Scharfe Begriffstrennung
Die nahe des Messfehlers liegende Grenze von 3°-Achsabweichung und noch unzureichende Daten über patien- tenzentrierte Endpunkte unterstrei- chen den dringenden Forschungsbe- darf. Unzutreffend ist jedoch die Aussa- ge in Tabelle 1 „Aktuelle Evidenz Level I- und II-Studien (alle prospektiv ran- domisiert)“. Dies ist nicht den Autoren, sondern der fehlenden Transparenz der Originalpublikationen anzuschuldigen.
Lediglich Chauhan teilte Patienten ein- deutig anhand einer Randomisierungs- liste den Behandlungsarmen zu („Der Randomisationsplan, erstellt durch ei- nen unabhängigen Statistiker, sah eine Blockrandomisierung à vier Blöcken vor“). Die Studie von Sparmann stellt bestenfalls eine quasi-randomisierte kontrollierte Studie (RCT) dar („Die Patienten wurden nach der Verfügbar- keit des Navigationsinstrumentariums einem der Behandlungsarme zugeteilt.
[...] Diese Methode generierte gleich große Gruppen.“) Der Hinweis „. . . aus der Studie wurden 133 Fälle ausge- schlossen . . . “ weist auf methodische Mängel hin. Die Randomisierung wur- de fälschlich als Methode verstanden, um quantitativ gleiche Stichproben zu generieren. Der Untersuchung der Au- toren liegt mit der Zuordnung nach Wo- chentagen („Die Patienten wurden ent- sprechend dem Wochentag einer Be- handlungsgruppe zugeteilt“) ebenfalls ein quasi-randomisiertes Design zu- grunde (1). Bei Mielke heißt es: „Der andere Teil der Studie stellt die ersten 30 navigierten Fälle prospektiv einer Vergleichsgruppe von 30 Fällen, die in
konventioneller Weise versorgt wur- den, gegenüber.“ Jenny führt aus: „50 Patienten wurden mit dem Navigations- system Orthopilot operiert. Weitere 50 Patienten wurden einer Serie von 400 unter der gleichen Indikationsstellung und mit der gleichen Prothese konven- tionell operierten Patienten entnom- men.“ Hart gibt an: „Die Patienten wur- den während ihrer Erstvorstellung zu- fällig selektiert“. Fasst man die Studi- energebnisse nicht in dichotomer Form zusammen, sondern summiert die Ab- weichungen von der mechanischen Achse in Grad, ergibt sich darüber hin- aus ein anderes Bild als von den Auto- ren gezeichnet: die Navigation tendiert zum Valgus, die konventionelle Implan- tation zum Varus (gewichtete Mittel- wertdifferenz, random-effects-Modell:
–0,19°, 95Prozent Konfidenzintervall –0,50 –0,11°). Fazit: Die Navigation stellt ein plausibles, innovatives, aus der Endoprothetik und Wirbelsäulen- chirurgie nicht mehr wegzudenkendes Verfahren dar. Analog zur laparos- kopischen Cholezystektomie wird ihr Siegeszug wohl auch ohne die Ergeb- nisse valider RCTs unaufhaltsam sein.
Ein Leserbrief im Lancet unter- streicht: „Wenn alles doppelblind, randomisiert und evidenzbasiert sein muss – wo bleiben dann die neuen Ideen (2)?“. Interessieren ausschließ- lich Surrogat-Endpunkte, wie zum Beispiel die radiologische Achsabwei- chung, ist es möglicherweise unerheb- lich, ob eine Studie randomisiert oder nichtrandomisiert durchgeführt wird.
In der wissenschaftlichen Auseinan- dersetzung muss aber eine scharfe Begriffstrennung erfolgen und die Hierarchie der wissenschaftlichen Be- weiskraft eingehalten werden.
Literatur
1. Perlick L, Bäthis H, Tingart M, Perlick C, Grifka J: Naviga- tion in total-knee arthroplasty: CT-based implantation compared with the conventional technique. Acta Orthop Scand 2004;75:464–70.
2.Wu J: Could evidence-based medicine be a danger to pro- gress? Lancet 2005; 366:122.
Dr. med. Dirk Stengel Prof. Dr. med. Axel Ekkernkamp
Dr. med. Dirk Stengel
Zentrum für Klinische Forschung, Unfallkrankenhaus Berlin Warener Straße 7, 12683 Berlin
E-Mail: stengeldirk@aol.com
Schlusswort
Es ist korrekt, dass die zitierten und als Level-1- und 2-Studien klassifizierten Arbeiten nicht ohne Einschränkung den Kriterien der Randomisierung im Sinne der evidenzbasierten Medizin (EbM) genügen. Den Publikationen fehlt genü- gend Transparenz hinsichtlich der Ran- domisierung, was das Problem der Ver- gleichbarkeit medizinisch-wissenschaftli- cher Publikationen erneut unterstreicht.
Abgesehen von diesen marginalen Schwächen haben wir uns bemüht, die qualifiziertesten vergleichenden Studien in einer Metaanalyse zu untersuchen.
Dies gelingt sehr gut und kann die Vor- teile der Navigation herausstellen. Ob die Achstendenz bei navigierter Knie- prothese zum Valgus und bei konventio- neller Implantation zum Varus hin (so- fern man keine dichotome Aufschlüsse- lung vornimmt) medizinisch relevant und auf die Navigation zurückzuführen ist, sei dahingestellt. Die Navigation in der Knieendoprothetik hat sich jeden- falls bislang an vielen nationalen und in- ternationalen Zentren durchgesetzt, und der Anteil der navigierten Knieendopro- thesen an den 90 000 pro Jahr in Deutsch- land implantierten wird kontinuierlich zunehmen. Etwas kritischer sehen wir das Ende des Fazits und das Zitat von Wu: Sicherlich ist die oft sehr kontrovers geführte Debatte zur (EbM) in vielen Fällen überzogen und wird häufig auch durch die Kostenträger forciert; trotz- dem müssen sich gerade neue und inno- vative Verfahren auf diese Weise bewähren, um Schwachstellen und vermeintliche Vorteile aufzudecken. Es ist die Aufgabe des Arztes, unter allen Optionen die optimale Therapieform herauszufinden. Selbstverständlich darf dies der Innovationsfreude im Bereich Arthrose, „tissue engineering“ und Gelenkersatz nicht zuwiderlaufen. Nur die kontinuierliche Weiterentwicklung bestehender Verfahren wird zu einer Verlängerung der Standzeit von Knie- totalendoprothesen führen.
Dr. med. Christian Lüring
Orthopädische Klinik der Universität Regensburg Kaiser-Karl-Allee 3, 93077 Regensburg
Die Autoren aller Diskussionsbeiträge erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des Internatio- nal Committee of Medical Journal Editors besteht.
M E D I Z I N
Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 1–2⏐⏐9. Januar 2006 AA47
zu dem Beitrag
Die navigationsgestützte Knieendoprothetik
Eine Standortbestimmung unter evidenzbasierten Kriterien von
Dr. med. Christian Lüring et al.
in Heft 34–35/2005