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Soziologische Revue

Besprechungen neuer Literatur

Begründet von Heinz Hartmann Herausgegeben von Heinz Bude, Bettina Heintz, U w e Schimank, Werner Rammert

Jahrgang 30 H e f t 3 Juli 2007

Editorial

W E R N E R RAMMERT 2 2 1

Essays

Ethnografie und Soziologie - eine verspätete Danksagung an Roland

G i r t l e r ( H U B E R T KNOBLAUCH) 2 2 3 Auf der Suche nach einem universellen Kern der Sozialisation oder:

warum Sozialisation, Interaktion und Lebensführung ein und dasselbe

s i n d ( H E I N Z A B E L S ) 2 3 2

Sammelbesprechungen

Soziologie zwischen Wissenschaft und Erbauung: Einführungen in die

S o z i o l o g i e ( J Ö R G RÖSSEL) 2 4 3 Sozialwissenschaftliche Mobilitätsforschung zu Beginn des 21. Jahrhunderts

(OLIVER SCHÖLLER) 2 5 2

Doppelbesprechung

I n k l u s i o n u n d E x k l u s i o n (MELANIE REDDIG) 263 Einzelbesprechungen

Wissenschaft

Wolf-Andreas Liebert / Marc-Denis Weitze (Hg.), Kontroversen als Schlüssel zur Wissenschaft? Wissenskulturen in sprachlicher

I n t e r a k t i o n (JOCHEN G L Ä S E R ) 2 7 1 Mark B. Brown /Justus Lentsch / Peter Weingart, Politikberatung und

P a r l a m e n t (CONSTANZE SCHERZ) 2 7 5

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I I Inhalt

Theorie

Helmut Willke, Symbolische Systeme. Grundriss einer soziologischen

T h e o r i e (GEORG KNEER) 278 Stefan Böschen / Nick Kratzer / Stefan May (Hrsg.), Nebenfolgen.

Analysen zur Konstruktion und Transformation moderner

Gesellschaften ( R A I N E R GRESHOFF) 2 8 1

Martin Ludwig Hofmann / Tobias F. Korta / Sibylle Niekisch (Hrsg.),

Culture Club I I . Klassiker der Kulturtheorie ( R O N A L D K U R T ) 2 8 5

Arbeit

Arlie Russell Hochschild, Keine Zeit. Wenn die Firma zum Zuhause wird

und zu Hause nur Arbeit wartet ( M I C H A E L A SCHIER) 2 8 8

Holm Friebe / Sascha Lobo, Wir nennen es Arbeit. Die digitale Boheme oder intelligentes Leben jenseits der Festanstellung

( A L E X A N D R A M A N S K E ) 2 9 1

Wirtschaft

Michael Florian / Frank Hillebrandt, Pierre Bourdieu. Neue Perspektiven

für die Soziologie der Wirtschaft (SASCHA MÜNNICH) 2 9 5

Jürgen Schiener, Bildungserträge in der Erwerbsgesellschaft. Analysen zur

K a r r i e r e m o b i l i t ä t (ROLF BECKER) 298 Politik

Christian Lahusen, Kontraktuelle Politik. Politische Vergesellschaftung am Beispiel der Luftreinhaltung in Deutschland, Frankreich, Groß-

britannien und den U S A ( P E T E R H . FEINDT) 3 0 1

Achim Wiesner, Politik unter Einigungszwang. Eine Analyse föderaler

V e r h a n d l u n g s p r o z e s s e (ARTHUR BENZ) 304 Methoden

Rainer Diaz-Bone, Statistik für Soziologen (WERNER VOSS) 307

Kunst

Nina Tessa Zahner, Die neuen Regeln der Kunst. Andy Warhol und der Umbau des Kunstbetriebs im 2 0 . Jahrhundert (WALTHER M Ü L L E R -

JENTSCH) 3 1 0

Bereichsrezensionen

Arbeitsmarktflexibilisierung (JOHANNES GIESECKE / MARTIN GROSS) 315

Rechtsextremismus (SUSANNE RIPPL / D I R K B A I E R ) 3 2 3

Umweltsoziologie (MATTHIAS GROSS) 3 3 1

Medizinsoziologie ( G U N N A R STOLLBERG) 341

Jugendsoziologie ( E C K A R T MÜLLER-BACHMANN) 346

Rezensentinnen des 3. Heftes 359 Eingegangene Bücher 360

(3)

GESCHÄFTLICHE MITTEILUNGEN

Geschäftsführender Herausgeber (verantwortlich): Prof. Dr. Werner Rammert Redaktion: PD Dr. Ingo Schulz-Schaeffer, Natascha Zehetmaier

Anschrift der Redaktion: TU Berlin, Institut für Soziologie, Franklinstraße 28/29, FR 2-5, 10587 Berlin

Rezensionsexemplare (jeweils zwei Exemplare) und Zuschriften sind an die Redaktion zu richten.

Unverlangt zugesandte Rezensionen werden aus grundsätzlichen Erwägungen nicht ab- gedruckt.

Bezugsbedingungen: Die Zeitschrift erscheint einmal im Vierteljahr (Januar, April, Juli, Oktober). Jahresabonnement: Inland € 152,20 (142,- + 10,20 Versandspesen); Aus- land € 155,80 ( 1 4 2 - + 13,80 Versandspesen). Studentenabonnement sowie Abonne- ment für Mitglieder soziologischer Fachverbände (nur Inland) € 60,- (49,80 + 10,20 Versandspesen). Einzelheft € 45,- zuzüglich Versandspesen. Die Preise enthalten bei Lieferung in EU-Staaten die Mehrwertsteuer, für das übrige Ausland sind sie Brut- topreise. Ladenpreise für sFr können bei der Verlagsauslieferung Bücher Balmer er- fragt werden.

Das Abonnement verlängert sich jeweils um ein Jahr, wenn es nicht spätestens zwei Mo- nate vor Ablauf des Kalenderjahres gekündigt wird. Die Lieferung geschieht auf Kosten und Gefahr des Empfängers. Kostenlose Nachlieferung in Verlust geratener Sendungen erfolgen nicht.

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Hinweis gemäß § 26 Absatz 1, Bundesdatenschutzgesetz: Die Bezieher der SOZIOLO- GISCHEN R E V U E sind in einer Adreßdatei gespeichert, die mit Hilfe der automa- tisierten Datenverarbeitung geführt wird.

Die S O Z I O L O G I S C H E R E V U E wird regelmäßig in den folgenden Informationsdien- sten erfaßt: International Review of Publications in Sociology (Sociological Abstracts, P.O. Box 22206, San Diego, CA 92122, USA); Sozialwissenschaftliches Literaturinfor- mationssystem SOLIS (Informationszentrum Sozialwissenschaften, Lennestraße 30, 53113 Bonn).

Die in dieser Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Foto- kopien für den persönlichen und sonstigen eigenen Gebrauch dürfen nur von einzel- nen Beiträgen oder Teilen daraus als Einzelkopien hergestellt werden. Jede darüber hinausgehende Vervielfältigung bedarf der Genehmigung des Verlages und ver- pflichtet zur Gebührenzahlung.

Soziologische Revue im Internet www.soziologische-revue.de

OLDENBOURG WISSENSCHAFTSVERLAG GMBH

Gemäß unserer Verpflichtung nach § 8 Abs. 3 PresseG. i.V.m. Art. 2 Abs. lc DVO zum BayPresseG geben wir die Inhaber und Beteiligungsverhältnisse am Verlag wie folgt an:

Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, Rosenheimer Straße 145, 81671 München. Alleiniger Gesellschafter des Verlags ist die R. Oldenbourg Verlag GmbH unter der gleichen Anschrift.

Alleiniger Gesellschafter der R. Oldenbourg Verlag GmbH ist die Cornelsen Verlagsholding GmbH & Co., Mecklenburgische Straße 53,14197 Berlin.

Druck: Oldenbourg Druckerei VertriebsGmbH & Co. KG, Sonnenallee l/II, 85551 Kirchheim Satz: Falkner GmbH, 82266 Inning/A.

Dieses Heft enthält folgende Beilage:

Hamburger Edition: Bestellkarte Neuerscheinung

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X-Texte zu Kultur und Gesellschaft

Denken für und wider die Zeit

Susanne Krasmann, Michael Uolkmer [Hg.]

Michel Foucaults

»Geschichte Sief ßenreriw-

I T i Κ Τ Π f n ί i Η ! OS in lien SoitaSwissensclisHeii internationale Beiträge

Juni 2 0 0 7 , 3 1 4 Seiten, kart.,

28,80 € ,

ISBN 9 7 8 - 3 - 8 9 9 4 2 - 4 8 8 - 1

Susanne Krassmann, Michael Volkmer(Hg.) Michel Focaults »Geschichte der Gouvernementalität« in den Sozialwissenschaften

Internationale Beiträge

Michel Foucaults Konzept der Gouvernementalität ist längst zu einem wichtigen Bestandteil der Debatten in den Sozialwissenschaften und in der politischen Philosophie geworden. Im Herbst 2004 sind nun die vollständig transkribierten Vorlesungen zur "Geschichte der Gouvernementalität" erschienen. Der vorliegende Band unterzieht den Vorlesungstext einer genaueren Lektüre und lotet zugleich die systematische Relevanz der

Gouvernementalität für die Analyse der Gesellschaft der Gegenwart aus.

!

H e i n e r B i e l e f e l d t M e n s c h e n r e c h t e i n d e r E i n w a n d e r u n g s - g e s e l l s c i h a f t

Plädoyer für einen aufgeklärten Multikulturalismus

April 2 0 0 7 , 2 1 6 Seiten, kart.,

22,80 €,

ISBN 9 7 8 - 3 - 8 9 9 4 2 - 7 2 0 - 2

Heiner Bielefeldt

Menschenrechte in der Einwanderungsgesellschaft Plädoyer für einen aufgeklärten Multikulturalismus

Die deutsche Integrationsdebatte hat sich unlängst in den Fallstricken der Auseinandersetzungen um

Parallelgesellschaften und Leitkultur verfangen.

Heiner Bielefeldt plädiert in seinem pointierten Essay dagegen für die Wiederaufnahme eines aufgeklärten Multikulturalismus-Konzepts. Die konsequente Rückbindung an die Idee der Menschenrechte löst dabei die Paradoxien dieses Begriffs auf - etwa die mögliche Begründung autoritärer Milieustrukturen - und stellt ihn auf eine rationale Grundlage.

www.transcript-verlag.de

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Editorial

WERNER RAMMERT

Die Soziologie - was für eine Disziplin ist das eigentlich? Keine Angst! Es folgt keine neue Folge der langweiligen Serien aus deutschen Feuilletons. Es wird keine „Krise der Soziologie" verkündet. Es wird auch nicht nach dem „Wozu"

der Soziologie gefragt. Das Fach ist schon lange erwachsen, schaut man sich die Zeitschriften, Lehrbücher, Monografien und Soziologiekongresse an. Sein Wis- sen wird stark nachgefragt, blickt man auf die in der Öffentlichkeit kursieren- den Konzepte und die in der Politikberatung verwendeten empirischen Ergeb- nisse. Jüngster Beleg dafür ist die Auszeichnung des Kollegen Franz-Xaver Kaufmann mit dem Preis für „Praxisbezug" der Schader-Stiftung, dem höchst- dotierten Preis für Gesellschaftswissenschaften.

Und doch muss sich die Soziologie - gerade weil sie erwachsen ist - immer wieder fragen, was sie im Kern ausmacht. Das erfordert allein schon die wach- sende Vielfalt der Forschungsfelder, die man kaum noch überblicken kann. Das gilt auch angesichts der neuen theoretischen Moden und Methoden, immer wie- der neu zu klären, welche zu einer dauerhaften Neuerung führen und ins gesi- cherte Inventar der Disziplin übernommen werden und welche nur Rander- scheinungen bleiben. Das verlangt auch die Zunahme interdisziplinärer For- schungen an den Rändern des Fachs, welche die Soziologie langfristig nur stär- ken, wenn ihre Ergebnisse wieder in die Disziplin zurückübersetzt werden und von der Theorie als Herausforderungen wahrgenommen werden. Die SOZIO- L O G I S C H E R E V U E leistet als Besprechungszeitschrift dazu einen kleinen, nicht zu unterschätzenden Beitrag: Sie macht diese Vielfalt für die anderen sichtbar, erzeugt so etwas wie eine sich wechselseitig wahrnehmende Wissen- schaftlergemeinschaft. Vor allem aber sorgt sie über die Besprechungen dafür, dass sich im Fach gemeinsam geteilte Wertungen und Wertmaßstäbe herausbil- den und dass geklärt wird, was jenseits paradigmatischer Differenzen gute oder schlechte Soziologie ausmacht und was überhaupt noch oder nicht mehr zur So- ziologie zählt.

Für die Klärung dieser Fragen bietet dieses Heft bedenkenswerte Beispie- le. Da gibt es jemanden an den Rändern der Soziologie, manche werden seine Schriften kaum kennen, die meisten seinen Namen doch immer wieder gehört haben, wieder andere schätzen ihn schon lange, der ein vielbändiges For- schungswerk und auch ein Methodenbuch zur qualitativen Sozialforschung vor- gelegt hat: den Volkskundler und Soziologen Roland Girtler. Wer wissen will, welchen Anteil dieser unorthodoxe Feldforscher an der Etablierung einer eth- nografischen Soziologie hat, der muss Hubert Knoblauchs Essay „Ethnografie und Soziologie - eine verspätete Danksagung an Roland Girtler" lesen.

Die Sozialisationstheorie liegt demgegenüber im Zentrum des Fachs. Die Soziologie der Sozialisation kann auf eine lange Tradition theoretischer Kon- zepte und auf eine reichhaltige empirische Sozialisationsforschung zurückbli- cken. Umso wichtiger ist es für eine reife Disziplin, das Wissen systematisch zu ordnen und theoretisch zu verdichten, in kontrollierte Beziehung zur Empirie zu setzen und seine Beiträge zum Erklären und Verstehen sozialer Phänomene und Probleme zu klären. Inwieweit Matthias Grundmann dies gelungen ist, überprüft Heinz Abels in seinem Besprechungsessay „Auf der Suche nach ei- nem universellen Kern der Sozialisation oder: warum Sozialisation, Interaktion und Lebensführung ein und dasselbe sind".

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222 Soziologische Revue Jahrgang 30 (2007)

U n d was leisten neuere Einführungen in die Soziologie? Zumindest an ih- nen lässt sich doch der Zustand eines Faches ablesen. Jörg Rössel misst sie in seiner Sammelbesprechung „Soziologie zwischen Wissenschaft und Erbauung:

Einführungen in die Soziologie" am strengen Maßstab anderer etablierter Fä- cher, der Geologie und der Sozialpsychologie. Wie die Soziologie dabei ab- schneidet und ob das Modell der Physik dabei hilfreich sein kann, das mögen Sie, werter Leser und werte Leserin, selbst entscheiden!

Empirie und Theorie, das gilt auch für die Soziologie, sollten sich immer wieder aufeinander beziehen. Eine Binsenweisheit zwar, aber doch immer wie- der im spezialisierten wissenschaftlichen Alltag vergessen! Der „Sozialwissen- schaftlichen Mobilitätsforschung zu Beginn des 21. Jahrhunderts" bescheinigt Oliver Schöller viele feine empirische Befunde, aber einen Mangel an Steue- rungstheorie. Umgekehrt fragt man sich nach Melanie Reddigs Doppelbespre- chung „Inklusion und Exklusion", ob der systemtheoretischen Variante der Un- gleichheitstheorie nicht doch ein wenig mehr Auseinandersetzung mit der rauen Empirie zugemutet werden sollte.

Auch die weiteren Besprechungen in diesem Heft der S O Z I O L O G I - S C H E N R E V U E zu den Themen „Theorie", „Arbeit", „Wirtschaft", „Politik"

„Methoden" und „Kunst" wie auch zu den Bereichen „Arbeitsmarkt", „Rechts- extremismus", „Umwelt", „Medizin" und „Jugend" zeugen von der Vielfalt des Faches. A b e r was hält letztendlich die Disziplin im Kern zusammen? Vielleicht ist die Frage nach Kern und Kanon falsch gestellt. Folgt man dem renommier- ten Wissenschaftshistoriker Peter Galison, ließe sich nicht einmal die Physik als eine solche „Einheit" der Wissenschaft beschreiben. Die Einheit einer Disziplin ist eher als eine nützliche Illusion anzusehen, der wir in unseren theoretischen und empirischen Praktiken, unseren konstruktiven und kritischen Geschäften, bei Kontroversen und Begutachtung folgen und dabei unbeabsichtigt herstellen, was wir unterstellen, nämlich die Einheit der Regeln in der Vielfalt der For- schungen. Dass diese Einheit des Faches Soziologie immer wieder neu herge- stellt werden kann, daran haben auch Sie, werte Leser und Leserinnen, ihren Anteil.

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Essays

Ethnografie und Soziologie - eine verspätete Danksagung an Roland Girtler*

H U B E R T KNOBLAUCH

/.

Die Ethnografie schien lange eine Methode der Ethnologie zu sein, und noch heute berufen sich etwas unsichere oder autoritätsgläubige Soziologinnen, wenn sie über Ethnografie schreiben wollen, lieber auf den Begründer der ethnologi- schen Ethnografie, Bronislaw Malinowski, oder den Entdecker der verstehen- den Methode in der Ethnologie, Clifford Geertz, als auf die vielen Vertreter ei- ner soziologischen Ethnografie. In der Tat hat sich im angelsächsischen R a u m und, allmählich, auch im deutschsprachigen R a u m und in Europa eine breite ethnografische Forschung ausgebildet. O h n e zum unbestrittenen und unange- feindeten Establishment der Methoden zu gehören, hat sich die Ethnografie zwar nicht im Zentrum, aber doch am Rande der akademischen Soziologie ein- genistet: Mehrere Soziologie-Professuren stehen im begründeten Verdacht, der Ethnografie verpflichtet zu sein, es gibt eine Reihe ethnografischer Forschungs- projekte in der wissenschaftlichen Soziologie, und in der angewandten For- schung besitzt die Ethnografie mittlerweile einen guten, innovationsverspre- chenden Ruf. Darüber hinaus hat sich eine durchaus sichtbare methodische und methodologische Diskussion in der soziologischen Ethnografie entwickelt, in der sich durchaus unterschiedliche, klar markierte Positionen erkennen lassen.

* Essay zu:

Ehalt, Hubert Christian / Hochgerner, Josef / Hopf, Wilhelm (Hg.), „Die Wahrheit liegt im Feld." Roland Girtler zum 65. Geburtstag. Münster: LIT 2006,256 S., br., 19,90 €.

Girtler, Roland, Methoden der qualitativen Sozialforschung. Anleitung zur Feldarbeit.

Wien u.a.: Böhlau 1984.

Girtler, Roland, Die feinen Leute. Von der vornehmen Art, durchs Leben zu gehen.

Frankfurt am Main: Ullstein 1994.

Girtler, Roland, Die alte Klosterschule. Eine Welt der Strenge und der kleinen Rebel- len. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2000, 296 S„ gb. 23,80 €.

Girtler, Roland, Vom Fahrrad aus. Kulturwissenschaftliche Gedanken und Betrachtun- gen. Münster: LIT 2004a, 248 S„ br., 12,90 €.

Girtler, Roland, 10 Gebote der Feldforschung. Münster: LIT 2004b, 128 S., br., 7,90 €.

Girtler, Roland, Der Strich. Soziologie eines Milieus. Münster: LIT 2004c, 316 S., br., 16,90 €.

Girtler, Roland, Abenteuer Grenze. Von Schmugglern, Ritualen und ,heiligen' Räumen.

Münster: LIT 2006,448, S„ br., 16,90 €.

Soziologische Revue 3«. Jg. 2(K)7

© O l d e n b o u r g Wissenschaftsverlag G m b H , München

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224 Soziologische Revue Jahrgang 30 (2007)

Man sollte nicht unerwähnt lassen, dass die Ethnografie auch beim Nachwuchs noch immer auf größtes Interesse stößt, nicht nur weil sie als besonders „nahe- liegend" erscheint, sondern weil sie auch am ehesten die Berührung mit der Fülle des gesellschaftlichen Lebens bringt, für die sich nicht nur die jungen So- ziologinnnen und Soziologen, sondern auch die gesamte Soziologie begeistern sollte

Die Ausbildung einer soziologischen Ethnografie wird begleitet von einer Entwicklung, die im Rahmen der Ethnologie, Sozial- und Kulturanthropologie stattgefunden hat: D e r Zuwendung der Ethnologie zur eigenen Kultur. Aus- druck dieser Zuwendung ist etwa die E n d e der 1960er-Jahre in Berkeley be- gründete „Urbane Ethnografie", die das Eigene wie das Fremde untersuchen wollte - ein Motiv, das sogar in der deutschen Literatur aufgegriffen wurde (so etwa Rutschky 1984).

Eine zweite Begleiterin der soziologischen Ethnografie sollte nicht ver- schwiegen werden: es handelt sich um die Europäische Ethnologie, also jenes Fach, in das auch die (durch den Nationalsozialismus in Verruf geratene)

„Volkskunde" in ihrer von Bausinger in den 1960er-Jahren erneuerten Form Eingang erhielt. Sieht man von ihrem Gründervater Wilhelm Heinrich Riehl ab, war die Volkskunde zwar nicht gerade für ihre deutliche Betonung des Kerns der Ethnografie, also der teilnehmenden Beobachtung, bekannt. Allerdings wies sie schon immer eine regelrechte Faszination für die Produkte und die (histo- risch nicht immer wissenschaftlich reflektierten) Ansichten ihres Gegenstandes auf, die ihren Ausdruck in einer gründlichen Erforschung der materialen Kultur findet.

An dieser Stelle sollten wir die Soziologie nicht übergehen. Auch wenn die

„soziologische Ethnografie" begrifflich jüngeren Ursprungs ist, ist die Sache der Ethnografie in der Soziologie schon so lange zuhause, dass man sie als (häufig vernachlässigtes) Merkmal der Soziologie ansehen könnte. Wenn man das Chi- cagoer Institut für Soziologie als eine der Gründungsinstitutionen der akademi- schen Soziologie ansehen darf, dann könnte man mit einigem Grunde behaup- ten, dass die Ethnografie zu einer der bedeutenden historischen Linien der So- ziologie zählt. Immerhin sind die ältesten ethnografischen Arbeiten in etwa zeit- gleich mit der zweiten Klassik der Soziologie, also den Arbeiten von Dürkheim, Weber oder Simmel, verfasst worden. Sicherlich, die Chicagoer Schule verwand- te den Begriff der Ethnografie nicht; sie griff vielmehr auf die Tradition der Re- portage zurück, die sie zu wissenschaftlichen Zwecken transformiert (vgl. dazu Lindner 1990). Dennoch sollte man das Fähnchen der Soziologie nicht zu nie- drig stecken. Immerhin ist die teilnehmende Beobachtung, die man als Kern der Ethnografie ansehen darf, eine originär soziologische Erfindung - schließlich wird der Begriff der Ethnografie häufig auch als Synonym für teilnehmende Beobachtung verwendet. Dieser Begriff wird 1924 erstmals vom Chicagoer So- ziologen Lindeman verwendet. Der versteht zwar unter einem Participant Ob- server noch ein Mitglied der von ihm untersuchten Gruppe, das dem außen ste- henden Forscher die Perspektive der Gruppe vermittelt. Doch William Foote Whyte prägt diesen Begriff dann für die Soziologie in der heute bekannten Weise (und so wird er auch danach von Florence Kluckhohn 1940 erstmals in der Ethnologie verwendet).

Der an die Rhetorik der „Transdisziplinarität" gewöhnte Leser - und die ebenso eingestellte Leserin - mag an dieser Stelle fragen, ob den Unterschieden zwischen den Disziplinen hier nicht eine zu große Rolle zugeschrieben wird. In der Tat werden diese disziplinaren Unterschiede in der gegenwärtigen Kakofo- nie der Wissenschaftsrhetorik und -politik für unbedeutend gehalten und gerne

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Essays 2 2 5

übergangen. Für unser Thema aber sind sie, wie wir sehen werden, von einiger Bedeutung. Dazu muss ich das „kleine Narrativ" der soziologischen Ethnogra- fie fortsetzen: Wie weithin bekannt ist, versandet die Chicagoer Schule nach dem zweiten Weltkrieg allmählich - sieht man von einzelnen prominenten Ver- tretern ab, unter denen drei eine besondere Erwähnung verdienen: Everett C.

Hughes, Howard Becker und Erving Goffman. Während Hughes in der Arbeits- soziologie bis in die Workplace Studies hinein nachhallt und Howard Becker sich einen über die Ethnografie hinausgehenden breiteren Ruf verschafft hat, trug in unserem Sprachraum vor allen Dingen Erving Goffman zur Verbreitung der Ethnografie Chicagoer Provenienz bei, ohne als Vertreter dieser Schule wahrgenommen worden zu sein - und ohne auch wirklich ein Vertreter von irgendetwas je gewesen zu sein. Seine Prägnanz, seine Prominenz, aber auch die Radikalität der „Mikrosoziologie" und seine Eingängigkeit liefern die Säfte, von denen die sich allmählich ausbildenden Früchte der hiesigen Ethnografie zehren.

Nicht nur der Name Goffman steht für eine gewisse Kontinuität der Eth- nografie. In der Arbeitsforschung, in der Stadtsoziologie, aber auch unter dem Etikett der Erforschung abweichenden Verhaltens gab es durchaus eine gewisse Kontinuität der Ethnografie, betrachtet man sie als Methode. Unter dem Titel der Ethnografie hielt sie jedoch im Grunde erst ab den 1960er-Jahren Einzug in die Soziologie. Ethnografie wird nun ein Begriff in der soziologischen For- schung im angelsächsischen Raum - und sie wird, wenn auch mit etwas Verspä- tung, ein Begriff der deutschsprachigen soziologischen Forschung.

An dieser Stelle können wir nun vom mythologisch-historischen Teil des kleinen Narrativs der Ethnografie zum biografischen Teil übergehen, denn an dieser Stelle berührt sich das Leben des Forschers, den es hier zu besprechen gilt, mit der historischen Linie der Ethnografie. Das (Wieder-)Aufkommen der Ethnografie im deutschsprachigen Raum ist nämlich sehr wesentlich mit dem Namen Roland Girtler verbunden, und um die soziologischen Gründe für dieses Wiederaufkommen der Ethnografie wie auch ihre besondere Prägung durch Roland Girtler zu verstehen, dürfte ein kurzer Blick auf seine (akademische) Biografie hilfreich sein.

IL

Roland Girtler wurde 1941 in Wien geboren. Seine Familie zog bald nach ins ländliche Spital in Oberösterreich, wo seine Eltern als Gemeindärzte tätig wa- ren. Dort verbrachte er auch seine Kindheit, bis er die Klosterschule Krems- münster besuchte, wo er das Abitur (Matura) ablegte. Es ist durchaus typisch für Girtler, dass er Kremsmünster später ein eigenes Buch widmet, in dem er exemplarisch die Struktur der Klosterschule - als einer Abart der (von Goff- man so bezeichneten) totalen Institution - schildert, wobei er sich sowohl auf eigen Erlebtes, Autobiografisches wie auch auf vielfache Berichte anderer Mit- schüler und einiger Lehrer und Patres beruft. A b 1967 beginnt Girtler an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien zu studieren. Es ist bezeichnen- derweise (nach einem abgebrochenen Versuch in der Jurisprudenz) zuerst die Ethnologie, die es ihm angetan hat. Hier erlernt er die Ethnografie sehr praxis- nah beim Völkerkunder Walter Hirschberg. Daneben studiert er Urgeschichte, ein Fach, das er immer wieder lobend erwähnt, Philosophie und Soziologie.

(Seine erste Publikation erscheint 1970 in einer archäologischen Zeitschrift über frühzeitliche Urnen.) Während des Studiums übt er verschiedene Tätigkei- ten aus - er arbeitet als Statist beim Film, am Wiener Naschmarkt, er ist Bier-

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226 Soziologische Revue Jahrgang 30 (2007)

ausfahrer - und er heiratet. 1971 promoviert Girtler in der Ethnologie. Seine Dissertation behandelt die „Rechtsnormen der souveränen Eingeborenengrup- pe in Nordwestaustralien" und erscheint im Jahr 1971. In den Wintermonaten 1971/72 hält er sich zur Feldforschung in Indien auf, und auch seine weiteren Arbeiten bewegen sich weitgehend im Bereich der Ethnologie: Er behandelt die „demokratische Institution des Panchayat in Indien", Normen und Zwecke primitiver Organisationen, Konservativismus in Indien und, man höre, die Me- thode der Rechtsethnologie (Jus bleibt also nicht ohne Folgen).

Nach seiner Promotion wechselt er in die Soziologie, und peu ä peu schlei- chen sich dann auch soziologische Arbeiten in sein Repertoire: Die Ethnosozio- logie ist ein Revier, das er wissenssoziologisch reflektiert, 1976 schreibt er sogar ein Buch zur Rechtssoziologie. Meine persönliche erste Begegnung mit Girtlers Schriften geht auf etwas zurück, das man ein klassisches Lehrbuch nennen könnte: Die „Kulturanthropologie", die 1979 bei dtv Wissenschaft erschien. Ein streng akademisches Buch, in dem er den Leser mit Ansätzen vertraut macht, die dazumal in Deutschland wenig bekannt waren. (Für mich selbst zählt dieses Buch - neben den Bänden der Arbeitsgemeinschaft Bielefelder Soziologen - zu den wichtigsten Grundlagen für die Zuwendung zur Ethnografie.)

Um diese Zeit, in der Girtler eine Professur für Soziologie an der Univer- sität Wien erhält - kristallisiert sich ein anderer Girtler heraus. Erste Arbeiten zu Ritualen im Alltag entstehen und 1980 erscheint dann das Buch, das seinen Ruf begründen sollte und die Art begründet, die seine Arbeit weiterhin prägen sollte: „Vagabunden in der Großstadt. Teilnehmende Beobachtung in der Le- benswelt der ,Sandler' Wiens." Diese Arbeit weist schon alles auf, was Girtler im Weiteren auszeichnet und berühmt machen soll: die ethnografische Zuwen- dung zur eigenen Kultur, wobei er ein besonderes Augenmerk auf die Randfi- guren oder Randgruppen der Gesellschaft hegt: Als „aufrechter Soziologe"

sucht er die betreffenden Menschen dort auf, „wo sie leben und ihre vom bra- ven Bürger missachtete Tätigkeit ausüben" (Girtler 2004a: 93). Die Sandler (zu deutsch „Penner" oder amtsdeutsch „Obdachlose") gelten ihm als eine eigen- wertige Kultur, der er voller (und immer wieder ausgedrückter) Hochachtung seine ethnografische Aufmerksamkeit zuwendet: Girtler spricht nicht nur mit den Leuten (und dabei nimmt er die Sprache selbst sehr genau unter die Lupe, wie seine Untersuchungen zum Rotwelsch zeigen), er geht zu ihnen hin, er zollt ihnen Anerkennung und Respekt, ja lebt - mehr oder weniger lange - mit ihnen mit. Sensationell ist dabei schon die bloße Bandbreite der Felder, die er in sei- ner Forschung abdeckt: Von den Sandlern zog es ihn direkt zur Polizei, um sich sogleich der kriminellen Karriere des nachgerade berühmt gewordenen Pepi Taschner zuzuwenden. Der Weg zum Strich - einer seiner populärsten Ethno- grafien - ist von dort nicht mehr weit. Doch auch die feinen Leute, die Sprache und Lebenswelt der Vaganten, das Leben einer Wiener Jüdin, die Welt von Landärzten, Bergbauern und Wilderern oder die „Landler" in Siebenbürgen sind nur Beispiele für die Breite der sozialen Wirklichkeit, die er sich ethnogra- fisch erschloss.

Zur Ethnografie, zur Zuwendung zur eigenen Gesellschaft und der Fokus- sierung auf Randgruppen kommt ein weiterer Aspekt, der vor allem in seinen späteren Arbeiten mitschwingt: Sind es zu Anfang Ethnografien über Gruppen, die ebenso in Chicago hätten gefunden werden können (Obdachlose, Prostitu- ierte, Diebe, Schmuggler), so haftet seiner Wahl der Felder immer wieder (und zunehmend) auch etwas Folkloristisches, ja etwas Österreichisch-Katholisches an. Eine lange Passion verbindet ihn mit den Wilderern, deren Rebellentum er so verehrt, dass er sogar ein Wilderer-Kochbuch veröffentlicht. Ein weiteres

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Essays 227

Buch widmet er den „echten Bauern", die sich der Industrialisierung der Land- wirtschaft verweigern. Sieht man das Österreichische nicht schon in seiner im- mer etwas Wienerischen Themenstellung, so tritt es in der katholischen Prägung mancher seiner Themen erkennbar hervor: Etwa in der erwähnten Aufarbeitung der „Klosterschule" oder in seiner ehrerbietigen Studie über die Pfarrerskö- chinnen. Man sollte dies nicht einfach als Hang zum Küchenpersonal, zum „ein- fachen Volk" und dem „echten Leben" ansehen, wie es Girtler selbst stilisiert.

Denn auch die „feinen Leute" finden sich in seinen Büchern wieder, wobei sich der überzeugte Republikaner und Demokrat Girtler sogar in die Gefilde des europäischen Hochadels begibt. Vielleicht ist das Durchgängige seiner vielen Ethnografien, dass sie zum Exotischen neigen. Der aus der Ethnologie kom- mende Girtler sucht sich in der eigenen Gesellschaft offenbar die Felder aus, die noch am ehesten fremdartig, eben exotisch sind. Das ist gekennzeichnet durch die Marginalität und Randständigkeit im Sinne dessen, was noch vor wenigen Jahren auch von der Soziologie unbezweifelt als „abweichendes Verhalten" be- zeichnet wurde, als die Normen und Werte noch einheitlich und in Ordnung schienen: Prostitution, Diebstahl, Stadtstreicher und Schmuggler etwa fallen un- ter diese Rubrik.

Das Randständige, dem sich Girtler widmet, weist jedoch auch noch einen weiteren Aspekt auf: Schon die Wilderer sind zwar „abweichend", zugleich aber auch eigenartig „altmodisch". Das gilt auch für die die Bergbauern, die „echten Bauern" oder die Pfarrersköchinnen. Sie sind keineswegs randständig im Sinne des „Abweichenden", sondern repräsentieren vielmehr etwas, das man als tradi- tionell ansehen könnte. Damit blickt Girtler auf etwas, das die Soziologie gerne der Volkskunde überlässt. Während die Soziologie sich seit Comte ja gerne den neuesten Trends zuwendet und sie - von der Industriegesellschaft bis zur be- schleunigten Gesellschaft - gerne und rasch zur Gesellschaftstypik verallgem- einert, scheint Girtler jene Gruppen in den Blick zu nehmen, die in der moder- nen Gesellschaft immer noch existieren. So folgt er den Spuren des schon er- wähnten, von ihm hoch verehrten Wilhelm Heinrich Riehl. Allerdings geht er nicht mehr zu Land und Leuten - er fährt mit dem Fahrrad oder empfiehlt den Öffentlichen Verkehr als die entschleunigte Form der Entdeckung der Welt so- gar als eine Technik der Feldforschung. Diese Nähe zur Volkskunde macht aus dem ethnologischen Soziologen Girtler einen echten Transdisziplinären - aller- dings verleiht es ihm unter den habituell modernistischen Soziologen immer auch etwas den Hauch des Bodenständigen, ja Altfränkischen.

Girtler bekommt den Gegenwind der modernistischen Soziologie durchaus zu spüren: Eine breite Anerkennung „im Fach" bleibt ihm versagt; er bleibt

„Exot" - ein Image, das er mit seinen Auftritten durchaus auch zu pflegen weiß.

In seinen Büchern dagegen wehrt er sich mit einer zuweilen heftigen Polemik gegen die ihn unverständlich dünkende Soziologie, die sich mit ihrer Fachspra- che, ihrer „Liturgiesprache" gegen die Öffentlichkeit und die einfachen Leute abschotte bzw. den Gegenstand durch den ,Diskurs sinnlos verschütte' (Girtler 2004b, 100): „Die Priester der Wissenschaft", so bemerkt er (2004a: 39) fast bö- se, „sind somit Leute mit wenig Witz, die Angst haben, durchschaut zu werden."

Obwohl er auch gerne auf Rene König verweist, der ihn noch zu seinen Lebzei- ten als einen ursoziologischen Forscher adelte, fühlt er sich von der Soziologie nicht geliebt, und die sich verstärkende Welle der qualitativen Forschung beob- achtet er mit Misstrauen, ja Mißgunst: Zu hochgestochen, zu abgehoben, zu viel abstrakte Wörter für zu wenig aufgezeigte Wirklichkeit der Menschen wendet er ein (durchaus auch im Chor der einfachen Leute). Im Kontrast hat er ja Recht, denn seine Bücher sind von einer geradezu erschlagenden populären

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228 Soziologische Revue Jahrgang 30 (2007)

Verständlichkeit, die sich in der späteren Zeit noch verstärkt. Immer weniger scheint er Bezüge zur soziologischen Forschung herstellen zu wollen, immer mehr interessiert ihn die Stimme des „edlen" Volkes. Wir haben es also mit ei- nem durchaus populären Buch-Autoren zu tun, dessen Bücher großen Anklang weit außerhalb der Fachwissenschaft fanden und noch immer finden. Dieser po- puläre Girtler tritt auch als Autor volkskundlicher und kultureller Aufsätze auf, dem es gelungen ist, ein großes Publikum für die randständigen Themen zu ge- winnen.

Neben diesem populären Buch-Girtler gibt es allerdings noch einen ande- ren Girtler, den wir schon zu Beginn seines Werkes kennenlernten. Dieser

„Girtler" nimmt das geschmähte Wort von der „Kommunikation" sogar in den Titel eines Aufsatzes auf, er wendet sich dem „abweichenden Verhalten" zu, be- handelt das Problem der Hermeneutik, der Ethnohistorie und der biografischen Methode, räsoniert soziologisch über das „Problem der Ehre", die „Vielfalt der Normen", der „Subkultur" oder der „Milieutheorie" (Girtler 2004c, Kap. VII).

Dieser andere Autor ist der wissenschaftliche Girtler, der sich in Texten und Vorträgen durchaus dem „Diskurs" aussetzt, gegen den der populäre Girtler so gerne polemisiert. Dieser Girtler tritt, trotz aller Polemik, auch in der populären Gestalt mit auf und liefert damit auch einen wichtigen Beitrag zur Popularisie- rung der Wissenschaft.1 Ich nenne ihn einen wissenschaftlichen Girtler, denn disziplinar lässt er sich ungern festlegen. (Er selbst bezeichnet sich zuweilen als

„Soziologen" und „Soziologen und Kulturwissenschaftler", neuerdings zuweilen auch nur als „Kulturwissenschaftler", doch wendet er sich in einem wissen- schaftlichen Beitrag auch gegen die unselige Trennung von Ethnologie und So- ziologie). Er ist zwar Professor für Soziologie, doch die Ethnologie bleibt ihm eine nahe Heimat, und auch die Volkskunde und die (auch Sprach-) Geschichte liegen durchaus in seinem Nahbereich.

D e r wissenschaftliche Girtler, der auch im populären Girtler steckt (und vi- ce versa), zeichnet sich nicht nur durch seinen ethnografischen Ansatz und die besondere Wahl der Themen aus. So sehr er sich gegen die Theorie wehrt, so möchte er durchaus zur Theorie und zur Wissenschaft beitragen. So bettet er viele seiner Studien in eine analytische Fragestellung ein: Er nimmt also wissen- schaftliche Begriffe auf (wie etwa „abweichendes Verhalten"), die er durch sei- ne Beschreibungen erhellen und spezifizieren möchte, und er nimmt analytische Gedanken auf, die er auch über ganze Bücher hindurch an zahlreichen Exem- peln erörtert und füllt: So ist ihm das Problem der „Grenze" ein eigenes Buch wert, in dem er sich (natürlich mit dem Fahrrad) an verschiedenen Landes- Grenzen entlang bewegt, um etwa Schmuggler zu befragen, Formen der Grenz- übertretung beschreibt oder grenzüberschreitende Rituale historisch rekonstru- iert. Zuweilen hat man den Eindruck, die Fülle der Beschreibungen dienten ei- ner formalen Soziologie im Sinne Simmeis, wären da nicht die impliziten und gelegentlich auch expliziten Hinweise auf die Arbeiten Goffmans (der ja auch ein entschiedener Simmelianer war).

In der Tat überschneidet sich Girtlers Forschung an vielen Stellen mit den Arbeiten Goffmans - und geht darüber auf zweierlei Weise hinaus. In theoreti- scher Hinsicht betont Girtler immer wieder (und anknüpfend an Cassirer) die These vom „animal ambitiosum": Ein wenig wie Goffmans Selbst-Darsteller strebt der Mensch für Girtler nach Beifall, und ähnlich wie er sich sein „Ge- sicht" durch Rituale sichert, will das animal ambitiosum sogar seine „Heilig- keit" geachtet wissen. Während jedoch Goffman vor allem auf die Rituale ach- tet, blickt Girtler auch auf die Grenzen, die mit diesen Ritualen hergestellt wer- den. Girtler unterscheidet dabei Grenzen ersten Grades, die Wirklichkeiten und

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Essays 229

Menschen unterscheiden, von den Grenzen zweiten Grades, die überschritten werden können, und Grenzen dritten Grades zwischen alltäglichen Interak- tionsräumen (Girtler 2006).

Die Kulturwelt steckt nicht nur voller Symbole, die dem Menschen eine Orientierung verleihen. Symbole dienen auch dazu, Grenzen zu ziehen und Grenzen zu setzen, die es den Menschen auch erlauben, sich von anderen Men- schen abzuheben. Es geht hier jedoch nicht um eine Absetzung der Einzelnen oder um eine soziokulturelle „Distinktion" ganzer sozialer Gruppen: Girtler hat immer die Rituale im Auge, mit denen die Grenzen gesetzt, bestätigt oder über- schritten werden - ist doch das „menschliche kulturelle Handeln vorrangig durch den Drang nach Vornehmheit, nach Beifall bestimmt" (Girtler 1994:11).

Der Unterschied zu Goffman macht sich an einem zweiten Merkmal fest:

Während sich Goffman im Grunde nur einmal (und eher wider Willen) zu aus- drücklichen Bemerkungen über die Methode (der Feldforschung) hinreißen ließ (Goffman 1996), legt Girtler schon von Anfang an sehr großen Wert auf die ausdrückliche Beschreibung der Methode. Schon 1984 veröffentlicht er seine er- ste „Anleitung zur Feldarbeit" (die Girtler ausdrücklich mit der Arbeit der Bau- ern vergleicht), und seine „Zehn Gebote der Feldforschung" sind erst unlängst in einer neuen Auflage erschienen. Keine Frage: es handelt sich hier nicht um ein Beispiel der üblichen trockenen Methodenliteratur, wie sie derzeit die fern- beratungswillige Doktorandenschaft überschwemmt. Girtlers Methodentexte sind nicht nur anschaulich, sondern zeugen auch von seiner methodischen Ei- genständigkeit, ja Eigenwilligkeit. Dass man sich unter die untersuchte Popula- tion begeben, ein Forschungstagebuch führen und ein solides Wissen über diese Population haben sollte, ist sicherlich keine Besonderheit der Girtler'schen Vor- gehensweise. Dass man sich aber unter ihnen (möglichst ohne Auto, aber mögli- cherweise mit Dackel) bewegt, zecht, mitleidet und mitbetet, gehört schon eher zu den Besonderheiten der Girtler'schen Ethnografiemethode, die man durch- aus als hingebungsvoll bezeichnen könnte. Ein Ausdruck dieser Hingabe ist si- cherlich auch seine Erfindung des „ero-epischen" freien Gesprächs. Anstelle Interviews (auch des von ihm angefeindeten „qualitativen" oder „narrativen Interviews"), das seine Herkunft aus dem Verhör nie so ganz verhehlen kann, empfiehlt Girtler ein symmetrisches Gespräch, das den Befragten nicht zum Da- tenlieferanten degradiert. Noch mehr: Girtler betont den entschieden ethischen Aspekt der Feldforschung: Nicht nur sollte der Feldforscher großzügig, beschei- den und hart arbeitend sein (die Kunst des Jonglierens schadet auch nicht), vor allem verdienten die Untersuchten Respekt, Anerkennung und Hochachtung, derweil der Forscher mit gebotener Demut an sein Werk gehen soll. (Ohne in- des blauäugig zu sein und die Möglichkeit, belogen zu werden, auszuschließen.) Die grundlegende ethische Ausrichtung ist sehr deutlich, steht doch über all sei- nen Geboten, wie sein Lehrer Wernhart (2006: 27) formuliert, das urchristliche Gebot der Liebe zum Menschen.

Dieser ethische Aspekt tritt keineswegs nur in Girtlers Methodenbüchern auf; er zieht sich durch vor allem durch die Epitheta (ein Fremdwort, das Girtler wegen seiner griechischen Herkunft möglicherweise gelten ließe) seiner Texte, vor allem seiner populären Bücher: Der Wilderer etwa ist ihm ein „sozialer Re- bell", der stolz für die Entrechteten zur Waffe greift, es werden die „stolzen"

Wilderer ebenso gewürdigt wie die „echten Bauern", andere Untersuchte sind

„edel" und „vornehm", selbst Feldforscher können „prächtig" sein, und ihre Helfer dürfen als „gütig" bezeichnet werden. Seine „Poesie der verständlichen Sprache" ist mit einer durchaus wertenden Begrifflichkeit durchsetzt, denn

„erst eine Wissenschaft, die sich mit offenem Herzen dem Menschen zuwendet

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230 Soziologische Revue Jahrgang 30 (2007)

und mit leichtem Lächeln seine Tricks, Schwächen und auch Bösartigkeiten be- schreibt und deutet", kann dazu verhelfen, „die Herzen der Menschen zu öff- nen" (Girtler 2004a: 38).

Die Ethik macht auch vor der Person Girtler keinen Halt. Schon in der Klosterschule entpuppt er sich in seiner eigenen Rekonstruktion als ein „Re- bell" (Girtler 2000); auch an anderen Stellen würdigt er immer wieder das Re- bellentum. Dieses Rebellentum, das etwas an den „Anarchen" Jüngers erinnert, wendet sich nicht gegen den Staat, sondern gegen die etablierte, den Menschen begrenzende Ordnung im Nahbereich der Menschen. Feldforschung ist nicht nur Ethik, sondern auch Lebensform. Der Feldforscher ist ein Vagant, ein Pil- ger. Es ist sicherlich kein Zufall, dass Girtler sich mit dem Pilger identifiziert, den man nicht nur als christliche Figur, sondern auch als eine Sozialfigur der Postmoderne ansehen kann. In der Tat erfüllt seine Methodologie eine Reihe von Forderungen einer postmodernen Ethnografie: Sie ist erfüllt vom Respekt vor dem Anderen, sie weicht der unvermeidlichen Ethik nicht aus und sie blickt in eine plurale Kultur, die den Feldforscher als einen bescheidenen Dol- metscher versteht: Er definiert seinen Gegenstand nicht autoritativ, sondern übersetzt nur von einer Kultur in die andere. Damit soll nicht behauptet wer- den, es handele sich um eine postmoderne Ethnografie, sondern dass diese Eth- nografie vielleicht wegen ihres Girtler'schen Zuschnitts auf besondere Weise zeitgemäß ist. So ist seine Verdammung des Autos durchaus attraktiv, wenn über die C02-Sünden gesprochen wird, und seine Verurteilung der Industriali- sierung der Landwirtschaft findet zu Zeiten der Bio-Produkte sicherlich offene Ohren - ohne dass er solche platten politischen Sympathien ausdrücklich such- te.

I I I .

Schon die Eigenart der Girtler'schen Ethnografie verleiht ihr einen hervorhe- benswerten Eigenwert. Eine besondere Anerkennung verdient sie jedoch, weil es Girtler war, der die Ethnografie überhaupt wieder halbwegs hoffähig machte.

Hoffähig in der Wissenschaft, aber auch in der Öffentlichkeit. Girtler war, so- weit ich sehe, der erste deutsche Autor, der die Ethnografie zu seinem Metier machte und der ihr auch erstmals ein eigenes soziologisches Methodenbuch widmete. Damit steht Girtler in der Hauptlinie des kleinen Narrativs, das unter- brochen wurde, um sein Werk zu skizzieren. Girtler führt das Werk der Ethno- grafie in einer Weise fort, die durchaus einer Neuerfindung einer soziologischen Ethnografie entspricht. Und in Girtler verbinden sich denn auch die unter- schiedlichen Aspekte der Ethnografie.

Diese Ethnografie steht zum einen deutlich in der Linie der soziologischen Ethnografie, indem sie sich (zunächst) den klassischen Themen der Chicagoer Schule zuwendet und sie gleichsam ins Wienerische übersetzt. Sie zeugt aber auch vom massiven Einfluss der Ethnografie, der in der Generatin Girtlers un- übersehbar ist und sich in der soziologischen Ethnografie bis in die These der Befremdung hinein sedimentiert hat. Die Ethnologie hatte ja in den 1970er-Jah- ren einen regelrechten Boom erlebt, der in der beinahe kultischen Verehrung der Schriften von Frazer, von Castanedas und auch der verschiedenen „exoti- schen Blicke" auf die eigene Kultur gipfelte.2 Es ist vermutlich der Übergang von der Ethnologie in die Soziologie, der zu einer besonderen thematischen Wahl führt: Die Bevorzugung des Exotischen oder Randständigen. Denn aus der Sicht der akademischen Mittelschichtskultur fällt es leichter, die Obdachlo- sen, Adligen oder Ganoven als „fremde" Kultur zu beschreiben.

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Essays 2 3 1

Girtlers Ethnografie lebt aber - ebenso wenig wie die soziologische Ethno- grafie insgesamt - von der Befremdung. Sie lebt vielmehr ganz wesentlich von der Binnenperspektive. Das Leben der Anderen selbst mitzuleben und dieses Mitleben zu beschreiben, ist ihr pathetischer Kern. Dass diese Binnenperspekti- ve auch den Ethnologen und seine Kultur mit einbezieht, kommt in den volks- kundlichen Zügen dieser Ethnografie zum Tragen, dem Wienerischen, Österrei- chischen und „Katholischen".

Das „Katholische" darf hier durchaus im nicht-kirchlichen Sinne verstan- den werden, denn Girtlers Ethnografie hat durchaus einen sehr allgemeinen Anspruch. Es handelt sich nicht um Reportage oder Journalismus, sondern um Wissenschaft, die auf das Allgemeine zielt, auf eine eigene Kulturtheorie: Die ethnografische Beschreibung der verschiedenen Kulturen ist nötig, weil die ei- gene Gesellschaft aus vielfältigen Kulturen besteht. Die Ethnografie ist also die Methode einer Gesellschaft, die selbst Vielheit erzeugt und sich beobachten möchte.

Roland Girtler hat also die Ethnografie wieder zum Leben erweckt. Er hat ihr einen sehr lebendigen Geist eingehaucht und sein eigenes Gepräge gegeben.

Uns später Geborenen hat er es damit erleichtert, Ethnografie zu treiben, ja er hat Spuren gebahnt, in denen wir gehen lernen konnten. Auch wenn ich ahne, wie er sich über meine akademisch vertrackte Sprache ärgert, so hoffe ich doch, dass er, der so häufig seine Bücher zur Gratulation nutzt, die Gratulation auch vieler Soziologinnen und Soziologen durch meine Worte hindurchhört. Wenn mir - als geborenem Vorderösterreicher - an dieser Stelle etwas Schmäh gestat- tet ist: Meine Anerkennung, meine Hochachtung, meine Verehrung, lieber Ro- land Girtler\

Literatur:

Benda-Kahri, Silvia (2004): Bibliographie Prof. Dr. Roland Girtler, in: Hubert Christian Ehalt/Josef Hochgerner/Wilhelm Hopf (Hg.): „Die Wahrheit liegt im Feld." Roland Girtler zum 65. Geburtstag. Münster: LIT, S. 227-244.

Goffman, Erving (1996): Über Feldforschung, in: Hubert Knoblauch (Hg.): Kommunikati- ve Lebenswelten. Zur Ethnografie einer geschwätzigen Gesellschaft. Konstanz:

U V K , S. 261-269.

Lindner, Rolf (1990): D i e Entdeckung der Stadtkultur. Soziologie aus der Erfahrung der Reportage. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Rutschky, Michael (1984): Zur Ethnografie des Inlands. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Stein, Gerd (1984): Exoten durchschauen Europa. D e r Blick des Fremden als ein Stilmit- tel abendländischer Kulturkritik. Frankfurt am Main: Fischer.

Wernhart, Karl R. (2004): „Über allen G e b o t e n steht das der Liebe", in: Hubert Christian Ehalt/ Josef Hochgerner/ Wilhelm Hopf (Hg.): „Die Wahrheit liegt im Feld." Roland Girtler zum 65. Geburtstag. Münster: LIT, S. 20-29.

Anmerkungen

1 D i e s e Unterscheidungen sind auch möglich, weil Roland Girtler schon bis heute ein immens umfangreiches Werk verfasst hat. Seine Publikationsliste umfasst weit über 30 Bücher und unzählige Aufsätze. Eine umfassende Übersicht seiner Publikationen bis zum Jahre 2004 findet sich in Benda-Kahri (2004).

2 D a z u gehören Wiederauflagen verschiedener ethnografischer Travestien, wie sie etwa in dem Sammelband von Stein (1984) in Auszügen aufgeführt sind.

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232 Soziologische Revue Jahrgang 30 (2007)

Auf der Suche nach einem universellen Kern der Soziali- sation oder: warum Sozialisation, Interaktion und Lebensführung ein und dasselbe sind*

H E I N Z A B E L S

Der letzte Überblick über den interdisziplinären Stand der Sozialisationsfor- schung hat es wieder mal beklagt: Zwar hätten die Veröffentlichungen zum The- ma in den letzten dreißig Jahren erheblich zugenommen und man könne „wohl von einem expandierenden Paradigma sprechen", aber „jenseits des locker ge- brauchten Begriffs ,Sozialisation"' verfüge die Zunft „kaum über einen diese Forschungen verbindenden, gesicherten und konsensuellen theoretischen Hintergrund (...), geschweige denn über eine Theorie" (Geulen u. Veith 2004, VII). Wenn nun einer der Autoren, der an diesem Überblick seinerzeit maßgeb- lich beteiligt war, Matthias Grundmann, zwei Jahre später schreibt, dass es nun

„Zeit wird, eine allgemeine Theorie zu formulieren" (2006, 7, Hervorhebung H.

Α.), darf man gespannt sein. Wenn er aber gleichzeitig sagt, sie basiere „auf ei- ner streng mikrosozialen Herleitung aus den Interaktionen zwischen Akteuren"

(11), darf man auch ein bisschen überrascht sein.

Sozial machen und integrieren, sich vergesellschaften und produktiv gestalten

Um etwas gegen die expandierende Theoriediskussion zu tun, will Grundmann einen Bogen zwischen „zwei groben Sichtweisen" von Sozialisation spannen, die einmal „die soziale Integration von Individuen in die Gesellschaft" um- schreiben und andererseits thematisieren, „wie Individuen zu sozialem Handeln befähigt und in die Lage versetzt werden, sich aktiv an der Gestaltung des Zu- sammenlebens zu beteiligen". (9)

Der Spannungsbogen besteht seit der ersten allgemeinen Verwendung des Begriffs „socialize" im Oxford Dictionary of the English Language aus dem Jahre 1828, wo er als „to render social, to make fit for living in society" definiert wurde (Clausen 1968, 21), und der ersten soziologischen Verwendung durch Ge- org Simmel, der „die Form und Formen der Vergesellschaftung", die „Socialisie- rungsformen", zum eigentlichen Thema der Sociologie (1894, 54) erklärt. „Ge- sellschaft im weitesten Sinne", das sollte auch noch in Erinnerung gerufen wer- den, ist für ihn „offenbar da vorhanden, wo mehrere Individuen in Wechselwir- kung treten" und „Wechselwirkung" ist nur ein anderes Wort für „Vergesell- schaftung" (ebd.) zwischen diesen Individuen.

* Essay zu: Matthias Grundmann, Sozialisation. Skizze einer allgemeinen Theorie. Kon- stanz: U V K Verlagsgesellschaft U T B 2006,283 S„ br„ 17,90 €.

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Essays 233

Bekanntlich hat diese zweite Sicht, vom Individuum aus zu denken, in der Sozialisationsdiskussion lange Zeit keine Rolle gespielt. Die hielt sich eher an Emile Dürkheim, nach dem die Gesellschaft ihr Geschäft, die Individuen in die gesellschaftliche Ordnung zu integrieren, über den sanften Zwang der Gewöh- nung an die richtigen Formen des Denkens und Handelns betreibt und über methodische Sozialisation (1903, 46) zu vollenden habe. Letztere ist übrigens nicht allein der Tatsache geschuldet, dass die arbeitsteilige Gesellschaft den Menschen so ausbilden muss, „wie ihn ihre innere Ökonomie braucht" (44), sondern auch der Tatsache, dass einem von Natur aus „egoistischen und asozia- len Wesen ein anderes Wesen" systematisch hinzugefügt werden muss, „das im- stande ist, ein soziales und moralisches Leben zu führen" (47)! Auch für Talcott Parsons ging es vorrangig um die Frage, wie Individuen in eine bestehende sozi- ale Ordnung integriert werden können. Das gelingt nur, wenn sie eine „adäqua- te Motivation zur Partizipation an sozial bewerteten und kontrollierten Formen des Handelns" (1966, 24) entwickeln und aufrechterhalten. Die entsprechenden Ausführungsbestimmungen hat Parsons in seiner Rollentheorie vorgelegt (vgl.

ζ. B. 1945, 54ff.).

Wie der Prozess der Sozialisation aus der Sicht des Individuums aussieht, wie es sich auf die Gesellschaft einstellte und vor allem, wie die Individuen untereinander in Beziehung treten und dabei soziale Formen ausbilden, also so- zusagen Gesellschaft herstellen, das wurde in nennenswertem Umfang erst seit den 1980er-Jahren in Deutschland diskutiert. Interessanterweise spielte in diese Diskussion ein Buch hinein, das viele zunächst einmal gar nicht als Sozialisa- tionstheorie gelesen hatten, das Buch von Peter L. Berger und Thomas Luck- mann über „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit" (1966). Dort wurde gezeigt, was die Gesellschaft tut, um Individuen zur Zustimmung zu be- wegen, aber auch, wie handelnde Akteure gesellschaftliche Wirklichkeit für sich und miteinander konstruieren, Gesellschaft also fortlaufend schaffen. Eines der wichtigsten theoretischen Dokumente, in dem diese Diskussion und die dort herangezogenen Theorien aufgegriffen wurden, ist der Aufsatz von Klaus Hur- relmann über „Das Modell des produktiv realitätsverarbeitenden Subjekts in der Sozialisationsforschung" aus dem Jahre 1983.

Sozialisation ist soziale Praxis, die sich im sozialen Miteinander der Akteure etabliert

Die neue Frage der Sozialisationstheorie ist seit damals, wie sich Individuen in die oder besser: zu so etwas wie Gesellschaft oder etwas Kleinerem der sozialen Art integrieren. Neue Fragen haben es an sich, dass sie alte, wie ζ. B. die Frage, wie Gesellschaft funktioniert und welche Folgen sich aus ihren Strukturen erge- ben, hinter sich lassen oder alte Antworten in neues Licht tauchen. Das sollte man bedenken, wenn Grundmann fragt, „ob sich trotz des großen Bedeutungs- hofs von Sozialisation ein universeller Kern bestimmen lässt, (...) der sich als Ausgangspunkt einer allgemeinen Theorie der Sozialisation nutzen lässt" (30).

Die Suche konzentriert sich auf soziologische und andere Theorien, die man im Geiste des Paradigmenwechsels der 1980er-Jahre lesen kann. In diesen Theorien findet Grundmann trotz aller Differenzen die gemeinsame Annahme, „dass So- zialisation Interaktion voraussetzt" und (leider ist der Text an dieser entschei- denden Stelle verstümmelt!) auf „Dispositionen des Menschen zur Reflexion, zur Koordination und zur Verständigung" (30) aufbaut. Deshalb schlägt er vor,

„Sozialisation zunächst als eine soziale Praxis zu bestimmen, die sich durch das Zusammenleben von Menschen etabliert" (30, Hervorhebung im Original).

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234 Soziologische Revue Jahrgang 30 (2007)

Die soziale Praxis konstituiert sich erst „im sozialen Miteinander der Ak- teure", und das sei „der eigentliche Sozialisationsprozess" (27 Anm. 11)! Konse- quenterweise spricht Grundmann an anderen Stellen auch von „sozialisatori- scher Interaktion". Soziale Integration heißt deshalb auch nicht, bestimmte Wer- te verinnerlicht zu haben, soziale Rollen nach gesellschaftlicher Vorschrift zu spielen oder seinen Platz in der Gesellschaft gefunden und akzeptiert zu haben, sondern meint einen fortlaufenden sozialen Prozess, in dem sich Individuen auf- einander beziehen und aneinander binden oder gebunden werden und dabei ei- ne gemeinsame Praxis entwickeln. Sozialisation ist für Grundmann demnach

„soziale Praxis der Bezugnahme", und folglich sei „für die Formulierung einer allgemeinen Theorie der Sozialisation herauszuarbeiten, wie sich Menschen in ihrem Zusammenleben aufeinander beziehen und dabei Fähigkeiten des Um- gangs erwerben, die es ihnen ermöglichen, sich in ihrem Zusammenleben wech- selseitig zu ergänzen und zu stützen" (10).

Damit ist auch klar, welche soziologischen Perspektiven er vor allem ein- nehmen wird. Sie stehen für eine Soziologie, die sich in der Tradition von Geor- ge Herbert Mead mit seiner These von der gegenseitigen Rollenübernahme, der phänomenologischen Soziologie nach Alfred Schütz und seiner Generalthese der wechselseitigen Perspektiven, von Peter L. Berger und Thomas Luckmann mit ihrer protosoziologischen Theorie der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit und schließlich von Jürgen Habermas und seiner Theorie des kom- munikativen Handelns sieht. In diesen Theorien wird unterstellt, dass Indivi- duen in Wechselwirkung untereinander stehen, einander verstehen und das auch wollen, dabei anzeigen, wer sie sind und wie sie die Bedingungen ihres Handelns sehen, und mehr oder weniger bewusst aushandeln, wie die gemeinsa- me Praxis, die Grundmann gelegentlich auch als „gemeinsame Lebensführung"

(ζ. B. 32) bezeichnet, weitergehen soll.

Ohne Verständigung kein bejahenswertes Leben

Individuen beziehen sich aus den unterschiedlichsten Gründen aufeinander. Oft passiert es zufällig, und viel öfter kann man es gar nicht vermeiden. Nehmen wir aber den Fall, dass sie soziale Beziehungen intendieren, dann muss man fragen, in welcher Absicht sie das tun. Statt sich auf eine Diskussion über einschlägige Theorien einzulassen, nach denen Individuen nur brav die Rollen spielen, die in der konkreten Situation anstehen, oder kalkulieren, welchen Nutzen sie aus ihr ziehen, wählt Grundmann eine Erklärung, die man wohl als mindeste anneh- men muss: Die Handlungsbezüge entstehen „mit der Absicht (...), eine verläss- liche soziale Beziehung aufzubauen" (31). Doch selbst das gelingt nicht von selbst, sondern die Akteure müssen es können und wollen: „Die soziale Bezu- gnahme erfordert (...) eine gewisse Verständigung, Koordination und die Be- reitschaft der Akteure, sich auf eine gemeinsame Handlungsebene, nennen wir sie eine gemeinsame Lebensführung, einzulassen." (32) Das vorausgesetzt be- deutet sozialisatorische Interaktion fortlaufende Ko-Konstruktion von Alltags- wirklichkeit und verbindlicher Praxis.

Grundmann nennt sie auch „Sozialisationspraxis", und dieser Begriff ist bei ihm in voller Absicht positiv konnotiert. Ziel ist nämlich ein »bejahenswertes«

(52) Leben. Das ist gut so, und man kann es nur begrüßen, wenn soziologische Theorien ihre praktische Relevanz bis hin zur Anleitung zum guten und gerech- ten Handeln aufzeigen. Man muss sich allerdings hüten, die diffuse Grenze zwi- schen Theorie und Forderung einer guten Gesellschaft just dadurch zu ent- schranken, dass man diese aus jener ableitet. So wird man Grundmann unbe-

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Essays 235

dingt zustimmen, wenn er sagt, „die soziale Bezugnahme und die Gestaltung von Sozialbeziehungen in und durch sozialisatorische Interaktionen" sei „zen- trales Gestaltungsprinzip sozialer Lebenspraxis" (54). Doch kann man sagen, dass sich „daraus wiederum" (sie! Η. A.) „Ansprüche an eine ,gute' Gesell- schaft herleiten" lassen, „in der Menschen ihr Handeln und ihre soziale Bezie- hungen so ausrichten, dass sie für den Einzelnen optimale Entwicklungsoptio- nen bieten und ihn dazu befähigen, seine Kompetenzen in den Dienst der ge- meinsamen Lebensführung zu stellen, die der gesellschaftlichen Wohlfahrt dient" (54)? „Wiederum" verdankt sich keiner wissenschaftlichen Logik, son- dern spezifischen, impliziten „Hintergrundannahmen" (Gouldner 1970,40), von denen auch Wissenschaftler nicht ganz frei sind. Auch etwas anderes sollte man noch bedenken: Gegen die Hoffnung, die mit Bewertungen immer verbunden ist, stehen möglicherweise falsche, „unversöhnte" Verhältnisse! Auch eine Sozia- lisationstheorie, die die Entstehung des Sozialen aus den Interaktionen erklärt, kann diese Frage auf Däuer nicht den Gesellschaftsdiagnostikern überlassen.

Selbst in individualisierten Gesellschaften fühlen sich die Menschen verbunden

Kommen wir zurück auf die These, „sozialisatorische Interaktion" sei ein „zen- trales Gestaltungsprinzip sozialer Lebenspraxis". Zur Plausibilisierung dieser These führt Grundmann weitere humanspezifische Dispositionen an, als da sind: soziale Handlungsorientierung, Bedürfnis nach sozialer Bindung, die Fä- higkeit des Individuums, sich selbst und in der Wahrnehmung durch andere zu reflektieren, oder die Fähigkeit, eigene Erfahrungen in eine gemeinsame Hand- lungsperspektive zu integrieren, und die Bereitschaft, kulturelles Wissen an die nachwachsende Generation weiterzugeben (vgl. 55). Das sind die Voraussetzun- gen, dass sich „selbst in modernen, individualisierten Gesellschaften, in denen Akteure sozial unverbunden zusammenleben", Individuen „zu kleinen Einhei- ten" (60) zusammenschließen und ein Wir-Gefühl entwickeln.

O b die von Grundmann skizzierten Befunde der Soziobiologie und Ent- wicklungsgenetik tatsächlich erklären, warum sie das tun, sei dahingestellt.

Interessanter ist die soziologische Erklärung, wie sich Akteure der sozialisatori- schen Interaktion „als Erfahrungs- und Handlungssubjekte" (65) verhalten. Da- für bemüht Grundmann vor allem drei Theoretiker: George Herbert Mead mit seiner These von der Selbsterfahrung über den Anderen, Alfred Schütz mit sei- ner Erklärung des sinnhaften Aufbaus der sozialen Welt (der Grundmann arg missverständlich attestiert, Schütz habe den Aufbau „in deutlicher Analogie zu Piaget" (66) beschrieben!) und der Ausbildung von Erfahrungsschemata (67) und schließlich Jean Piaget mit seiner Erklärung der Übertragung von Erfah- rungen. (72) Nach diesen Theorien werden im Prozess der sozialisatorischen Interaktion individuelle Erfahrungen aufeinander abgestimmt und zu einer ge- meinsamen Handlungsorientierung generalisiert.

In Anlehnung an Krappmanns Beschreibung der wechselseitigen Interpre- tationen und der Bedingungen der Identitätsdarstellung in Interaktionen stellt Grundmann fest, was diese Synchronisation der Erfahrungen den Akteuren ab- verlangt: Die Akteure müssen sich „auf eine gemeinsame Handlungsorientie- rung beziehen und dabei eigene Erfahrungen und Weltdeutungen sowie Situa- tionsdefinitionen mit denen der Bezugspersonen abstimmen können", und sie müssen ihre eigenen Erfahrungen erkennen und verstehen und ihre Sicht der Welt aus der Sicht der anderen reflektieren. „So gesehen", folgert Grundmann,

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236 Soziologische Revue Jahrgang 30 (2007)

„lassen sich sozialisatorische Interaktionen auch als wechselseitige Handlungs- orientierungen definieren" (71).

Voraussetzung und fortlaufende Konsequenz sozialisatorischer Interaktion ist also die intersubjektive Handlungskoordination. Sie gelingt in dem Maße, so führt Grundmann Gedanken von Mead, und Schütz fort, wie sich die Akteure

„über gemeinsame Handlungs- und Wissensstrukturen" verständigen (76). In diesem letzteren Sinne lässt sich die Wissenssoziologie von Berger und Luck- mann (1966) sicher nicht nur „in weiten Zügen auch als eine Theorie der Sozia- lisation" (75 Anm. 54) lesen. Sie ist eine von Anfang an!

Autonome Akteure verständigen sich auf eine gemeinsame Lebensführung

Dass es zu gemeinsamen Orientierungen kommt, setzt voraus, dass sich die Ak- teure auch verständigen wollen und ihre wechselseitigen Deutungen der Situa- tion autonom aushandeln können. Nur unter dieser Prämisse kommt es zu ei- nem gemeinsamen sozialen Wissen, „das intersubjektiv Geltung" (77) hat, und nur dieses Wissen besitzt genug soziale Bindungskraft, Akteure gegenseitig zu verpflichten. Damit ist eine zentrale Bedingung für Sozialisation genannt, dass sich nämlich die Akteure „aktiv (...) einbringen" und „eine Sozialisationspraxis hervorbringen, die sie im Rahmen ihrer alltäglichen gemeinsamen Lebensfüh- rung selbst bestimmen können" (78, Hervorhebungen Η. Α.). Das lässt sich ge- nauer spezifizieren und qualifizieren: Das kommunikative Handeln ermöglicht es den Akteuren, „ihre situationsspezifischen Weltbezüge zu thematisieren" und

„sich über jene Rahmenbedingungen zu verständigen, die für die Aufrechterhal- tung ihrer Beziehungen und für das gemeinsame Wohlergehen bedeutsam sind"

(78).

Doch auch die distanzierende, widerständig Individualität wahrende Seite der Verständigung darf nicht ausgeblendet werden: Die Akteure müssen (Her- vorhebung Η. A.) „die Möglichkeit haben, ihr eigenes Handeln am Kriterium seines Einflusses auf Bezugspersonen zu bewerten. Das ermöglicht Akteuren, sich von intersubjektiven Ansprüchen an die gemeinsame Lebensführung abzu- setzen" (79, Hervorhebungen Η. Α.). Grundmann verknüpft hier implizit Haber- mas' Modell der idealen Sprechsituation (Habermas 1971,136ff.) als Bedingung diskursiver Verständigung mit Meads These der Perspektivenverschränkung (Mead 1934, 189 u. 300), und so wird auch verständlich, warum er diese Inter- pretation des Modells des kommunikativen Handelns für die Bestimmung von Sozialisation für grundlegend hält: Dadurch können sich die „Akteure sowohl als autonome Individuen als auch als soziale Bezugspersonen verständlich ma- chen" (79). Ich will es schärfer sagen: nur dann!

Intersubjektive Geltung beanspruchen nämlich auch die Reflexionen der Individuen im Spiegel ihrer Bezugspersonen. Gerade weil sie sich, um mit Mead zu sprechen, mit den Augen des anderen sehen, werden sie sich ihrer selbst be- wusst. Nur herrschaftsfreie Sozialisationspraxen garantieren, dass sie das fortlau- fend auch zum Ausdruck bringen können. Nur unter der impliziten Annahme, dass sie sich wechselseitig das Recht auf „ungekränkte Selbstdarstellung" (Ha- bermas 1971,138) einräumen, gelingt es den Individuen, die Differenz zwischen personaler und sozialer Identität auch auszudrücken.

(21)

Essays 237

Der Mehrwert des gemeinsamen Handelns

Eine letzte Bedingung, dass sich Akteure auf dauerhafte soziale Beziehungen einlassen, muss noch erwähnt werden: Sie müssen „der gemeinsamen Interak- tion eine spezifische Handlungsrelevanz zuschreiben" und sich von ihr „einen sozialen Mehrwert durch gemeinsames Handeln" (89, Hervorhebung Η. A.) ver- sprechen. Man kann Grundmann so lesen, dass „die Orientierung am Gemein- nutzen" per se „sozialen Beziehungen eigen ist" (89). Einleuchtender ist aber die andere Erklärung, warum sich individuelle Akteure „auf das Gemeinsame"

einlassen: Die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe vermittelt Sicherheit, stillt das Bedürfnis nach sozialer Nähe und Intimität, und vor allem erhalten die Akteure „eine Ahnung davon, welche personalen Eigenschaften in einer Bezie- hung wertgeschätzt werden" (92). Über soziale Anerkennung wird das Selbst- wertgefühl gestärkt.

Geht man davon aus, dass mit diesen Erwartungen der Individuen ent- scheidende soziale Motive, sich mit anderen zu einer dauerhaften Praxis zu ver- binden, genannt sind, bleibt nur noch zu klären, ob soziale Beziehungen auch trotz höchst eigener Interessen der Individuen Bestand haben. Ja, sie haben Be- stand, solange alle Beteiligten den Eindruck haben, Interessen und ihre Bewer- tungen einigermaßen fair aushandeln zu können. Nach dem Kriterium, dass so- ziale Beziehungen herrschaftsfrei sind und „dem Ideal nach auf Gleichheit der Akteure und ein hohes Gestaltungspotenzial der Beziehung zielen" bzw. rigide sind und sich „durch einseitige Definitions- und Gestaltungsmacht" (93) aus- zeichnen, beschreibt und erläutert Grundmann dann auch Sozialisationspraxen, konkret geschlechtsspezifische Sozialisationspraxen, Paarbildung und familiale Beziehungskulturen, Generations- und Peerbeziehungen und schließlich Soziali- sationsverhältnisse.

Sozialisationsverhältnisse: ähnliche Erfahrungen und soziale Praxis Sozialisationspraxen etablieren sich „vor allem vor dem Hintergrund ähnlicher Erfahrungen" (106). Sie binden „Individuen und ihr Handeln an die Pragmatik einer gemeinsamen Lebensführung" (120). In der Sprache von Pierre Bourdieu, der übrigens ein anschauliches Beispiel für die oben angemahnte Verbindung zwischen einer Theorie der Sozialisation (die man bei ihm unter den Stichwor- ten „Inkorporation" und „soziale Praxis" suchen muss) und einer Analyse der Sozialstruktur geliefert hat, würde hier vom Zusammenhang zwischen sozialem Raum, Habitus und sozialer Praxis, wohl auch kulturellem und sozialem Kapi- tal, gesprochen werden.

Etwas von diesem sozialstrukturellen Denken scheint bei Grundmann durch, wenn er unter der Überschrift „Soziale Netzwerke und soziales Kapital"

die Sozialisationsverhältnisse als „sozialstrukturell verankerte Lebensverhält- nisse" (136) bezeichnet. Sie bedingen spezifische Sozialisationspraxen, und die- se wiederum etablieren sich „im öffentlichen Raum vor allem unter jenen Per- sonenkreisen, die sich hinsichtlich ihres sozialen Status, ihrer Ressourcenaus- stattung, ihrer Tätigkeitsfelder, den habituellen Einstellungen und soziokulturel- len Wertorientierungen gleichen" (137). Die Personen vernetzen sich zu spezifi- schen sozialen Kontexten und bilden und pflegen auf diese Weise ein bestimm- tes soziales Kapital. Ein Auslöser der Vernetzung kann sein, dass Akteure den Nutzen der sozialen Bezugnahme kalkulieren. Die soziale Struktur der Bezie- hungen würde man deshalb als Austausch befriedigender Dienste, die Hand- lungsorientierung der Akteure als rationale Wahl bezeichnen können. Doch so- ziales Kapital beruht sicher nicht nur auf dem Mehrwert sozialer Vernetzungen,

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