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Die Würde des Menschen ist unantastbar

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Freya Klier Dresden, im März 2019

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“

So heißt es in Artikel 1 unseres Grundgesetzes, das demnächst 70 Jahre alt wird. „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Als das Grundgesetz 1949 verfasst wurde, von den Parlamentariern der noch sehr jungen Demokratie, lag der Völkermord an sechs Millionen europäischen Juden noch nicht einmal zehn Jahre zurück.

Bei den Demokraten Deutschlands, Europas und der Welt stand die Frage: Wie ist das möglich gewesen? Wieso haben diesen Wahnsinn so viele mitgemacht... wieso schauen so viele weg, wenn es ernst wird, klatschen vielleicht Beifall? Es gab ja unter den

Nationalsozialisten auch noch weitere Vernichtungen sogenannten

´unwerten Lebens´: Behinderte, unheilbar Kranke fielen der Euthanasie zum Opfer. Und mit dem Überfall auf Polen und die Sowjetunion folgten Massenmorde an Menschen, die plötzlich als

´minderwertige Rassen´ galten...

´Ach, das ist nun schon so lange her´, heißt es oft ´und lag ja auch tief im letzten Jahrhundert, da waren wir noch gar nicht auf der Welt!´

Stimmt. Doch hinter Europa liegen schwere Anschläge durch muslimische Terroristen, und seit wenigen Tagen lähmt der Massenmord eines ausstralischen Rassisten an Muslimen im beschaulichen Neuseeland die Welt.

Und woher nehmen wir die Gewissheit, dass wir uns niemals an der Entwürdigung anderer Menschen beteiligen... gar Gewalt gegen sie anwenden würden? Gehen furchtbare, diktatorische Regime nicht klein los, durch eine wachsende Zahl von Menschen, die

beschließen, dass andere - sei es aufgrund ihrer

Religionszugehörigkeit, ihrer Hautfarbe oder politischen Einstellung, vielleicht einer körperlichen Behinderung - nichts in unserer

Gemeinschaft zu suchen haben? Dass man ihre Würde mit Füßen treten darf - und den Menschen gleich mit?

Eine junge Deutschlehrerin in Brandenburg startete vor wenigen Monaten einen Versuch:

In ihrem Leistungskurs der 11. Klasse an einer Brandenburger Schule führte sie plötzlich ein neues Punkte-System ein:

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- Zuerst wurde die Klasse nach Noten sortiert. Die Einser saßen nun vorne und genossen Vergünstigungen, etwa kostenlose Stifte und gutes Papier. Die Vierer saßen hinten und bekamen nichts.

- Dann wurden Sachtexte zu modernen Medien bearbeitet. Wer gut mitarbeitete, bekam Bonuspunkte und rückte nach vorne auf, wer nicht gut mitarbeitete, rutschte nach hinten ab.

- Zwischenrein zeigte die Lehrerin den Schülern einen Film aus einer Serie, in der Menschen mit vielen Followern eher zu einem Haus und einem Traumjob kommen als Menschen ohne Follower, die eher arm und arbeitslos sind. Jeder kann jeden jederzeit per App bewerten, weswegen sich die meisten verstellen. So der Film...

Die Klasse hatte dazu eine zwiespältige Meinung. Nur wenige konnten sich vorstellen, dass ein solches System wirklich

funktioniert, weil Bürgerinnen und Bürger dagegen demonstrieren würden...

Dass es sich um ein Experiment handelte, war noch immer keinem Schüler bewusst.

Am Ende der Stunde gab die Lehrerin eine freiwillige Hausaufgabe:

Schüler könnten in ihrer Freizeit Bonuspunkte sammeln, etwa durch Mithilfe im Haushalt, Gassi gehen mit dem Hund oder freundliches Grüßen der Lehrkräfte. ´Die Hausaufgabe wurde belächelt´,

berichtete die Lehrerin, ´denn meine Schüler sitzen sonst am liebsten so weit hinten wie möglich.´

Überraschenderweise sammelten aber 19 von 20 Schülern durch Hilfe im Haushalt, Gassi gehen, freundliches Grüßen der Lehrer usw. Pluspunkte.

Außer einem Schüler - nun, nennen wir ihn Ben. Er, der als einziger keine Bonuspunkte sammeln wollte, wurde bestraft. Sein Stuhl wurde vor die Tür gestellt, er musste vom Flur aus dem Unterricht folgen. Als er sich wehrte, ergriffen die anderen Schüler die Seite der Lehrerin und kritisierten ihn. Der Grund: ´Er würde den

Unterricht gefährden´ meinte die Lehrerin. Als Ben einen Fuß über die Türschwelle schob, ermahnten ihn Klassenkameraden.

Nach nur einem Tag hatte die Klasse das adaptiert, was sie vorher abgelehnt hatte.

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´Gruselig´ fand das die Lehrerin im Nachhinein. Dann löste sie das Experiment auf...

Im Interview mit Journalisten gab sie zu, dass Ben der wahre Held der Geschichte sei. Der Unangepasste, der seine Meinung sagt und oft das letzte Wort habe. Er sei fleißig und clever, besuche gern Demos in Berlin und organisiere fast alles in seinem Jahrgang für das Abitur. Er hat sich bewusst gegen das Punktesammeln

entschieden. Und war in der Auswertung auf einmal der von seinen Mitschülern irgendwie Bewunderte, weil er den Mut hatte, im

Unterschied zur Gruppe aus Überzeugung eine eigene Meinung zu vertreten, auch wenn ihm das Nachteile brachte. Schüler Ben zog Parallelen zum chinesischen System.

Ich komme aus einem solchen System, aus einer

Erziehungsdiktatur. Nicht weit von hier bin ich vom 9. bis zum 12.

Jahr ins Gymnasium gegangen. Aber ach, das Wort Gymnasium war komplett in der gesamten DDR gestrichen worden, weil es ein bürgerliches Wort war... ich ging also in die Erweiterte Oberschule.

Und auch das Wort „Individualität“ wurde nach dem Mauerbau aus dem offiziellen Sprachschatz der DDR gestrichen und durch das Wort Kollektiv ersetzt: Individuen, so lernten alle DDR-Kinder in der Schule, sind Egoisten, die denken nur an sich, die leben im Westen.

Wir aber bauen den neuen sozialistischen Menschen auf und der lebt im Kollektiv!

Das Wort wurde aus der Sowjetunion übernommen und in alle

besetzten osteuropäischen Staaten gestanzt, eben auch in die DDR.

Man hatte sich ins Kollektiv einzuordnen oder bekam Ärger. Auch von den Mitschülern. In meinem Zeugnis von der 10. zur 11. Klasse stehen unter anderem die Sätze: „Freya wurde in den vergangenen Wochen von ihrer Brigade öfter kritisiert. Ihre Kameradinnen

möchten nicht, daß sich Freya außerhalb des Kollektivs stellt, daß sie über diese Kritik leichtfertig hinweg geht.“

Natürlich waren es keinesweg alle Mitschüler, welche die kritiklose Unterordnung forderten, sondern vor allem jene, deren Eltern auf Seiten der sozialistischen Macht standen - und damit der

Privilegien. Die meisten in meiner Klasse mochten meine temporäre Unangepasstheit... aber meistens nur heimlich.

Mitte der 60-er Jahre wurden in der DDR zwischen 7 000 - 8 000 Jugendsspitzel in den Klassenkollektiven aufgebaut. (Beispiel Medizinbälle)...

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2.

Vergangenheit ist das nicht. Fast überall auf der Welt gibt es autoritäre Systeme. Wir haben heute mehr als 70 Staaten, die faktisch Diktaturen sind. In denen Menschen verfolgt werden aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit oder weil sie sich für

Demokratie einsetzen, weil sie Juden sind, Muslime oder Christen.

Das riesige China mag wohl die größte der Diktaturen sein - hier wurden ganze Generationen von Menschen gleichgeschaltet - und gebrochen, so sie nicht funktionierten. China verfügt neben vielen Gefängnissen über KZ-ähnliche Umerziehungslager, in denen zur Zeit die mehrheitlich muslimischen Uiguren einsitzen. Zuvor wurden über Jahrzehnte hinweg Buddhisten verfolgt - und permanent alle, die statt des sozialistischen 1-Parteien-Systems Demokratie

wollten, also gleiches Recht für alle. Nun hat China vor kurzem ein Scoring-System zur Überwachung seiner Bürger eingeführt, mit einer Bewertung durch Punkte.

Wer sich kritisch äußert oder nur bei Rot über die Straße geht, wird durch Punkte abgewertet. Mit teils drastischen Folgen - etwa

Reiseverbote oder Sperren bei der Beförderung im Job. Dafür gibt es Überwachungskameras und das ausgeklügelte System der Denunziation.

Die freie Entfaltung der Persönlichkeit oder der Artikel des

Grundgesetzes „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“ gelten in Diktaturen nicht, hier wird die Würde des Menschen schon von Staatsseite her mit Füßen getreten.

Ich habe das über 30 Jahre lang erlebt, auch meine Familie und meine Freunde.

Hier in Dresden bin ich aufgewachsen. Und möchte ein paar wenige Erlebnisse schildern, wie behandelt wurde, wer nicht im großen Kollektiv funktionierte, sondern sich individuell entfalten wollte:

a) Schlimm war der Mauerbau 1961/ keine Flucht mehr möglich d) Zweithöchste Selbstmordrate - Haarschneide-Aktion lesen!!

e) Arbeitspflicht, Asozialen-Paragraf. Bernd Vatzek f ) Das Schicksal meines Bruders, 1966

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3.

Vor zwei Wochen kam es beim Chemnitzer FC zu einem

beschämenden Eklat: Bei einem Heimspiel wurde in der Fankurve des verstorbenen Neonazis Thomas Haller gedacht. Es gab eine Choreografie und Pyrotechnik zu seinen Ehren, Musik wurde über die Stadionlautsprecher abgespielt, auch eine Rede wurde verlesen.

Thomas Haller?

In der Neonazi-Szene von Chemnitz war Haller eine Größe, er war 20 Jahre zuvor der Gründer der berüchtigten rechtsextremen

Hooligan-Gruppe „Hooligans-Nazis-Rassisten“, kurz „Hoonara“.

Soweit so bitter, aber für Chemnitz wenig überraschend. Denn die Fanszene dort gilt schon seit Jahrzehnten als durchsetzt von

rechtsextremem Gedankengut und Neonazikadern. Neu war nun lediglich der offizielle Anstrich des Gedenkens, die Nutzung der Stadionlautsprecher und der Anzeigetafel und die weit über Chemnitz hinausreichende schockierte Wahrnehmung. Welches Gewaltpotential von einigen Anhängern der Pro Chemnitz-

Bewegung ausgeht, konnte bereits während der Proteste im Spätsommer 2018 beobachtet werden, wo es zu zahlreichen Übergriffen auf Migranten und den Angriff auf ein jüdisches Restaurant gekommen war.

Handelt es sich hierbei um ein Chemnitzer Phänomen?

Keineswegs, wenn auch die Schamlosigkeit und Dimension der Menschenverachtung deutlich zugenommen hat. Als Schulklassen vor einigen Jahren in einer brandenburgischen Kleinstadt mit ihren Lehrern ins Rathaus „probe-wählen“ gingen, wurde dies leise und schnell wieder eingestellt: Weit mehr als die Hälfte der Schüler hatten ihr Kreuzchen bei der NPD gemacht...

In Schwerin berichtete im Jahre 2000 die Lehrerin einer Haupt- und Realschule, dass Haarlängen von mehr als 3 mm in ihren Klassen verpönt seien. Da freute es die Lehrerin, dass sich die Schüler den Film „Schindlers Liste“ anschauen wollten - einen Film, in dem ein deutscher Industrieller im 2. Weltkrieg etwa 1200 Juden aus den besetzten Ländern Polen und der Tschechoslowakei in seinen Rüstungsbetrieben beschäftigte und sie damit vor dem Tod im Vernichtungslager Auschwitz rettete...

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Beim Filmschauen bemerkte sie plötzlich, wie ein Teil der Schüler sich an Szenen weideten, in denen Juden gequält wurden. Manche klatschten und jubelten gar. Erschrocken habe sie daraufhin den Fernseher abgeschaltet...

Schauen wir noch einmal zurück in jene Diktatur, von der die Eltern und Großeltern dieser Jugendlichen geprägt sind:

Über 40 Jahre herrschte beispielsweise ein kaum verhohlener Antisemitismus - dabei waren weit und breit keine Juden mehr zu sehen; die waren bereits mehrheitlich in den 1950-er Jahren in den Westen geflüchtet, um drohenden Verhaftungen durch die

sozialistischen Machthaber zu entgehen. Hinzu kam ein Zangengriff gegenüber der extremen Minderheit von Ausländern, die sich

vorübergehend in der abgeschotteten DDR aufhalten durften.

Eigentlich wollte die niemand, doch herrschte nach der

millionenfachen Flucht von DDR-Bürgern ein solch permanenter Arbeitskräftemangel, dass die SED sich Ende der 1970-er Jahre schweren Herzens entschloss, ein wechselndes Kontingent von Vietnamesen und Mocambiquanern ins Land zu lassen – für jeweils drei Jahre, dann wurden sie gegen die nächsten ausgetauscht.

„Fidschis und Mocis“ aber waren in abgesonderten Wohntrakts untergebracht, die offiziellen Gaststätten waren ihnen verwehrt.

Sie durften die Stadt nicht ohne Genehmigung verlassen, mussten in den Betrieben niedere Arbeiten verrichten und sollten gar nicht erst Deutsch lernen.

Vor allem - und das lässt jeden Rechtsradikalen noch immer jubeln - standen ihre Frauen unter Abtreibungszwang.

Dazu hieß es in der „Vereinbarung über die Verfahrensweise bei Schwangerschaft vietnamesischer werktätiger Frauen in der DDR“, einem Regierungsabkommen von 1980, das 1987 noch einmal bekräftigt wurde:

„Schwangerschaft und Mutterschaft verändern die persönliche Situation der betreffenden werktätigen Frauen so grundlegend, dass die damit verbundenen Anforderungen der zeitweiligen Beschäftigung und Qualifizierung nicht realisierbar sind.

Vietnamesische Frauen, die die Möglichkeiten der

Schwangerschaftsverhütung bzw. –unterbrechung nicht

wahrnehmen,treten nach ärztlich bescheinigter Reisetauglichkeit die vorzeitige Heimreise an.“ Die Heimreise hatte auf eigene Kosten zu erfolgen.

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Gibt es ein rechtsradikaleres Programm? Doch die solches

praktizierten, spielen heute „Die Linke“. Und schoben schon kurz nach dem Mauerfall dem Westen ihren eigenen praktizierten

Miesheiten in die Schuhe.

Denn Rechtsradikalismus brach sich nun ungehindert Bahn.

Im September 1990 veröffentlichte ich in der „Allgemeinen

Jüdischen Wochenzeitung“ meinen Essay über Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit, den ich in tiefen DDR-Zeiten verfasst hatte.

Ich schrieb, was in unserem durchorganisierten deutschen

Blockwart-System so passierte, als die „BRD“ im Osten noch gar nicht präsent war.

Ich schrieb von den Vietnamesinnen und meiner alten jüdischen Freundin Johanna, die den Nazi, der sie 1935 vergewaltigt und in die Elbe gestoßen hatte, nun als Parteisekretär der SED vor sich sitzen sah. Ich schrieb vom LPG-Fest in Mecklenburg, auf dem ich in den 70-er Jahren zu Gast war und bei dem sich die angeheiterten Bauern zur Polonaise durchs Gartengestühl zwängten und -

einträchtig vom Melker bis zum SED-Sekretär - das

´Polenstädtchen´ und die ´Schwarbraune Haselnuss´ aus dem Liederbuch der Wehrmacht sangen. Ich schrieb von unserem kleinen anti-rassistischen Theaterstück, das ich 1986 mit zwei Berliner Jugendlichen einstudiert hatte, die aus einer deutsch- sudanesischen Studenten-Liaison hervorgegangen waren. Die Jungen wuchsen - ihr Vater bekam nach dem Studium kein

Bleiberecht in der DDR - als ´Nigger´ und ´Kohle´ auf und mussten schließlich in eine Armee-Sondereinheit gesteckt werden, damit sie die Armeezeit heil überstanden.

Wie gesagt, auch dieses Theaterstück studierten wir zu einer Zeit ein, da der „antifaschistische Schutzwall“ uns noch vor den West- Nazis schützte.

Nazis hatten wir selbst in der DDR.

In plastischer Erinnerung steht mir noch immer jene Fascho-Horde, die im Oktober 1987 mit ´Sieg Heil!`und ´Juden raus aus

deutschen Kirchen!´ die Nachbarskirche überfallen und dort mit Flaschenhälsen auf fliehende Punker eingestochen hatte... die um Hilfe gerufenen Polizisten, die sich wenig einsatzfreudig zeigten, weil sie mit Skinheads ganz gut zurecht kamen. ´Juden raus aus deutschen Kirchen?´ dachte ich damals - ´gibt es in der DDR

überhaupt noch Juden?´ Von den wenigen, verschwindend kleinen jüdischen Gemeinden hörte man buchstäblich nichts. Und im Jahr

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zuvor hatte ich mit ein paar Freunden Unterschriften gesammelt, um das Plattwalzen des jüdischen Friedhofs Berlin-Weißensee zu verhindern... Das Jüdische kam vor 1987 eigentlich nur in Form einer Bemerkung vor, die häufig gebraucht wurde und nur wenige zu stören schien: ´Dich haben sie wohl vergessen zu vergasen´...

´Wir stehen vor einem Scherbenhaufen´ schrieb ich 1990 ´und haben Bilanz zu ziehen, die Bilanz einer unglaubwürdigen

Gesellschaft. Im Jahr 1990 herrscht in den Städten der zerfallenden DDR ein Klima offener Gewalt...´

Kurz zuvor musste ich selbst aus einem leeren S-Bahn-Abteil in Richtung Fahrerhäuschen fliehen, weil mich ein Pulk mit

Springerstiefeln und Bomberjacken aufgrund meiner dunklen Haare als ´Judenfotze´ausgemacht hatte. In Sicherheit wähnte ich mich erst, als ich Westberliner Gebiet erreichte... Niemals hätte ich von einem Ost-Berliner Polizisten erwartet, geschützt zu werden. Die kamen mit Skinheads gut zurecht , denn die gingen pünktlich zur Arbeit und räumten mit dem Punker-Gesindel auf.

Die Politik der herrschenden Sozialisten war der Dünger für Ressentiments gegenüber allem, was von der Norm abwich. So trübten nie Obdachlose das graue Straßenbild der DDR - wer nicht zu arbeiten gedachte, fand sich als Asozialer hinter Gittern wieder, wo er zur Arbeit gezwungen wurde, für einen Sklavenlohn. Für Behinderte gab es keine Schrägen, sie blieben weitgehend aus der Öffentlichkeit verbannt...

Schon unmittelbar nach dem Mauerfall sah ich, wie die

verantwortlichen sozialistischen Genossen das ganze Thema dem

„Westen“, der „BRD“, dem „Kapitalismus“ unterzujubeln begannen.

Ihre Propaganda-Maschine rotierte über die Jahre so massiv, dass heute ein Satz wie der von den ´nach dem Mauerfall entwurzelten Jugendlichen´ ebenso gesamtdeutscher Standard ist wie der von den tollen Kindergärten in der DDR. Gelernt ist gelernt. Gleichzeitig mutierten die Genossen selbst von der SED zur PDS und dann zur honigsüßen Partei „Die Linke“...

4.

Und nun bricht die Fremdenfeindlichkeit richtig aus: 1992 finden in Rostock-Lichtenhagen die massivsten fremdenfeindlich motivierten Übergriffe der deutschen Nachkriegsgeschichte statt: Vor einem

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Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter, die gern in Deutschland bleiben wollen, versammeln sich mehrere hundert rechtsextreme Randalierer und stecken die Unterkunft, in der sich zu dieser Zeit über 100 vietnamesische Männer, Frauen und Kinder befinden, mitMolotowcocktails in Brand. Es schauen zu und

applaudieren heftig bis zu 3000 Zuschauer - größtenteils Einwohner aus den Hochhäusern der Nachbarschaft, die noch zusätzlich den Einsatz von Polizei und Feuerwehr behindern. Die Polizei wiederum zieht sich zeitweise völlig zurück und überlässt die im brennenden Haus Eingeschlossenen schutzlos sich selbst.

Erinnern wir uns der Fernsehbilder, wie die verzweifelten Menschen sich mit Hilfe eines Sozialarbeiters aufs Dach des Hochhauses

retten...

Und wieder ist es ein Einzelner, der sich einer skrupellosen, aufgepeitschten Masse entgegenstellt und sich schützend vor Menschen stellt, die sich in hoher Not befinden.

1993 war ich in Berlin-Köpenick auf einer Bürgerversammlung, auf der den Bewohnern einer Eigenheimsiedlung rund ums

Wendenschloß mitgeteilt wurde, es werde demnächst in ihrer Nähe ein Aufnahmeheim für bosnische Kriegsflüchtlinge entstehen.

1993 kannten die Ex-DDRler politische Korrektheit noch nicht, und so schlug dem Sozialstadtrat schon bei der Ankündigung der Hass von 300 Köpenickern entgegen. Wüst schrie zunächst alles

durcheinander, dann setzte sich eine lautstarke Stimme durch: Den Menschen in den neuen Bundesländern ginge es schon schlecht genug. Man lehne es ab, diese Schweine - gemeint waren die

Flüchtlinge - überhaupt hereinzulassen. Der Mann erntete tosenden Beifall, und der nächste Redner wollte nun auf die D-Mark genau wissen, was das alles koste. Der Einwand des Stadtrates, es

handele sich doch um Menschen, die in Not sind, ging im Gejohle unter...

In Brandenburg hat zwei Jahre später ein halbes Dorf gesammelt, um einen Jugendlichen zu bestärken, ein ausgebautes

Asylbewerberheim abzufackeln. Der Kommentar eines Anwohners:

´Besser vorher, als wenn die Menschen schon drin gewesen wären

´...

Wie lange hält so etwas vor? Wieviele Jahrzehnte halten und reproduzieren sich tief verinnerlichte Verhaltensmuster? Können nach einem halben Jahrhundert Diktatur die Bewohner des Ostens

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noch etwas dazu lernen - ich meine jetzt jene, die noch heute von der Diktatur schwärmen? Auch die Pegida-Märsche sind mir in unguter Erinnerung.

Wo sind die glaubwürdigen Lehrer?

Seit den 90-er Jahren diskutiere ich in Schulen über Diktatur und Demokratie, Toleranz und Fremdenfeindlichkeit. Eine dieser

Zusammenkünfte fand in einer Neuruppiner Berufsschule statt, mitten in Brandenburg. Das Treffen mündete in einen schon öfter gehörten Satz, benickt wie eine kollektive Klage, der Satz ´Wir sind hier überfremdet!´

Als ich die etwa sechzig Neuruppiner Berufsschüler bat, doch mal durch Handzeichen zu signalisieren, wer in dieser Runde nicht in Deutschland geboren sei, hob sich kein einziger Arm.´Ihr seid nun nicht gerade überfremdet´ stellte ich lapidar fest und erwartete die rituelle Antwort: ´Wir hier nicht, aber überhaupt...´. Dann folgte das Lamento, im Osten gäbe es schon Probleme genug, keine

Ausbildungsplätze und so weiter... Nach dem Unterricht stiegen die Berufsschüler auf ihre Mopeds, in ihre Autos und brausten davon.

Vielleicht hat sich keiner der Jugendlichen, denen ich begegnet bin, an rassistischen Überfällen beteiligt. Doch stellt sich die Frage, woher diese Schieflage in der Wahrnehmung kommt, wer den Boden dieses irrationalen Überfremdungsgefühls bereitet hat. Hier gibt es eine sehr lange Tradition - und spürbar fehlen die Millionen von DDR-Bürgern, die verzweifelt aus dem DDR-Staat geflohen sind. Darunter befand sich fast unsere gesamte kritische

Intelligenz.

Die Würde des Menschen ist unantastbar...eines jeden Menschen!

Die Regeln unseres Zusammenlebens werden noch keineswegs überall befolgt. Soeben hat sich die Kultusministerkonferenz dafür ausgesprochen, allen Schülern in Deutschland im Laufe ihrer

Schulzeit eine Ausgabe des Grundgesetzes auszuhändigen. Das ist eine gute Idee. Denn Demokratie und ihr Wertesystem sind heute kaum mehr selbstverständlich, das gelte bei allen unterschiedlichen sozialen, religiösen und kulturellen Hintergründen, meinen die

Bildungsminister der Länder: „Schulen sind der beste Ort, um Demokratie, Respekt und die Regeln des Zusammenlebens zu verstehen und zu lernen“.

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Das stimmt. Doch wird es nicht ausreichen, nur im Grundgesetz zu blättern.

Solidarität und Zivilcourage sind eine tägliche Aufgabe. Geschult werden muss das Gespür, wann eine Ausgrenzung beginnt.

Und schaut man genau hin, sieht man ja auch schon positive Entwicklungen:

Ein vietnamesisches Paar, das 1990 hier in Dresden blieb und zur Freude der Bewohner einen Gemüseladen eröffnete, durfte endlich auf deutschem Boden auch Kinder zur Welt bringen: Ihre beiden Jungs sind jetzt so Mitte Zwanzig - einer studiert, der andere hat eine Lehre absolviert. Sie sind in Dresden aufgewachsen, was man an ihrem breiten Sächsisch hört, die Stadt ist ihre Heimat. Und keiner der beiden hat bisher irgendeine Form von Rassismus erlebt - nicht in der Schule, nicht in der Lehre und nicht im Studium.

Was für eine frohe Botschaft!

Freya Klier, März 2019

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