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Zwischen Stillstand und Zögern „Weltkindergipfel“ und ILO zu Kinderarbeit

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Zwischen Stillstand und Zögern

„Weltkindergipfel“ und ILO zu Kinderarbeit

Klaus Heidel, Werkstatt Ökonomie e.V.

In kurzer Folge beschäftigten sich zwei internationale Konferenzen im Mai und Juni 2002 mit Kinderarbeit, und erstmals wurde am 12. Juni der Internationale Tag gegen Kinderarbeit begangen. Initiiert wurde er von der Internationalen Arbeitsorganisation. Deren Generaldi- rektor1 wies selbstbewusst darauf hin, dass Kinderarbeit noch vor zehn Jahren weder auf der globalen noch nationalen Agenda gestanden habe. Mehr noch: weithin sei geleugnet worden, dass es Kinderarbeit überhaupt gebe, womit der Chilene Juan Somavía – für einen UN- Diplomaten erstaunlich unmissverständlich – auf die Haltung von Ländern wie Indien und Pakistan anspielte. Jetzt aber sei eine breite Bewegung gegen Kinderarbeit entstanden, die Regierungen, Arbeitgeber, Gewerkschaften, religiöse Organisationen, Parlamente und ande- re mehr umfasse2.

In der Tat dürfte es kaum eine andere sozial- und entwicklungspolitische Herausforderung gegeben haben, die in so kurzer Zeit aus dem Dunkel des öffentlichen Desinteresses in das Licht weltweiter öffentlicher Aufmerksamkeit gerückt ist. Dass dem so ist, legte kürzlich die Äußerung eines Vertreters des deutschen Spielwarenhandels nahe: Mit großem Nachdruck erklärte er, seine Unternehmensgruppe werde alles tun, um Kinderarbeit in der chinesischen Spielzeugindustrie zu unterbinden. Doch in den Spielzeugfabriken der chinesischen Küsten- provinz Guangdong ist nicht Kinderarbeit, sondern die extreme Ausbeutung junger Frauen das Problem. Der Hinweis auf diesen Sachverhalt beeindruckte aber den Branchenvertreter nicht, er blieb bei seiner Entschlossenheit, gegen die (nahezu nicht existente) Kinderarbeit in der Spielzeugindustrie vorgehen zu wollen: Offensichtlich sehen sich mittlerweile selbst Ver- treter von Unternehmen veranlasst, (bei jeder Gelegenheit) ihre entschiedene Ablehnung von Kinderarbeit zu bekunden.

Zugleich aber deutet diese kleine Begebenheit auf Schieflagen öffentlicher Wahrnehmung:

Erstens konzentriert sie sich weithin auf Kinderarbeit in der Exportproduktion, obgleich dort nur ein sehr kleiner Teil der ausgebeuteten Kinder arbeitet. Zweitens ist sie beherrscht von einer gänzlich undifferenzierten Sichtweise, der jede Kinderarbeit zu Ausbeutung, Sklaverei gar wird – und daher schlicht zu verbieten sei. Angesichts solcher falschen Akzentuierungen und unzulässigen Vereinfachungen ist eine Qualifizierung der Debatte über Kinderarbeit ü- berfällig. Die Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen über Kinder („Weltkinder- gipfel“ vom 8. bis 10. Mai 2002) und die 90. Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz (3.

bis 20. Juni 2002) hätten hierzu Gelegenheiten bieten können. Doch der (auch sonst enttäu- schende) „Weltkindergipfel“ brachte die Auseinandersetzung mit Kinderarbeit in keinster Weise voran, und die ILO blieb trotz verheißungsvoller Ansätze auf halbem Wege stecken.

1 Der Generaldirektor des Internationalen Arbeitsamtes fungiert als Generalsekretär der Internationalen Arbeitskonferenz, Amt und Konferenz sind neben dem Verwaltungsrat die Organe der Internationalen Arbeitsorganisation.

2 Vgl. International Labour Conference (2002): Provisional Record Ninetieth Session, Geneva, 2002, Eighth sitting, 12 June 2002, S. 13.

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I. „Weltkindergipfel“: Nichts Neues zu Kinderarbeit

Die dreitägigen Beratungen des „Weltkindergipfels“ wurden weithin beherrscht von einem teilweise ideologisch aufgeladenen Streit über Familienplanung und Sexualität3 sowie vom (zum Teil erfolgreichen) Versuch der USA, den Kinderrechtsansatz zu schwächen4. Im Ge- gensatz zu diesen bis zuletzt heftig umstrittenen Themen spielte Kinderarbeit nur eine nach- rangige Rolle – übrigens nicht nur beim Gipfel selbst, sondern auch schon während des über zweijährigen Vorbereitungsprozesses. Strittig war im Vorfeld vor allem, ob das Abschlussdo- kument des „Weltkindergipfels“ auf das Übereinkommen 138 der Internationalen Arbeitsor- ganisation (ILO) über das Mindestalter für die Zulassung zu einer Beschäftigung verweisen solle. Während die ILO mit Nachdruck dafür warb, waren Kanada und die USA dagegen.

Beide Länder vertraten die Ansicht, Jugendliche sollten nicht vom Arbeiten abgehalten wer- den, sofern die Tätigkeit nicht zu anstrengend sei und die Arbeit den Schulbesuch nicht be- hindere. Dass sie mit dieser Begründung den Verweis auf Übereinkommen 138 ablehnten, ist aber nicht zwingend, da dieses Übereinkommen durchaus „leichte Arbeiten“ für Kinder ab zwölf Jahren zulässt.

Allerdings kamen beide Länder mit ihrer Interpretation de facto Ländern wie Indien entgegen, die aufgrund weit verbreiteter Kinderarbeit grundsätzlich gegen Übereinkommen 138

argumentieren, auch wenn sie ihren Widerspruch inzwischen zurückhaltender als früher vortragen. Von Anfang an lehnten sie Übereinkommen 138 mit dem Hinweis ab, erst müsse (mithilfe der Industrieländer) Armut beseitigt werden, bevor Kinderarbeit abgeschafft werden könne. Diese Einstellung entsprang aber nicht einer Einsicht in die Notwendigkeit eines differenzierenden Begriffes von Kinderarbeit, sondern diente der schlichten Legitimierung menschenrechtswidriger Ausbeutung arbeitender Kinder durch herrschende Eliten und das heißt im Falle Südasiens vor allem: durch Angehörige der obersten Kasten. Von daher vernebelte die scheinbare Allianz Nordamerikas mit Ländern wie Indien den tiefen

menschenrechtlichen Graben zwischen einer Position, die lediglich ausbeuterische Praxis zu legitimieren versucht, und einer Haltung, die sich um notwendige Differenzierungen bemüht.

Hier aufzuklären, wäre eine Chance des „Weltkindergipfels“ gewesen, die aber nicht einmal ansatzweise wahrgenommen wurde.

3 Frühere Entwürfe des Aktionsplanes, der den Kern des Abschlussdokumentes (A world fit for children.

Unedited Advance Copy, [o.O.] 15 May 2002, Internet: http://www.unicef.org/specialsession/) aus- macht, nannten im Abschnitt über Gesundheit unter anderem das Ziel eines „unbeschränkten Zuganges“

von „Frauen und heranwachsenden Mädchen“ zu „erschwinglicher“ und „erstklassiger reproduktiver Gesundheit“. (Mit „reproduktiver Gesundheit“ sind alle die Sexualität und Fortpflanzung betreffenden Bereiche unter Einschluss von Schwangerschaftsberatungen gemeint.) Eine Aufnahme dieses Zieles, das bereits bei der Internationalen Konferenz für Bevölkerung und Entwicklung (Kairo 1994) und bei der Vierten Weltfrauenkonferenz (Peking 1995) verabredet worden war, verhinderten aber die USA gemeinsam mit arabischen Staaten, weiteren islamischen Ländern unter der Führung des Sudan und dem Vatikan. Sie wollten damit unter anderem verhindern, dass minderjährigen Mädchen Abtreibung gestattet wird.

4 Mit Erfolg wehrten sich die USA gegen eine vollständige Ächtung der Todesstrafe für Minderjährige.

Weiter gelang es ihnen, dass die UN-Kinderrechtskonvention – die alle Staaten bis auf Somalia und die USA ratifiziert haben – im Aktionsplan nicht als völkerrechtlich verbindlicher Rahmen für seine Um- setzung benannt und Kindern das Recht vorenthalten wurde, Rechte einzuklagen. Insgesamt konnten die USA einen Teil ihrer Vorstellungen gegen die Mehrheit der Länder durchsetzen – nicht zuletzt deshalb, weil die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union am Ende eines zermürbenden Machtpokers den USA weit entgegen kamen: Aus Angst vor einem Scheitern des aufwendig vorbereiteten Gipfels gaben sie ih- re Positionen zu „reproduktiver Gesundheit“, zur Verankerung der UN-Kinderrechtskonvention im Ab- schlussdokument und zur Todesstrafe auf.

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Stattdessen konzentriert sich das Abschlussdokument auf Formen ausbeuterischer Kinderar- beit, wie sie in dem Übereinkommen 182 der Internationalen Arbeitsorganisation über schlimmste Formen von Kinderarbeit definiert werden5. Im Einzelnen beschränken sich die wenigen einschlägigen Abschnitte des Aktionsplanes weitgehend auf eine Wiederholung der (weltweit ohnehin akzeptierten) Bestimmungen dieses Übereinkommens. Weitergehend ist lediglich die Forderung, Maßnahmen gegen Kinderarbeit in nationalen Strategien und Politi- ken zur Armutsbekämpfung Vorrang einzuräumen.

Nicht übernommen wurden zwei Formulierungen aus früheren Entwürfen des Abschlussdo- kumentes, die zur Qualifizierung der Debatte über Kinderarbeit hätten beitragen können: Ers- tens stand als eine mögliche Zielvorgabe die Verbesserung von Arbeitsbedingungen zur Dis- kussion. Die Aufnahme eines solchen Zieles wäre im Blick auf jene Formen von Kinderarbeit weiterführend gewesen, die nicht zu den „schlimmsten“ gehören und bei denen es unter be- stimmten Umständen sinnvoller sein kann, die Ausbeutung der Kinder, nicht aber die Kinder- arbeit an sich zu bekämpfen. Abgelehnt wurde zweitens der Vorschlag, als ein Ziel die Auf- klärung über das Recht des Kindes auf Schutz vor wirtschaftlicher Ausbeutung (im Sinne von Artikel 32 der UN-Kinderrechtskonvention) zu verabreden. Gerade ein solcher Bezug auf die Rechte des Kindes hätte dazu beitragen können, dass arbeitende Kinder als Subjekte und nicht bloß als zu beschützende Objekte begriffen werden. In dieser Perspektive hätten auch die (Selbst-)Organisationen arbeitender Kinder6 in den Blick kommen können. Dies aber geschah nicht (überhaupt enthält das Abschlussdokument nur sehr vage Formulierungen über die Par- tizipation von Kindern).

Gänzlich fehlen schließlich zentrale Forderungen von Nichtregierungsorganisationen, wie sie in Deutschland unter anderem vom Forum Kinderarbeit7 vorgetragen werden: So findet sich kein Hinweis auf die Notwendigkeit, die Welthandelsorganisation sowie Weltbank und Inter- nationalen Währungsfonds auf eine pro-aktive Förderung der (wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen) Rechte des Kindes zu verpflichten. Unerwähnt bleibt, dass bei der Erarbeitung und Umsetzung von Strategien zur Armutsbekämpfung im Rahmen der PRSP-Prozesse (ar- beitende) Kinder und ihre Organisationen beteiligt und ihre Belange berücksichtigt werden müssen, sollen Maßnahmen zur Armutsbekämpfung die Lage von Kindern und Jugendlichen nachhaltig verbessern. Nicht aufgenommen wurden schließlich Zielvorgaben zur Stärkung und Weiterentwicklung nationaler und internationaler Instrumente zur Durchsetzung des Rechtes des Kindes. Hierzu könnten die Einrichtung geeigneter Monitoring-Strukturen auf nationaler Ebene – etwa die Bestallung regierungsunabhängiger Ombudspersonen – und die Stärkung einschlägiger Staatenberichtsverfahren sowie die Einführung eines Individualbe- schwerderechtes gehören:

5 Übereinkommen 182 der ILO aus dem Jahre 1999 nennt in Artikel 3 vier Gruppen „schlimmster For- men“ von Kinderarbeit: Sklaverei und Zwangsarbeit, Kinderprostitution und Produktion von Kinder- pornographie, Einsatz von Kindern im Bereich des organisierten Verbrechens (etwa des Drogenhandels) und Arbeit, die schädlich ist für die „Gesundheit, Sicherheit oder Moral“.

6 Die in den 1970er Jahren zunächst in Lateinamerika entstandene Bewegung arbeitender Kinder hat sich in den 1990er Jahren auch auf Afrika und Asien ausgebreitet und seit 1996 eine Reihe von überregiona- len und weltweiten Treffen durchgeführt.

7 Das Deutsche NRO-Forum Kinderarbeit wird getragen von: Aktion „Brot für die Welt“, DGB- Bildungswerk e.V., Initiativkreis gegen die Ausbeutung und für die Stärkung arbeitender Kinder (Pro- Nats), Kindernothilfe e.V., terre des hommes Deutschland e.V. und Werkstatt Ökonomie e.V..

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Insgesamt sind damit die Beschlüsse des mit großem Aufwand vorbereiteten und durchge- führten „Weltkindergipfels“ im Blick auf Kinderarbeit ohne sonderliche Bedeutung8: Sie ge- hen nicht über das hinaus, was längst bei anderen Konferenzen beschlossen wurde – auch wenn sich das Abschlussdokument ausführlicher gegen die „wirtschaftliche Ausbeutung“ von Kindern wendet, als dies die Dokumente des ersten Weltkindergipfels von 1990 taten. Dies ist aber angesichts der Tatsache nicht weiter verwunderlich, dass dem Thema Kinderarbeit auch auf internationaler Ebene größere Bedeutung zugemessen wird als noch vor zehn Jahren. Ein wenig relativiert wird diese schmale Bilanz lediglich durch den Umstand, dass der Aktions- plan in den Abschnitten über Bildung, Einsatz von Kindern in bewaffneten Konflikten sowie Kinderhandel und sexuelle Ausbeutung natürlich auch Aspekte von Kinderarbeit berührt. Da- bei ist allerdings auffällig, dass die Abschnitte über Kindersoldaten sowie Kinderhandel und sexuelle Ausbeutung umfangreicher ausgefallen sind als der über Kinderarbeit, was in keinem Verhältnis zur Häufigkeit der jeweiligen Verletzungen der Rechte des Kindes steht.

II. Neue ILO-Schätzungen:

Anhaltspunkte für eine Differenzierung

Dass die Ausbeutung arbeitender Kinder in der Tat (noch immer) weit verbreitet ist, zeigt der vom Generaldirektor des Internationalen Arbeitsamtes Anfang Mai 2002 zur 90. Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz vorgelegte Bericht „Eine Zukunft ohne Kinderarbeit“9. Die- ser Bericht – er ist der dritte „Global Report“ im Folgeprozess der Erklärung der Internationa- len Arbeitsorganisation über grundlegende Prinzipien und Rechte am Arbeitsplatz aus dem Jahre 199810 – stellt unter anderem neue Schätzungen des Ausmaßes von Kinderarbeit zu- sammen11, die durchaus statistische Anhaltspunkte für eine Differenzierung des Begriffes von Kinderarbeit liefern:

Insgesamt sollen danach weltweit rund 352 Millionen Kinder und Jugendliche im Alter von 5 bis 18 Jahren – bezahlt oder unbezahlt, voll- oder teilzeit, inner- oder außerhalb der Familie – arbeiten. Rund 25 Millionen der Fünf- bis Vierzehnjährigen und 82 Millionen der Fünfzehn- bis Siebzehnjährigen gehen einer Tätigkeit nach, die nach Art und Umfang nicht im Wider-

8 In Rechnung gestellt werden muss allerdings, dass sich der „Weltkindergipfel“ nicht allein auf Kinder- arbeit konzentrieren konnte, standen doch vier große Themenbereiche zur Diskussion an, nämlich: Ge- sundheit, Bildung, Schutz vor Missbrauch, Ausbeutung und Gewalt sowie Kampf gegen Aids.

9 International Labour Office (2002): Report of the Director-General: A Future without Child Labour.

Global Report under the Follow-up to the ILO-Declaration on Fundamental Principles and Rights at Work. International Labour Conference, 90th Session 2002, Report I (B), Geneva.

10 Die Declaration on Fundamental Principles and Rights at Work schreibt die fünf Kernarbeitsnormen (Vereinigungsfreiheit, Recht auf kollektive Tarifverträge sowie Verbot von Zwangsarbeit, Kinderarbeit und Diskriminierung) als verpflichtend für alle Mitgliedsstaaten der Internationalen Arbeitsorganisatio- nen vor, unabhängig davon, ob die Staaten die einschlägigen acht Übereinkommen ratifiziert haben oder nicht. Im Folgeprozess zu dieser Erklärung sind sowohl periodische Staatenberichte über die Umset- zung aller Kernarbeitsnormen vorgesehen als auch Berichte des Generaldirektors des Internationalen Arbeitsamtes zu jeweils einer Norm. Dieser so genannte „Global Report“ beschäftigte sich 2000 mit der Vereinigungsfreiheit und dem Recht auf kollektive Tarifabschlüsse und 2001 mit Zwangsarbeit. Ge- genstand des „Global Report“ 2003 wird die Umsetzung des Diskriminierungsverbotes sein.

11 Die Schätzungen beruhen auf Erhebungen des „Statistical Information and Monitoring Programme on Child Labour“ (SIMPOC) zusammen, das 1998 bei IPEC (International Programme on the Elimination of Child Labour) eingerichtet wurde.

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spruch zum Übereinkommen 138 steht12. Etwa 70 Millionen der Fünf- bis Vierzehnjährigen arbeiten unter Bedingungen, die die Normen des Übereinkommens 138 verletzen (sei es, dass die Kinder zu jung für eine Arbeit sind, sei es, dass sie länger als erlaubt arbeiten), wobei aber die Tätigkeiten selbst weder gefährlich noch gar illegal sind. Im Blick auf diese Gruppe der Kinderarbeiterinnen und -arbeiter liegt die Frage nahe, ob diese Formen von Kinderarbeit angesichts sozioökonomischer Realitäten und kultureller Traditionen wirklich abgeschafft oder nicht eher die Arbeitsbedingungen verbessert werden sollten (hierzu unten). Bedauerli- cher Weise aber nähert sich der Global Report dieser Frage nicht einmal ansatzweise.

Schaubild 1: Rund die Hälfte der arbeitenden Kinder wird unerträglich ausgebeutet…

Anzahl arbeitender Kinder in Millionen, Schätzungen für 2000

5- bis 14-Jährige mit "legitimer" Arbeit: 25 Mio.

15- bis 17-Jährige mit "le- gitimer" Arbeit: 82 Mio.

5- bis 14-Jährige mit Arbeit unter Miss- achtung Übereinkommen 138: 70 Mio.

5- bis 14-Jährige mit "ge- fährlicher" Arbeit: 111 Mio.

15- bis 17-Jährige mit "ge- fährlicher" Arbeit: 56 Mio.

Sklaverei und Zwangsarbeit: 8 Mio.

Quelle: International Labour Office (2002): Global Report;

eigene Berechnung; Werkstatt Ökonomie e.V.

„Gefährliche Arbeiten“ im Sinne der Übereinkommen 138 und 182 der ILO verrichten 111 Millionen der Fünf- bis Vierzehnjährigen und 56 Millionen der Fünfzehn- bis Achtzehnjähri- gen. Hinzu kommen noch acht Millionen Kinder und Jugendliche, die extrem ausgebeutet, missbraucht und versklavt werden – der Global Report nennt diese gänzlich menschenrechts- widrigen Formen von Kinderarbeit „unconditional worst forms of child labour“:

Sicher geben die hier von der ILO vorgenommenen Abgrenzungen unterschiedlicher Formen von Kinderarbeit nur erste statistische Anhaltspunkte für eine Differenzierung des Begriffes Kinderarbeit. Sicher auch sind die Abgrenzungen selbst nicht unproblematisch. So nennt der

„Global Report“ die Schwierigkeit, „gefährliche Arbeiten“ zu definieren, dies unter anderem deshalb, weil eventuelle physische oder psychische Folgeschäden mitunter erst nach Jahren erkennbar werden. Strittig ist auch, ob Kinder, die in die Prostitution oder zur Herstellung von Pornographie gezwungen oder für militärische Zwecke zwangsrekrutiert werden, als „arbei- tende“ Kinder bezeichnet werden können, sind sie doch Opfer von Verbrechen. Nicht zuletzt muss offen bleiben, ob die Unterscheidung von „child work“ (als Oberbegriff für alle Formen von Kinderarbeit) und „child labour“ (als Begriff für abzulehnende Formen von Kinderar- beit), die vom Internationalen Arbeitsamt schon früher eingeführt wurde und an die sich auch der diesjährige „Global Report“ hält, wirklich tragfähig ist.

12 Übereinkommen 138 erlaubt „leichte Arbeit“ für Zwölf- bis Vierzehnjährige dann, wenn diese nicht einen geregelten Schulbesuch behindert. Das Mindestalter für die Zulassung zu einer Vollzeitbeschäfti- gung soll bei 15 Jahren liegen, wobei Entwicklungsländer auch 14 Jahre als Mindestalter gesetzlich festsetzen können. Fünfzehn- bis Achtzehnjährige dürfen keine Arbeit verrichten, die für die „Gesund- heit, Sicherheit oder Moral“ der Jugendlichen „gefährlich“ sein könnte.

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Tabelle 1: Die absolut schlimmsten Formen von Kinderarbeit a): Schätzungen für das Jahr 2000

Anzahl der Kinder und Jugendlichen (1) Zwangsarbeit und Schuldknechtschaft 5,7 Mio.

(2) Prostitution und Herstellung von Kinderpornographie 1,8 Mio.

(3) Zwangsrekrutierung in bewaffneten Konflikten (Kin-

dersoldaten u.a.) 0,3 Mio.

(4) Andere illegale Tätigkeiten 0,6 Mio.

Summe 8,4 Mio.

nachrichtlich: Opfer von Kinderhandel b) 1,2 Mio.

(a): „Unconditional worst forms of child labour“

(b): Da die verschleppten oder sonst gehandelten Kinder Opfer absolut schlimmster Formen von Kinderarbeit werden, sind die 1,2 Millionen Opfer von Kinderhandel bereits in der Gesamtzahl von 8,4 Millionen Kindern und Jugendlichen enthalten, die unter den absolut schlimmsten For- men von Kinderarbeit leiden.

Quelle: International Labour Office (2002): Global Report

Doch trotz dieser Einschränkungen können die statistischen Befunde beitragen zur Qualifizie- rung der Debatte über Kinderarbeit. Denn sie zeigen, dass insgesamt rund die Hälfte der 352 Millionen ökonomisch aktiven Kinder und Jugendlichen unter Bedingungen arbeitet, die ent- weder internationalen Normen entsprechen oder zumindest diese Normen nicht extrem verlet- zen (vgl. Schaubild 1). Im Blick auf sie kann es also nicht um eine Abschaffung von Kinder- arbeit, sondern allenfalls um eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen gehen. Anders ver- hält es sich im Blick auf die zweite Hälfte der arbeitenden Kinder und Jugendlichen, die (teilweise extrem) ausgebeutet werden (und deren Tätigkeit in der Klassifikation des ILO- Übereinkommens 182 zu den schlimmsten Formen von Kinderarbeit gehört). Dennoch ist auch hinsichtlich der 47,5 Prozent „gefährliche Arbeiten“ verrichtenden Kinder und Jugendli- chen zu prüfen, ob nicht unter bestimmten Umständen eine Verbesserung der Arbeitsbedin- gungen der beste Weg zur Abschaffung der Ausbeutung arbeitender Kinder sein kann. Im Gegensatz hierzu versteht es sich von selbst, dass die Opfer absolut schlimmster Formen von Kinderarbeit (rund 2,4 Prozent der arbeitenden Kinder und Jugendlichen) unverzüglich aus ihrer Knechtschaft befreit werden müssen.

Sozial- und entwicklungspolitisch aufschlussreich sind noch weitere Beobachtungen des dies- jährigen „Global Report“: Bestätigt haben sich ältere Schätzungen der geographischen Vertei- lung von Kinderarbeit (vgl. Tabelle 2) – 60 Prozent der weltweit arbeitenden Kinder (bis 14 Jahre) finden sich in Asien (unter Einschluss des Pazifik), die relative Häufigkeit von Kinder- arbeit ist jedoch in Afrika südlich der Sahara am größten und beträgt fast das Doppelte des Wertes für Lateinamerika. Damit wird das weltweite Bild von Kinderarbeit von den Situatio- nen in Lateinamerika und in der Karibik (mit 17,4 Millionen Kinderarbeiterinnen und - arbeiter oder acht Prozent aller weltweit arbeitenden Kinder) nur nachrangig geprägt: Ange- sichts des zum Teil scharfen Streites zwischen lateinamerikanischen und südasiatischen Kin- derrechtsorganisationen13 und der offenkundigen Tatsache, dass Kinderarbeit regional und

13 Während südasiatische Nichtregierungsorganisationen wie die South Asian Coalition on Child Servitu- de (SACCS) und die den von SACCS initiierten Global March Against Child Labour (1998) tragenden Nichtregierungsorganisationen mehrheitlich eine Abschaffung von Kinderarbeit fordern, propagieren la- teinamerikanische Organisationen unter Einschluss der Bewegung arbeitender Kinder mit Blick auf den informellen Sektor ein Recht des Kindes zu arbeiten (das sich nicht als „Recht auf Arbeit“ versteht). Im Verlauf des Global March Against Child Labour erreichten die Auseinandersetzungen zwischen Nicht- regierungsorganisationen in Lateinamerika eine besondere Schärfe.

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sektoral höchst unterschiedliche Formen annimmt, ist festzuhalten, dass für Lateinamerika typische Formen keineswegs bezeichnend sein müssen für die Lebens- und Arbeitsbedingun- gen der meisten wirtschaftlich aktiven Kinder.

Tabelle 2: Schätzungen der regionalen Verteilung ökonomisch aktiver Kinder (im Alter von 5 bis 14 Jahren) für 2000

ökonomisch aktive Kinder

absolut

Anteil an allen arbei- tenden Kin- dern weltweit

Anteil an der jeweiligen Altersgruppe Entwickelte (industrialisierte) Länder 2,5 Mio. 1% 2%

Reformländer 2,4 Mio. 1% 4%

Asien und Pazifik 127,3 Mio. 60% 19%

Lateinamerika und Karibik 17,4 Mio. 8% 16%

Sub-Sahara Afrika 48,0 Mio. 23% 29%

Mittlerer Osten und Nordafrika 13,4 Mio. 6% 15%

Summe 211,0 Mio.a) 100% 16%

(a): Diese Gesamtzahl entspricht der Summe der Kinder mit „legitimer“ Arbeit (25 Millionen), mit Arbeit unter Missachtung des Übereinkommens 138 (70 Millionen), mit „gefährlicher Arbeit“ (111 Millionen) und eines geschätzten Anteiles der Kinder, die unter absolut schlimmsten Formen von Kinderarbeit leiden (5 Millionen der insgesamt 8,4 Millionen betroffenen Kinder und Jugendlichen).

Quelle: International Labour Office (2002): Global Report

Aufschlussreich ist weiter, dass in der Altersgruppe bis 14 Jahre etwa gleich viele Jungen wie Mädchen arbeiten, wobei mehr Jungen als Mädchen „gefährliche Arbeiten“ verrichten. In der Altersgruppe der über Vierzehnjährigen überwiegen durchweg die Jungen (zum Beispiel sind 55 Prozent der Jugendlichen, deren Arbeit „gefährlich“ ist, männlich).

Schaubild 2: Die meisten Kinder arbeiten in der Landwirt- schaft: Sektorale Verteilung arbeitender Kinder in Prozent

0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80

Land- und Forstwirtschaft, Fischerei Verarbeitendes Gewerbe Handel und Gastronomie öffentliche und private Dienstleistungen Transport u. Lagerhaltung sowie

Kommunikation Baugewerbe Bergbau und Steinbrüche

Jungen Mädchen

Quelle: International Labour Office (2002):

Global Report; Werkstatt Ökonomie e.V.

Knapp 70 Prozent der Jungen und gut 75 Prozent der Mädchen arbeiten in der Land- und Forstwirtschaft (unter Einschluss der Fischerei). Damit liegen diese Schätzungen deutlich unter früheren, die für das erste Drittel der 1990er Jahre davon ausgingen, dass 90 Prozent der arbeitenden Kinder in der Landwirtschaft zu finden seien. Jeweils rund zehn Prozent der Jun- gen arbeiten im Verarbeitenden Gewerbe sowie in Handel und Gastronomie. Annähernd neun Prozent der arbeitenden Mädchen verrichten öffentliche und private Dienstleistungen – damit scheint dieser „Wirtschaftsbereich“ auch für Mädchenarbeit weitaus geringere Bedeutung zu

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haben, als dies bisher vermutet wurde. Allerdings ist der Hinweis des „Global Report 2002“

alarmierend, dass es einen klaren Zusammenhang zwischen Kinderarbeit in privaten Haushal- ten („child domestics“) und dem nationalen wie internationalen Kinderhandel gebe.

Insgesamt findet sich Kinderarbeit weit überwiegend in der informellen Wirtschaft. Diese Einsicht des Arbeitsamtes ist nicht neu, sie muss aber aufgrund ihrer entwicklungs- und sozi- alpolitischen Bedeutung immer wieder unterstrichen werden. In der formellen exportorientier- ten Wirtschaft arbeiten weltweit weniger als fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen, deren Tätigkeit vom „Global Report“ als „child labour“ klassifiziert wurde. Wenn sich daher die öffentliche Aufmerksamkeit in Europa und Nordamerika auf Kinderarbeit in der Exportpro- duktion konzentriert, legt sie ihren Schwerpunkt auf Wirtschaftsbereiche, in denen „nur“ we- niger als zwölf Millionen Kinder und Jugendliche arbeiten14. Allerdings verweist der „Global Report 2002“ (wie schon frühere Berichte) darauf, dass die Exportproduktion häufig in die informelle Wirtschaft mit einem hohen Anteil von Kinderarbeit reicht (und dies gilt vor allem für die exportorientierte Landwirtschaft), so dass die Zahl der insgesamt (mittel- und unmit- telbar) für die Märkte in den Industrieländern arbeitenden Kinder und Jugendlichen größer sein dürfte.

Nur wenige Hinweise gibt der „Global Report“ darauf, ob sich Ausmaß und Formen von Kin- derarbeit im letzten Jahrzehnt verändert haben, denn die unzulängliche Datenlage erlaubt kei- ne diesbezüglichen Aussagen. Immerhin wagt der Bericht den Vergleich der jüngsten Schät- zungen mit denen für 1995: Damals hätte die Zahl der in den Entwicklungsländern wirtschaft- lich aktiven Kinder (bis 14 Jahre) bei 250 Millionen gelegen und somit die für 2000 festge- stellte Vergleichszahl (206 Millionen) deutlich überstiegen. Doch ob dieser Unterschied auf eine verbesserte Datenlage, auf einen Rückgang von Kinderarbeit oder auf Beides zurück zu führen ist, lässt der „Global Report“ offen, auch wenn er es für möglich hält, dass sich in der Tat der Kampf gegen Kinderarbeit bereits positiv ausgewirkt haben könnte. Für eine solche Vermutung ist jedoch die Datenlage nicht ausreichend – ganz abgesehen davon, dass sie unter entwicklungs- und sozialpolitischen Gesichtspunkten nicht besonders von Belang ist. Denn die bloße Zahl der ökonomisch aktiven Kinder sagt noch nichts über die dahinter liegenden sozialen Wirklichkeiten aus.

Wichtiger ist der Hinweis, dass die Zahl der Kinder, die „gefährliche Arbeiten“ verrichten, deutlich größer sein dürfte als bisher angenommen. Außerdem gibt der „Global Report“ meh- rere Hinweise auf eine Zuspitzung der Situation. So habe die anwachsende Heimproduktion für einheimische Märkte bei gleichzeitiger Zunahme des Konkurrenzdruckes zur Verschlech- terung der Arbeitsbedingungen für Kinder geführt. Andererseits macht der „Global Report 2002“ deutlich, dass wirtschaftliche und finanzielle Krisen in Zeiten der Globalisierung keine einheitlichen Auswirkungen auf das Ausmaß von Kinderarbeit haben: Während die Asienkri- se 1997/98 in Indonesien, das am schärfsten von der Krise betroffen war, nur geringe Auswir- kungen auf Kinderarbeit hatte, führte sie auf den Philippinen zu einer deutlichen Zunahme von Kinderarbeit, obgleich sich dort die Krise weniger als in anderen Ländern ausgewirkt hatte. Ausmaß und Formen von Kinderarbeit hängen eben keinesfalls nur von wirtschaftlichen Entwicklungen ab.

14 Ein einfacher Zusammenhang zwischen Kinderarbeit oder genauer: zwischen dem Formwandel von Kinderarbeit und Globalisierung besteht also nicht – keinesfalls ist es so, dass Kinderarbeit „in der Drit- ten Welt“ vor allem der Bedienung der Märkte der Industrieländer mit „billigen Produkten“ aus

„Sweatshops“ dient. Ähnliches gilt übrigens ach im Blick auf Kinderprostitution: Der „Global Report 2002“ bestätigt frühere Befunde, wonach die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen vor allem der „Befriedigung“ lokaler Nachfrage dient.

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III. ILO: Auf halbem Wege stecken geblieben

Alles in allem trägt der „Global Report 2002“ mit seinem ersten Teil durchaus zur Qualifizie- rung der Debatte über Kinderarbeit bei. Immer wieder verweist er auf Vielschichtigkeiten, die monokausale Erklärungsmuster ebenso unmöglich machen wie Verallgemeinerungen. So be- tont der Bericht die Bedeutung kulturell und historisch bedingter Unterschiede von Kind- heitskonzepten: „In einigen Industrieländern erwartet man zum Beispiel von Teenagern nicht einmal, dass sie für sich selbst sorgen können, wohingegen in vielen armen Ländern relativ junge Kinder beträchtliche Verantwortung innerhalb des Haushaltes übernehmen.“ Weiter verweist er auf sich wandelnde Vorstellungen: „Die Wahrnehmung von Kindern hat sich im Laufe der Zeit entwickelt: Kinder werden jetzt weniger als passive Objekte der Fürsorge Er- wachsener denn als Menschen mit eigenen Rechten gesehen.“

Solche Ansätze hätten eine gute Gelegenheit geboten, die bisherige Politik der Internationalen Arbeitsorganisation kritisch zu überprüfen und nach nötigen Neuakzentuierungen des Kamp- fes gegen die wirtschaftliche Ausbeutung von Kindern zu fragen. Doch dies unterlässt der

„Global Report“ in seinem zweiten Teil, und auch die Beratungen der 90. Tagung der Interna- tionalen Arbeitskonferenz über diesen Bericht gaben nur vereinzelt Hinweise auf Richtungen möglicher Neuakzentuierungen15.

Unkritisch feiert er die (unbestreitbaren) Erfolge des vor zehn Jahren mit deutscher Hilfe ins Leben gerufenen International Programme on the Elimination of Child Labour (IPEC), dessen Projekte in 75 Ländern inzwischen von 26 Staaten finanziert werden. Doch trotzdem verfügte IPEC im Jahr 2001 gerade einmal über 33 Millionen US-$ für Technische Zusammenarbeit – angesichts des Ausmaßes der Ausbeutung arbeitender Kinder nicht gerade eine allzu üppige Ausstattung – was denn auch Juan Somavía im Verlaufe der Beratungen am 12. Juni unge- schminkt beklagte.

Der „Global Report“ aber lässt jeden (selbst-)kritischen Ansatz vermissen. So verschweigt er, dass die Zuschüsse mancher Geberländer (und dies gilt vor allem für die USA) an strenge Auflagen gebunden („earmarked“) sind, die mitunter den Mittelabfluss erschweren. Nicht immer erreicht IPEC die am meisten ausgebeuteten Kinder in der informellen Ökonomie:

Stolz wird als Beispiel das mit der Tabakindustrie durchgeführte Programm genannt, obgleich es insgesamt eher von untergeordneter Bedeutung ist. Umfangreich werden Vorhaben von Unternehmen und ihrer Verbände präsentiert, was sicher ein Tribut an die dreigliedrige Struk- tur der Internationalen Arbeitsorganisation16, nicht aber sonderlich relevant ist (die Projekte der Unternehmen beziehen sich fast ausschließlich auf den formellen Sektor). Zwar findet inzwischen eine Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen (NGOs) fast überall statt, aber da IPEC noch immer auf die Kooperationsbereitschaft von Regierungen angewie- sen ist, müssen zu regierungskritische NGOs mitunter als Partner ausscheiden. Umgekehrt

15 Bei den Beratungen am 12. Juni 2002 wiesen nur wenige Delegierte auf die Notwendigkeit einer diffe- renzierten Sichtweise hin. Am deutlichsten taten dies Sprechrinnen und Sprecher von Nichtregierungs- organisationen, denen die Möglichkeit zur Wortergreifung eingeräumt wurde – Im Blick auf Verfassung und Geschichte der IAO ein durchaus bemerkenswerter Vorgang.

16 Die Internationale Arbeitskonferenz als legislatives Organ der Internationalen Arbeitsorganisation wird gebildet aus Delegationen der Regierungen, der Verbände der Unternehmen und der Verbände der Ar- beitnehmerinnen und –nehmer (Gewerkschaften). Diese Dreigliedrigkeit prägt die gesamte ILO in Strukturen und Arbeit.

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beklagen Gewerkschaften eine Dominanz von NGOs in der Furcht, auf diese Weise könnte eine Schwächung der gewerkschaftlichen Bedeutung trotz dreigliedriger Struktur der ILO drohen, worauf Sprecher der Gewerkschaften bei der diesjährigen Arbeitskonferenz hinwie- sen.

Die Bewegung arbeitender Kinder und ihre Organisationen werden vom „Global Report“ ü- berhaupt nicht wahrgenommen, obgleich sie wertvolle Erfahrungen und Ressourcen für die Abschaffung der Ausbeutung arbeitender Kinder besitzen. Die Beteiligung arbeitender Kinder und ihrer Organisationen an IPEC-Projekten und darüber hinaus an der Entwicklung von ILO- Politiken insgesamt ist vor allem dann unabdingbar, wenn Kinder wirklich als Rechtssubjekte und nicht nur als Objekte sozialen Handelns begriffen werden. Doch eine solche Perspektive forderten bei der Arbeitskonferenz nur UNICEF und NGOs ein.

Dies ist insofern erstaunlich, als der „Global Report“ durchaus die Notwendigkeit anerkannte, den Kampf gegen die Ausbeutung arbeitender Kinder auf der Grundlage der UN-

Kinderrechtskonvention zu führen und Kinder als Rechtssubjekte zu begreifen. Doch prakti- sche Konsequenzen etwa im Blick auf die Partizipation von Kindern und Jugendlichen zogen weder der Bericht noch die Delegierten der Arbeitskonferenz. Auch die durchaus vorhande- nen Ansätze zur Differenzierung des Begriffes von Kinderarbeit werden nicht politisch fol- genreich gemacht. So unterbleibt die längst überfällige Diskussion, ob und wenn ja, wann Kinderarbeit abgeschafft werden muss oder wann es sinnvoller ist, Arbeitsbedingungen von Kindern und Jugendlichen zu verbessern. Was jeweils zutreffend ist, hängt von den konkreten Zuständen ab. Immerhin verwiesen hierauf einige wenige Delegierte bei den Beratungen in Genf, und Juan Somavía hob hervor, dass es keine Einheitslösungen gebe.

Gänzlich unterblieben ist schließlich die Frage, welche Konsequenzen aus dem Umstande zu ziehen wären, dass sich Kinderarbeit – und dies gilt selbstredend für ihre schlimmsten Formen – auf die informelle Ökonomie konzentriert. Die Instrumente der ILO aber greifen dort eben- so wenig wie staatliche Gesetze und Regulierungen. Daher und aufgrund der herausragenden sozioökonomischen Bedeutung der informellen Ökonomie für die meisten Entwicklungslän- der ist es überfällig, dass sich die ILO endlich der Frage stellt, wie sie ihre Struktur und In- strumente weiterentwickeln muss, um wenigstens Kernarbeitsnormen in der informellen Öko- nomie durchzusetzen. Dass hier nur Fehlanzeige zu vermelden ist, ist umso erstaunlicher als die Arbeitsbedingungen in der informellen Wirtschaft Schwerpunkthema der 90. Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz waren17.

Deutliche Fortschritte erzielte die ILO immerhin in einer Hinsicht: Wiederholt betonte der

„Global Report“ die Bedeutung von Armutsbekämpfung für die nachhaltige Abschaffung ausbeuterischer Kinderarbeit – Somavía schlug gar vor, dass Ausmaß von Kinderarbeit als Armutsindikator zu verwenden –, und viele Delegierte der Arbeitskonferenz folgten ihm.

Durchgesetzt hat sich also die Einsicht, dass selbst schlimmste Formen von Kinderarbeit nicht einfach durch Verbote angeschafft werden können. Allerdings nimmt die ILO auch diese Ein- sicht nicht zum Anlass einer selbstkritischen Überprüfung des eigenen Instrumentariums, denn mehr als fraglich ist, ob die bisherigen Politiken, Programme und Projekte der ILO zur Armutsbekämpfung taugen.

17 Auch der hierzu vorgelegte Bericht des Internationalen Arbeitsamtes schreckt vor grundlegenden An- fragen an Struktur und Ausrichtung der ILO zurück, vgl.: International Labour Office (2002): Report IV: Decent work and the informal economy. Sixth item on the agenda, Geneva.

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Wenigstens kritisiert der „Global Report“, dass bisher bei Erarbeitung und Umsetzung von Strategiepapieren zur Armutsbekämpfung (Poverty Reduction Strategy Papers [PRSPs] und Interims-PRSPs) kaum auf Kinderarbeit eingegangen worden sei – angesichts der Tatsache, dass in vielen von Armut besonders betroffenen Ländern rund die Hälfte der Bevölkerung aus Kindern und Jugendlichen besteht, ein ebenso unverständliches wie folgenreiches Defizit.

Diese Kritik unterstrichen bei der Arbeitskonferenz vor allem nordeuropäische Länder, und Juan Somavía spitzte sie bei der Arbeitskonferenz zu einer Kritik an den Bretton Woods- Institutionen zu, die in ihrer Deutlichkeit auf jede diplomatische Rücksichtnahme verzichtete:

„Das dritte Element [im Kampf gegen Kinderarbeit] ist die internationale Zusammenarbeit.

Sie sollte nach weit verbreiteter Auffassung Querschnittsaufgabe der Bretton Woods-

Institutionen, der Organisationen der Vereinten Nationen, der bilateralen Geber sein – und sie sollte mit den Strategiepapieren zur Armutsbekämpfung (PRSPs) verknüpft werden. Doch das ist schlicht nicht der Fall. Kinderarbeit hat für den Internationalen Währungsfonds oder die Weltbank keine Priorität“18. Hier also scheint der unterschwellige Machtkampf der ILO mit den Bretton Woods-Institutionen (und übrigens auch mit der WTO) auf, auf den sich der streitbare Chilene eingelassen hat.

Insgesamt aber verschenkten der „Global Report“ in seinem zweiten Teil und die Beratungen der Arbeitskonferenz die Einsichten, die der erste Teil des Berichtes über Kinderarbeit selbst zusammen trug. Damit aber kam die ILO über erste Ansätze zur Qualifizierung der Debatte über Kinderarbeit nicht hinaus, zumindest in dieser Hinsicht blieb sie auf halbem Wege ste- cken.

18 International Labour Conference: Provisional Record, Ninetieth Session, Geneva, 2002, Eighth sitting, 12 June 2002, S. 2.

Abbildung

Tabelle 1: Die absolut schlimmsten Formen von Kinderarbeit  a) :  Schätzungen für das Jahr 2000
Tabelle 2: Schätzungen der regionalen Verteilung ökonomisch aktiver Kinder  (im Alter von 5 bis 14 Jahren) für 2000

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