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Acht Jahre Gazale-Unterstützerkreis – ein kurzer, subjektiver Rückblick

Von Kai Weber

Zur Geschichte der Familie Siala / Salame ist viel geschrieben worden. Auch die Homepage des Flüchtlingsrats Niedersachsen ist voll von Berichten und Dokumentationen. Nachfolgend schildere ich einige Szenen und Ereignisse, die ausschnittartig beschreiben, was in diesen acht Jahren geschehen ist.

10. Februar 2005: Ahmed Siala stürzt ins Büro des Flüchtlingsrats – das Entsetzen ist ihm ins Gesicht geschrieben. Gazale Salame, seine schwangere Frau, wurde soeben zur

Abschiebung abgeholt, als er die älteren Mädchen Amina und Nura gerade zur Schule brachte. Der Abschiebungstransporter ist schon auf dem Weg zum Flughafen. Hektisch organisieren wir juristische Unterstützung, innerhalb einer Stunde wird ein – natürlich schlecht vorbereiteter – Eilantrag an das Verwaltungsgericht fertiggestellt. Parallel kontaktieren wir die Landrätin Ingrid Baule. Beide Initiativen scheitern. Das

Verwaltungsgericht befindet, die Abschiebung sei vertretbar, da Ahmed auch bald das Land verlassen müsse. Die Landrätin sieht sich außerstande, die Abschiebung noch zu stoppen, setzt sich nur dafür ein, dass die einjährige Tochter Schams bei der Mutter bleiben, also auch abgeschoben wird. Ahmed Siala stürzt noch zum Flughafen, er darf seine Frau aber nicht mehr sehen. Am nächsten Tag steht in der Zeitung: Abschiebung einer Betrügerin

Amina und Nura! Für sie stellt die plötzliche überfallartige Abschiebung ihrer Mutter natürlich ein furchtbarer Schock dar. Lange Zeit schlafen und lernen die Mädchen schlecht.

Was, wenn ihnen ihr Vater ebenso weggenommen würde wie ihre Mutter, quasi über Nacht?

Ahmed bemüht sich wie die Unterstützer/innen, die traumatisierten Kinder nicht zu überfordern. Als sie älter werden, bricht sich ihr Wunsch, öffentlich beizutragen für die Rückkehr der Mama mit der Hoffnung, endlich ein normales Leben führen zu können, abseits von Kameras und medialer Aufmerksamkeit.

Die vielfachen medialen Inszenierungen sind furchtbar für die Mädchen, denn trotz des wiederholten öffentlichen Protests ändert sich nichts, ihre Hoffnungen werden immer wieder enttäuscht, eine Aufarbeitung der Ereignisse ist unter diesen Bedingungen kaum möglich. Die Mädchen sehnen sich danach, zur Ruhe zu kommen, abgeschirmt von der Öffentlichkeit, und wissen doch auch, dass diese Öffentlichkeit ihre einzige Chance ist, ihre Mutter wieder zurück zu bekommen.

Ein Jahr später: Der Flüchtlingsrat ruft zur Demonstration aus Anlass des ersten Jahrestags der Abschiebung. Die Demonstration gerät zum Spießrutenlauf: Gleich zu Beginn informiert der Einsatzleiter der Polizei, die Demonstration werde lückenlos gefilmt, um “Straftäter”

dingfest machen zu können. Im Spalier rechts und links von Polizeibeamten eingerahmt, von einem Hubschrauber über uns begleitet, demonstrieren wir vor allem ein gesellschaftliches Feindbild. Wegen fehlendem v.i.S.d.P. werden Flugblatt verteilende Einzelpersonen willkürlich aus der Demonstration festgenommen. Da sonst keine Straftaten auszumachen sind, erteilen die Verfolgungsbehörden dem Anmelder nach der Demonstration einen Strafbefehl – wegen unerlaubten Betretens von Kirchenstufen. Die Provinzposse endet erst zwei Jahre später vor der zweiten Gerichtsinstanz mit einer Einstellung des Verfahrens.

Die Kriminalisierung der Unterstützer korrespondiert mit einer gezielten Kriminalisierung von Ahmed Siala durch die Behörden im Landkreis Hildesheim: Wo immer Ahmed Siala arbeitet, kommt es zu Durchsuchungen und Kontrollen von unterschiedlichsten Behörden

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(Zoll, Gesundheitsamt, Veterinäramt, ...) sowie zu einer Fülle von Strafanzeigen gegen ihn, die fast alle eingestellt werden.

Im Juni 2006 sieht alles nach einer schnellen Lösung aus: Das Verwaltungsgericht hebt die Abschiebungsentscheidung auf (O-Ton des Richters: „Das ist sehr dünn“), die Landrätin will einlenken und Gazale zurückkehren lassen. Doch dann kommt die Weisung des

Innenministers Schünemann: Der Landkreis soll aus „rechtsgrundsätzlichen“ Erwägungen Beschwerde beim OVG Niedersachsen erheben.

Sept. 2007: Das OVG Niedersachsen trifft eine niederschmetternde Entscheidung: Der im Alter von sechs Jahren mit seinen Eltern aus dem Libanon geflohene Ahmed Siala, der seit 22 Jahren in Deutschland lebt, sei "unter Täuschung über seine Identität nach Deutschland gekommen". Mit einer fast bösartigen Zirkelschlusslogik hält das Gericht ihm ein

fragwürdiges Verhältnis zum Rechtsstaat vor, weil er sich starrsinnig weigere zu akzeptieren, dass er Türke sei. Gemeinsam mit der Familie überlegen wir, was wir noch tun können, und ob eine Ausreise in die Türkei nicht für alle Beteiligten das Beste sei. Doch wovon soll die Familie dort leben? Ahmed spricht kein Wort türkisch und kennt dort niemanden. Am Ende trifft Ahmed den Entschluss: Ich kämpfe weiter um eine Lebensperspektive für unsere Familie in Deutschland!

Gazale verfolgt und begleitet die Diskussionen aus der Türkei. Sie teilt nicht jede Entscheidung mit ihrem Mann, fühlt sich zeitweise allein und im Stich gelassen. Die

wiederholten Enttäuschungen stürzen sie in heftige Depressionen, zeitweise haben wir große Angst um sie. Aber sie bleibt nicht passiv, wartet nicht als Objekt unseres Mitleids auf Rettung von außen, sondern wird selbst aktiv: Mehrfach sucht sie die deutsche Botschaft auf und bittet um ein Gespräch, zweimal versucht sie, mit ihren Kindern illegal zu ihrer Familie zu fliehen – und scheitert jedes Mal an den Polizeikontrollen der Festung Europa. Diese Tatkraft lässt uns hoffen, dass sie es schaffen wird, die ihr zugefügten Verletzungen zu verarbeiten.

Januar 2009: Das Bundesverwaltungsgericht hebt die Entscheidung des

Oberverwaltungsgerichts auf, weil es die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht beachtet habe. „Der Fall schreit geradezu nach einer Lösung im Wege des Vergleichs“, erklärt die oberste Verwaltungsrichterin im mündlichen Verfahren. Die Familie hat neuen Mut, bei den Unterstützer/innen keimt neue Hoffnung. Das

Innenministerium signalisiert ein Umdenken und appelliert an die Unterstützer/innen, sich mit Presseveröffentlichungen zurückzuhalten. Ende 2009 wird ein Deal geschlossen: Die

Härtefallkommission soll eine Lösung ermöglichen.

Im Frühsommer 2011 platzt der Deal: Die Härtefallkommission stimmt zwar mit vier positiven Stimmen und zwei negativen Stimmen bei einer Enthaltung in geheimer Abstimmung für die Feststellung eines Härtefalls. Das notwendige Quorum einer

Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen ist damit jedoch knapp verfehlt. Offenkundig hat es eine politische Intrige gegeben, haben uns doch vor der entscheidenden Abstimmung fünf der sieben Mitglieder ihre Unterstützung des Antrags versichert.

Die Entscheidung der Härtefallkommission stürzt Ahmed Siala in abgrundtiefe

Verzweifelung. Ahmed erkennt, früher als wir, dass es hier im Kern um einen politischen, nicht um einen juristischen Streit geht, und dass er nur geringe Chancen hat, gegen den Innenminister und dessen Möglichkeiten und Machtmittel seine Sicht der Dinge zur Duchsetzung zu verhelfen. Er ist depressiv, suizidal, auch der Unterstützerkreis kann den

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Kampagnen der Landesregierung, die zur nachträglichen Legitimation einer unhaltbaren Verwaltungsentscheidung Kübel von Schmutz über ihn gießen, nicht nachhaltig entgegen treten – irgend etwas bleibt immer hängen.

Abseits der Debatte um das Aufenthaltsrecht von Ahmed versucht der Unterstützerkreis nun intensiver, das Leid von Gazale und das der betroffenen vier Kinder ins Blickfeld zu rücken.

Mit immer neuen Vorstößen und Aktionen klagen wir die Verletzung von Kinder- und Menschenrechten ein. Im Sommer 2012 gelingt es, eine gemeinsame Resolution von Linken, Grünen und SPD für Gazale in den Landtag einzubringen, die in den Innenausschuss zur weiteren Beratung verwiesen wird. In intensiven Gesprächen bereitet eine Koalition aus Jan- Christoph Oetjen, Jutta Rübke, Fritz Güntzler, Filiz Polat, Pia Zimmermann schließlich den Boden für eine humanitäre Lösung.

Kontinuitäten des Verwaltungshandelns. Der Fisch stinkt vom Kopf. Die für die Abschiebung von Gazale verantwortlichen Beamten im LK Hildesheim sind weiterhin im Amt. Der Hildesheimer Landrat Wegner stellt sich bis heute vor sie und deckt die inhumane Verwaltungspraxis seiner Ausländerbehörde. Trotz aller öffentlichen Versprechungen gab es vor zwei Jahren mit dem Fall der Familie Naso einer Neuauflage der gezielten,

unangekündigten, überfallartigen Festnahme und Abschiebung von Flüchtlingen unter Inkaufnahme einer Familientrennung. Seit einem Jahr erhalten wir keine Reaktion des Landkreises auf unsere inständige Bitten – dem in Syrien gefolterten, 17-jährigen Jungen Anuar Naso endlich die Rückkehr zu ermöglichen - warum nicht?

Seit Februar haben wir eine neue Landesregierung. Die aktuellen Ankündigungen des neuen Innenministers machen Mut, aber es wird dauern, bis neue Direktiven sich durchsetzen. In den Landkreisen Lüchow-Dannenberg und Gifhorn gab es bereits neue skandalöse

Abschiebungen, die Familientrennungen zur Folge hatten – und wohl noch von der alten Landesregierung zu verantworten sind.

Innenminister Boris Pistorius ist jetzt gefordert, Zeichen zu setzen. Auch andere zu Unrecht abgeschobene Flüchtlinge müssen schnell nach Niedersachsen zurückkehren können. Zu denken wäre hier – neben den o.g. jüngsten Fällen – auch an die Familie Coban. Gazales Vater, der zu ihrer Unterstützung nach Izmir ausreiste und nun nicht wieder zu seiner Frau nach Deutschland zurückkehren darf, muss eine Einreiseerlaubnis erhalten. Und der seit Jahren andauernde Rechtsstreit um ein Aufenthaltsrecht der seit 28 Jahren in Deutschland lebenden Familie Siala muss endlich durch Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis politisch beendet werden. Es gibt noch viel zu tun. Aber es gibt auch die Chance, dass sich jetzt vieles zum Guten ändert. Dafür werden wir arbeiten.

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