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Staatsversagen in Lateinamerika

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Academic year: 2022

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von Jörg Faust

Z

u Beginn des letzten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts gab die politische und wirtschaftliche Entwicklung in Lateinamerika Anlass zu vorsichtigem Optimismus. Markt- wirtschaftliche Reformen schritten voran, die auf eine Einbindung der la- teinamerikanischen Staaten in die Weltwirtschaft zielten und somit eine effizientere Verwendung produktiver Ressourcen versprachen. Die Demo- kratie schien sich als einzig legitime Herrschaftsform zu etablieren. Eine Reihe regionaler und hemisphäri- scher Initiativen deutete an, dass sich die Parallelität von demokratischen und marktwirtschaftlichen Reformen positiv auf die regionale bzw. hemi- sphärische Kooperationsbereitschaft auswirkte.

Von diesem vorsichtigen Optimis- mus ist zu Beginn des 21. Jahrhun- derts wenig geblieben; das mittelfris- tige Entwicklungspotenzial des Sub- kontinents wird vielfach mit Skepsis betrachtet. Argentinien befindet sich in einer politischen wie wirtschaftli- chen Krise, die ihresgleichen in der Geschichte des Landes sucht. Die po- litische und wirtschaftliche Glaub- würdigkeit Brasiliens ist erschüttert

durch strukturelle Verschuldungspro- bleme und einen Wahlkampf, der von seiner programmatischen Auseinan- dersetzung eigentlich keinen Anlass hierfür gibt. Der gemeinsame Markt des Südens, der Mercosur, einst stol- zes Vorzeigeprojekt südamerikani- scher Kooperation, geriet durch diese Entwicklungen in eine manifeste Existenzkrise. Weiter nördlich ist keine mittelfristige Lösung in Sicht, das im Bürgerkrieg befindliche Ko- lumbien rasch zu befrieden. Die poli- tischen Systeme Ecuadors und Perus sind hochgradig fragmentiert, die Re- gierungen zu dauerhaften Reformen unfähig. Die ehemals stabile Demo- kratie Venezuela verfällt unter der po- pulistischen Ägide eines Präsidenten, dessen Fähigkeiten längst von allen politischen Kräften angezweifelt wer- den. Der mexikanischen Regierung schließlich sind bislang kaum Re- forminitiativen gelungen, obwohl sie das Ende der jahrzehntelangen Herr- schaft der Partido Revolucionario In- stitutional (PRI) verkörpert.

Lediglich Chile, Costa Rica und Uruguay sind positive Ausnahmen, Länder, in denen sich rechtsstaatlich eingehegte Demokratien stabilisiert haben und ordoliberale Marktwirt- schaften existieren. Gleichwohl dro- hen diese Hoffnungsträger auf Grund ihrer geringen Größe in den Sog der Krisen ihrer Nachbarn zu geraten.

Staatsversagen in Lateinamerika

Der „verweigerte Leviathan“

Dr. Jörg Faust, Institut für Politikwissenschaft, Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

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Die sich gegenwärtig somit zuspit- zende Krisenanfälligkeit des Subkon- tinents kommt jedoch nicht allzu überraschend. Vielmehr sind seit Mitte der neunziger Jahre Vorboten der jetzigen Situation zu beobachten gewesen. Die mexikanische Peso- Krise verdeutlichte als erste, wie sich die mangelnde Qualität politisch- institutioneller Rahmenbedingungen trotz Marktreformen und Demokra- tisierung negativ auf die gesamtwirt- schaftliche Situation auswirken kann.

Die brasilianische Währungskrise von 1998/99 und die gegenwärtig kolla- bierende argentinische Wirtschaft be- legten dies ein weiteres Mal.1Die pro- blematische Qualität demokratischer Herrschaft kam insbesondere in der mangelhaften Rechtsstaatlichkeit der meisten jungen Demokratien zum Ausdruck und führte in Peru unter Präsident Alberto Fujimori gar zum Verfall demokratischer Ordnung.

Nimmt man noch die politische In- stabilität in Ecuador und Venezuela sowie die anarchischen Zustände in Kolumbien hinzu, so lassen sich die gegenwärtig drastisch zunehmenden politisch-institutionellen Defekte der lateinamerikanischen Länder offen- sichtlich auf das Problem des Staats- versagens zurückführen.2

Warum aber sind lateinamerikani- sche Gesellschaften mit derartigen Schwierigkeiten konfrontiert, was die Erstellung staatlicher Kollektivgüter wie makroökonomische Stabilität, Rechtsstaatlichkeit und ordoliberale Regulierung angeht? Ein effektiver Staat als formaler Urheber und Ga- rant von Recht ist aus vertragstheo- retischer Perspektive zunächst auf die

Zustimmung der Bürger angewiesen, ohne die er an empirischer Legitima- tion verliert. Doch sind eben nicht alle Bürger gleich gut organisiert. Ihre Willensbekundungen und damit ihr Einfluss auf die „Programmierung“

des Staates werden vielmehr gebro- chen durch die unterschiedliche Ag- gregations- und Organisationskraft der kollektiven Akteure einer Gesell- schaft. Parteien, Gewerkschaften, Un- ternehmerverbände, Militär und nicht zuletzt die Bürokratie sind es mithin, die auf die institutionelle Be- schaffenheit eines Staates und die Be- reitstellung gemeinschaftlicher Kol- lektivgüter durch den Staat einen ent- scheidenden Einfluss ausüben. Solch gesellschaftliche Kollektivgüter wie etwa makroökonomische Stabilität oder Sicherheit sind im Unterschied zu privaten Gütern durch das Prinzip der Nichtausschließbarkeit gekenn- zeichnet. Sie sind in ihrer Erstellung kostspielig, und doch kann niemand von ihrer Nutzung ausgeschlossen werden. Genau dieses Merkmal kol- lektiver Güter erschwert jedoch ihre Erstellung und erfordert in großen Gemeinschaften eine Organisation – den Staat –, der die Beteiligten auf die Zahlung ihrer jeweiligen Beiträge ver- pflichtet.3

Ausgehend von diesen Grund- annahmen lässt sich eine zentrale These über das Staatsversagen in La- teinamerika ableiten: In Lateiname- rika haben die eingeleiteten Reform- prozesse der vergangenen Jahre enor- me Umverteilungsmechanismen in Gang gesetzt; rechtsstaatliche Demo- kratisierung bedeutet in diesem Zu- sammenhang eine Umverteilung po-

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litischer Rechte.Außenwirtschaftliche Liberalisierung und eine ordoliberal eingehegte Marktwirtschaft bedrohen die Privilegien der ehemaligen Pro- fiteure von Autokratie und Rentismo.

Die Zustimmung eines die rechts- staatliche Demokratie und ordolibe- rale Marktwirtschaft sichernden Staa- tes würde mithin eine Umschichtung der Beiträge zur Erstellung kollektiver Güter nach sich ziehen, der die ehemaligen Nutznießer von Autokra- tie und staatsinterventionistischer Günstlingswirtschaft nur schwerlich zustimmen dürften. Vielmehr ist an- zunehmen, dass sie die Etablierung eines solchen Staates zu verhindern trachten. Die vielfach anzutreffende Parallelität von marktwirtschaftli- chen Reformen, Demokratisierung und Dezentralisierung vervielfältigt die zu lösenden Verteilungskonflikte und überfordert daher die Organisa- tionsfähigkeit sowie die Kooperati- onsbereitschaft kollektiver Akteure.

Der Zerfall etablierter Parteistruktu- ren und die Orientierung an kurzfris- tigen Interessen der an diesem mehr- dimensionalen Verteilungskonflikt beteiligten Akteure befördern die Fragmentierung politischer Systeme und hemmen die Integrationsfähig- keit politischer Gemeinschaften.

Somit fehlt eine notwendige Voraus- setzung für die Schaffung gemein- schaftlicher Kollektivgüter durch einen demokratischen Staat.

Akteure zwischen Staat und Gesellschaft

In weiten Teilen Lateinamerikas finden mittlerweile freie und weit-

gehend faire Wahlen statt. Während somit die Grundausstattung demo- kratischer Herrschaft auf der Partizi- pationsseite als relativ gesichert er- scheint, ist der Rechtsstaat nur man- gelhaft institutionalisiert. Vor allem Korruption und ausufernde Krimina- lität verhindern die Durchsetzung von in den Verfassungen verankerten Bürgerrechten und beschränken die Entfaltung sekundärer Partizipati- onsrechte. Hinzu kommt in einigen Ländern die (meist temporäre) Ver- einnahmung der Gerichtsbarkeit durch die Exekutive, wie etwa in Ar- gentinien oder Peru.Wenn jedoch Re- gierungen die gewaltenhemmende Verschränkung von Exekutive, Legis- lative und Judikative zu ihren Guns- ten auflösen, so ist auch die Konsoli- dierung des demokratischen Rechts- staats in Gefahr.4

Die Nutznießer dieser ungleichen Rechtsausstattung waren bislang meist die Bevorzugten der ökonomi- schen Strukturen, da zudem die wirt- schaftlichen Reformen vielfach von inadäquater Regulierung begleitet wurden. Zwar wurde in umfangrei- chem Maße privatisiert, dereguliert und liberalisiert. Doch die aktuelle Debatte um die notwendigen Refor- men der zweiten Generation verweist auf die mangelhafte Aufgabenerfül- lung staatlicher Akteure.5

Um Marktversagen in einer Markt- wirtschaft zu verhindern, kommt dem Staat eine Reihe komplexer regulativer Aufgaben zu: Wett- bewerbspolitik, Finanzmarktregulie- rung, Umweltpolitik, Sicherung von Sozialstandards usw. In den neunziger Jahren begünstigten mangelhafte

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Ausschreibungsverfahren bei der Pri- vatisierung und eine oftmals unaus- gereifte Wettbewerbspolitik jedoch die Entstehung privater Monopole.

Unterregulierte Finanzmärkte in Zu- sammenhang mit einer missratenen Fiskalpolitik provozierten Finanzkri- sen. Fehlende oder ineffektive Anreiz- systeme im Umweltschutz führten zur Verschwendung natürlicher Ressour- cen und die vielfach ungenügenden Sozialstandards zur anhaltenden Un- terversorgung großer Teile lohn- abhängiger Schichten. Demokratie ohne Rechtsstaat und Marktwirt- schaft ohne wettbewerbsfreundliche

Regulierung ermöglichten in Latein- amerika somit vielfach die Fortschrei- bung der ungleichen Verteilung poli- tischer Rechte und die ökonomische Privilegierung von Sonderinteressen.

Gleichzeitig wurde hierdurch die poli- tische Legitimation der Demokratie erschwert und die gesamtwirtschaftli- che Anfälligkeit erhöht.

Der statistische Vergleich von 20 la- teinamerikanischen Ländern (Schau- bilder 1 und 2) unterstützt die Ver- mutung, dass in den neunziger Jah- ren in der Region zwischen guter Re- gierungsführung einerseits und de- mokratischen Partizipationsrechten sowie dem Grad wirtschaftlichen

Wachstums andererseits ein enger Zusammenhang besteht. Diejenigen Länder mit den besten Werten für Re- gierungsführung – Chile, Costa Rica und Uruguay – sind es, die auch die besten Werte demokratischer Partizi- pation und vergleichsweise hohe Wachstumsraten in den neunziger Jahren aufweisen.6 Aus Schaubild 1 geht hervor, dass mit steigendem Ni- veau demokratischer Partizipations- rechte die Werte für gute Regierungs- führung überproportional anwach- sen, während Schaubild 2 für die la- teinamerikanischen Länder einen linearen Zusammenhang zwischen

guter Regierungsführung und Wachs- tum nahe legt.

Insgesamt zeichnen die gängigen Makroindikatoren von Transparency International und Weltbank sowie qualitative Fallstudien jedoch allen- falls ein mittelmäßig bis schlechtes Bild der Regierungsführung in latein- amerikanischen Staaten. Dies lässt sich darauf zurückführen, dass die Durchsetzung von Reformen der zweiten Generation – Justiz-, Rechts- und Verwaltungsreformen, die An- passung von Steuerpolitik und des Sozialsystems, die Einführung markt- und wettbewerbsfreundlicher Regu- lierung und nachhaltiger Umwelt-

demokratische Partizipationsrechte (Freedom House 1998–2001) Schaubild 1: demokratische Partizipation und

Regierungsführung

,

,

-,

-

-,

r = ,

Regierungsführung (Weltbank 1998/2001)

Schaubild 2: Regierungsführung und Pro-Kopf- Wachstum

r = ,

Regierungsführung (Weltbank 1998)

,

,

,

,

,

0 -,

-,

-,

-,

-, - -, 0 , ,

BIP pro Kopf 1991–2000

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schutz – seit Jahrzehnten etablierte Privilegien bedroht.

Nicht allein der Rückzug des Staa- tes zu Gunsten von freien Wahlen und Marktreformen verschärft daher die gesellschaftlichen Verteilungskonflik- te, sondern insbesondere die Stärkung des Staates im Sinne von rechtsstaatli- cher Demokratie und ordoliberaler Marktwirtschaft. Verlaufen die politi- schen und wirtschaftlichen Aspekte jenes Reformpakets zudem parallel zueinander, so überfordern sie die Fä- higkeiten kollektiver Akteure, die ent- standenen Verteilungskonflikte auf kooperative Art zu lösen. Angesichts der Umverteilungswirkungen orien- tieren sich die Akteure vielmehr an kurzfristigen Partikularinteressen, was die Erstellung gemeinschaftlicher Kollektivgüter durch den Staat er- schwert. Demokratisch gewählte Re- gierungen, die auf die Zusammen- arbeit mit diesen Akteuren bei der Re- formumsetzung angewiesen sind, be- gegnen vielmehr einer zunehmend fragmentierten Interessenlandschaft, in der Korruption und Klientelismus als kurzfristige, besitzstandsorientier- te Strategien zunehmen. Zwar gelang es Regierungen ab und an, wie etwa unter Argentiniens Präsident Carlos Saúl Menem oder Perus Staatschef Fu- jimori, die entstandenen Politikblo- ckaden mit rechtsstaatlich nicht kon- formen Mitteln zu durchbrechen.7 Die hieraus resultierenden ökonomi- schen Reformen waren jedoch auf die Makroebene beschränkt.

Die anstehenden Staatsreformen der zweiten Generation hingegen sind meist mikropolitischer Natur und so komplex, dass sie ohne die Zusam-

menarbeit mit gesellschaftlichen Ak- teuren kaum befriedigend durch- geführt werden können. Dies spricht auch gegen eine stabilisierende Wir- kung von Militärregimen. Zudem ist die Außenöffnung zu weit voran- geschritten und die internationale Si- tuation zur Toleranz von Militär- regimen kaum geeignet, so dass die Rückkehr zur Autokratie für die la- teinamerikanischen Staaten kein mit- telfristig stabilisierendes Potenzial be- sitzt. Während die erste Reformgene- ration makroökonomischer Anpas- sung noch zumeist durch exklusive technokratische Expertenzirkel der Exekutive konzipiert und umgesetzt werden konnte, bedarf es in Latein- amerika heute der Einbettung des Staates in komplexe gesellschaftliche Handlungszusammenhänge.8

Der intermediäre Bereich politi- scher Vermittlungsstrukturen ist in den meisten Staaten Lateinamerikas jedoch deutlichen Erosionsprozessen ausgesetzt: In Peru und Venezuela sind die traditionellen Parteiensyste- me in Auflösung begriffen. In Mexiko befindet sich die ehemals hochgradig organisierte PRI in einem andauern- den internen Machtkampf; die die Re- gierung stellende Partido Acción Na- cional (PAN) ist nur gering in die Re- gierungsarbeit eingebunden. Die Un- ternehmer in Argentinien, Brasilien, Ecuador und Kolumbien, regional und sektoral ausdifferenziert und ent- sprechend von Regulierungsrefor- men unterschiedlich betroffen, sind zur gemeinsamen Interessenorgani- sation unfähig. Einfluss und Organi- sationskapital der Gewerkschaften sind in Lateinamerika vielerorts im

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Zuge der Durchsetzung makroöko- nomischer Anpassungsprozesse deut- lich reduziert worden. Die Land- bevölkerung, insbesondere Kleinbau- ern, ist entsprechend von Regulie- rungsformen unterschiedlich be- troffen und zur gemeinsamen Interes- senorganisation unfähig. Angesichts des lediglich blockierenden Potenzials kollektiver Akteure verwundert es daher nicht, dass Regierungen ihre Politik zunehmend auf einer populis- tischen Plattform betrieben und die intermediäre Ebene zwischen Staat und Gesellschaft hierdurch weiter be- schädigt haben.

Dezentralisierung und Föderalismus

D

ie durch die Parallelität von De- mokratisierung und ökonomi- scher Strukturanpassung hervorgeru- fenen Verteilungskonflikte, die die Re- formen der zweiten Generation er- schweren, werden in vielen Staaten noch durch Dezentralisierung ver- schärft. Sie und die Förderung födera- ler Strukturen tragen per se zwar dem Subsidiaritätsprinzip guter Politik Rechnung und bringen den politi- schen Entscheidungsprozess näher an den betroffenen Bürger. In Verbin- dung mit Demokratisierung und öko- nomischer Strukturanpassung ver- schärfen sie jedoch meist das Problem gesamtgesellschaftlicher Kollektiv- guterstellung durch den Staat.

Zwar gewinnen lokale, regionale und meist auch sektorale Interessen an Einfluss auf die Politik der Zentral- regierung.Vor dem Hintergrund star-

ker Verteilungskonflikte verschärfen sie jedoch einerseits das Problem der Partikularisierung von Politik; ande- rerseits verlagern sie die Verteilungs- konflikte von der nationalen auf die regionale und lokale Ebene. Beson- ders die im Zuge von ökonomischen Strukturanpassungen und Verschul- dung härter gewordenen Verteilungs- kämpfe um staatliche Ressourcen werden so auf eine Ebene transpor- tiert, auf der zumindest in weiten Tei- len Lateinamerikas illiberale Struktu- ren wie Korruption, Klientelismus und Neopatrimonialismus ende- misch sind. Die hieraus folgende stär- kere Orientierung von Parlamenta- riern und Verbandsmitgliedern an re- gionalen Sonderinteressen geht dann zu Lasten des Nationalstaats.

Länderbeispiele

In Brasilien hat die Stärkung von föderalen und dezentralen Strukturen dazu geführt, dass der Bundeshaus- halt regelmäßig zu Gunsten regiona- ler Interessen ausgebeutet wurde. Illi- berale Politikpyramiden auf regiona- ler und lokaler Ebene blieben so meist bestehen, das Kollektivgut makroöko- nomische Stabilität wurde beschädigt.

Auch die klientelistischen und neo- patrimonialen Strukturen in vielen argentinischen Provinzen wurden kaum angetastet, da es über die föde- ralen Partizipationsrechte und die Macht der Ländergouverneure regio- nal orientierten Interessengruppen immer wieder gelang, die Schulden auf die Zentralregierung abzuwälzen.

Die in jüngster Zeit zunehmende Fragmentierung des argentinischen

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Parteiensystems und der Verbände- landschaft ist daher auch darauf zu- rückzuführen, dass seit der Redemo- kratisierung keine nachhaltige und haushaltspolitisch tragfähige Lösung zwischen Bund und Ländern zu Stan- de gekommen ist.

Auch in Venezuela trug die Stär- kung dezentraler Elemente zur Frag- mentierung der Parteienlandschaft bei und verschärfte Verteilungs- konflikte angesichts einer sich verrin- gernden Erdölrendite und der sich daraus ergebenden Notwendigkeit von Strukturanpassungen.

Der seit der Erosion der PRI- Herrschaft wieder erstarkende Föde- ralismus in Mexiko verschärft die Pro- bleme der Bundesregierung, im Ab- geordnetenhaus und Senat Mehrhei- ten für die anstehenden Reformen zu gewinnen.9

In Kolumbien schließlich ist die Überforderung des Staates durch die parallelen Reformen am offensicht- lichsten: In den achtziger Jahren ende- te der Pakt zwischen den beiden tradi- tionellen Parteien, abwechselnd die Regierung zu stellen. Die Einführung wettbewerbsdemokratischer Elemen- te wurde ergänzt durch ökonomische Strukturanpassungen und Dezentra- lisierung zu Beginn der neunziger Jahre. Im Hinblick auf die Anstren- gungen des Staates, die dieser aufwen- den müsste, um die Profiteure von po- litischer Gewalt und organisierter Kriminalität erneut unter sein Ge- waltmonopol zu stellen, präsentiert sich Kolumbien als ein von Vertei- lungskonflikten zerrissener Staat.

Letztlich bestätigen die erfolgrei- chen Ausnahmen in Lateinamerika

erneut die These von der Schädlich- keit paralleler Reformprozesse für die Erstellung gemeinschaftlicher Kollek- tivgüter. Chile, Costa Rica und Uru- guay sind Staaten, in denen nicht nur demokratische Konsolidierung und marktwirtschaftliche Strukturanpas- sung in weitgehend getrennten Pha- sen verliefen; auch Dezentralisie- rungsreformen wurden erst nach der Verfestigung demokratischer Herr- schaft und marktwirtschaftlicher Strukturen eingeleitet.

Der „verweigerte Leviathan“

E

s gibt gute normative Gründe und empirische Belege für die Vorteile liberaldemokratischer Ordnung, or- doliberaler Marktwirtschaft und de- zentraler politischer Strukturen, für Demokratisierung, wirtschaftliche Reformen und Dezentralisierung in Lateinamerika. Doch die parallele Einführung all jener Elemente scheint die Kooperationsbereitschaft der Ak- teure zu überfordern, die Fragmentie- rung der politischen Systeme zu för- dern und damit die Erstellung der er- wünschten staatlichen Kollektivgüter zu verhindern.

Somit lässt sich aus vertragstheo- retischer Perspektive die Metapher des „verweigerten Leviathan“ verwen- den, da die politischen Akteure auf Grund der durch die Reformparalle- lität induzierten Verteilungskonflikte der rechtsstaatlichen Demokratie und der ordoliberal eingehegten Markt- wirtschaft die Gefolgschaft verwei- gern. Es verwundert deshalb nicht,

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dass die regionale Kooperations- bereitschaft in Lateinamerika stag- niert, da es hierfür sorgsam ausge- handelter Kompromisse auf intergou- vernementaler Ebene in enger Ab- stimmung mit gesellschaftlichen Akteuren bedarf. Angesichts der in-

nenpolitisch instabilen Situation sind die meisten Regierungen des Subkon- tinents gegenwärtig allerdings kaum in der Lage, die internationale Ko- ordinierung und Harmonisierung in komplexen Politikfeldern voran- zutreiben.

Anmerkungen

1 Zu den politischen Ursachen derartiger ge- samtwirtschaftlicher Krisen vgl. allgemein Faust, Informelle Politik und ökonomische Krisen in jungen Demokratien, in: Aus Poli- tik und Zeitgeschichte, B21 /2000, S. 3–9.

2 Vgl. zum Staat in Lateinamerika u.a. Man- fred Mols, Begriff und Wirklichkeit des Staa- tes in Lateinamerika, in: Manfred Hättich (Hrsg.), Zum Staatsverständnis der Gegen- wart, München 1987, S. 185–220; vgl. eben- so Hans-Joachim Lauth, Zur Transformati- on von Staat und Demokratie in Asien und Lateinamerika: Fragmentierter Leviathan und defizitäre Demokratie, in: Peter Birle/Jörg Faust/Günther Maihold/Jürgen Rüland (Hrsg.), Globalisierung und Regio- nalismus. Bewährungsproben für Staat und Demokratie in Asien und Lateinamerika, Opladen 2002, S. 113–138.

3 Zur Kollektivgüterproblematik vgl. Mancur Olson, The Logic of Collective Action, Cam- bridge 1965; vgl. auch Russell Hardin, Col- lective Action, Princeton 1982.

4 Vgl. u.a. Guillermo O’Donnell, Delegative Democracy, in: Journal of Democracy, 5/1994, S. 55–69; vgl. ebenso Wolfgang Muno und Peter Thiery, Defekte Demokra- tien in Südamerika, in: Petra Bendel/Aurel Croissant/Friedbert Rüb (Hrsg.), Zwischen Demokratie und Diktatur. Zur Konzeption und Empirie demokratischer Grauzonen, Opladen 2002, S. 283–309.

5 Zu dieser Diskussion vgl. im Überblick Ma- nuel Pastor/Carol Wise, The Politics of Se- cond Generation Reforms in Latin America, in: Journal of Democracy, 10/1999, S. 34–48.

6 Die Daten für politische Freiheitsrechte sind dem Freedomhouse Index <www.freedom- house.org/> entnommen und messen eher den Grad demokratischer Partizipations- rechte, wobei 1 den schlechtesten Wert dar- stellt und 7 den besten. Die Daten für wirt- schaftliches Wachstum entstammen der CEPAL <www.cepal.org/>. Der Index zur Regierungsführung entstammt der Welt- bank <Kaufmann/Kraay/Zoido-Lobatón 2002 – www.worldbank.org/>.

7 Zu Argentinien vgl. u.a. Hector Schamis, Distributional Coalitions and the Politics of Economic Reform in Latin America, in:

World Politics, 1/1999, S. 236–268; zu Peru vgl. u.a. Bruce Kay, „Fujipopulism“ and the Liberal State in Peru, in: Journal of Interame- rican Studies and World Affairs, 4/1997, S. 55–98.

8 Vgl. dazu Peter Evans, Embedded Auto- nomy: States and Industrial Transformati- on, Princeton 1995.

9 Zu den Finanzbeziehungen in Lateiname- rikas föderalen Systemen vgl. u.a. Christo- pher Garmann/Stephan Haggard/Eliza Wil- lis, Fiscal Decentralization: A Political Theo- ry with Latin American Cases, in: World Po- litics, 1/2001, S. 205–236.

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