Goethe aktuell: die jungen Ideologen
Cie wissen, es vergeht bei mir
■Likaum ein Tag, wo ich nicht von durchreisenden Fremden besucht werde. Wenn ich aber sagen sollte, daß ich an den per- sönlichen Erscheinungen, be- sonders junger deutscher Ge- lehrter aus einer gewissen nord- östlichen Richtung, große Freu- de hätte, so müßte ich lügen.
Kurzsichtig, blaß, mit eingefalle- ner Brust, jung ohne Jugend:
Das ist das Bild der meisten, wie sie sich mir darstellen.
„Von gesunden Sinnen und Freude am Sinnlichen keine Spur ..."
Und wie ich mit ihnen mich in ein Gespräch einlasse, habe ich so- gleich zu bemerken, daß ihnen dasjenige, woran unsereiner Freude hat, nichtig und trivial er- scheint, daß sie ganz in der Idee stecken und nur die höchsten Probleme der Spekulation sie zu interessieren geeignet sind. Von gesunden Sinnen und Freude am Sinnlichen ist bei ihnen keine Spur, alles Jugendgefühl und al- le Jugendlust ist bei ihnen aus- getrieben, und zwar unwieder-
bringlich; denn wenn einer in seinem zwanzigsten Jahr nicht jung ist, wie soll er es in seinem vierzigsten sein!
Wir wollen indes hoffen und er- warten, wie es etwa in einem Jahrhundert mit uns Deutschen
aussieht, und ob wir es sodann dahin werden gebracht haben, nicht mehr abstrakte Gelehrte und Philosophen, sondern Men- schen zu sein.
(Aus Goethes Gesprächen mit Eckermann am 12. März 1828) Zeichnung: Dr. med. Manfred Krause-Sternberg
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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen POST SCRIPTUM
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118 Heft 10 vom 11. März 1983 80. Jahrgang DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ausgabe A