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Archiv "Finanzierung des Gesundheitswesens: Folgen der „Privatisierung“" (01.07.2005)

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T H E M E N D E R Z E I T

A

A1874 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 102⏐⏐Heft 26⏐⏐1. Juli 2005

die Verhältniszahl hatten sich die Bun- destagsausschüsse weniger von den Be- denken der Krankenkassen gegen eine damit verbundene Ausdehnung der kas- senärztlichen Leistungen, sondern von dem Bestreben, für eine größere Zahl von Ärzten gesicherte Arbeitsfelder zu schaffen, leiten lassen. Die Herabset- zung der Verhältniszahl auf 1 : 500, die bis zum Bundesverfassungsgerichtsur- teil vom 23. Mai 1960 galt, bedeutete ei- nen Kompromiss, der der Forderung des außerordentlichen Ärztetages 1952 sehr weit entgegenkam.

Am 25. Mai wurde das Gesetz zum Kassenarztrecht im Bundestag in zwei- ter und dritter Lesung behandelt und mit nur noch geringfügigen Änderungen

„gegen einige wenige Stimmen sowie bei wenigen Enthaltungen“ gebilligt. Über- rascht vermeldete die Frankfurter Rund- schau tags darauf, der Bundestag habe bei der Abstimmung das seltene Bild ge- boten, „dass Mitglieder verschiedener Parteien für und gegen den Antrag stimmten, während sonst im Allgemei- nen die Fronten nach geschlossenen Fraktionen gebildet werden“. Dies war nicht zuletzt ein Verdienst der ärztlichen Bundestagsabgeordneten, die sich in den Fraktionen für eine einvernehmli- che Haltung eingesetzt hatten.

Das Gesetz über das Kassenarztrecht stellt ein Paradebeispiel für das politische Durchsetzungsvermögen der ärztlichen Standesorganisationen in der Aufbau- phase der Bundesrepublik Deutschland dar. Gegen vielfachen Widerstand gelang es, ein Gesetz zu bewirken, das den Kas- senärzten das Monopol bei der ambulan- ten medizinischen Versorgung garantierte und aufgrund seiner Honorarbestim- mungen die Voraussetzungen für den in der Folge zu verzeichnenden überdurch- schnittlichen Einkommenszuwachs der niedergelassenen Ärzte schuf. Mit der strikten Trennung von ambulantem und stationärem Bereich gab das Kassen- arztrecht Strukturen vor, die sich über Jahrzehnte hinweg weitgehend unverän- dert erhalten haben. Das Kassenarztrecht von 1955 war nicht das Resultat einer öf- fentlich geführten Auseinandersetzung, sondern das Ergebnis einer geschickten Verhandlungs- und Lobby-Strategie der ärztlichen Standesvertreter mit deut- lichen Vorteilen gegenüber den Kranken-

kassen. Thomas Gerst

Finanzierung des Gesundheitswesens

Folgen der „Privatisierung“

Soziale Schichtung, Einkommen und Vermögensverteilung werden die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen maßgeb- lich bestimmen, je mehr die Krankenkassen ihre Leistungen einschränken.

Axel Olaf Kern

D

ie Gesundheitswirtschaft wurde bislang von der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und den übrigen Sozialversicherungszwei- gen wesentlich geprägt, weil rund 90 Prozent der Bevölkerung auf diesem Weg gegen Krankheitsfolgen versichert sind. So begründet das umlagefinan- zierte System der GKV mit Versiche- rungszwang, dass untere Schichten mit überproportional schlechter Risiko- struktur an den Konsum medizinisch- technischer Güter und Leistungen her- angeführt werden. Die Transferzahlun- gen der Krankenkassen stützen die Nachfrage am Markt für Gesundheits- leistungen. Für die Volkswirtschaft hat dies den Nutzen, dass Humankapital von hoher Qualität gebildet und erhal- ten wird, wodurch auch die Wirtschafts- und Sozialordnung stabilisiert werden.

Außerdem stellt diese Schaffung von Konsummöglichkeiten zugleich einen wesentlichen Faktor für das Wirt- schaftswachstum dar.

Ziel der Privatisierung von Gesund- heitsleistungen ist es, mit einer Markt- steuerung und wirtschaftlichen Anrei- zen das Wachstum der Gesundheitsaus- gaben zu reduzieren, Unternehmen von Lohnzusatzkosten zu entlasten, größere Therapiefreiheit für Ärzte zu schaffen sowie die Eigenverantwortung und Souveränität der Versicherten und Pati- enten herzustellen. Dabei wird der Pati- ent stärker in der Rolle des rationalen Konsumenten gesehen, der mittels Nachfrage seine individuellen Präfe- renzen verwirklichen kann.

Konsequenz:

Rückgang der Nachfrage

Privatisierung und marktliche Steue- rung im Gesundheitswesen bedeuten nicht, dass die Ausgaben für Gesund- heit in Höhe von 224 Milliarden Euro in Deutschland sinken werden. So fehlt der empirische Nachweis, dass markt-

Foto:Becker&Bredel

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orientierte Gesundheitssysteme ko- stengünstiger und effizient in Bezug auf das gesetzte Versorgungsziel sind.

Gleichwohl ist anzumerken, dass stei- gende Ausgaben im Gesundheitswesen per se nicht verwerflich sind, solange sie aus einer Priorisierung von Gesund- heitsleistungen durch die Bürger und nicht aus Marktunvollkommenheiten resultieren.

In Hinblick auf die Entscheidungs- souveränität des „Konsumenten-Pati- enten“ zeigen jedoch Erfahrungen in den Vereinigten Staaten von Amerika, dass der Patient auf neue Informatio- nen über die Qualität von Leistungen im Gesundheitswesen kaum reagiert und somit weniger als rational handeln- des Individuum betrachtet werden kann. In dieser veränderten Betrach- tungsweise wird zugleich die Rolle des Arztes umgedeutet, von der Funktion als Heiler mit fachlicher Autorität zu einem Marktteilnehmer, der medizini- sche Informationen und Leistungen anbietet.

Neben größerer Therapiefreiheit für den Arzt bedeutet eine Privatisierung von GKV-Leistungen, dass die Kran- kenkassen von einer Zahlungsver- pflichtung für ärztliche Leistungen frei sind. Die Preise für Gesundheitsleistun- gen werden bei privatärztlicher Ab- rechnung gerade nicht null sein. Der Pa-

tient wird dann für alle Leistungen ei- nen Preis bezahlen und seine Nachfrage daran ausrichten. Informationen, wie sich die Nachfrage nach Gesundheits- leistungen bei weitgehend freier Preis- bildung im Gesundheitswesen in Deutschland verändern wird, liegen nicht vor.

Nach allem, was die ökonomische Theorie lehrt und empirische Untersu- chungen belegen, wird eine Privatisie- rung von Leistungen zu einer verrin- gerten Inanspruchnahme und zu einem Rückgang der Nachfrage führen. So wird die Nachfrage nach ärztlichen Leistungen bestimmt durch die „ob- jektive“, epidemiologisch bedingte In- anspruchnahme (Alterung, Grippeepi- demie, Stand des medizinischen Wis- sens) sowie die subjektive Entschei- dung einer Person, ärztlichen Rat ein- zuholen und ärztliche Leistungen in Anspruch zu nehmen. Letzteres wird wiederum beeinflusst vom Grad der Risikoaversion, dem Leidensdruck des Individuums, den Wege- und Wartezei- ten, dem (Geld-)Preis der dann pri- vatärztlichen Leistung und der Zah- lungsfähigkeit des Patienten, welche vom Einkommen, den Ersparnissen und eventuell bestehendem Versiche- rungsschutz abhängt.

Die Finanzierung der Gesundheits- leistungen erfolgt bei Privatisierung

teilweise oder vollständig aus Eigenmit- teln des Patienten und/oder durch Krankenversicherungsschutz. Die Risi- kopolitik der Krankenversicherungsun- ternehmen ist insofern wichtig, um zu beurteilen, inwieweit Personen mit ge- ringeren Einkommen und einem ten- denziell höheren Krankheitsrisiko Ver- sicherungsschutz erhalten werden.

Für die Ärzte bedeutet ein privater Behandlungsvertrag, finanzielle Forde- rungen auf privatrechtlichem Weg ge- genüber dem Patienten geltend zu ma- chen. Abrechnungsstellen als „Finanz- intermediäre“ einzuschalten, welche die ärztlichen Forderungen überneh- men, ist nur so lange attraktiv, wie die Abschläge auf die Honorarforderung geringer sind als die praxiseigenen Ma- nagementkosten in Bezug auf die Ho- norarabrechnung.

Sozioökonomischer Status und Krankheit

Damit die Wirkungen einer Privatisie- rung auf die Nachfrage nach Gesund- heitsleistungen eingeschätzt werden können, ist der Zusammenhang zu den Erkenntnissen der Sozialepidemiologie hilfreich. Grundsätzlich ist das Gesund- heitsverhalten ebenso wie die Krank- heitswahrscheinlichkeit von schichtspe- zifischen Einflüssen geprägt. So gilt der sozioökonomische Status einer Person als „one of the strongest and most con- sistent predictors of a person’s morbidi- ty and mortality experience“. Den Merkmalen Bildung und Stellung im Beruf der Versicherten und Patienten kommt dabei große Bedeutung zu. Bil- dung ist für die Mobilität in der Gesell- schaft erforderlich und hat maßgeblich Einfluss auf das realisierbare Einkom- men. Zudem stellt Bildung eine wesent- liche Voraussetzung für das Selbstkon- zept und damit den Lebensstil dar. Bei- des beeinflusst gesundheitsorientiertes Verhalten maßgeblich. Vor allen Din- gen variieren bei Männern und Frauen im Alter von 24 bis 64 Jahren die Le- benserwartungen und die Erkran- kungsrisiken „dramatisch“ in Hinblick auf das Bildungsniveau, das Einkom- men und den Beruf.

Diese Zusammenhänge lassen sich dadurch begründen, dass Angehörige T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 102⏐⏐Heft 26⏐⏐1. Juli 2005 AA1875

Grafik 1

Verteilung der monatlichen Haushaltsnettoeinkommen (2003) in Euro

20,00 18,00 16,00 14,00 12,00 10,00 8,00 6,00 4,00 2,00 0,00

unter 900– 1 300– 1 500– 2 000– 2 600– 3 600– 5 000–

900 1 300 1 500 2 000 2 600 3 600 5 000 18 000

Anteil 14,61 17,05 8,95 17,80 16,23 14,37 7,11 3,88

in %

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niedrigerer sozialer Schichten aufgrund eines stärker instrumentellen Körper- und Gesundheitsverständnisses und ei- ner daraus resultierenden „Ausbeutung des Körpers“ keine Langzeitperspekti- ve im Denken und Handeln besitzen, die wiederum für Eigenverantwortung und Eigenvorsorge erforderlich ist. Aus Untersuchungen in den Vereinigten Staaten von Amerika geht hervor, dass Angehörige sozialer Unterschichten trotz marktwirtschaftlicher Organisati- on des Gesundheitswesens keine stär- ker ausgeprägte gesundheitliche Eigen- verantwortung entwickeln. Für den Zu- sammenhang von sozialer Ungleich- heit und Krankheit wird allerdings schichtspezifisch unterschiedlichen, ge- sundheitsrelevanten Lebensbedingun- gen und Lebensstilen größere Bedeu- tung zugemessen als der Verfügbarkeit, Inanspruchnahme oder Qualität medi- zinischer Leistungen.

Für die schichtspezifische Ausprä- gung von Gesundheit und Krankheit liefern die verschiedenen Auswertun- gen der Deutschen Herz-Kreislauf- Präventionsstudie (DHP) eindeutige Ergebnisse, die auf einen systemati- schen Zusammenhang hinweisen. So- wohl Männer als auch Frauen der unte- ren sozialen Schicht fühlen sich erheb- lich kränker als diejenigen, welche der oberen sozialen Schicht angehören. So kann von einer zwei- bis dreifach höhe- ren allgemeinen Morbidität zwischen Unter- und Oberschicht ausgegangen werden. Selbst bei einer Orientierung an objektiven Merkmalen zum Gesund- heitszustand wird offenbar, dass deutli- che Zusammenhänge zwischen berufli- chem Status sowie zwischen Einkom- men und Mortalität bestehen. Morta- lität und Morbidität sind in der unteren sozialen Schicht für die meisten Krank- heiten höher als in den oberen Schichten.

Die Nachfrage nach Gesundheitslei- stungen lässt sich somit aus dem norma- tiven Behandlungsbedarf, der Präva- lenz einer Krankheit sowie dem Inan- spruchnahmeverhalten ermitteln. Für das Inanspruchnahmeverhalten beste- hen schichtspezifische „Zugangs-Bar- rieren“ wie Selbstbeteiligungsregelun- gen oder die private Finanzierung von Leistungen. Für die Verhaltenssteue- rungen über Preise ist unabhängig vom Sozialsystem zu beobachten, dass Men-

schen in sozial ungünstigen Lebensver- hältnissen ein niedrigeres Gesundheits- bewusstsein, ein erhöhtes Krankheitsri- siko und ein geringeres Selbsthilfepo- tenzial haben als besser gestellte Bevöl- kerungskreise.

Zahlungsfähigkeit und Zahlungsbereitschaft

Die zwangsweise Einkommensumver- teilung in der GKV von Personen mit höherem Einkommen und tendenziell geringerem Krankheitsrisiko zu Perso- nen mit geringeren Einkommen bei gleichzeitig höherem Krankheitsrisiko versetzt Letztere in die Lage, Gesund- heitsleistungen nachzufragen, die sie bei privater Finanzierung aufgrund ih- res geringen Einkommens nicht nach-

fragen könnten oder aufgrund ihrer Präferenzstruktur nicht nachfragen würden.

Bei einer Privatisierung ist deshalb davon auszugehen, dass insbesondere weniger Gesundheitsleistungen nach- gefragt werden, die der Versorgung einkommensschwacher Bevölkerungs- gruppen dienen und nicht direkt über- lebenssichernd sind. Dieser Nachfra- gerückgang wird tendenziell auch dann erfolgen, wenn nach „objektivem“ Er- messen eine Behandlung oder Inan- spruchnahme erforderlich wäre. So sind neben Einnahmeeinbußen für die Leistungserbringer auch Folgekosten für die GKV zu erwarten, die durch

Krankheiten hervorgerufen werden, die aufgrund der Nichtinanspruchnah- me von erforderlichen Leistungen re- sultieren.

Es wird jedoch auch eine große Zahl von Patienten geben, die selbst bei höheren Behandlungskosten in unver- ändertem Umfang Gesundheitsleistun- gen nachfragen. Viele Individuen wer- den vermehrt vorbeugen, um Behand- lungen nicht in Anspruch nehmen zu müssen. Andere werden die höheren Preise nicht zahlen können oder dazu nicht bereit sein, weil sie anstelle von Gesundheitsleistungen andere Dinge kaufen, von denen sie sich einen höhe- ren Nutzen versprechen. Neben dem Preis sind Dringlichkeit und Verzicht- barkeit der Versorgung wesentliche Faktoren, die über eine Inanspruchnah- me entscheiden. So werden Leistungen,

die der Schmerzbehandlung dienen, trotz eines „höheren“ Preises unverän- dert nachgefragt werden müssen.

Die Einkommens- und Vermögens- position eines Individuums beziehungs- weise Haushalts bestimmt über die Ver- fügbarkeit materieller Ressourcen und damit über die Möglichkeit, ärztliche Leistungen zu finanzieren. Allerdings konnte selbst freier Zugang Unter- schiede in der Morbidität zwischen ver- schiedenen Schichten nicht verhindern.

Personen mit geringem soziökonomi- schem Status nutzen trotz weitgehend freien Zugangs zu ärztlichen Leistun- gen diese deutlich weniger. Zudem wer- den privat angebotene Leistungen, die T H E M E N D E R Z E I T

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A1876 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 102⏐⏐Heft 26⏐⏐1. Juli 2005

Grafik 2

Durchschnittliche Krankheitskosten pro Kopf nach Geschlecht und Alter im Jahr 2002, Angaben in Euro

14 000 12 000 10 000 8 000 6 000 4 000 2 000

0 unter 15 15–30 30–45 45–65 65–85 85 und älter

Männer 1 050 900 1 250 2 760 5 830 11690

Frauen 940 1 620 2 150 3 160 6 250 12 660

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zumeist mit höherer Qualität assoziiert werden, von Personen mit geringem so- zioökonomischem Status nicht in An- spruch genommen. Aus bevölkerungs- medizinischer Sicht stehen schichtspe- zifische Mentalitäten und Verhaltens- weisen einem optimalen Verhalten bei Krankheit entgegen.

Das Konzept der sozialen Schicht lie- fert Informationen aus der Sozialepide- miologie über die Verteilung von Krankheiten nach Bevölkerungsgrup- pen und lässt zugleich einen Bezug zu deren Zahlungsfähigkeit herstellen.

Wie Grafik 1 zeigt, erzielen 31 Prozent der Haushalte ein monatliches Net- toeinkommen von weniger als 1 300 Eu- ro und 25 Prozent von mehr als 2 600 Euro pro Monat. 34 Prozent der Haus- halte beziehen ein monatliches Net- toeinkommen zwischen 1 500 Euro und 2 600 Euro.

Neben dem verfügbaren (Netto-) Einkommen drückt das Geldvermö- gen eines Haushaltes dessen Zahlungs- fähigkeit am besten aus, weil dieses im Vergleich zu Haus- und Grundbesitz als weitgehend direkt verfügbar für die Finanzierung von Gesundheitsleistun- gen gelten kann. Das Bruttogeldver- mögen nimmt mit steigendem Ein- kommen zu. So verfügen Haushalte mit einem monatlichen Nettoeinkom- men in Höhe von bis zu 900 Euro über ein Bruttogeldvermögen von 10 900 Euro, Haushalte mit einem Nettoein- kommen in Höhe von 1 500 Euro bis 2 000 Euro über ein Bruttogeldvermö- gen von 32 800 Euro und Haushalte mit einem Nettoeinkommen in Höhe von 3 600 Euro bis 5 000 Euro über ein Bruttogeldvermögen von rund 81 000 Euro.

Niedrige Einkommen müssen stärker berücksichtigt werden

Aus der Verteilung der Bruttogeldver- mögen und der Nettoeinkommens- höhen wird deutlich, dass die Haushalte mit geringem Nettoeinkommen zu- gleich über die geringsten Reserven an finanziellen Mitteln verfügen. Haushal- te eines Haupteinkommensbeziehers in der Altersgruppe 55 Jahre bis 65 Jahre mit 58 600 Euro verfügen über das höchste Bruttogeldvermögen. Hierbei

ist jedoch zu beachten, dass alleine 38 Prozent des Geldvermögens in Lebens- versicherungen gebunden ist. In den höheren Altersgruppen nimmt das Bruttogeldvermögen wieder ab.

Zu einer ersten Abschätzung, wel- chen Beitrag die Nettogeldvermögen bei privater Finanzierung von Gesund- heitsleistungen leisten können, tragen die in Grafik 2 ausgewiesenen durch- schnittlichen Krankheitskosten bei.

Deutlich wird dabei, dass die Ausgaben für Gesundheitsleistungen je Kopf der Bevölkerung zwischen 900 Euro und rund 12 000 Euro je Jahr betragen. Im Vergleich zu den Geldvermögensbe- ständen und den Haushaltsnettoein- kommen wird erkennbar, dass die Ei- genfinanzierungsquote, das heißt Geld- vermögen im Vergleich zu den Gesund- heitsausgaben, insbesondere für untere Einkommensschichten relativ gering ist. Wird der soziale Schichtzusammen- hang berücksichtigt, wonach Perso- nen/Haushalte mit relativ geringen Ein- kommen und geringen Geldvermö- gensbeständen eine hohe Krankheits- wahrscheinlichkeit aufweisen, lässt sich eine noch geringere Eigenfinanzie- rungsquote ableiten.

Hinsichtlich der Ausgaben, die bei Privatisierung zu finanzieren wären, ist auch zu berücksichtigen, dass nach An- gaben der Gmünder Ersatzkasse 20 Prozent der Versicherten Ausgaben von jährlich mehr als 543 Euro verur- sachen. Die Ausgaben für diesen Per- sonenkreis entsprechen rund 90 Pro- zent der Gesamtausgaben für alle Ver- sicherten. Zehn Prozent der Versicher- ten verursachen Ausgaben von jährlich mehr als 1 725 Euro und damit 80 Pro- zent der gesamten Ausgaben. 2,5 Pro- zent der Versicherten mit Ausgaben von mehr als 7 900 Euro jährlich verur- sachen 50 Prozent der gesamten Aus- gaben. Sind, wie aus der Sozialepide- miologie erkennbar, tendenziell die Bezieher geringer Einkommen und Besitzer geringer Geldvermögen von diesen hohen Krankheitskosten be- troffen, so wird für diesen Personen- kreis die Möglichkeit zur Nachfrage aus Eigenmitteln kaum über einen län- geren Zeitraum darstellbar sein. Zu- gleich wird aber auch deutlich, dass diese Personenkreise aufgrund ihrer Krankheitsrisiken maßgeblich die

Nachfrage nach ärztlichen Leistungen beeinflussen.

Vor dem Hintergrund der Sozialepi- demiologie in Verbindung mit der Ein- kommens- und Geldvermögensvertei- lung wird erkennbar, dass eine Privati- sierung des Leistungskatalogs der GKV nicht nur aus der Perspektive des Um- fangs der gesundheitlichen Versorgung der GKV-Versicherten zu betrachten ist, sondern insbesondere auch unter der wirtschaftspolitischen Bedeutung der Nachfrage einkommensschwacher Bevölkerungsgruppen auf dem Ge- sundheitsmarkt. Zudem sollten mögli- che Folgekosten aufgrund einer Unter- inanspruchnahme von privaten Ge- sundheitsleistungen durch Einkom- mensschwache für das System der GKV berücksichtigt werden.

Auswirkungen auf den

Wachstumsmarkt Gesundheit

Aus gesellschaftlicher Perspektive und im Sinne einer rationalen Gesundheits- politik ist auch zu erörtern, welche Wir- kungen eine Privatisierung von Ge- sundheitsleistungen in Bezug auf die Ziele der Gesundheitsversorgung ha- ben werden. In enger Verbindung damit steht die Frage, wie sich die ärztliche Einzelpraxis und die ambulanten und stationären ärztlichen Versorgungs- strukturen ausrichten müssen, um exi- stenziell und gesundheitspolitisch handlungsfähig zu bleiben.

Für die Vertragsärzte und die Ärzte- schaft sollte geprüft werden, inwieweit die Nachfrage nach Gesundheitslei- stungen durch gute Risiken mit höhe- rem Einkommen und höherem Geld- vermögen die zu erwartende Minder- nachfrage überkompensieren wird und somit trotz Privatisierung von Gesund- heitsleistungen ein Wachstumsmarkt im medizinischen Sektor begründet sein kann.

T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 102⏐⏐Heft 26⏐⏐1. Juli 2005 AA1877

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2005; 102: A 1874–1877 [Heft 26]

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. rer. pol. Axel Olaf Kern Fachhochschule Ravensburg-Weingarten Doggenriedstraße

88250 Weingarten

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