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Theoretische Überlegungenzum Systemwandel in Europa

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Veröffentlichungsreihe der Forschungsgruppe Internationale Beziehungen

P 91 - 305

Theoretische Überlegungen zum Systemwandel in Europa

Wolf-Dieter Eberwein

Mai 1991

Publication Series o f the International Relations Research Group Reichpietschufer 50

D 1000 Berlin 30

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The views expressed in this paper are those o f the author and not necessarily those o f the International Relations Research Group

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M it der Überwindung des Kalten Krieges und der Ost-West Konfrontation ist ein grundsätzlicher Prozess des Wandels in Europa im Gange. Für die theoretische Disksussion steht das Problem im Vordergrund, wie dieser Prozess der "parallelen Transformation", der Neuordnung der zwischenstaatlichen Beziehungen einerseits, der Institutionalisierung der Demokratien in Osteuropa andererseits, systematisch erfaßt werden kann. Im Anschluß an die Erörtertung des Begriffs des Wandels werden die Grenzen der gängigen Paradigmen in der internationalen Politik verdeutlicht, Strukturbrüche im internationalen System befriedigend zu erfassen. Mit dem Konzept der regulierten Interdependenz, das an dem von Karl Deutsch formulierten B egriff der pluralistischen Sicherheitsgemeinschaft anknüpft, werden die Probleme, m it denen die in Gang befindliche Übergangsphase innerstaatlich und zwischenstaatlich belastet ist, identifiziert.

ABSTRACT

The Cold War and East-W est confrontation have become obsolete in the wake o f the fundamental changes now underway in Europe. Contemporary theory is confronted with the issue of how to deal systematically with the process o f "parallel transformation" - the reordering o f interstate relations and the institutionalization o f democracy in Eastern Europe. Following a discussion o f the concept o f change, the predominant paradigms in international politics are examined with regard to their limitations in satisfactorily capturing such fundamental structural transformations. Using the concept o f regulated interdependence and building upon the pluralistic security community concept developed by Karl Deutsch, problems are identified that characterize the present transition phase both within and between states.

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Inhaltsverzeichnis

1 E in leitu n g ... 1

2 Zur Ausgangssituation in Europa ... 2

3 Systemwandel und System transform ation... 4

4 N eo-R ealism us... 9

5 Institutionalism us... 13

6 Integration ... 19

7 Der Übergang zur regulierten Interdependenz ... 23

8 Bibliographie ... 27

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Die Staatschefs der Siegermächte und der Verlierer des Zweiten Weltkrieges haben im November 1990 in Paris auf der Tagung der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa die Nachkriegsordnung offiziell zu Grabe getragen. Damit zogen sie einen Schlußstrich unter die durch Konfrontation geprägte bipolare Blockstruktur in Europa. Die Euphorie darüber war groß - aber kurz; die Zeit der Unsicherheit ist lang. Denn weder das Ende des Kalten Krieges noch der Übergang zur Demokratie der Staaten in Osteuropa sind eine ausreichende Garantie dafür, daß der "ewige Frieden" in Europa jetzt endlich verw irk­

licht werden kann.

Nach und nach türmen sich die praktischen Probleme zu einem Berg auf, der in dieser Übergangsphase des fundamentalen Systemwandels erst wieder abgetragen werden muß.

Die Konturen dieser Probleme auf dem Wege zu neuen Sicherheitsstrukturen und zur gleichzeitigen demokratischen Stabilisierung der ehemaligen stalinistischen Systeme in Osteuropa, ganz zu schweigen von der Sowjetunion, gewinnen zunehmend an Schärfe. Das läßt sich an der wachsenden Publikationsflut ablesen, in der die Probleme der neuen Frie­

densordnung in Europa zunehmend differenzierter thematisiert werden.1-*

W ie die Zukunft aussehen sollte und wie sie bewältigt werden könnte, läßt sich noch ohne allzu große Schwierigkeiten formulieren. Ob präskriptive Aussagen der Art, wie sie M earsheimer (1990:196) im Hinblick auf die Stabilität des internationalen Systems aus dem Realismus ableitet, auf "sound predictions" beruhen, ist ein Problem. Ein ganz anderes bes­

teht darin, daß die empirisch-analytische Forschung in diesem Falle ihr Forschungsgegens­

tand die Zukunft ist. Damit rückt die Frage in den Vordergrund, ob wir überhaupt über eine oder mehrere Theorien verfügen, die Prognosen über die Zukunft Europas erlauben. Bevor vorschnelle Aussagen gemacht werden, muß grundsätzlich geklärt werden, ob das verfügbare theoretisch konzeptionelle Instrumentarium ausreicht, um die derzeitige A us­

gangssituation in Europa nicht nur zu beschreiben, sondern darüber hinaus den in Gang befindlichen fundamentalen Systemwandel theoretisch zumindest zu erklären.

Die Ausgangssituation besteht darin, daß die Realität die Wissenschaft mit einem Problem konfrontiert hat, das vielleicht nicht vorherzusehen, theoretisch jedenfalls nicht vorhergesehen war: die Gleichzeitigkeit der Systemtransformation und des Systemwandels, innerstaatlich und international. Punktuell ist zwar in der letzten Zeit die Vernachlässigung innerstaatlicher Bedingungen als wichtige Determinanten internationaler Prozesse kritisiert worden. So hat Putnam (1988) beispielsweise die Bedeutung innerstaatlicher Faktoren für den V erlauf und Ausgang internationaler Verhandlungen herausgestellt, während Moravc- sik (1991) innerstaatliche Bedingungen für den neu in Schwung gekommenen europäischen Integrationsprozess herausstreicht.

1) Stellvertretend für viele sind u. a. zu nennen Czempiel, 1990; Loth, 1991; Lübkemaier, 1990a,b; Mear­

sheimer, 1990; Senghaas, 1990,1991; Snyder 1990.

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Grundsätzlich fehlen systematische Analyse zur Interdependenz zwischen innerstaat­

licher und internationaler Entwicklungen einerseits und dem W andel des internationalen Systems andererseits. Deswegen ist die Entwicklung in Europa ein willkommener Anlaß die seit einiger Zeit in Gang gekommene Theoriedebatte im deutschsprachigen Bereich (vgl.

Czempiel, 1986, 1990a; Rittberger, 1990) unter dem substantiellen Gesichtspunkt des Sys­

temwandels aufzugreifen und fortzuführen.2) Die nachfolgenden Überlegungen gehen davon aus, daß das Konzepts des Systemwandels klärungsbedürftig ist. Erst im Anschluß daran ist eine vorläufige Antwort au f die Frage möglich, ob die wesentlichen theoretischen Ansätze im Bereich der internationalen Beziehungen in der Lage sind, die Prozesse, die gegenwärtig im Gange sind, zu beschreiben und zu erklären.

Die zentrale These ist, daß der Systemwandel theoretisch-konzeptionell aus zwei unterschiedlichen Komponenten besteht, einer Übergangsphase und einer Phase des W an­

dels im eigentlichen Sinne. Dieser Unterschied ist insbesondere relevant für die Schaffung einer pluralistischen Sicherheitsgemeinschaft in Europa, die mit dem B egriff der regulierten Interdependenz präzisiert wird. Aus heuristischen Zwecken knüpfen die theoretisch­

konzeptionellen Überlegungen zunächst an den Problemen an, die die gegenwärtige Situa­

tion in Europa kennzeichnen. Im Anschluß daran werden drei paradigmatische Diskus­

sionsstränge, der Neo-Realismus, der Neo-Institutionalismus und der integrationstheore­

tische Ansatz, insbesondere der von Deutsch et al. (1957) daraufhin überprüft, inwieweit sie das Problem des Systemwandels hinreichend zu erklären vermögen. Abschließend werden eine Reihe von Problemen identifiziert, die den Übergang vom Zustand der regulierten Anarchie zur regulierten Interdependenz bestimmen.

2 Zur Ausgangssituation in Europa

Der Strukturwandel in Europa zeichnet sich durch zwei parallele und zugleich inter- dependente Prozesse des W andels aus: erstens durch die regionale Neuordnung der Sicher­

heit und Zusammenarbeit in Europa, zweitens, durch die grundlegende Transformation der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Struktur der vormals stalinistischen Systeme Osteuropas. Derzeit befindet sich dieses regionale System in einer Übergangsphase, die von beiden Prozessen, der zwischenstaatlichen Reorganisation und der innerstaatlichen Trans­

formation gleichermaßen beeinflußt wird.

Das bipolare Systems hat endgültig mit der Auflösung des W arschauer Paktes auf­

gehört zu existieren. Diese bipolare Struktur hatte ganz wesentlich zur Regulierung des Sicherheitsdilemmas im Sinne der Verhinderung gewaltsamer Konfliktlösungen (vgl.

Weede, 1983, 1989) innerhalb Europas beigetragen. Nach W egfall der "balance o f terror"

stellt sich das Sicherheitsdilemma für die einzelnen Staaten neu, denn damit ist ein zentraler

2) Ich gehe bewußt nicht auf die epistemologische Dimension des Problems ein, die Meyers (1990) für zentral hält. Ich halte mich an Czempiel (1986), der den mangelnden Theoriegehalt wie die unzurei­

chende empirisch-systematische Fundierung der Forschung als Hauptprobleme ansieht.

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Ordnungs- und Stabilitätsfaktor in Europa entfallen. Damit rückt die insbesondere unter der machtpolitischen Perspektive behauptete Konfliktträchtigkeit dieses Systems wieder stärker in den Vordergrund. Konsequenterweise befürchten Realisten wie M earsheimer (1990), daß Instabilität ein konstitutives Merkmal der zukünftigen Entwicklung sein wird, es sei denn es gelinge, einen äquivalenten friedenssichernden Mechanismus der Abschreckung zu eta­

blieren.

Lübkemaier (1990a) dagegen identifiziert zwei konstitutive Aspekte des gegenwärti­

gen Sicherheitsdilemmas: 1. Sicherheit vor und Sicherheit mit der UdSSR und 2. die Ein­

bindung des potentiell mächtiger gewordenen Deutschlands nach seiner Vereinigung. Er verlagert damit nicht nur die Diskussion von der abstrakten Betrachtung der Machtpole, die in der Realismus-Diskussion eine zentrale Rolle gespielt hat und spielt, sondern er geht auch von der Annahme der Kopperations- und Friedensfähigkeit der M itglieder im internationa­

len System aus. Sicherheits- und Friedenssysteme sind möglich durch die Schaffung neuer bzw. den Ausbau bestehender Institutionen. Die implizite These ist folglich, daß die Zukunft im wesentlichen durch institutioneilen Wandel und Anpassung bestimmt sein wird.3-1

Für Lübkemaier und andere ist eine solche gesamteuropäische Sicherheitsgemeins­

chaft auf der Grundlage der Interdependenz und der Integration der beteiligten Staaten möglich. Während der NATO dabei die Rolle der politisch-militärischen Vertrauensbildung im Verhältnis zur UdSSR zufallen soll, ist die KSZE für das kollektive Zusammenwachsen und die Zusammenarbeit der geeignete Ansatzpunkt. Die Europäische Gemeinschaft hat in diesem Kontext die Funktion, die sozio-ökonomischen Grundlagen internationaler Kooper­

ation zu schaffen. Vertrauen und Zusammenarbeit im Rahmen der Anpassung der bereits bestehenden Institutionen sind somit Mittel wie Ziel des Systemwandels in Europa.

Diese Anpassungsprozesse setzen nicht nur vergleichbare Interessen der beteiligten Staaten voraus, sondern darüber hinaus Verläßlichkeit. Verläßlichkeit ist nicht als indivi­

duelle Eigenschaft zu verstehen, sondern als strukturelles Problem, das der Stabilität des Handlungskontextes der beteiligten Staaten entspricht. Zwar ist der Übergang zur Dem ok­

ratie in Osteuropa in mehreren Staaten (Bulgarien, CSFR, Polen und Ungarn) erfolgreich m it den "founding elections" (White, 1990; s. a. Przeworski, 1990) abgeschlossen worden.

Dieser Abschluß steht in Jugoslawien, in Rumänien und in der UdSSR noch aus. Diese W ahlen stellen aber lediglich die Zäsur zwischen der stalinistischen Vergangenheit dieser Staaten und ihrer Zukunft, dem erfolgreichen Übergang zu stabilen demokratischen Struk­

turen, dar.

Im Gegensatz zur internationalen Systemebene, wo bereits entsprechende Institutio­

nen vorhanden sind, sind diese Staaten noch weit von institutionalisierten stabilen dem ok­

ratischen Verhältnissen entfernt. Der Übergangs- bzw. Demokratisierungsprozess ist potentiell instabil und deswegen im Prinzip reversibel. Das ist so lange der Fall, bis die von

3) Ich vernachlässige das sicher aus sicherheitspolitischer Perspektive nicht unwesentliche Problem der internationalen Stabilität und ihrer Gefährdung außerhalb Europas.

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Przeworski (1990: 191) identifizierten fünf komplementären Probleme der Schaffung einer zivilen Gesellschaft gelöst sind: 1. Schaffung autonomer Organisationen, die sich 2. in Führer und Anhänger gliedern, 3. Schaffung kollektiver Identitäten durch die Führer und gleichzeitige Kontrolle der Anhänger, 4. Partizipation der Führer an den repräsentativen Institutionen, die 5. das Wohlergehen der Anhänger bestimmen.

Dieser Institutionalisierungsprozess demokratischer Strukturen wird wesentlich erschwert, weil nicht nur das gesamte politische System der einzelnen Staaten grundlegend umgebaut wird, sondern gleichzeitig auch die Wirtschaft. Damit ist dieser Prozess von zwangsläufig schmerzhaften Veränderungen und Anpassungen begleitet, der unter anderem in Polen bereits wie in der ehemaligen DDR sichtbar geworden ist. Die Demokratisierung und die Einführung der Marktwirtschaft sind mit hohen Erwartungen auf bessere Lebens­

verhältnisse verknüpft. Reduziert sich die Kluft zwischen Erwartungen und Realität nicht in angemessener Zeit, dann kann in der Tat das dadurch akkumulierte Unzufriedenheitspoten­

tial explodieren. Es wäre zugleich der Katalysator für die Verschärfung ethnischer oder nationalistischer Konflikte, könnte populistische und antidemokratische Strategien inner­

halb der Eliten fördern, und nicht zuletzt sogar zu einem autoritären Rückfall m it oder ohne Beteiligung des Militär führen.4-1

So lange folglich dieser Übergang nicht erfolgreich abgeschlossen ist, bleibt diese strukturelle Unsicherheit bestehen. Sie ist ein potentiell unkalkulierbarer Faktor in den Bemühungen auf der internationalen Ebene, ein neues Sicherheitssystem zu schaffen. So ist auch der Hinweis von Lübkemaier zu verstehen, der wie viele andere diese innerstaatliche Dimension im Zusammenhang mit der notwendigen Schaffung von Interdependenz und Integration auf der internationalen Ebene sieht. Somit stellt der Systemwandel bzw. die Systemtransformation in Europa die Interdependenz-Problematik völlig neu. Denn dieser W andel besteht eben nicht in der Schaffung einer von dem nationalen Kontext loslösbaren und -gelösten Sicherheitsgemeinschaft, sondern vielmehr in der reaktiven Bewältigung und der aktiven Gestaltung des Wandels unter der Bedingung struktureller Unsicherheit im oben definierten Sinne.

A n präskriptiven Aussagen, wie dieser dynamische und komplexe Umgestaltungs­

prozess bewältigt werden kann, besteht kein Mangel. Ob aber das theoretisch verfügbare Instrumentarium dieser Komplexität gerecht wird, soll am Konzept des Systemwandels zunächst angesprochen werden.

3 Systemwandel und Systemtransformation

Die theoretische und empirische Analyse des internationalen Systemwandels gilt nicht zu Unrecht als Stiefkind der Forschung. Diese mangelnde Aufmerksamkeit, wie Siverson

4) Allerdings scheint diese Gefahr nur bedingt gegeben zu sein, u. a. in Polen, Jugoslawien, ev. in der UdSSR (vgl. von Beyme, 1990).

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(1980: 211) betont, "may be related to the tendency for studies o f the international system to focus on the equilibrium behavior o f particular, named systems (e. g. the Balance o f power)." Eine nennenswerte Ausnahme ist der "long cycle" Ansatz (s. u. a. Thompson, 1986), der den W andel im internationalen System nur langfristig als Folge von Weltkriegen analysiert.5) Ausgelöst wird er durch den Prozess der Dekonzentration, d. h. der Angleichung relativer Macht, zwischen den Großmächten. Weltkriege sind die Wendepunkte, mit denen der Strukturbruch markiert wird, der zu einer neuen Rekonzentrationsphase mit einer zunehmend ungleicheren Machtverteilung zugunsten der Führungsmacht führt. Daran schließt sich wieder eine längere Phase des friedlichen Wandels an.

Dieses Zyklus-Modell des internationalen Systemwandels und damit die Erklärung des Aufschwungs und Niedergangs von Hegemonialmächten, ist eindimensional und redu­

ziert das Problem auf den relativen Machtstatus der Großmächte bzw. der dominierenden Hegemonialmacht. Langfristig gesehen, mag eine solche Betrachtungsweise ihre Berechti­

gung haben. Für den Systemwandel in Europa dagegen ist sie weitgehend irrelevant. Zw is­

chenstaatliche Gewalt ist nicht der Auslöser des Wandels gewesen, statt dessen ist er durch eine Parallelität innerstaatlicher Umbrüche und der Neuordnung der internationalen bezie­

hungsweise regionalen M achtverhältnisse gekennzeichnet.

Formal ist das Konzept des Systemwandels noch einigermaßen befriedigend vor­

zuklären. W ie Teunes (1984) Diskussion des Integrationsbegriffe zeigt, sind zwei alternative Konzeptualisierungen des Begriffs des Systemwandels möglich. W andel kann analytisch in seine theoretisch konstitutiven Bestandteile zerlegt werden. Diese Elemente, beispielsweise Ausmaß der Spannung, Ausmaß der Kooperation oder der zwischenstaatlichen Transaktio­

nen usw., können systematisch punktuell oder sequentiell erfaßt und beschrieben werden.

Doch ein solcher Ansatz des Wandels bleibt auf der analytisch-deskriptiven Ebene stecken und reduziert das Phänomen auf die Meßsprache, wie es Teune (1984) nennt.

Alternativ ist Systemwandel ein komplexes Phänomen, dessen konstitutiven M erk­

male die dynamischen Veränderungen der Strukturen und Prozesse des internationalen System sind. Wandel ist demzufolge ein abgeleitetes Phänomen, das den Veränderungen der Strukturen wie der Prozesse im Zeitablauf entspricht. Das setzt nicht nur die kausale Verknüpfung von Struktur und Prozess voraus, sondern ebenso eine apriorische Identifika­

tion der theoretisch möglichen Strukturen und Prozesse.6) Die Alternative zum analytisch­

deskriptiven Ansatz ist folglich eine Theorie des Wandels. In jeder Theorie des internation­

alen Systems steckt deswegen vom Ansatz her immer auch eine Theorie des Wandels, wenn

5) Sicher gehör! auch die Weltsystemanalyse Wallersteins dazu. Doch ist sie in unserem Zusammenhang sekundär.

6) Diese Annahme hat weitreichende Konsequenzen, weil für Teune Wandel im Rahmen dieses Konzeptes ein endogenes Phänomen ist. Ein solches systemtheoretisches Konzept hat den Vorteil, daß es eine ana­

lytisch präzise Konzeptualisierung ermöglicht, gleichzeitig aber substantiell zum Scheitern verurteilt ist, wie Teune betont. Denn soziale Systeme sind offene Systeme.

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sie Prozesse und Strukturen als konstitutive Bestandteile enthält. Das gilt selbst dann, wenn die dynamischen Veränderungen nicht unmittelbar Gegenstand der theoretischen Aussagen sind.

Prozesse und Strukturen sind konstitutive Elemente für die Beschreibung und Erklärung des Wandels. Strukturen und Prozesse sind Keohane und Nye (1973:117) zufolge auf zwei verschiedenen Analyse-Ebenen angesiedelt. Die Prozessebene bezieht sich auf

"short-term allocative behavior (i. e. holding institutions, fundamental assumptions and expectations constant)", die Strukturebene dagegen "sets the parameters or limits within which interactions among the system members can take place" (ibid.). Diese Konzeptuali- sierung ist hinreichend, wenn erstens Strukturen und Prozesse ausschließlich auf der inter­

nationalen Systemebene determiniert sind und wenn zweitens der Übergang von einem Systemzustand in einen anderen ausschließlich auf dieser Ebene erfolgt.

Was den ersten Gesichtspunkt betrifft, steckt dahinter die Annahme, daß die internen Strukturen und Prozessen aus der Sicht des internationalen Systems und seiner Dynamik Konstante sind. Was den zweiten Aspekt betrifft, so mag es durchaus sinnvoll sein, Prozesse als graduelle oder inkrementale Veränderungen vor dem Hintergrund stabiler Strukturen zu beschrieben. Änderungen der Strukturen im Sinne von Keohane und Nye setzen dagegen eine Übergangsphase voraus. Sind diese Veränderungen gleichermaßen inkremental, kann der Übergang als eigenständiges Phänomen analytisch vernachlässigt werden. Ändern sich die Strukturen aber abrupt, wird die Übergangsphase selbst zum Problem. Die in dieser Phase erfolgenden Anpassungen des internationalen Systems und seiner Akteure, bis wieder ein annähernd stabiler Gleichgewichtszustand erreicht ist und somit die Handlungsparame­

ter wieder einigermaßen fixiert sind, werden selbst erklärungsbedürftig,7)

Diesen Doppelaspekt der Strukturdimension berücksichtigen Keohane und Nye ana­

lytisch nicht. Damit bleibt die Frage unbeantwortet, ob der Übergang von einem Struktur­

zustand in einen anderen mit den gleichen Bedingungen erklärt werden kann wie die Funk­

tionsweise des internationalen Systems unter stabilen Strukturbedingungen. Gencoe (1980) hat diese Übergangsphase mit dem Begriff der Systemtransformation thematisiert, um die­

sen Strukturbruch und den daraus resultierenden Übergang zu kennzeichnen. Dieser Vor­

gang ist seiner Ansicht nach umfassend und zeichnet sich durch signifikante Änderungen der Ziele der beteiligten Akteure aus (Gencoe, 1980: 68).7 8)

7) Das Ende des Zweiten Weltkriegs stellte einen solchen Bruch dar. Man kann die Übergangsphase bis zur Etablierung der bipolaren Blockstruktur mit NATO und Warschauer Pakt bestimmen, die spätestens mit dem Beitritt der Bundesrepublik abgeschlossen war.

8) Ich greife hier ausschließlich auf die abstraktere Begriffsdefinition von Gencoe zurück, obwohl er Sys­

temtransformation primär unter integrationstheoretischen Gesichtspunkten diskutiert. In unserem Falle dagegen spielt diese theoretisch substantielle Orientierung keine Rolle.

(11)

In dieser Unterscheidung steckt die Annahme, daß der Übergang bzw. der Transfor­

mationsprozess selbst kein punktuelles Ereignis ist, sondern daß es sich um einen zeitlich gestreckten Prozess handelt. Gleichzeitig drängt sich die Vermutung auf, daß die Faktoren, die die Übergangs- oder Transformationsphase auslösen und bestimmen, nicht identisch mit denen sind, die die inkrementale Veränderungen bewirken. Für die Übergangsphase ver­

wendet Gencoe den Begriff der transformation episode. Entscheidende M erkmale dieser Transformationsphase sind Ungewissheit und Unkalkulierbarkeit, gerade also das Gegenteil von patterned behavior mit dem Keohane (1990: 163) institutionalisierte Interaktionsme­

chanismen beschreibt. W ie in diesem Übergang neue außenpolitische Grundsätze form u­

liert, werden, wie Einigung darüber erzielt wird, und wer daran beteiligt ist, folgt anderen Gesetzmäßigkeiten als Außenpolitik vor dem Hintergrund relativ stabiler innerstaatlicher Bedingungen.

A n dieser Stelle kommt der weiter oben eingeführte Begriff der strukturellen U nsi­

cherheit zum Tragen. Theoretisch konzeptionell kann unterschieden werden in eine Situa­

tion, wo diese Unsicherheit vernachlässigt werden kann, d. h. wenn die innerstaatlichen Handlungs- und Strukturbedingungen als konstant vorausgesetzt werden können. Alternativ dagegen ist innerstaatlicher Strukturwandel integraler Bestandteil des Übergangs, wenn er gleichzeitig erfolgt. Die Situation in Europa ist auf Grund der Größenordnung des inners­

taatlichen Wandels einmalig. Insofern könnte man die These vertreten, daß dieses singuläre Ereignis eine theoretisch allgemeine Erörterung von vornherein ausschließt. W ir gehen aber davon aus, daß es sich hier um ein grundsätzlich und allgemein bedeutsames Problem handelt, näm lich um den Zusammenhang zwischen innerstaatlichen Veränderungen und internationalem Systemwandel.

Die empirisch-systematische Forschung hat bislang bedauerlicherweise den Zusam ­ menhang von (innerstaatlichem) Regimewechsel und internationalem Konflikt und Koop­

eration weitgehend vernachlässigt, obwohl er unter dem Gesichtspunkt des internationalen Systemwandels ganz entscheidend ist. Die Ausnahme von der Regel ist die Untersuchung von M aoz (1989), der den Zusammenhang zwischen der Art des Regimewechsels (evolu­

tionär oder revolutionär) m it der Neigung der neugegründeten Regime, Gewalt als M ittel der Außenpolitik Politik einzusetzen, überprüft. Revolutionär entstandene Regime setzen in einer langjährigen Übergangsphase überdurchschnittlich Gewalt als Mittel der internation­

alen Politik ein im Vergleich zu den etablierten und evolutionär neuformormierten Regi­

men.9-*

9) Analog zur Studie von Maoz kann die Analyse von Starr und Most (1985) interpretiert werden, die sich mit dem Problem der räumlichen Diffusion von gewaltsamen Konflikten in Afrika beschäftigen. Dieser Diffusionsprozess kann als Phänomen des Übergangs in dem von mir genannten Sinne interpetiert wer­

den.

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Nun könnte man argumentieren, die neuen Regime in Osteuropa seien ja demokra­

tische Staaten und der Übergang sei nicht revolutionär im klassischen Sinne erfolgt.10) 11 12 Die empirisch bestätigte Hypothese, Demokratien seien friedfertig und kämpften nicht gege­

neinander (Chan, 1984; Maoz/Abdolali, 1989; Rummel, 1983,1985; Small/Singer, 1976;

Weede, 1984), kann zu dem Fehlschluß fuhren, daß dies auch für den Fall gilt, wo sich Staaten im Übergangsprozess zur Demokratie befinden. Dabei wird übersehen, daß der Übergangsprozess zur Demokratie nicht verglichen werden kann mit der Situation, w o ber­

eits stabile Demokratien bestehen. Darüber hinaus ist der Demokratisierungsprozess prin­

zipiell reversibel. Die Geschichte der lateinamerikanischen Staaten bestätigt diese Vermu­

tung. Nohlen (1982: 67) spricht sogar von einem zyklischen M uster des (innerstaatlichen) Regimewechsels. Diese Möglichkeit kann theoretisch nicht ausgeschlossen werden.

W enn also der innerstaatliche Übergang den internationalen Übergang oder Wandel beeinflussen kann, sind Typologien der Veränderung, die sich auf einzelne Regime oder Institutionen beschränken, unzulänglich. Young’s (1983: 98) Typologie etwa greift in die­

sem Falle nicht, obwohl sie durchaus eine solche Phase impliziert: die neue Ordnung kann spontan, auf dem W ege der Verhandlungen oder durch Zwang (imposed) geschaffen w er­

den. Unter der Voraussetzung, daß sie durch Verhandlungen bestimmt wird, wird der Übergang mit der Formulierung der Interessen der Beteiligten und damit von der Festlegung neuer Ziele (s. o.) bestimmt. W enn aber diese Interessen, w ie Nye (1987: 387) betont, nicht a priori fixiert, sondern u. a. eine Funktion innerstaatlicher Machtverschiebungen sind, sind diese innerstaatlichen M achtverschiebung selbst unmittelbarer Bestandteil des W andels.n)

Dieser Prozess der innerstaatlichen M achtverschiebungen ist derzeit in diesen Staaten im Gange. Er ist erst dann abgeschlossen, wenn demokratische Strukturen, wie sie Pre- zworski (siehe weiter oben) charakterisierte, verwirklicht worden sind. So lange diese nicht der Fall ist, ist auch die Machtverteilung zwischen den Eliten, die je nach Interessen dem radikalen Prozess des W andels offen bis ablehnend gegenüberstehen (vgl. Gerard, 1990), labil.12-1 Doch handelt es sich nicht nur um ein Problem, das alleine auf die Eliten und deren Konkurrenz reduziert werden könnte, obwohl dies im internationalen Kontext von Bedeu­

tung ist.

Daneben ist gleichermaßen die Schaffung der Legitimation der neuen (demokratis­

chen) Regime erforderlich, die zugleich die Unterstützung der Bevölkerung erfordert. Dieser Loyalitätstransfer der Bevölkerung im Sinne der positiven Identifikation m it dem neuen Regime erfolgt, wie die Analyse Spaniens von M cDonough et al. (1986) durchaus im Anschluß an den Zusammenbruch des alten Regimes. Er ist auch zunächst weitgehend los­

gelöst von der unmittelbaren sozioökonomischen Performanz der Regierung. Allerdings

10) Das gilt sicher dann, wenn man die von Skocpol (1988) verwendete Charakterisierung von sozialen Revolutionen zugrunde legt. Diese Konzeptualisierung trifft aber nur auf Entwicklungsgesellschaften zu.

11) Nye erwähnt darüber hinaus normativen Wandel und kognitiven Wandel oder Lernen.

12) Gerard beschreibt diesen Übergang für die UdSSR als Gefangenendilemma.

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sind die Unterstützung für das Regime und die Regierung interdependent. Je länger also der Institutionalisierungsprozess dauert, desto größer ist die Gefahr, daß sich diese Unzufrie­

denheit zugleich gegen das neue Regime wendet. Läßt sich dieses Unzufriedenheitspotential von den einzelnen Eliten mobilisieren, ist nicht auszuschließen, daß ein bösartiger Zirkel der Partizipationsexplosion entsteht, wie ihn Huntington und Nelson (1976) beschrieben haben.

Damit ist der Rückfall in ein autoritäres Regime wieder möglich.

Die bisherigen Überlegungen können wie folgt zusammengefaßt werden. Internation­

aler Systemwandel muß konzeptionell in zwei unterschiedliche Teilaspekte untergliedert werden, in eine Phase des Übergangs und in eine Phase inkrementaler Änderungen auf der Prozess- w ie auf der Strukturebene. Unterschieden werden kann zugleich in solche Über­

gangsphasen, die weitgehend den innerstaatlichen Kontext konstant halten können, und in solche, w o die innerstaatliche Übergangsphase integraler Bestandteil der Übergangsphase im Sinne der Neuordnung der zwischenstaatlichen Beziehungen ist. Solche parallelen Transformationsprozesse weisen ein hohes Ausmaß an Interdependenz auf und führen dazu, daß der Übergansprozess selbst durch hohe Unsicherheit gekennzeichnet ist, dessen A us­

gang offen ist. Sind die bestehenden theoretischen Konzepte hilfreich, diese Problematik einigermaßen befriedigend zu erfassen? Dieser Frage wenden w ir uns in den nächsten drei Abschnitten zu.

4 Neo-Realismus

Der Realismus hat, wie Grieco (1988:465) betont, die Theorie internationaler Bezie­

hungen mindestens seit dem Zweiten Weltkrieg beherrscht und geprägt.13) Grieco (1988:488) zufolge läßt sich dieser theoretische Ansatz auf fünf zentrale Annahmen redu­

zieren: 1. die Staaten sind die zentralen Akteure internationaler Politik, 2. die Staaten, die ihre vitalen Interessen nicht schützen oder Ziele verfolgen, die über ihre Möglichkeiten hinausreichen, werden schwer bestraft, 3. die Anarchie der internationalen Systemstruktur determiniert die Motive und Handlungen der Staaten, 4. Staaten in diesem anarchischen System sind mit Problem von M acht und Sicherheit beschäftigt, wobei Konflikt und W ett­

bewerb dominieren und Kooperation häufig trotz gemeinsamer Interessen nicht zustande kommt, und 5. internationale Institutionen wirken sich auf die A ussicht von Kooperation nur marginal aus.

Das pessimistische W eltbild des Realismus ist weniger forschungsrelevant als dessen Ausformulierung u. a. von W altz (1979). Die Funktionsweise des internationalen Systems wird auf die zentralen Akteure reduziert. Die wenigen Großmächte, im Gegensatz zu den vielen kleinen Staaten, bestimmen die Funktionsweise und som it Stabilität des internation­

alen Systems. Dessen Struktur wird durch die relative M achtverteilung zwischen diesen

13) Die neuere Diskussion ist ganz entscheidend von Kenneth Waltz mit seinen beiden einflußreichen Veröffentlichungen Man, The State, and War (1959) und Theory o f International Relations (1979) geprägt worden.

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zentralen Akteuren bestimmt. Das Gleichgewicht, sprich die relative M acht der Akteure, wird entweder intern durch die entsprechende Allokation von Ressourcen oder extern durch balancing in Form der Bündnis- oder Blockbildung hergestellt und aufrechterhalten. Welche Form der Machtverteilung dabei eher stabilitätsfördemd ist, multipolare Parität oder uni- oder bipolare Präponderanz (vgl. Singer et al., 1972: 21-4), ist theoretisch umstritten. Die empirische Evidenz ist nicht schlüssig (vgl. Thompson, 1986).

Aus dem Axiom der Anarchie und dem das daraus abgeleiteten Sicherheitsdilemma erscheint Gewalt als rationales Mittel, so daß die relative Machtverteilung zugleich der entscheidende Faktor für die Kontinuität und den Wandels des internationalen Systems ist.

Diese vergleichsweise enge - aus der Sicht von W altz elegante und sparsame - theoretische Konzeption hat Keohane (1984) aufgebrochen. Er zeigt, daß das Sicherheitsdilemma nicht nur auf die Politik reduziert werden kann, sondern im Spannungsverhältnis von Politik und W irtschaft, oder Macht und Wohlstand, angesiedelt ist. Damit verwirft er weder das Anarchie-Prinzip noch das Prinzip des rationalen Akteurs, kommt aber zu ganz anderen Schlußfolgerungen bezüglich der Kooperation und Institutionalisierung zwischenstaatlicher Beziehungen.

Diese ökonomische Ergänzung des strukturellen Realismus, wie m an sie bezeichnen kann, w eist auf eine zusätzliche Dimension des internationalen Systemwandels hin, deren Implikationen jedoch nicht völlig klar sind. W enn die Verfolgung des W ohlstands ein inte­

graler Bestandteil der internationalen Beziehungen ist, ist dieses Ziel selbst Ursache des W andels. Diese Ursache ist aber nicht im internationalen System, sondern im innerstaatli­

chen Bereich angesiedelt. Die zwischenstaatliche Kooperation dagegen, m it der dieses Ziel verwirklicht werden soll, ist im internationalen System selbst verankert.

Ob der Realismus tatsächlich die kopemikanische Wende in der Theoriebildung (Waltz, 1979:69) bedeutet, muß offen bleiben. Bislang ist dieses Paradigma unvollständig ist. Diese Unvollständigkeit resultiert aus der unbefriedigenden Thematisierung des Prob­

lems der Systemtransformation und des Systemwandels. Diese Unvollständigkeit läßt sich an drei ungelösten Problemen verdeutlichen: 1. am Problem der postulierten Systemdomi­

nanz, 2. am Problem der Gewalt in den internationalen Beziehungen und 3. am Problem der Kooperation auf Grund der Interdependenz von Politik und Wirtschaft.

1. Die Annahme der Systemdominanz, derzufolge die wesentlichen Veränderungen im internationalen System selbst angelegt sind und erfolgen, ignoriert a priori die Möglichkeit innerstaatlicher Veränderungen als Auslöser internationalen Wandels. W e n n Keohane zu Recht die Verknüpfung von Politik und W irtschaft in den Mittelpunkt stellt, wird damit zumindest implizit die Bedeutung der innerstaatlichen Bedingungen für den internationalen Systemwandel im Sinne von Kooperation und Konflikt angesprochen. Nun besteht durchaus die Möglichkeit, dieses Problem dadurch zu umgehen, daß es auf die Ebene der Rationalität der Akteure verschoben wird. Das bedeutet aber, daß unter der Bedingung der Notwendig­

keit der Kooperation sich die der Rationalität selbst zugrunde liegenden Kriterien verändern.

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M an muß nicht gleich die radikale Schlußfolgerung wie Rosecrance (1989: 49) ziehen, demzufolge das aus der Rationalitätsannahme abgeleitete Konzept des erwarteten Nutzens faktisch m it jedem denkbaren Resultat internationaler Politik kompatibel sei. Das ist nur dann der Fall, wenn die der Rationalität zugrunde liegenden Kriterien selbst als gegeben, statisch, oder ad hoc vorausgesetzt werden, h n Rahmen einer Theorie des Wandels dagegen müssen diese Rationalitätskriterien als variable Größe eingeführt werden. Konsequenter­

weise ist dann auch das Kriterium der relativen Macht nicht m ehr a priori eindeutig identi­

fizierbar.

Die Umdefinition dieser Kriterien und damit die Bewertung der eigenen relativen Macht ist im Rahm en dieser Formulierung ein dynamischer und akteursintemer Vorgang. Er kann im Rahmen einer Neubewertung der innerstaatlichen Möglichkeiten und Alternativen der Ressourcenallokation erfolgen, zum Beispiel dann, wenn sich konkurrierende Eliten oder Gruppen durchsetzen. Nur so ließen sich wahrscheinlich die Veränderungen in der UdSSR, die seit Gorbatschows Machtübernahme sukzessive erfolgten, im Rahmen einer stringenten Realismus-Konzeption noch einigermaßen plausibel interpretieren. Der M ilita­

risierungsgrad in der UdSSR hatte Ausmaße erreicht, der auf die Dauer in dieser Form weder notwendig noch tragbar war.

Rational m ag es durchaus auch gewesen sein, von der Aufrechterhaltung des W ars­

chauer Paktes abzusehen. Zum einen ist wie Waltz selbst betont, die zuverlässigste Strategie der Aufrechterhaltung der eigenen Machtposition die interne Ressourcenmobilisierung.

Zum anderen waren vermutlich die Kosten der Aufrechterhaltung dieses Bündnisses höher als der damit erzielbare Nutzen. Von daher ist es nur rational, nach alternativen Formen des M achtgleichgewichts zu suchen. Allerdings zeigen diese Argumente, daß in jedem Fall die Ursachen des Systemwandels nicht mehr exklusiv auf der internationalen Systemebene angesiedelt sind, was der These der Systemdominanz von W altz widerspricht.

Die Notwendigkeit, derartige Möglichkeiten der Veränderungen des Status Quo, wie er in gewisser W eise mit der bipolaren Blockstruktur in Europa jahrzehntelang garantiert war, in die theoretische Argumentation einzubeziehen, ist evident. Nun erklärt Waltz selbst, daß sein Ansatz das Problem des Wandels (change) nicht unmittelbar erfaßt. Dieser Verzicht folgt aber nicht logisch aus dem theoretischen Ansatz selbst. W ird er aber explizit themati­

siert, dann wird die Eleganz des Ansatzes selbst in Frage gestellt. Das Axiom der System­

dominanz wird fragwürdig, wenn die notwendige Ergänzung das Konzept des einheitlichen rationalen Akteurs zur Variable wird.

2. Das Problem der Gewalt in den internationalen Beziehungen folgt unmittelbar aus dem Sicherheitsdilemma. Inwieweit die Abschaffung der Gewalt im internationalen System ein langfristiger evolutionärer Prozess ist (vgl. u. a. Kaysen, 1990; Modelski, 1991), seit dahingestellt. W ichtiger ist in diesem Zusammenhang, inwieweit Nuklearwaffen die Struk­

tur des internationalen Systems verändert und damit auch zur Relativierung des Gewaltpro­

blems als zentralem Faktor des Wandels beigetragen haben.

(16)

W enn die Konkurrenz zwischen den die Struktur des internationalen Systems dom i­

nierenden Großmächte wegen der Nuklearwaffen Gewaltanwendung a priori zwischen ihnen ausschließt, verliert diese Interaktionskategorie ihre zentrale Bedeutung. Damit ist aber offen, welche Konsequenzen der Übergang von einer bipolaren zu einer multipolaren Struktur hat. Für M earsheimer (1990) ergeben sich diese Konsequenzen aus der kontrol­

lierten und verantwortungsvollen nuklearen Proliferation.1^ Setzen w ir unkontrollierte und verantwortungslose Proliferation in Europa als wahrscheinlich voraus. W enn das der Fall ist, wird die Eingrenzung des strukturellen Realismus auf die präponderanten Großmächte - etwa in der operationalisierten Form von Small und Singer (1982) - in diesem Kontext in ihrer klassischen Form hinfällig.

W altz selbst (1990) argumentiert, daß die Funktion der Nuklearwaffen ausschließlich in der Abschreckung liege. Daß das nicht bedingungslos gilt, zeigt u. a. Analyse von Organski und Kugler (1980). A ber warum sollten Kleinmächte in Europa Nuklearwaffen, wenn sie sie schon besitzen, auch einsetzen? Sieht m an von der M öglichkeit eines "Unfalls"

ab, wäre nur unter der Annahme einer Selbstmordstrategie als rationalem Prinzip an der Möglichkeit der Ubiquität von Gewalt festzuhalten. Argumentiert m an mit der politischen Erpressbarkeit, müßte zumindest hinreichend begründet werden, daß eine solche Drohung auch glaubwürdig ist, wenn der Einsatz derartiger Waffen es selbst nicht ist.

3. Das Problem der Kooperation. Keohanes Erweiterung des Realismus-Ansatzes durch die Einbeziehung von Politik und W irtschaft stellt konzeptionell eine weitreichende Erweiter­

ung dar. Ob davon das Sicherheitsdilemma, das im politischen Bereich angesiedelt ist, unberührt bleibt, ob es umfangreicher wird, oder ob es sich durch die Einbeziehung der wirtschaftlichen Dimension relativiert, ist unklar. Entscheidend ist aber, daß die interna­

tionale Kooperation und ihre institutioneilen Absicherung in den Vordergrund rückt. Damit wird die Konzeptualisierung des internationalen Systems als self-help System noch nicht in Frage gestellt.

A n Hand des spieltheoretischen Ansatzes in den internationalen Beziehungen kann nun gezeigt werden, daß die Notwendigkeit wie der Wunsch nach Kooperation (vgl. Oye, 1985) keineswegs garantieren, daß sie auch tatsächlich zustande kommt. Kooperation ist vielmehr abhängig von der Struktur der Entscheidungssituation. A u f der M ikro-Ebene der Einzelentscheidung ist diese Einsicht von Bedeutung. Sie ist aber statisch angelegt und beantwortet nicht die auf der Systemebene angesiedelte Frage nach dem W andel selbst im Sinne der Veränderungen der Kooperation und der daraus resultierenden institutionellen Verflechtung. *

14) Nicht zu übersehen ist der präskriptive Charakter von Mearsheimers Aussagen, der im Rahmen unserer Argumentation aber sekundär ist.

(17)

Diese formalanalytisch erzwungene Statik ist aber nicht einmal zwingend bzw. hin-

reichend für die Beschreibung und Erklärung internationaler Kooperation (vgl. Oye, 1985).

Axelrod und Keohane (1985) haben das Verhalten im Falle des Gefangenen-Dilemmas, das konstitutiv für das Sicherheitsdilemma ist, auf seine dynamischen Aspekte hin untersucht.

Dabei stellte sich heraus, daß der shadow o f the future, die Zukunftserwarung der Akteure, ganz wesentlich ihre Kooperationsbereitschaft prägt. Je länger die Zukunftsperspektive der Beteiligten, desto eher sind optimale kooperative Lösungen möglich.

D am it wird die Vermutung bestätigt, daß sich die rationalem Verhalten zugrunde lie­

genden Kriterien verändern können. Die Ursachen dieser Veränderungen liegen aber nicht im internationalen System selbst, sondern resultieren aus den Veränderungen im inners­

taatlichen Bereich. Und damit werden w ir auf Einsichten der Interdependenzliteratur zurück verwiesen. Die Annahme, daß diese Veränderungen durch bewußte Lernprozesse in Gang gesetzt werden, ist wenig präzise. Eine Konsequenz ergibt sich aber daraus. Zukunftser­

wartungen setzen eine relationale Definition von Rationalität voraus. Das heißt, daß das eigene Verhalten nicht mehr unter dem Aspekt der Minimierung der eigenen Kosten, son­

dern im Hinblick auf die M aximierung des gemeinsamen Nutzens bestimmt ist. Damit verändern sich Voraussetzungen für den Wandel des internationalen Systems. Es verändert sich zugleich, wenn dieser Lerneffekt den institutioneilen Kontext, in dem internationale Politik erfolgt, diesen "Lernprozess" verstärkt.

In jedem Falle zeigt die vorangegangene Diskussion, daß dieser Ansatz einige theo­

retische Defizite aufweist, wenn die Frage des Systemwandels explizit gestellt wird.

Deswegen sind zwar präskriptive Aussagen auf der Grundlage des Realismus über die Zukunft in Europa möglich, doch dieser präskriptive Reichtum, wie Snyder betont, steht im Konflikt mit der prognostischen Armut des Ansatzes. Das mag auch daran liegen, daß trotz aller Eleganz, die Waltz (1979:69) seinem Ansatz zuspricht, das Paradigma au f einer fra c ­ tured foundation beruht und eine fissured fassade aufweist, wie Cusack und Stoll (1990) dessen theoretische Struktur umschreiben.15)

5 Institutionalismus

Trotz seiner langen Tradition hat der Institutionalismus, wie March und Olson (1984) vor einiger Zeit feststellten, in der vergleichenden Politikwissenschaft wie in den interna­

tionalen Beziehungen eine Renaissance erfahren. Im Bereich der internationalen Beziehun­

gen (vgl. Cheon et al., 1989: 122) knüpft er sowohl an der G rotian’schen Tradition (vgl.

Puchala/Hopkins, 1983) an, als auch am strukturellen Realismus. Grieco unterscheidet zwei Institutionalismus-Versionen, die liberale und die neoliberale. Die ältere Version, vertreten

15) In dem Bemühen, die zentralen theoretischen Aussagen des Realismus widerspruchsfrei in dem für theoretisch-experimentelle Zwecke entwickelten Simulationsmodell EARTH (Exploring Alternative Realpolitik THeses) abzubilden, stellten sie fest, daß nicht nur die Vertreter dieses Ansatzes zu völlig entgegengesetzten Schlußfolgerungen oder Hypothesen kommen, sondern daß einzelne Autoren selbst logisch widersprüchliche Aussagen machen.

(18)

etwa durch den neofunktionalistischen Integrationsansatz, negierte die zentrale Rolle der Staaten. Sie negierte darüber hinaus die Annahme, Staaten seien einheitliche und rationale Akteure und damit auch, daß Macht und Sicherheit die zentralen Probleme für die A ußen­

beziehungen der Staaten darstellten; statt dessen dominierten Interdependenz und W ohl­

fahrt.

M it Keohane (1984; 1990) als einem seiner führenden Repräsentanten nimmt der Neoinstitutionalismus eine Zwischenposition ein. Die Annahme der Anarchie des interna­

tionalen Systems wird ebenso beibehalten wie die, daß Staaten nach wie vor die zentralen Akteure im internationalen System sind und analytisch als "unitary-rational agents" (Grieco, 1988:492) behandelt werden können. Allerdings spielen Institutionen deswegen eine w ich­

tige Rolle, weil die einzelnen Staaten alleine nicht in der Lage sind, für sie optimale Ergeb­

nisse zu erzielen. Deswegen entstehen ordnungsstiftende Institutionen als Instrumente der Kooperation. Für Keohane (1990: 383) bestehen diese Institutionen aus einem "persistent and connected set o f rules (formal and informal) that prescribe behavioral roles, constrain activities and shape expectations." Diese Formulierung ist wesentlich abstrakter als die der Regime, die in Anlehnung an Krasner (1983:2) aus Prinzipien, Normen, Regeln und Ents­

cheidungsverfahren, die feste Erwartungen begründen, bestehen. Regime stellen eine w ich­

tige Teilklasse von internationalen Institutionen, denen sich die Forschung im Laufe der letzten Jahre intensiv gewidmet hat.16)

W enn nun, w ie M arch und Olson (1984) betonen, politisches Handeln nicht exklusiv auf Rationalität und Wahl bzw. Handlung von Akteuren reduziert werden kann, die in sich eine kohärente Einheit darstellen, formulieren sie damit zugleich das zentrale empirische Forschungsproblem. Im Kern geht es nämlich um die Frage, inwieweit Institutionen ein Eigenleben führen. W endt und Duvall (1989; s. a. Wendt, 1988) thematisieren es mit dem agent-structure Problem, wonach soziales Handeln sowohl durch die Eigenschaften der Akteure als auch durch die institutionalisierten normativen Sozialstrukturen kodeterminiert ist. Beide, Struktur und Agent, bedingen sich gegenseitig, führen aber zugleich ein gewisses Eigenleben. Damit wird der rein instrumentelle Charakter von Institutionen negiert, denn diese werden durch Interaktion konstitutiert.

Die These der partiellen Eigenständigkeit von Institutionen und somit ihrer verhal­

tensbestimmenden wie -bestimmten Funktion ist deswegen von grundlegender Bedeutung, weil sie vom Ansatz her die dominante Position des Realismus-Paradigmas und eine Reihe seiner zentralen Annahmen in Frage stellt, was deren Vertreter (vgl. Grieco, 1989; Mear- sheimer, 1990) allerdings bestreiten. Haggard/Simons (1987) identifizierten vier alternative Forschungsansätze, die Efinger et al. (1990:267-73) durch drei weitere, die insbesondere in

16) Mit der Analyse von Regimen ist Kratochwil und Ruggie (1986) zufolge ein "progressive problem shift", in Anlehnung an Latakos, in der Analyse internationaler Organisationen eingetreten.

(19)

der deutschsprachigen Literatur zu finden sind, ergänzt haben: systemische, spieltheore­

tische, funtionale, normativ-institutionelle, problemstrukturelle, kognitive, und subsystem­

ische.

Diese Forschung hat aber keineswegs zu einer Theorie der Institutionen geführt, son­

dern eher, wie es Haggard und Simons (1987:491) formulieren, gezeigt, daß die vorherr­

schenden Vorstellungen über internationale Ordnung, Autorität und Organisation unbefrie­

digend sind. Dieser Ansatz sei nur dann sinnvoll, wenn er zu den zentralen Einsichten der Interdependenzliteratur zurückfinde (Haggard/Simmon, 1987:515). Das erfordere zugleich die Aufhebung der Grenzen zwischen der internationalen Politik und der Innenpolitik, weil innerstaatliche Gruppen zunehmend "regime interests" haben bzw. vertreten. M it dieser Kritik wird gerade die von Keohane angestrebte Synthese zwischen Realismus und Institu- tionalismus zurückgewiesen, die Grieco von der entgegengesetzten Position, der des Real­

ismus, scharf attackiert.

Unter der Perspektive des Systemwandels ist der institutionelle Ansatz deswegen fruchtbar weil er den harten Kern des einheitlichen und rationalen Akteurskonzeptes durchlässig macht. Allerdings ergeben sich gerade dadurch Probleme, von denen ich im folgenden vier ansprechen will: 1. die Entstehung von Institutionen, 2. die Hierarchie von Institutionen, 3. der Verbindlichkeitsgrad von Institutionen, und 4. der W andel von Institu­

tionen.

1. die Entstehung von Institutionen. Eine wichtige analytische Differenzierung hat Stein (1983) eingeführt, die für die Entstehung und somit zugleich für die Möglichkeit interna­

tionaler Kooperation von Bedeutung sind. Die Ausgangssituation muß nicht nur auf dem dilemma o f common interests beruhen, das weiter oben angesprochen wurde, sondern kann

ebenso auf das dilemma o f common aversion zurückgeführt werden. In beiden Fällen können regional oder global Institutionen geschaffen werden. Allerdings bestimmt zunächst der Kontext, in dem sie entstehen, deren Funktion. Er kann analog zur Unterscheidung Steins a priori auf positiven gemeinsamen Interessen der Akteure beruhen w ie etwa im Bereich der Umwelt, oder durch negativ definierte Gemeinsamkeit wie im Falle der gegenseitigen nuk­

learen Bedrohung (vgl. etwa Cheon et al., 1989; Nye, 1987) zustande kommen.

Im ersten Falle ist Kooperation prinzipiell offen und erweiterbar, im zweiten Falle ist sie begrenzt. Das von Rittberger und seinen Mitarbeitern (1990a) entwickelte Konzept der regulated anarchy unterläuft analytisch diese statische Zweiteilung. Die Bedingungen der institutionalisierten Kooperation werden konfliktsoziologisch reinterpretiert. Rittberger et al. unterscheiden in Interessen- und Wertekonflikte. Im ersten Falle handelt es sich um Konflikte über Ziele oder Mittel. Im zweiten Falle handelt es sich um Konflikte über absolut beziehungsweise relativ bewertete Güter. Wertekonflikte sind weniger förderlich für Regime als Interessenkonflikte. Dagegen tragen Interessenkonflikte über Mittel eher zur Schaffung von Regimen bei als Zielkonflikte.

(20)

Voraussetzung für die Schaffung von Institutionen ist folglich die zwischenstaatliche Konfliktstruktur, die nicht zweidimensional sondern mehrdimensional angelegt ist, wie Rittbergers Typologie zeigt. Diese Struktur ist ihrerseits aber nicht als fixe Größe prädeter- miniert, sondern kann sich im Zeitablauf verändern. Je größer die Interdependenz zwischen den Staaten, desto eher die Chance für die Entstehung von institutionalisierten Konfliktverarbeitungs- und Kooperationsmechanismen. Daraus folgt aber nicht, daß die Entstehung von Institutionen alleine aus der zunehmenden Interdependenz abgeleitet w er­

den kann. Institutionen selbst, die durch Interaktion begründet werden, können ihrerseits zur Veränderung der Konfliktstruktur beitragen und damit die zwischenstaatliche "Regime- Anfälligkeit" fördern oder behindern. Schließlich tragen auch exogene Faktoren (bezogen auf das internationale System) zur Entstehung von Institutionen bei, w enn wie im Falle Europas die Auflösung der Blockstruktur erfolgt.

Alle drei Faktoren tragen somit zur Veränderung der Werte- und Interessenkonflikte bei, womit sich auch die Voraussetzung für institutioneile Kooperations- und Konfliktver­

arbeitungsmechanismen im internationalen System verändern. Dieser W andel kann im Sinne des Übergangs von der unregulierten zur regulierten Anarchie beschrieben werden, wenn damit der nicht mehr existente alte Ost-West Konflikt angesprochen wird. Vor dem Hintergrund der heutigen Situation zeigt sich, daß der Wandel wesentlich umfassender sein kann. W elche Rolle dabei Institutionen als Ursachen des Wandels haben und selbst ihrerseits sich dem Wandel anpassen, ist ungeklärt.

2. Institutioneile Hierarchie. Im Rahmen ihres Konzeptes der regulierten Anarchie sprechen Efinger et al. (1990) das Hierarchie-Problem an. Darunter verstehen sie allerdings nicht, wie üblich, die hierarchische Zuordnung bestehender Institutionen oder Regime vor dem H in- tergrund einer wie immer gearteten funktionalen Reichweite (vgl. Cheon et al., 1989: 123).

Ihr prim ärer Bezugspunkt ist die räumliche Dimension derartiger Konfliktregulierungsme­

chanismen. Diese können sowohl global umfassend aber auch regional begrenzt sein.

Daraus ergibt sich das von Efinger et al. (1990:276) unter dem Aspekt der internen und externen W irkung von Regimen thematisierte Folgeproblem. Sie schaffen damit den Ansatzpunkt für die lange vernachlässigte Regionalismus-Problematik (vgl. Axline, 1977;

Feld/Boyd, 1979; Nye, 1971), die sowohl für die interne wie die externe Dimension relevant ist.

Betrachtet man Institutionen ausschließlich unter internen Aspekten, kann darüber leicht der Umstand übersehen werden, daß sie extern durchaus konfliktfördernde W irkung haben. Denn Institutionen bedeuten zugleich Einschluß wie Ausschluß. Das ist typischer­

weise der Fall bei regionalen Mikro-Organisationen im Sinne von N ye (1971), d. h. ökono­

misch orientierten Institutionen wie gemeinsame Märkte. Das bedeutet, daß die institutio­

nelle Verteilung und Struktur im internationalen System unmittelbar selbst zum Motor des Wandels wird, indem dadurch die Konfliktstruktur geändert wird, sei es zwischen Regionen, sei es zwischen einer Region und dem internationalen System insgesamt. Reduziert man

(21)

Institutionen auf ihre rational-funktionale Dimension im Sinne der Reduktion von Transak­

tionskosten, der Erleichterung der Koordinierung und der Verfügbarkeit von Informationen, wird der strukturell begründete konflikttheoretische Aspekt übersehen, der aus dem kom ­ plexen Interaktionseffekt zwischen den verschiedenen Ebenen resultiert (vgl. Feld, 1979:

492; s. a. Boyd, 1979).

3. Der Verbindlichkeitsgrad von Institutionen. In der bisherigen Diskussion haben w ir die Frage nach den Institutionen selbst vernachlässigt. Der Begriff ist umfassend und kann nicht nur auf Regime im engeren Sinne eingegrenzt werden. Keohane (1990:3 f) unterscheidet in formale zwischenstaatliche und nichtstaatliche internationale Organisationen, Regime und Konventionen. Bleibt m an bei dieser vorläufigen Unterscheidung, so ist die zentrale Dimension, entlang der diese Typen voneinander abweichen, der jeweilige Grad der orga­

nisatorischen Formalisierung.

M it der Formalisierung, doch nicht nur damit, erhöht sich die Verbindlichkeit derar­

tiger Institutionen, der im Hinblick auf den Wandel des internationalen Systems zu einem theoretisch weitreichenden Folgeprobleme. Scharpf (1988) verwendet dafür den Begriff der Entscheidungsfalle bei etablierten und formalisierten Institutionen. Diese entsteht dann, wenn der Rückzug aus bestehenden Institutionen zu kostspielig, somit praktisch unmöglich ist, die Funktionsweise aber quasi Einheits- oder Enheitsentscheidungen erfordert. Bei for­

malisierten Institutionen, insbesondere solche, die distributive und regulative Funktionen haben, kommt es nicht nur zur Blockierung von Kooperation, sondern auch zu deren Abschottung von ihrem Umfeld. Institutionen müssen, folgt m an diesem Argumentation­

sstrang, nicht nur zur Kooperation beitragen, sondern können ebenso in der Folge Block­

ierung und institutionelle Abschottung bewirken.

W ährend dieses Problem im Zusammenhang mit intergouvemamentalen Institutionen auftreten kann, sind weniger formalisierte aber nicht weniger verbindliche Institutionen, die auf Konventionen beruhen, mit einem ähnlichen nichtintendierten Effekt konfrontiert. Put­

nam (1988) thematisiert es m it dem Begriff der unvoluntary defection. Dieser unfreiwillige Verstoß gegen international verbindlich getroffene Abmachungen tritt dann auf, wenn die einzelnen staatlichen Akteure keine nationale Unterstützung oder Mehrheit gewinnen. Um das zu verhindern, muß bei Verhandlungen auf hoher politischer Ebene dieser innerstaat­

liche Kontext, Putnams zweite Ebene, einbezogen werden. Hier zeigt sich, daß die Kehrseite der M edaille darin besteht, mittels internationaler Verhandlungen innerstaatlich eine Politik durchzusetzen, die ansonsten nicht mehrheitsfähig wäre. Demzufolge haben Institutionen eine Doppelfunktion. Diese zweiseitige Wirkung stellt herkömmliche Vorstellungen von Außenpolitik, die nur von innen nach außen wirkt, auf den Kopf.

4. D er W andel von Institutionen. In Anbetracht des gegenwärtigen Umbruchs im interna­

tionalen System drängt sich die Frage nach dem W andel von Institutionen unmittelbar auf.

Die Schwierigkeit besteht hierbei darin, daß das Problem nicht auf einzelne Institutionen reduziert werden kann, sondern die gesamte Struktur des bestehenden Systems betroffen ist.

Analog zum Regimewandel kann der Institutionswandel im umfassenderen Sinne auf drei

(22)

alternative, keineswegs ausschließliche Ursachen zurückgeffihrt werden (Cheon, et al., 1989: 124). Alle drei Formen des Wandels sind "norm governed (ibid.): auf Grund interner Widersprüche, durch Veränderungen der Machtstruktur, und durch exogene Faktoren.

Sämtliche drei Bedingungen sind in Europa gegenwärtig gegeben. Interne W id­

ersprüche bestehen insofern, als im Falle einzelner Institutionen wie der NATO etwa die veränderten Bedingungen eine Anpassung erforderlich machen. Regional hat sich die Machtstruktur grundlegend geändert. Das institutioneile Gefüge im früheren Ostblock ist oder wird aufgelöst, u. a. W arschauer Pakt und COMECON. Schließlich können die innerstaatlichen Veränderungen innerhalb der osteuropäischen Staaten als exogen angese­

hen werden. Die Komplexität der Problematik resultiert aus der komplexen Interdependenz aller drei Ursachen des Wandels, die gleichzeitig bewältigt werden müssen. Und damit stellt sich erneut die grundlegende Frage nach dem Wandel des bestehenden Institutionenge­

flechts, inwieweit es die derzeitige Entwicklung beeinflußt und/oder von ihr beeinflußt wird.

Nachdem die durch Herrschaft (Czempiel, 1990) bewirkte künstliche Trennung in Ost- und Westeuropa hinfällig geworden ist, kann der institutionelle W andel als Chance der Integration im Sinne von Nye (1971: 28ff) beschrieben werden, der sich auf die ökono­

mische, die soziale und politische Dimension bezieht. Politische Integration setzt institutio­

nelle Strukturen, interdependente politische Entscheidungsprozesse und eine gemeinsame Identität und Verpflichtungen voraus (Nye, 1971: 37). Dieser Prozess ist ins seiner Gesam­

theit weder von der Richtung vorherbestimmt, noch ist das Niveau, au f dem er sich stabili­

siert, a priori determiniert.

Dieser Wandel der institutionellen Struktur wird durch das integrative Potential bes­

timmt.1^ Institutioneller Wandel ist deswegen nicht voluntaristisch zu gestalten, sondern abhängig von der Veränderung des integrativen Potentials. A uf diesem W ege trägt er zu dem bei, was Boyd (1979:424) als "collective management of interdependencies" bezeichnet hat.

Hierbei trifft allerdings die Paradoxie auf, daß die Voraussetzung für integrative Prozesse im Sinne des Managements der Interdependenz sowohl in der Abschaffung der bestehenden Verflechtung in Osteuropa wie in deren Rekonstruktion auf einer neuen Basis besteht.

Der institutionelle Ansatz, faßt man die bisherigen Ausführungen zusammen, stellt ein Alternative zur Anarchie-Sicht des Realismus dar, die zugleich dem Wandel, der im inter­

nationalen System global und regional stattgefunden hat, eher gerecht wird. W ie dieser institutionelle W andel systematisch erklärt werden kann und inwieweit die Institutionen ihrerseits zu diesem Wandel selbst beitragen, ist offen. Daß er m it der Veränderung der zwischenstaatlichen Konfliktstruktur einhergeht ist zumindest eine plausible Arbeitshypo­

these. Gleichermaßen ungeklärt ist das mögliche Paradox der Blockierung der Kooperation *

17) Dieses Potential besteht strukturell in der Symmetrie bzw. Gleichheit zwischen den Einheiten, in der Werte-Komplementarität der Eliten, in dem (innerstaatlichen) Pluralismus und in der Fähigkeit der Beteiligten, sich anzupassen und zu reagieren; perzeptionell wird es bestimmt durch die Wahrnehmung gleichen Nutzens, gleicher externer Triftigkeit (cogency) und niedrige Kosten.

(23)

durch Institutionen, ebenso wie die nichtintendierten Folgen im Sinne der externen Wirkung durch Konfliktschaffung. Schließlich ist dieser Prozess an das vorhandene integrative Potential gebunden und daher nicht voluntaristisch auf politischer Ebene zu gestalten.

6 Integration

Normativen Vorstellungen zur Systemtransformation, sei es die Schaffung einer Weltgemeinschaft mit einer W eltregierung oder die Schaffung eines kollektiven Sicher­

heitssystems, können als theoretisch analytisches Pendant die integrationstheoretischen Ansätze gegenübergeslellt werden. Unter den verschiedenen integrationstheoretischen Ansätzen (vgl. Keohane and Nye, 1975; de Vree, 1972) ragt das Konzept der Sicherheits­

gemeinschaft heraus, das Karl Deutsch et al. (1957) vor über 30 Jahren entwickelt haben. Tm

Gegensatz zum neofunktionalistischen Ansatz oder föderalistischen Konzeptionen ist das Konstrukt der Sicherheitsgemeinschaft nicht mit theoretisch eingebauten Zielvorstellungen belastet.

Das Konzept der Sicherheitsgemeinschaft setzt keine bestimmte formale staatliche Organisationsform voraus, sie ist auch nicht an die Europäische Gemeinschaft gebunden, die letztlich die theoretische Diskussion und die empirische Forschung weitgehend zum Bezugspunkt hatte, und schließlich muß eine Sicherheitsgemeinschaft nicht als Endzustand des Systemwandels interpretiert werden. Sie ist nur in einem Punkte zielorientiert als sie die weitgehende Abwesenheit von Gewalt als Mittel der Konfliktlösung als "Endzustand" für möglich hält, sei es innerstaatlich, sei es zwischenstaatlich. Sie schließt allerdings auch nicht aus, daß nach wie vor Gewalt auftritt.

Dieser theoretische Ansatz will den Wandel von politischen Gemeinschaften zu inte­

grierten Gemeinschaften erklären. Lijphart (1980:236) zufolge ist dieser Ansatz revolu­

tionär, weil er das traditionelle Realismus-Paradigma gleich in drei Punkten in Frage stellt.

Erstens wird der axiomatische Zusammenhang von Anarchie und Krieg bestritten, zweitens negiert Deutsch, daß es einen solchen generellen Zusammenhang überhaupt gibt, und drit­

tens bezweifelt Deutsch, daß eine Weltregierung eine notwendige Bedingung zur Überwin­

dung der Gewalt als Mittel der Konfliktlösung ist. Das zeigt sich analog im innerstaatlichen Bereich, wo etwa religiöse oder ethnische Konflikte, z. B. in Nordirland oder in Frankreich und Spanien, durchaus gewaltsame Auseinandersetzungen nach sich ziehen können.

Politische Gemeinschaften (communities) zeichnen sich Deutsch zufolge durch eine Reihe gemeinsamer zentraler Elemente aus. Sie bestehen aus sozialen Gruppen, aus einem Prozess der politischen Kommunikation, aus institutionellen M echanismen der Durchset­

zung von Regeln und deren freiwillige Einhaltung. Nun interessiert Deutsch die Entstehung von Gemeinschaften nur im Hinblick auf deren Bedeutung für die Beseitigung der Gewalt als regulärem Mittel der Konfliktlösung. Die Gemeinschaften, in denen Gewalt weitgehend als Mittel der Interessensdurchsetzung eliminiert ist, bezeichnet er als Sicherheitsgemeins­

chaften. Sie bestehen aus einer Gruppe von Menschen, die integriert sind. Integration

(24)

bedeutet, daß innerhalb eines geographischen Raumes ein Gemeinschaftsgefühl, Institutio­

nen und Gewohnheiten bestehen, die so stark ausgeprägt sind, daß langfristige Erwartungen über den friedlichen Wandel bestehen. Gemeinschaftsgefühl entspricht dem M inimalkon­

sens, daß die Lösung gemeinsamer sozialer Probleme friedlichen erfolgt.

Historisch sind zwei Formen der Sicherheitsgemeinschaft beobachtbar: pluralistische und amalgamierte. Beide basieren auf institutionalisierten Mechanismen, formell und informell, der gewaltfreien Konfliktregulierung Der Unterschied zwischen beiden besteht darin, daß pluralistische Sicherheitsgemeinschaften aus mehreren souveränen Staaten bes­

tehen, während amalgamierte Sicherheitsgemeinschaften aus einem staatlichen Gebiet mit einer Zentralgewalt bestehen. Dieser Konzeption zufolge ist nicht der formale Status der Akteure entscheidend, sondern die Form der Konfliktlösung, die gewaltsam oder gewaltlos erfolgen kann. Inner- und zwischenstaatlich gelten analoge Mechanismen der Gewaltver­

hinderung.

Der Prozess der Integration entspricht dem Transformationsprozess von Gesellschaf­

ten zu friedlichen politischen Gemeinschaften. Die pluralistische ebenso wie die amalga­

mierte Sicherheitsgemeinschaft können als Institution oder institutionalisiertes Netzwerk interpretiert werden. Diese Institution basiert auf drei zentralen Merkmalen: auf der Kom­

patibilität der wichtigsten Werte ihrer Mitglieder, auf der Fähigkeit der Mitglieder, auf Bedürfnisse, Handlungen und Nachrichten ohne Gewalt schnell zu reagieren, und auf sta­

bilen Verhaltenserwartungen. Träger dieser Sicherheitsgemeinschaft sind nicht etwa die Staaten, sondern die sie konstituierenden sozialen Gruppen.

Im Falle der amalgamierten Sicherheitsgemeinschaft sind die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, wesentlich umfassender als im Falle pluralistischer Sicherheitsgemeinschaften.

Das w ird an der unterschiedlichen Zahl der wesentlichen Bedingungen erkennbar, die für die Erlangung beider erforderlich sind. Für amalgamierte Sicherheitsgemeinschaften sind es zwölf, während im pluralistischen Falle nur drei erfüllt sein müssen.18) Fragen wir nicht nach den Bedingungen, die diese Gemeinschaften auszeichnen, sondern nach dem Prozess, der dahin führt, dann stellt das Konzept von Deutsch dem Anspruch nach eine partielle Theorie des Systemwandels dar.

Daß dieser Ansatz nur partiell ist, ergibt sich daraus, daß die Bedingungen für plural­

istische Sicherheitsgemeinschaften an bestimmte innerstaatliche Bedingungen geknüpft sind. Pluralistische Sicherheitsgemeinschaften setzen stabile Verhaltenserwartungen der Beteiligten voraus, die ihrerseits im Rahmen stabiler Bedingungen handeln. Diese Bedin­

gung ist dann nicht erfüllt, wenn sich ein Teil der potentiellen M itglieder einer solchen Sicherheitsgemeinschaft selbst in einer Umbruchsphase befindet. M an kann, unter leicht modifizierter Verwendung der Terminologie von Deutsch nämlich den Übergang der vor­

mals stalinistischen Systeme in Mittel- und Osteuropa zu demokratischen m it dem Übergang

18) Ganz widerspruchsfrei ist diese Zahl nicht, zumal Deutsch z. T. unterschiedliche Formulierungen ver­

wendet, zum Teil mehr als zwölf Bedingungen nennt.

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