse geben einen förmlichen Steckbrief des Antichrist. Die Phy¬
siognomie paßt recht gut zum historischen Domitian**. Ähnlich schildert
auch das sehr viel spätere Buch des Elias, in dem die Vorlage auf Ode-
nathus angewendet wird**. Wichtiger ist das Zeugnis des Kyrillos von
Jerusalem, der den 11. römischen Kaiser als Antichrist bezeichnet^".
Die Angabe führt auf Domitian. Ferner bezeichnet die bei Symeon
Metaphrastes überlieferte Vita S. Dionysii Areopagitae den Kaiser
Domitianus als Daemonianus^*. Auch Theodoretus erwähnt Domitian'^^.
1* 2 Thess 2 wirkt auf Didache 16,4 und Johannesapokalypse.
" E. Renoir, Chiffre de la bete. Diet, d'arch. chröt. et de lit. 3 (1913)
1341/53. Im Barnabasbrief heißt Nero (4,9) 6 MiXai;. Wiederkehrender
Muttermörder: 8 Sib 70ff. Ähnlich Viktorin von Pettau, Commodianus,
Lactantius u. a.
Die Offenbarung des Johannes und Kaiser Domitian. Göttingen 1933.
" 666: Festschrift für A. Friedrichsen. Lund 1947. " Rieszleb 120.
" Rieszleb 235. Cateoh. XV 12 = MPG 33, 885.
2' MPG 115,104. el? äxoä? -i^xst t6 7tpäy|xa A o (i. e -r i a v 5, Ao|jieTtavü Tt";) TTöivTa Ssivw, Aai|J,ovi.av<;)8E |j,äXXov eItteTv oiXEioTspov, TM XaXrjaavTi xaxä TOÜ 0£oO äSixCav, Iv Ü7r£pr](pav£a xat c^o'jScvüaEi, xal x^'Pot t>EO[j.(3cxov xarii ty)?
T(öv XpwTtavwv äpavTi ttictteui;. Oötoi; ouv tI [iTj/otvarai, [iäXXov 81 -rl irapa xoü Trarpö? aÜToü Saxäv IxTraiSsuETat . . . Von diesem Daemonianus führt eine Ver¬
bindungslinie zum Antichrist, eine andere zum daemoniarius oder archon dae- monum imbesonderen Sinne eines heidnischen Priesters. Vgl. aus der orienta¬
lischen Literatur über Dionysius Areopagita die Form archon daemonum, wor¬
unter der „Kultvorsteher" Arius Pagus verstanden wird. P. P[eeters], La
Vision de Denys l'Ariopagite ä HMiopolis(ar&bisch, Anfang 9. Jh.) Anal. Boll.
29 (1910) 317. Id., La version ibiro-arnUnienne de l'autobiographie de Denys
Der Antichrist und dio „Apokalypse" des Prokopios von Kaisareia 59
Nun schildert Prokop^^ die äußere Erscheinung lustinians und krönt
seine Charakteristik durch den Vergleich mit Domitian, „dessen schlech¬
ten Charakter die Römer belohnten, indem sie ihn nicht nur zerstückelten
und so ihren Zorn gegen ihn befriedigten. Nein, darüber hinaus erging
noch ein Gebot des Senats gegen schriftliche Überlieferung seines Namens
und gegen die Verewigung seiner Gestalt durch das Bild". Mit diesen Be¬
merkungen scheint sich Prokop völlig auf der Linie der Kaiserkritik
senatorischer Prägung zu halten. Man horcht nur unwillkürlich auf,
wenn er ausgerechnet beim apokalyptisch vorbelasteten Domitian so
lange verweilt und die Wiederherstellung des Leichnams sowie die Ge¬
schichte der einzigen erhaltenen Statue ausführlich erzählt . Das muß um so
mehr auffallen, als äußere Ähnlichkeit zwischen lustinian und Domitian
in Wirklichkeit kaum bestand. Weiter berichtet Prokop zunächst von einem
Fall plötzlicher ,, Kopf losigkeit" lustinians und anschließend von einem
Besucher, der den Kopf des Kaisers zwar sehen konnte; aber in raschem
Wechsel bald als gestaltlosen Fleischklurapen, bald wieder normaP^.
Vergleichen wir, was die Eliasapokalypse über den Antichrist sagt:
Er wandelt sich vor denen, die ihm zuschauen.
Bald wird er alt, bald wieder jung.
Nur seines Kopfes Zeichen kann er nicht wandeln.
Daran erkennt ihr, daß er der Sohn der Sünde ist^^.
l'Ariopagite. Anal. Boll. 39 (1921) 294f., 297. Vgl. Chron. Pasch. (701,9
Bonn) 6 Ta^etoTrji; toü irtdpx'^^ no^siaq, 6 sTttXeyöiiEvo«; änb Aati^oviapicov. Es
handelt sich wohl um einen mit Betreuung der Götterbilder oder dem
Opferwesen (als victimarius) beschäftigten apparitor des praefectus urbi. Zu
den apparitores der p. u.: Cod. Theod. I 6,8 u. öfter; Cod. lust. XII 53. Zu
den apparitores der Priesterkollegien: Marquardt, Staatsverwaltung III^
225ff. Zu den victimarii: Liv. 40,29,14; Val. Max. 1,1,12; CIL 6,971 (129 n.);
2201 u. a. Inschriften. Zum daemoniarius ist sprachlieh zu vergleichen dae-
monicola = Heide. Der Archon daemonum in Athen wird dem Subaltern¬
beamten des p. u. im Maßstab einer Provinzhauptstadt entsprechen (Statt¬
balterbehörde oder Dekurionenkollegium).
22 Graec. affect, cur. III = MPG 83, 871. 23 Anekdota 8,12.
2* Nach Anekdota VIII 13—21 ähnelten die Gesichtszüge lustinians
denen des Kaisers Domitian. Der Münzvergleieh lehrt, daß eine solche Be¬
hauptung eher für Kaiser Trajan zutreffen würde. W. Wroth, Catalogue of
the Imperial Byzantine coinage in the British Museum (London 1908) XCif.
Auch J. J. Tolstoj (Vizantijskie monety. SPb 1912/4) behandelt die Frage
in seiner Einleitung. Es geht Prokop in Wirklichkeit nieht um die Porträt-
äbnlichkeit sondern um die Antichristeigenschaft beider Kaiser. Hierzu noch
ein bezeichnendes Indiz: Verschiedentlich hält man des Statins Beschreibung
der Reiterstatue Domitians für die Vorlage von Prokops Schilderung des
Reiterstandbilds lustinians in Aedificia1 2. Vgl. P. Friedländer, J oltannes von Oaza und Paulus Silentiarius (Leipzig 1912) 65. Hierzu kritiseh Rodenwaldt
(Jahrb. Dtsch. Archäol. Inst. 46 [1931] Sp. 332 Anm. 2). Es handelt sich jedoch
nieht um kunsthistorische sondern um literarisch propagandistische Fragen.
Vgl. „lustinian" I Anm. 120. 25 Eliasapokalypse 34,1 = Rieszler 120.
60 Bebthoid Rubin
Diese Verwandlungsszene wird von den Erklärern zumeist vorder¬
gründig auf Domitians Versehönerungspraktiken bezogen, statt auf den
dämonischen Antichristcharakter und die damit gegebene Proteusnatur
eines Widersacher-Tricksters. Die Konfrontierung der ,, Steckbriefe" des
Antichrist in Eliasapokalypse und Buch des Elias mit Suetons Personal¬
beschreibung durch Schütz ist also fruchtbar akzeptiert worden und
findet eine gewisse Ergänzung durch die Verwandlungszüge lustinians
bei Prokop, der ausdrücklich lustinian und Domitian gleichsetzt. Die
Antichristinterpretation Prokops und die Domitiandeutiing der Apo¬
kalypse stützen sich gegenseitig.
Wir mustern die weiteren Politisierungen des Anticluistgedankens bis
ins Zeitalter lustinians, um die Kontinuität aufzuzeigen. Am Ende des
zweiten Jahrhunderts deutet Irenaeus Lugdimensis die apokalyptische
Zahl als AATEINOS^*. Damit setzt er das römische Weltreich schlecht¬
hin dem Antichrist gleich. Die Hauptschrift und einzige Monographie von
Altertum und Mittelalter über den Antichrist verdanken wir Hippolytos
um 202. Er spricht zwar nicht von einzelnen Kaisern, kennt aber die
Deutung auf AATEIN02". Um 260 erfährt der Mythos eine handfeste
Politisierung rund ura die Person des Odenathus. Dabei wird die etwas
abgewandelte Personalbeschreibung des Domitian-Antichrist benutzt''*.
Am Anfang des vierten Jahrhunderts finden wir Lactantius, der seine
Aufmerksamkeit auf Nero konzentriert, aber bereits eine gewisse skeji-
tisehe Haltung verrät. Er bringt eine Art Verfolgerkatalog, in dem er alle
Kaiser nennt, auf die der Antichristmythos sich bezieben könnte^*. In der
Mitte des vierten Jahrhunderts überhäufte Bischof Lucifer von Calaris
den Kaiser Constantins mit heftigen Schmähungen. Unter anderem er¬
klärt er ihn nicht nur für verwandt, sondern geradezu identiseh mit dem
Antichrist^".
2' Adv. haereses V 2.5ff. (statt der mir zur Zeit unzugänglichen Ausgabe
von A. Stieben (Leipzig 185.'1) ist der Nachdruck der Maurinerausgabe
MPG 7 benutzt) Irenaeus mustert verschiedene Deutungen und bemerkt
(V 30) zu AATBINOS: et valde verisimile est, quoniam novissimum regnum
hoc habet vooabulum. Latini enim .sunt qui nune regnant; sed non in hoc nos
gloriabimur. Vgl. MPG 7, 1205 und die wichtigen Bemerkungen von Fb.
Feuardent (Köln 1596) naehgedruckt MPG 7, 1822ff.
" Namentlich e. 15 = I 2 p. 11,18 Achelis und c. 50 = 34,7 Achelis.
^ Bueh des Elias c. 2 = Rieszleb 235. Vgl. Agathias IV 24.
2» De mort. pers. c. 2 = CSEL 27 (1897) 173ff. Hierzu A. Schenk Graf
VON Stauffenberg, Die römische Kaisergeschichte bei Malalas (Stuttgart
1931) 215f. Anm. 77.
ed. G. HabtelCSEL 14 (1886) 113.20; 138,10; 168,15; 173,11; 182,18;
220,15; 262,28; 273,15; 276,12. Haupt.stellen 106,7 und 276,2 scriptum est de antichristo cui tu similaris aut ipse e.sso iudicaris. Konstantins hatte sich
durch Protektion der Arianer die Mißbilligung Lucifers zugezogen. Vgl.
J. Straub, Vom Herrscher ideal in der Spätantike. Stuttgart 1939.
Der Antichrist und die „Apokalypse" des Prokopios von Kaisareia 61
Es erübrigt sich, die weiteren Zeugnisse des vierten Jahrhunderts an¬
zuführen, doch sind am Anfang des fünften zu erwälinen das naiv
gläubige des Sulpicius Severus^* und das überlegen kritische des Augusti¬
nus^^. Von besonderer politischer Bedeutung ist aber die Identifizierung
des Vandalenkönigs Geiscrich mit dem Antichrist durch Hieronymus.
Die Äußerung ist in seiner stark überarbeiteten Ausgabe des Apokalyp¬
senkommentars \on Victorinus von Pettau erhalten. Die apokalyptische
Zahl wird hier als ysvcnfjptxoi; gedeutet»^.
Theodoret von Cyrus ist bekanntlich für die gnostischen Häretiker und
ihre Dämonologie ergiebig. Im Zusammenhang mit dem Antichrist er¬
wähnt er die Kaiser Nero, Domitian und Commodus^*.
Im sechsten Jahrhundert finden wir einige Notizen bei Caesarius, bei
Priniasius von Hadrumetum und Pacian oder richtiger Eutropius. Es
handelt sich hier durch\\eg um Apokalypsenlcommentare. Diese Zeug¬
nisse sind keineswegs die letzten, v, enn auch eine mit der Kampfzeit der
Kirche und dem Zeitalter der christologischen Streitigkeiten vergleich¬
bare Politisierung des Antichristgedankens bezeichnenderweise erst wieder
im Zeitalter des Investiturstreits und der staufischen Kaiser einsetzt.
Man erkennt hieraus die Kontinuität des Antichristmythos, dieser
Schöpfung des Vorderen Orients. Dabei versteht sich von selbst, daß
ein theologisch uninteressierter, wenn auch nicht ahnungsloser Laio
wie Prokop keine Notiz nimmt von der Verpönung der \'olkstümlichen
Mönchsdämonologie durch die großen Kappadokier und Johannes Chryso¬
stomos. Wir können daher auch nicht von ihm erwarten, daß die Polemik
gegen eine Verwechslung von Satan und Antichrist zur Kenntnis nimmt,
für die im Westen Hieronymus, im Osten Johannes Chrysostomos theo¬
logisch eine Epoche abschließen. Trotz seiner oft geäußerten Vorliebe für
undogmatisches Christentum ist aber Prokop in seiner Geheimgeschiclite
bewußt oder unbewußt der Mittelsmann einer theologischen Flüster¬
propaganda geworden, deren Quelle wir vermutlich in monophysitischen
oder sonstigen Häretikerkreisen zu suchen haben. DaB er lustinian als
den inkorporierten Satan anspricht, bedarf keines Be\\eises, es folgert
aus seinem Terminus ,, Dämonenfürst". Dagegen hat Prokop auf den
Terminus ,, Antichrist" verzichtet. Das laientheologische Weiterleben der
31 Chron. II 29 = CSEL 1,83 Halm (Tod und Wiederkunft Neros).
32 Civ. Dei XX 19 Ablehnung der Nerosage und damit aller verwandten
Erklärungsversuche der Apokalypse.
33 CSEL 49 (J. Hausleiter 1916) 123,5; 124,1; 125,1. Zu Apo 13,18 heißt
es: Item aliud eius nomen gothico quod per se licebit, id est yzMarßiKoi;, quod eodem modo graecis litteris computabis y tres, e quinque, v quinquagi:ita, CTducenti, r] octo, p centum, i decem, x viginti, o septuaginta, ? item ducenti ; quae ut supra dictum est sexeenti sexaginta sex facimit.
3« Graec. affect, cm. MPG 83, 871.
62 Berthold Rubin
Verwechslung von Satan und Antichrist und die angeführten Parallelen
zwischen der Domitianinterpretation der Apokalypse und dem domi¬
tianisch gefärbten lustinianbild der Geheimgeschichte sprechen dafür,
daß Prokop oder seine Gewährsmänner, wenn sie vom Dämonenfürst
reden, auch den Antichrist im Auge haben. Auch die späteren Zeugnisse
über Weiterleben der Domitianinterpretation legen das nahe, yot allem
Wendungen wie ,, ungerechter liichter", unmenschlicher, kriegslüsterner
Herr, sämtlich Leitmotive Prokops. Prokop betrachtet das lustinianbild
durch eine gleichermaßen dämonologisch, domitianisch und apokalyptisch
gefärbte Brille, daran lassen die Einzelheiten wie die religiös erhitzte
Tonart der Geheimgeschichte keinen Zweifel. Man könnte daher die
biographischen Teile dieser Goheimgeschichte cum grano salis eine
Apokalypse des Prokopios von Kaisareia nennen.
Prokop verzichtet also auf das Wort Antichrist, weiß aber nur
um so sicherer im Leser das Chaos chiliastischer Erwartungen zu er¬
wecken und mit der Person lustinians in Beziehung zu setzen. Wie die
jüdischen Apokalyptiker hätte er neben so manchen Satz seiner Ge¬
schichtswerke den Ausruf setzen dürfen : Wer Ohren hat zu hören, der
höre. Das Judentum, dem der Antichristgedanke entstammt, hatte in
seiner Apologetik das Bild vom Herrscher als eines ,, gewaltigen, den Erd¬
kreis beherrschenden Tyrannen" geformt. Paulus hat diese Tradition
grandios, aber nicht unbedingt erfolgreich uminterpretiert. Der Ver¬
folger Nero rückte in den Vordergrund der Enderwartungeii wieder die
Politik, der Paulus selbst zum Opfer fiel. Doch ist bei einer überdurch¬
schnittlichen Politisierung des Antichristgedankens stets auch an den
Einfiuß jüdischer Tradition zu denken, nicht zuletzt bei Prokop, der
auch unfreiwillig oft daran erimiert, daß er aus Kaisareia in Palaestina
stammt»^. Die Juden setzen noch im 7./8. Jahrhundert den Antichrist
dem Romulus-Armillus gleich, bewahren also noch in dieser Zeit das
Erbe des geistigen Widerstandes gegen Rom, beflügelt durch den anti¬
europäischen Auftrieb der islamischen Welteroberung^*.
Nur beiläufig sollen die neueren Identifikationen des Antichrist er¬
wähnt werden, so Friedrich II. von Staufen, einzelne Päpste, aber auch
Luther, Napoleon und weitere Protagonisten der neueren und neuesten
Geschichte. Gegen das Papsttum ist diese propagandistische Waffe
namentlich von den Katharern, Hussiten und Luther erhoben worden.
Von der systematischen Theologie her umreißt K. Rahner die Antriebe
des Mythos mit den Worten: ,, Diese Lehre gibt den Christen immer das
Recht nicht nur in abstracto widerchristliche Menschen und Mächte zu
Belege im RE-Artikel Prokopios von Kaisareia (auch Sonderausgabe
mit Register Stuttgart 1954).
3* Bousset, Antichrist 66.
Der Antichrist und die „Apokalypse" des Prokopios von Kaisareia 63
bekämpfen, sondern konkrete Menschen und Mächte als deren Vertreter
zu kennzeichnen und zu fliehen"^'.
Die Antichristfrage wirft ein interessantes Schlaglicht auf orientalische
Einschüsse im Geistesleben des sechsten Jahrhunderts. Dio Zahl solcher
Probleme ist Legion, zu ihrer Lösung sind in erster Linie die Orientalisten
berufen. Zu erinnern wäre an die Topographie der Kaukasusländer, für
die wir teilweise noch auf die verjährte Leistung eines Dubois de Mont-
pereux angewiesen sind. Ähnliches gilt für die Geschichte des arme¬
nischen Feudalwesens, die Adonc und andere mit unzureichenden Me¬
thoden in Angriff genommen haben^*. Ohne die Wirtschaftsgeschichte
von Iran bleiben die Kriege des sechsten Jahrhunderts leere Haupt- und
Staatsaktionen*'. Das Einsickern der semitischen Elemente in die rö¬
mischen Ostprovinzen ist von Dussaud mit Erfolg studiert worden. Be¬
kannt sind die Ergebnisse der Limesforschung der Poidebard, Mou-
TERDE, Sauvaget, Alt und anderen. Die schwierigsten Probleme bietet
die Geschichte der vorislamischen Araber, die Geschichte der Lahniiden,
Gassäniden und Kinditen. Dasselbe gilt von der Politik rund um das
Rote Meer, die uns dank den Inschriftenfunden neue Möglichkeiten des
Verständnisses bietet. Die Diskussion der Funde durch G. und J. Ryck-
MAN, Caskel u. a. schafft auch für die Geschichtsschreibung neue Grund¬
lagen. Endlich die Religions- und Geistesgeschichte des Jahrhunderts,
ein Netz verschlungener Wechselbeziehungen, auch im Sprachlichen. Es
geht über die Kraft in alle Probleme einzudringen, aber der Versuch
bleibt keinem Historiker dieser Zeit erspart.
" Lexikon für Theologie und Kirche 1 (1957) 636.
3^ N. Adonc, Armenija v epochu Justiniana. SPb 1908. Olme Kenntnis
des Feudalrechts der Nacharare sind z. B. gewisse gegen die lokale Tradition gerichtete eherechtliche Novellen lustinians nicht zu verstehen (zu Armenien Nov. 21; 31; (beide 18. III. 536) und Ed. 3 vom 22. 9. 535. Vgl. „lustinian" I
Anm. 502.
3' Zuletzt Altheim-Stiehl. Die syrische Literatur wird mit Erfolg aus¬
gewertet in den zahlreichen Arbeiten von N. Pigulevskaja.
Die Ortsnamen-Parentliese im Altpersischen und Vedischen
Von Kael Hoffmann, Erlangen
Obwohl in den altpersischen Keilinschriften zahlreiche Ortsnamen
vorkonnnen, werden sie nur ganz selten im Lokativ, Richtungsakkusativ
und Ablativ (mit hacä) gebraucht, und zwar wenn es sich um die Namen
von größeren, allgemein bekannten Städten handelt: Arbairäyä „in
Arbela", Qüsäyä ,,in Susa", Hagmatänaiy „in Ekbatana", Bäbirauv „in
Babylon" (als Stadt z. B. DB. III 92), Paisiyäuvädäm ,,nach Pasar-
gadae( *)", hacä PaiSiyäuvädäyä „von P.". Alle übrigen Ortsnamen
stehen als Subjektsnominative in parenthetischen Nominalsätzen, wobei
das lokale Verhältnis erst durch ein Ortsadverb bzw. ein resuniptives
Pronomen gekennzeichnet wird: Tigra nämä didä Arminiyaiy — avadä
hamaranam akunava ,, Tigra mit Namen ist eine Festung in Armenien —
dort schlugen sie die Schlacht." In dieser für das Altpersische charak¬
teristischen Stilfigiir ist, wie das Musterbeispiel zeigt, der Ortsname be¬
gleitet von xdima (nämä) „mit Namen", einer Spezifizierung (didä
,, Festung", vrdanam ,,Dorf", ävahanam ,, Weiler", kaufa ,,Berg", rauta ,,Fluß", dahyäuS „Gau, Distrikt") und fast immer auch einer Angabo
der Lage (Gau oder Provinz). Es ist offensichtlich, daß der betreffende
Orts- bzw. Örtlichkcitsname für erklärungsbedürftig gehalten wurde.
So steht DB. II 71 f. Ragä nämä dahyäuS Mädaiy — avaparä aSiyava
,,Ragä mit Namen ist ein Gau in Medien — dorthin marschierte er" mit
den erklärenden Zusätzen, während III 2 f. der Name nunmehr als be¬
kannt vorausgesetzt wird und deshalb bloßes hacä Ragäyä „von Ragä"
genügt.
Diese im Altpersischen usuell gewordene Stilfigur zur Ortsangabe ist
ursprünglich ein selbständiger Satz, der nur insofern als Parenthese
anzusprechen ist, als er als erklärender Zusatz den Ablauf der Erzählung
unterbricht: ,,Zum zweiten Mal sammelten sich die Aufständigeii und
zogen gegen Dädyäis, um eine Schlacht zu schlagen. •— Tigra mit Namen
ist eine Festung in Armenien. — Dort schlugen sie die Schlacht." (DB. II
37—39). Da in diesem ,,Drei-Sätze"-Typus der Mäwa-Satz nun aber die
Ortsangabe des letzten Satzes enthält, ist er logisch ein Teil dieses Satzes
und steht an der Stelle eines lokalen Kasus. Deshalb können die einem
Hauptsatz usuell vorausstehenden Nebensätze oder auch AVörter und
Satzteile, die dem logischen Anschluß an das Vorhergehende dienen, vor