• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Selbstregulation: Selbstheilung als Teil der Medizin" (12.12.2014)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Selbstregulation: Selbstheilung als Teil der Medizin" (12.12.2014)"

Copied!
5
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

SELBSTREGULATION

Selbstheilung als Teil der Medizin

Ein medizinisch-kultureller Blick auf die moderne Autoregulationsforschung Tobias Esch

D

ie New York Times berichtete im Jahr 1982, zu einer Zeit, als Begriffe wie „Selbstheilung“

oder gar „Meditation“ keinesfalls allfälliger Jargon des gehobenen Feuilletons oder der medizinisch- wissenschaftlichen Fachpresse wa- ren, erstmalig über atemberaubende Studien einer Gruppe von Wissen- schaftlern um den Harvard-Kardio- logen Herbert Benson: Ausgestattet mit vagen Schilderungen von wun- dersamen Ritualen tibetischer Mön- che in den entlegenen Höhen des Himalayas und einer eher wirren Beschreibung von im Westen bis dato kaum bekanntem „g Tum-mo“

(Hitze-Yoga), hatte man sich auf den steinigen Weg gemacht, um dem vermeintlichen Geheimnis mit moderner Wissenschaft auf die Schliche zu kommen. Es ging

um die Behauptung, jene Mön- che seien in der Lage, ihre eigene Körpertemperatur auf „Knopf- druck“ um ein solches Maß zu erhöhen, dass sie damit eiskalte, feuchte Leinentücher, die man ih- nen umgelegt hatte, dampftrock- nen konnten.

Vom Willen beeinflussbar Zwar handelte es sich um ein reli- giöses Ritual, doch erkannten die Mediziner die Bedeutung solcher Fähigkeiten, wenn sie wahr sein sollten; denn das autonome Ner- vensystem und andere Regulato- ren, die für die Steuerung von Blutdruck, Herzfrequenz oder Körpertemperatur zuständig wa- ren, galten bis dahin als nicht durch den Willen beeinflussbar.

Wenn dieses Dogma wankte,

müssten bestimmte Annahmen auch der Herz-Kreislauf-Medizin überdacht werden.

Die Forscher machten interes- sante Beobachtungen auf ihrer Ex- pedition. Unter anderem registrier- ten sie fast zehn Grad Temperatur- unterschied (°C) während des ge- schilderten Rituals, allerdings nur peripher, das heißt in den Fingern und Zehen. Jener Unterschied aber stellte sich schon innerhalb weniger Minuten ein. Und die Tücher waren nach circa einer Stunde trocken.

Dreimal nacheinander musste jeder Mönch dieses Ritual wiederholen – mit dem immer gleichen Ergebnis und ohne sichtbares Zeichen von Unterkühlung oder Erschöpfung.

Benson wurde schnell klar, dass seine Berichte zu Hause zu kriti- schen Nachfragen führen würden.

Foto: dpa

(2)

A 2216 Deutsches Ärzteblatt

|

Jg. 111

|

Heft 50

|

12. Dezember 2014 Und so machte er sich auf, um un-

ter dem Begriff der „Mind-Body- Medizin“ (1) die Untersuchung sol- cher Geist-Körper-Phänomene – und deren mögliche Bedeutung für die Medizin – zur Chefsache zu machen. An der Harvard Medical School gründete er das Mind/Body Medical Institute (heute: Benson- Henry Institute for Mind Body Me- dicine), dem er noch bis vor kurzem als Professor selbst vorstand.

Test unter Laborbedingungen Doch von den ersten Untersuchun- gen im Himalaya bis zu den vertie- fenden Studien „nach westlichem Standard“ – inklusive experimentel- ler humanbiologischer Studien un- ter Laborbedingungen (2) – sollte es noch ein langer Weg sein. So dauerte es bis zum Jahr 2001, bis man die Be- dingungen geschaffen hatte, um in einem „Kloster auf Zeit“ in Frankreich all jene Untersuchungen durchzufüh- ren oder zu wiederholen (Ab- bildung), die bis dahin eher anekdotenhaft geblieben wa- ren. Solche Untersuchungen waren aber überhaupt erst die Voraussetzung für eine ver- nünftige Begründung nach- gelagerter wissenschaftlicher Forschungsfragen. Fast zeit- gleich zu den ersten Big Brother-Staffeln im deut- schen Fernsehen meditierten jetzt ti- betische Mönche in Europa über Monate in einer Art „gläsernem La- bor“, führten „obskure Riten“

durch, die schließlich, auf Messta- feln erfasst, zu bisher kaum gesehe- nen Zeugnissen jener „Mind-Body- Verbindung“ wurden. Wie in einer Art Winterschlaf senkten die Mön- che beispielsweise durch die „Kraft der Gedanken“ ihren Sauerstoffver- brauch um über 60 Prozent oder at- meten nur noch einmal in 90 Sekun- den. Derartiges blieb nicht ohne Wi- derhall. Plötzlich begann man sich allerorten, wie es schien, für solche Phänomene (und auch generell für die Meditationsforschung) zu inte- ressieren, nicht nur in Medizin und Physiologie. Und stellte Fragen.

Wie ist die Evidenz? Was sind Wir- kungen, Wirkmechanismen? Wel-

che Bedeutung haben sie, was steht dahinter? Kann man es nutzen?

Wann, für wen, warum? Jetzt spä- testens begann eine neue Ära der Selbstregulationsforschung.

Die moderne Medizin beginnt mit Hippokrates von Kos (460–371 v. u. Z.) und den Asklepiaden. Schon damals findet sich eine Betonung von Lebensstil beziehungsweise

„Lebenskunst“ als einer wichtigen Voraussetzung für Gesundheit und Heilung. So war Hippokratesʼ

„Diaita“ weit mehr als eine Er - nährungslehre. Es war auch eine Anleitung zur Selbstfürsorge. Eben- falls wird schon mit der Dreiteilung gearbeitet, die von nun an lange bestimmend in der Medizin sein

sollte: Neben der Chirurgie bezie- hungsweise dem ärztlichen Eingriff und der Pharmakologie waren Le- bensführung und Eigenverantwor- tung essenzielle Bestandteile der Gesundheitsversorgung.

Interessanterweise spielte, neben Tugendhaftigkeit, Kunst und Wis- senschaft, auch die Religion weiter eine wichtige Rolle. Lebensziel war unter anderem der Erhalt von Ord- nung, Ausgleich und Gesundheit.

Dieses war eine Frage des systemati- schen Vorgehens (Wissenschaft), der gemäßigten, geordneten und aus- drucksvollen Lebensweise (Tugend, Kunst) sowie eines frommen oder religiösen Lebens. Selbstverantwor- tung war ein zentrales Element. In der Philosophie dieser Zeit spiegel- ten sich jene Auffassungen wider – unter anderem bei Aristoteles (3).

In den folgenden Jahrhunderten tauchte immer wieder die Betonung der Selbstfürsorge im medizinisch- therapeutischen Kontext auf, aber auch im religiösen, denn nach wie vor waren beide Bereiche eng mit- einander verbunden.

Streben zum Gleichgewicht Häufig äußerte sich diese „Synthese“

oder Einbindung im Sinne einer in- neren Kraft zur Heilung, das heißt unter der Annahme einer Selbsthei- lungstendenz und -fähigkeit des Menschen. Wir finden eine derartige Komplementarität zwischen der „äu- ßeren Medizin“ (oder Religion) ei- nerseits und der Selbstfürsorge/-hei- lung (dem „inneren Arzt“) anderer- seits beispielsweise bei Ga- len im 3. Jahrhundert. Die- ser orientierte sich an Hip- pokrates und Aristoteles und zeichnete eine Medi- zin vor, die davon aus- ging, dass Gesundheit – und nicht Krankheit – der Normalzustand sei (der Mensch sei also von Natur aus gesund) und dass funk- tionale Zusammenhänge und innere Regulations - prozesse zu beachten seien, welche prinzipiell die Ten- denz zur Heilung hätten, also zum inneren Gleich - gewicht führten. Der Arzt war in diesem Kontext mehr Unterstützer und Ermöglicher als eigentliches „Pharmakon“ oder

„Agens“ – Medizin bedeutete, dass er mit der Natur zusammenzuarbei- ten hatte. Der Einzelne hatte in ho- hem Maße Einfluss auf die Gesund- heit. Ähnliches finden wir später bei Paracelsus (4) im 16. Jahrhundert, der das Zusammenspiel zwischen dem „Medicus“ – zuständig für me- dizinische Prozeduren und die Thera- pie (inklusive der Agenzien) – und

„Archaeus“ beschrieb. Die Idee eines Archaeus entsprach dabei weitest - gehend jenem „inneren Arzt“, einer ordnenden Kraft, die nach Paracel- sus auch eine Verbindung zum fein- oder nichtstofflichen Bereich besaß.

Gemeint war hier wohl das, was wir heute mit „Bewusstsein“ oder

„Geist“ bezeichnen – Konzepte, die es in der Form im heutigen Europa, Wissenschaftli-

che Versuchsan- ordnung: Ein tibe- tischer Mönch pro- duiziert während der Meditation aus- reichend Hitze, um nasskalte Tücher, die man in einem Kälteraum um seine Schultern gelegt hat, zu trocknen.

Foto: Herbert Benson

(3)

kurz vor Descartes, noch nicht gab.

Noch in der Ordnungstherapie eines Sebastian Kneipp im 19. Jahrhun- dert tauchen Analogien auf.

Tendenz zu Gesunderhalt All diesen Entwicklungen war ge- mein, dass Heilung mit der Annah- me regulativer Prozesse einherging, das heißt, sie war dynamisch und strebte im „Normalfall“ von sich aus zum Gleichgewicht, zur Gesundheit also, die der Beeinflussung durch den Einzelnen zugänglich war.

Wenn diese „natürliche Tendenz“ zu Gesunderhalt oder Wiederherstel- lung (Restitutio) nicht ausreichte, oder die Selbstregulation überfor- dert war, konnte Einflussnahme von außen geboten sein. Noch bei Ru-

dolf Virchow im 19. Jahrhundert (5) findet sich jene Idee der Selbstregu- lation – und der Krankheit als der Manifestation einer Überforderung derselben –, bevor sie im Zuge der aufkommenden Naturwissenschaft zunächst aus dem Blickfeld der Me- dizin geriet. Es kam zu einem Ausei- nanderdriften der zugrunde liegen- den Konzepte, mit der Konsequenz, dass „Glaube“ (im beschriebenen Sinn) und Selbstregulation zuneh- mend an den Rand gedrängt wur- den. Dort, in Naturheilkunde, Erfah- rungsmedizin, Komplementär- oder Alternativmedizin usw., überdauer- ten sie und führten, bis vor kurzem, ein bescheidenes, aber doch reales Dasein. In der „Schulmedizin“

tauchten Glaube und Selbstregula - tion im Gewand des Placeboeffektes immer wieder auf.

Heute sieht die Situation anders aus. Ein zunehmender therapeu- tisch-medizinischer Pluralismus hält Einzug. Integration löst Separation ab, sagen Befürworter. Unter Feder- führung der Bundesärztekammer wurde zum Beispiel das „Dialogfo- rum Pluralismus in der Medizin“ ins Leben gerufen. Hier geht es unter anderem um Selbstheilungsmecha- nismen oder die „neue“ Arzt-Patien- ten-Beziehung. Das blieb nicht ohne

Widerstand. Da wurde schon einmal – mehr oder minder offen – von ei- nem „populistischen Kniefall“ der modernen Medizin oder einer kon- zeptionellen Beliebigkeit gespro- chen. In den USA verlief die Debatte weniger aufgeregt: Dort hatten viele der geschilderten Ideen nicht nur in der Psychologie überdauert, was un- ter anderem am großen William James lag, sondern auch in der So- ziologie, die ebenfalls über Gesund- heit und Ressourcen forschte. The- men, wie Salutogenese, Kohärenz, Hardiness und Resilienz, das heißt innere Faktoren für Gesundheits- schutz, Widerstandsfähigkeit und Stressresistenz (6), hatten es ge- schafft, sich auch an Elite-Universi- täten zu halten und sich immer wie-

der – auch im medizinischen Kon- text – Gehör zu verschaffen.

Die Existenz des Placeboeffektes wurde in der Medizin lange bestrit- ten oder als methodischer Fehler be- trachtet, später zum Teil argwöh- nisch beäugt. Heute gilt er als akzep- tiert, wenngleich kaum verstanden.

Aktuell gelangen bemerkenswerte Studienergebnisse zu uns (7, 8):

Hier soll es den Placeboeffekt selbst dann noch geben, wenn man so - genannte „Open-Label-Behandlun- gen“ durchführt, das heißt den Pa- tienten explizit mitteilt, dass ein be- stimmtes Medikament ein wirkstoff- loses Scheinmedikament darstelle, welches aber möglicherweise auf die Selbstheilung einen positiven Einfluss haben könne. Von Täu- schung kann jetzt nicht mehr die Re- de sein. Nicht nur scheint die Selbst- regulation auch unter diesen Um- ständen noch zu funktionieren, son- dern inzwischen kennt man sogar erste genetische Dispositionen, die für den Placeboeffekt empfänglicher machen (9). Ganz so, wie es Anthro- pologen schon lange vorhergesagt hatten (10, 11). Der organische Ur- sprung solcher Selbstregulations- phänomene liegt offenbar im Ge- hirn. Moderne Analyse- und Bildge- bungsverfahren lassen kaum einen

anderen Schluss zu: Begleitet von der Ausschüttung charakteristischer Botenstoffe (zum Beispiel Dopa- min) werden Zentren und Netzwer- ke aktiviert, die sich insbesondere in stammesgeschichtlich alten Arealen des zentralen Nervensystems be - finden, etwa in limbischen Beloh- nungsregionen (12). Interessanter- weise scheinen viele Selbstheilungs- techniken ihre Wirkungen über jene Prozesse zu entfalten: Das, was die- sen Mechanismus im Einzelnen ak- tiviert, mag spezifisch und stark bio- grafisch oder kulturell geprägt sein (das heißt konditioniert) – und somit individuell. Der Mechanismus selbst aber scheint eher einem universellen biologischen Prinzip zu folgen. Und so überrascht es nicht, dass man heute eine Überschneidung oder Konvergenz vieler unterschiedlicher Verfahren und Rituale (unter dem Label der „Selbstheilung“) auf jene hirneigenen Autoregulationszentren annimmt, bis hin zum Nachweis überschneidender molekularer Sig- nalmechanismen, die ihrerseits wie- derum auf eine Reduktion von Stress- oder Entzündungsmechanis- men hinzuwirken scheinen (12).

Positiv besetzte Rituale Der Placeboeffekt beruht auf ei- nem System der Selbstregulation, also zunächst auf dem Vorhanden- sein und Funktionieren der ent- sprechenden biologischen oder physiologischen „Apparatur“. Da- mit es zu seiner Auslösung kommt, müssen diverse Faktoren zusam- menkommen: Eine eingeprägte po- sitive Erfahrung führt bei passen- der Gelegenheit – abhängig von der konkreten Konditionierung, auch des Kontextes – zu einer positiven Erwartung. Damit wird auch ein positiver Ausgang antizi- piert, und die regulativen Prozesse werden in jene Richtung gelenkt.

Das entsprechend fokussierte Auf- merksamkeitsfenster lässt keinen anderen Ausgang erwarten: Man

„traut“ sich das bereits erlebte po- sitive Ergebnis erneut zu. All das ist durch die beschriebenen Hirn- zentren prinzipiell herstellbar – sie stellen in diesem Kontext eine sys- temische und funktionelle Einheit dar (13).

Ein zunehmender therapeutisch-medizinischer Pluralismus hält Einzug. Integration löst Separation ab, sagen Befürworter.

(4)

A 2220 Deutsches Ärzteblatt

|

Jg. 111

|

Heft 50

|

12. Dezember 2014 In Bezug auf den Betroffenen (den

„Regulierenden“) bedeutet dies, dass Heilung möglich erscheint und sich innerhalb des intentionalen Wahrneh- mungs- und Wahrscheinlichkeits- fensters befindet. Rituale wiederum sind Kontexte. Und jene sind beson- ders häufig – kulturell, aber auch si- tuativ – positiv besetzt. Das gilt auch für „Glücksbringer“ und vergleich - bare Zeichen: Hier werden positive Konditionierungen zu einer Art Selbstversicherung, um dann – im günstigen Fall – in eine positive Selbstwirksamkeit (oder eine Erwar- tung davon) umzuschlagen. Als „Ka- talysator“ dieses Prozesses können die Rituale oder Techniken selbst die- nen oder aber die angekoppelten Vor- stellungen und inneren Bilder, die ih- rerseits an die originären Kontexte gebunden sind. Solche „Katalysato- ren“ können dem unmittelbaren Ge- fühl der Verbundenheit dienen (mit einer Person, die es „gut“ meint, ei- nem Ort, Wunsch etc.), was es even- tuell leichter macht, sich „einzulas- sen“ und „einzustimmen“. Der Kreis schließt sich: Man erlebt sich selbst tatsächlich als „wirksam“ (14).

Angewandter Placeboeffekt In diesem Sinne können wir Hei- lungsrituale heute auch als prakti- schen Anker jener (neuro-)biologi- schen und psychomentalen Zusam- menhänge verstehen (15) und die Mind-Body-Medizin als „ange- wandten Placeboeffekt“, die Selbst- heilung als eine Art „Placebo-Medi- zin“ (16). In jedem Fall aber schei- nen die geschilderten Phänomene rund um die Selbstregulation nach wie vor von hoher Relevanz für die Medizin zu sein – in Forschung, Selbstverständnis und Anwendung (17). Es bleibt also interessant.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2014; 111(50): A 2214–20

Anschrift des Verfassers Prof. Dr. med. Tobias Esch Harvard Medical School

Division of General Medicine and Primary Care Beth Israel Deaconess Medical Center Boston (USA),

Bereich Integrative Gesundheitsförderung Hochschule Coburg

@

Literatur im Internet www.aerzteblatt.de/5014 oder über QR-Code

H

ausärzte müssen Sachen kön- nen, von denen man an Uni- versität und Krankenhaus wenig hört.

Buchführung und Steuerrecht bei- spielsweise, aber vor allem müssen sie mit dem Computer klarkommen. In Frankreich, wo ich praktiziere, arbeiten vielleicht 15 Prozent der Arztpraxen noch mit Papierakten, ohne Arztinfor- mationssystem. Da schaut man noch auf den Patienten, statt auf Tastatur und Bildschirm, und muss, etwa als Praxisvertreter, nicht gleich mit einem

komplexen Praxisprogramm zurecht- kommen. Einerseits.

Andererseits können die Ärzte häu- fig ihre Software nicht richtig bedienen und die Vorteile der IT nutzen. So gibt es seit Herbst 2013 im Rahmen des französischen Fortbildungswesens erst- mals Schulungen für Praxissoftware.

Diese Schulungen sind gratis (die Fi- nanzierung erfolgt durch einen Fonds der Krankenkassen) und dauern einen Tag. Mit einem Fragebogen habe ich bei 121 Ärzten, die die Software Axisanté (Compugroup) einsetzen, evaluiert, wel- che Funktionen wie genutzt werden und welche Faktoren eine bessere (Aus)nut- zung der Praxissoftware beeinflussen.

Nur zehn Prozent der Ärzte erfas- sen Vorerkrankungen „fast immer“

strukturiert, bei Allergien sind dies 24 Prozent. 22 Prozent geben Vorerkran- kungen beziehungsweise Allergien

„überwiegend“ strukturiert ein, die an- deren selten oder nie. Nur die struktu- rierte Erfassung ermöglicht bei Ver- schreibungen Warnhinweise, aber selbst bei solchen der höchsten Stufe reagieren 33 Prozent selten oder nie.

Dabei erhalten Ärzte von der Kranken- kasse sogar eine jährliche Prämie von 350 Euro, wenn ihre Praxissoftware zu solchen Warnhinweisen fähig ist.

Sicher, bisher konnten weder der reale Nutzen geschweige denn eine

vernünftige Aufwand-Nutzen-Relation eindeutig belegt werden. Das liegt ja auch am „Alarm-Overkill“. Aber es spart eindeutig Zeit und Energie, Mus- terrezepte und Musterdosierungen im Programm vorzuhalten, statt bei jedem Patienten das Rezept neu zu schrei- ben. 55 Prozent haben keine Muster- rezepte erstellt (ich gehörte zu den zwei Prozent, die mehr als 50 Muster- rezepte erstellt hatten), und weitere 50 Prozent keine Musterdosierungen.

Ich auch nicht, und ich weiß auch wa-

rum: Mir wuchsen die vielen Aufgaben in der eigenen Praxis ohnehin über den Kopf, und da wurde beim Compu- ter erstmal auf „Minimalbetrieb“ ge- schaltet (was mir viel zusätzliche Ar- beit machte).

Die Ärzte benutzten das Programm durchschnittlich seit acht Jahren, aber nur zwei Prozent meinen, es „sehr gut“ zu kennen, 14 Prozent „gut“, da- gegen je 42 Prozent „wenig“ oder

„genügend“. Wie auch: 71 Prozent ha- ben noch nie an irgendeiner Schulung teilgenommen. Man stellt dem Arzt ein leistungsfähiges, aber hochkomplexes Werkzeug auf den Schreibtisch („hier wird eingeschaltet“) und überlässt bei- de ihrem Schicksal. Das kann nicht weit führen, zum Schaden von Patient wie Arzt.

Ein Lichtblick ist, dass Ärzte das Programm nicht schlechter als Ärztin- nen nutzen (oder umgekehrt), und sich auch ältere oder beruflich stärker be- lastete Ärzte hierin nicht unterschei- den. Dagegen kommt mit dem Pro- gramm interessanterweise besser zu- recht, wer Leitlinien benutzt. Je länger Ärzte die Praxissoftware nutzen, desto besser nutzen sie sie. Da man einen ausbildenden Effekt der Nutzung an sich annehmen kann, rechtfertigen sich entsprechende Fortbildungen, man kann eben doch Vieles lernen.

GLOSSE

Dr. med. Wolfgang B. Lindemann, Elsaß

PRAXISVERWALTUNGSSOFTWARE

Im Minimalbetrieb

(5)

LITERATURVERZEICHNIS HEFT 50/2014, ZU:

SELBSTREGULATION

Selbstheilung als Teil der Medizin

Ein medizinisch-kultureller Blick auf die moderne Autoregulations-Forschung Tobias Esch

LITERATUR

1. Komaroff AL (Hrsg.): Mind-Body Medicine:

A Special Health Report. Boston: Harvard Health Publications 2001.

2. Dusek JA, Otu HH, Wohlhueter AL, et al.:

Genomic counter-stress changes induced by the relaxation response. PLoS One 2008; 3(7): e2576.

3. Aristoteles: Nikomachische Ethik. Köln:

Anaconda Verlag 2009.

4. Paracelsus (Philippus Theophrastus Au- reolus Bombastus von Hohenheim): Ge- sammelte Schriften: Studienausgabe in fünf Bänden. Basel: Schwabe 2010.

5. Virchow R: Ueber die Heilkräfte des Orga- nismus. Vortrag, gehalten am 2. Januar 1875 im Verein für Kunst und Wissen- schaft zu Hamburg. Berlin: Lüderitz’sche Verlagsbuchhandlung Carl Habel 1875.

6. Esch T: Gesund im Stress: Der Wandel des Stresskonzeptes und seine Bedeutung für Prävention, Gesundheit und Lebensstil.

Gesundheitswesen 2002; 64(2): 73–81.

7. Kaptchuk TJ, Friedlander E, Kelley JM, et al.: Placebos without deception: a rando- mized controlled trial in irritable bowel syndrome. PLoS One 2010 Dec 22; 5(12):

e15591.

8. Kam-Hansen S, Jakubowski M, Kelley JM, et al.: Altered placebo and drug labeling changes the outcome of episodic migraine attacks. Sci Transl Med 2014; 6(218):

218ra5.

9. Hall KT, Lembo AJ, Kirsch I, et al.: Cate- chol-O-methyltransferase val158met poly- morphism predicts placebo effect in irrita-

ble bowel syndrome. PLoS One 2012;

7(10): e48135.

10. Katz R: Boiling energy: Community healing among the Kalahari !Kung. Cambridge:

Harvard University Press 1982.

11. McClenon J: Wondrous Healing: Shama- nism, Human Evolution, and the Origin of Religion. DeKalb: Northern Illinois Universi- ty Press 2001.

12. Esch T, Guarna M, Bianchi E, Zhu W, Ste- fano GB: Commonalities in the central nervous system’s involvement with com- plementary medical therapies: Limbic morphinergic processes. Med Sci Monit 2004; 10(6): MS6-17.

13. Esch T, Stefano GB: The neurobiology of pleasure, reward processes, addiction and their health implications. Neuro Endocrinol Lett 2004; 25(4): 235–51.

14. Esch T: Stress, Anpassung und Selbstor- ganisation: Gleichgewichtsprozesse si- chern Gesundheit und Überleben. Forsch Komplementarmed 2003; 10(6): 330–41.

15. Esch T, Stefano GB: The neurobiology of stress management. Neuro Endocrinol Lett 2010; 31(1): 19–39.

16. Stefano GB, Fricchione GL, Slingsby BT, Benson H: The placebo effect and relaxati- on response: neural processes and their coupling to constitutive nitric oxide. Brain Res: Brain Res Rev 2001; 35(1): 1–19.

17. Bundesärztekammer: Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats der Bundes- ärztekammer „Placebo in der Medizin“.

Dtsch Arztebl 2010; 107(28–29): A 1417.

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Die vorliegende Arbeit zeigt die Anwendbarkeit eines Thiol-en-Systems für Formgedächtnis- unterstützte Selbstheilung. Beim Umgang mit diesem System sind sehr viele Einflussfaktoren zu

Aber ich kann Ihnen allen versichern, dass wir mit der neuen Wirkstoff vereinbarung eine echte Lösung für das drängende Problem gefunden haben, als Arzt den Patienten auch

„ naiv/erfahren, je nach Genotyp interferonfreies oder interferon- haltiges SOF-Regime: Anhalts- punkt für geringen Zusatznutzen Weitere Hintergrundinformationen finden Sie

ausgestellt von der Sparkasse Hilden·Ratingen·Velbert, der ehemaligen Stadt- Sparkasse Hilden (H), der ehemaligen Stadt-Sparkasse Ratingen (R) und der ehemali- gen Sparkasse

Zur Begründung führte der Beschwerdeführer im Wesentlichen aus, dass die Abga- ben in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Nutzung der Wasser- und Kanalisationsan- schlüsse

Wiederholt zeigt sich, dass das muslimisch-deutsche Leben nicht wahrgenommen wird und dass sowohl die muslimisch-deutsche Geschichte als auch die Pluralisierung der deutschen

Gegebenenfalls ist eine (erneute) Information der Privaten und Unternehmen in Bereich Ihrer Kommune über den Endtermin zur Antragstellung durch entsprechende Veröffentlichungen

Depuis début novembre 2018, Silvia Meier blogue également pour la Ligue suisse contre le rhumatisme sur Insta - gram(seulement en allemand).. Elle sait comment faire passer