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Rezension: Grebe, Anna (2016): Fotografische Normalisierung. Zur soziomedialen Konstruktion von Behinderung am Beispiel des Fotoarchivs der Stiftung Liebenau: Bielefeld: transcript Verlag. 258 S., € 34,99

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VHN 3 | 2017

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REZENSIONEN

Grebe, Anna (2016):

Fotografische

Normalisierung. Zur sozio- medialen Konstruktion von Behinderung am Beispiel des Fotoarchivs der Stiftung Liebenau

Bielefeld: transcript Verlag.

258 S., € 34,99

Ein einzigartiges Archiv lagert auf Schloss Liebe- nau in Baden-Württemberg in der Nähe des Bo- densees. Es besteht aus Fotografien und Foto- alben aus dem 20. Jahrhundert, gesammelt in Kartons und Mappen. Das Archiv gehört zur Stiftung Liebenau, gegründet 1870 als „Pfleg- und Bewahranstalt für Unheilbare“, damals zähl- te man besonders „Schwachsinnige“ dazu. Die Stiftung ist heute ein Sozial-, Gesundheits- und Bildungsunternehmen. Die insgesamt 70’000 Fo- tografien, die je zu einem Drittel jeweils Baumaß- nahmen oder Gebäude, Veranstaltungen oder prominente Besucher sowie die in der Einrich- tung lebenden und arbeitenden Menschen zei- gen, beinhalten eine außergewöhnliche Bildge- schichte.

Die Berliner Medienwissenschaftlerin Anna Gre- be hat im Rahmen eines Forschungsprojekts die- ses Liebenauer fotografische Archiv digitalisiert und in ihrer nun erschienenen Dissertation kom- mentiert und analysiert sowie in einen allgemein fototheoretischen Rahmen gestellt. Dabei stehen die Aufnahmen von Personen mit Behinderung im Zentrum, und es ist bemerkenswert, „dass die abgebildeten Menschen in einem Kontext er- scheinen, der ‚normaler‘ kaum sein könnte – in Arbeits- und Alltagsituationen, sprich: an ihrem Wohnort, in handwerklichen Werkstätten, in der Bäckerei, im Gartenhaus, aber auch bei kirchli- chen Hochfesten als Messdiener, in Anzug und Krawatte bei der Firmung oder Erstkommunion“

(S. 17). Der „alltagsnahe Blick“ der Fotografien

„stellt den Menschen mit Behinderung nicht als etwas ‚radikal anderes‘ dar“ (S. 87), die Zurschau- stellung wird begrenzt. Anna Grebe nennt dies eine „visuelle Normalisierung“ (S. 100), welche allerdings nicht mit einer „sozialpolitischen Nor- malisierung“ der Behinderung einhergeht. In manchen Fotografien ist im Sinn einer „Denor-

malisierungstendenz“ dieser Zwiespalt zu erken- nen. Denormalisierung heißt, dass es zu einer

„medialen Arretierung von Behinderung“ (S. 11) kommt, indem man aufgrund einer „verschmutz- ten Kleidung“ oder eines „entrückten Blickes“

(S. 69) auf eine Behinderung schließt oder im Zu- sammenhang der „‚Unsichtbarkeit‘ von geistiger Behinderung“ mit „bestimmten Inszenierungs- modi“ (S. 97) operiert, z. B. erwachsene Menschen mit Kuscheltieren abbildet.

Hier zeigt sich das vielschichtige Niveau der Ar- beit Grebes, das von der archiv- und fototheore- tischen Analyse im Kontext der Visual und Dis- ability Studies bis zur konkreten Betrachtung eines einzelnen Fotos und der charakteristischen Darstellung einer Person reicht. Die Offenheit und Unergründlichkeit der einzelnen Fotografie widersteht der Theorie, welche aber auch ver- blüffende Perspektiven eröffnet.

Nur zu den wenigsten der abgebildeten Perso- nen liegen biografische Angaben vor, sodass sich kaum individuelle Geschichten rekonstruie- ren lassen. Auch die Fotografen bleiben anonym, mit Ausnahme des Schweizer Jesuitenpaters Johannes Baptista Hubbuch, der als Hausgeist- licher und Amateurfotograf Ende der 1930er und der 1950er Jahre viele Bilder (Diapositive) im Sinne der „Arbeiterfotografie“ und in Anleh- nung an den Berufsfotografen August Sander und dessen berühmte Porträtsammlung „Men- schen des 20. Jahrhunderts“ aufnahm. Von Hub- buch sind ein paar Vermerke zu den Aufgenom- menen überliefert: „Sie wollte auch fotografiert und verewigt werden“ (S. 126) oder „Die gute Christine? Wo mag sie sein?“ (S. 131). Josef L.

wurde von Hubbuch als Arbeiter mit einem Korb und großer Schürze fotografiert (S. 132), kurz vor dem Abtransport mit den „grauen Bussen“

zur Euthanasie.

Die fundierte Darstellung der „fotografischen Nor- malisierung“ von Anna Grebe dokumentiert das Schwanken zwischen den „Blickregimes“ (S. 238) und der anmutigen „Bildwürdigkeit der Liebe- nauer Bewohner“ (S. 157).

Dr. Christian Mürner D-22529 Hamburg

DOI 10.2378/vhn2017.art26d

PDF bereitgestellt von Reinhardt e-Journals | © 2022 by Ernst Reinhardt Verlag Persönliche Kopie. Zugriff am 14.02.2022

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