A 2386 Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 106|
Heft 47|
20. November 2009 muss überprüft werden, ob alle Pra-xisbesonderheiten (wie etwa beson- dere Behandlungsmethoden oder die notwendige Versorgung einiger Patienten mit sehr teuren Präpara- ten), die bereits im Vorfeld auf- grund bestimmter Indikationen oder Wirkstoffe anzuerkennen sind, bei den Berechnungen der Prü- fungsstelle auch tatsächlich berück- sichtigt wurden. Eine sorgfältige Stellungnahme kann dazu führen, dass auch eine Überschreitung des Richtgrößenbudgets um mehr als 25 Prozent aufgrund von Praxisbe- sonderheiten plausibel erklärt wer- den kann und folglich kein Regress ausgesprochen wird.
Wenn die betroffenen Ärzte der- zeit noch keine Stellungnahme ab- geben, so ist dies zu diesem Zeit- punkt nicht nachteilig. Denn die sorgfältige Begründung der Richt- größenüberschreitung kann auch noch nach Erhalt des Prüfbescheids erfolgen. Wichtig ist es jedoch, die Widerspruchsfrist von einem Monat unbedingt einzuhalten, um die Rechtskraft des Bescheids zu ver-
hindern. Im weiteren Verlauf kann vor dem Beschwerdeausschuss noch eine sorgfältige Widerspruchsbe- gründung übersandt werden. Zuvor sollte jedoch Akteneinsicht bean- tragt werden, um sicherzustellen, dass alle nötigen statistischen und formalen Grundlagen tatsächlich mit den im Prüfbescheid behaupteten Zahlen und Fakten übereinstimmen.
Spätestens im Widerspruchsver- fahren sind dann alle Einwendungen – medizinischer als auch rechtlicher Art – vorzutragen, damit diese be- rücksichtigt werden können. Wer jetzt noch immer nicht reagiert und im Zweifel keinen Rechtsbeistand einschaltet, könnte in einem späteren
Klageverfahren mit wesentlichen Ar- gumenten und Einwendungen ausge- schlossen sein, wenn diese erstmalig vorgetragen werden. Selbst wenn die Einwendungen also noch überzeu- gend sind, könnte das Sozialgericht diese zurückweisen, weil sie als „ver- spätet“ angesehen werden. Daher muss spätestens nach Erhalt eines Prüfbescheids unter Festsetzung ei- ner Regresssumme reagiert werden.
Die anwaltliche Erfahrung zeigt jedoch, dass Überschreitungen im Arzneimittel- und im Heilmittelbe- reich meist durch die Patienten- klientel und die damit verbundene Notwendigkeit, entsprechende Ver- ordnungen auszustellen, begründet sind. Denn eines ist klar: Wer krank ist und entsprechender Medikamen- te oder Heilmittel bedarf, der hat – trotz der Richtgrößen – einen ge- setzlichen Anspruch auf Verord- nung durch den Arzt. Ein Arzt kann und muss diese Verordnungen aus- stellen, wenn sie unter Berücksich- tigung des Wirtschaftlichkeitsge - bots notwendig sind. Notwendige Medikamente und Heilmittel dür- fen niemals unter Berufung auf die Überschreitung des Richtgrößen- budgets versagt werden. Der Arzt hat zwar später die lästige Pflicht, die Notwendigkeit der Verordnung darzulegen. Soweit jedoch das Krankheitsbild und die damit ver- bundene Behandlungsbedürftigkeit die Verordnungen erforderlich ma- chen, sind Überschreitungen des Richtgrößenbudgets gerechtfertigt und dürfen nicht zu einem Regress gegen den Arzt führen. ■
Beate Bahner, Heidelberg Fachanwältin für Mediz inrecht Internet: www.beatebahner.de
Bis zum Jahr 1999 gab es in Deutschland noch keine gefestigte innerstaatliche Recht- sprechung zu der Frage, ob ein Hausarzt ver- pflichtet ist, den Partner eines Patienten auch gegen dessen ausdrücklichen Willen über eine HIV-Infektion aufzuklären. Der Europäische Ge- richtshof für Menschenrechte hat deshalb die Klage einer infizierten Frau abgelehnt und dar - auf verwiesen, die deutschen Gerichte hätten das Recht der Beschwerdeführerin auf Leben und körperliche Unversehrtheit hinreichend be- rücksichtigt.
Im entschiedenen Fall stellte der Lebens- partner der Klägerin Ende 1992 fest, dass er an Lymphknotenkrebs und Aids erkrankt war.
Die letzte Erkrankung verschwieg er seiner Partnerin. Dem gemeinsamen Hausarzt unter- sagte er, sie zu informieren.
Der Mann starb Ende 1994. Im März 1995 teilte der Hausarzt der Klägerin mit, dass ihr Partner an Aids verstorben sei. Auch sie war daran mittlerweile erkrankt und wurde behan- delt. Sie litt nicht an einer „Full-blown“-Erkran- kung.
Ihre Klage gegen den Hausarzt wurde in ers- ter und zweiter Instanz abgewiesen. Das Ober- landesgericht Frankfurt/Main entschied, dass der Hausarzt zwar seine Sorgfaltspflicht ihr ge- genüber verkannt und seine Schweigepflicht gegenüber ihrem Lebenspartner überschätzt habe. Denn nach § 34 Strafgesetzbuch müsse das ärztliche Schweigegebot zum Schutz eines höherwertigen Rechtsguts eingeschränkt oder sogar durchbrochen werden.
Allerdings habe der Arzt sich nicht über me- dizinische Standards hinweggesetzt, sondern
verschiedene Interessen lediglich falsch bewer- tet. Folglich liege kein grober Behandlungsfeh- ler vor, der eine Beweislastumkehr zur Folge gehabt hätte. Den Nachweis, dass sie sich nach dem Zeitpunkt mit dem HI-Virus infiziert hatte, an dem der Hausarzt von der Erkrankung ihres Partners erfuhr, konnte die Klägerin nicht er- bringen.
Der Europäische Gerichtshof kam deshalb zu seinem ablehnenden Ergebnis. Die deut- sche Rechtsprechung sehe genug Rechtsmittel vor, die den Anforderungen nach Artikel 2 der Konvention (Recht jedes Menschen auf Schutz seines Lebens) genügten. Einer durch die Ver- letzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht geschä- digten Partei würden straf- und zivilrechtliche Schadensersatzverfahren ermöglicht. (Europä - ischer Gerichtshof, Urteil vom 5. März 2009, Invidiualbeschwerde Nummer 77144/01 und 35493/05) RAin Barbara Berner
RECHTSREPORT
HIV-Infektion des Partners: Urteil des Europäischen Gerichtshofs