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* 9 . 8. •896 "~16.9. 1980

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JEAN PIAGET (1896-1980)

E D U A R D M A R B A C H

Am 16. September 1980 ist Jean Piaget 84j~ihrig in Genf gestorben. Knappe drei Monate zuvor fand in seinem Dabeisein das XXV. Symposium des von ihm im Jahre 1955 gegriindeten und seither geleiteten Centre International d'Epist6mologie G~n6tique statt; Jahresthema war: die Entwicklung rationaler Begriindung (la raison).

Die Hoffnung, der durch Krankheit geschw~ichte ,patron', wie ihn ~ die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Centre zugleich respektvoll und anh~ing- lich nannten, werde iiber die Sommermonate, die er in den anderen Jahren in der Abgeschiedenheit der Walliser Berge zur Aufarbeitung der Forschungen des Centre zu verbringen pflegte, seine Kr~ifte wieder finden, sollte sich nicht effi~llen.

Jean Piaget hinterl~if~t ein Lebenswerk von ganz auf~erordentlichem Aus- mat~. Uber eine Zeitspanne von mehr als siebzig Jahrer~ ver6ffentlichte er mehr als fiinfzig Biicher und Monographien und Hunderte von Artikeln. Schon beim Erscheinen der ersten entwicklungspsychologischen Schriften in den fr~ihen zwanziger Jahren und dann vor allem wieder nach dem Zweiten Weltkrieg wurden seine Werke in viele Weltsprachen iibersetzt. Piagets Wirkungsgeschichte reicht, ~ihnlich wie jene Freuds, weit iiber die theoreti- schen Disziplinen der akademischen Welt, vor allem Psychologie, Philosophie, Soziologie und Anthropologie, hinaus, beeinflufk nachhaltig z. B. angewandte P~idagogik, Curriculum-Forschung und Gesellschaftstheorien, pr~igt aber auch das vorwissenschaftliche, allt~igliche ,Bild', das in weiten Teilen der Erde erwachsene Menschen im 20. Jahrhundert, ob sie um Piagets Werk wissen oder nicht, sich vom Kindsein ganz allgemein machen, bis hinein in Vorstellungen iiber Spiel- und Lernmaterialien, die der kognitiven Entwicklung der Kinder angepafk sein sollen.

Seine iiberw~iltigende literarische Produktivit~it erkl~irte Piaget in seiner Autobiographie, aber auch bei 6ffentlichen Ehrungen seines Werkes - Piaget war Tr~iger bedeutender wissenschaftlicher Preise und Auszeichnungen sowie mehr als dreif~igfacher Doctor honoris causa auf~erhalb seines eigenen Landes, angefangen mit dem Dr. h. c. der Universit~it Harvard, der ihm, als er eben 40j~ihrig war, zugesprochen wurde -, vor allem mit dem Hinweis auf die ,,aut~ergew6hnliche Qualit~it der Menschen, und insbesondere der Frauen, die mit mir zusammen gearbeitet haben". Er weist aber auch auf einen besonderen Zug seines Charakters hin; ,,im Grunde genommen", schreibt er, ,,bin ich ein

~ingstlicher Mensch, den allein die Arbeit erleichtern kann". 1 Trotzdem ist man

1 I n Les sciences sociales avec et apr~sJean Piaget, G e n 6 v e 1976, p. 21 ; dt. in Jean Piaget- Werk und Wirkung, K i n d l e r , 1976, S. 41.

1 Zeitschrfft f~ir allgemeine Wissenschaftstheorie XII/1 (1981)

© Franz Steiner Verlag GmbH, D~200 Wiesbaden

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versucht, von einer sozusagen ,gliicklichen Besessenheit' oder Leidenschaft seines vonder friihen Jugendzeit bis zuletzt lebendigen Forschergeistes zu sprechen. Gewit] k6nnte wie H. Bergson in seinem sp~iten Essai ,,Le Possible et le R~el" (1930) auch Piaget davon sprechen, ,,die kontinuierliche Sch6pfung von unvorhersehbarer Neuheit, die sich im Universum fortzusetzen scheine", seinerseits ,,jeden Augenblick zu erfahren ''2. In einem Jahrhundert, w o e s besonders innerhalb der Philosophie und der Geisteswissenschaften an Skepti- zismus, Negativismus und Nihilismus nicht fehlt, kommt m. E. Piagets Werk unabh~ingig vom rein wissenschaftlichen Wert auch eine ethische Dimension zu, indem Kr~ifte des Positiven, Konstruktiven in seiner Grundeinstellung zu menschlichem Tun in seltener Reinheit und Konsequenz zum Tragen kommen.

Es gibt denn auch viele Zeugnisse fiber die Ausstrahlungskraft seiner Pers6nlichkeit und seine F~ihigkeit der Begeisterung zur Mitarbeit an seinem Werk. Der Eindruck, einem sch6pferischen Menschen gegeniiberzustehen, der in Unerschiitterlichkeit beziiglich grundlegender Leitideen forschte und in einem sozusagen urwiichsigen Verh~iltnis der Bejahung zu sich selbst und seinem Tun stand, pr~igte sich tief ein. Damit ist nicht gemeint, da~ Piaget seinen eigenen Theorien gegenfiber eine ,dogmatische' Haltung eingenommen h~itte. Bekannt ist seine Anmerkung zu Beginn der Selbstdarstellung seiner Theorie, die er fiir das von P. Mussen edierte Carmichael's Manual of Child Psychology (1970) besorgte: ,,As a matter of fact, ,Piaget's theory' is not completed at this date and the author of these pages has always considered himself one of the chief ,revisionists of Piaget'" (S. 703).

Wie alle grot~en Sch6pfungen auf dem Gebiet der Wissenschaften war und wird das Werk Piagets den mannigfaltigsten Stellungnahmen, positiven und kritischen, Fortfiihrungen, Vertiefungen und Modifikationen ausgesetzt sein.

Heideggers Wort vom Verh~iltnis der Gr6tge eines Denkwerkes zum Mass des in diesem Denkwerk ,,Ungedachten", d. h. jenem, ,,was erst und allein durch dieses Denkwerk als das Noch-nicht-Gedachte heraufkommt", l~if~t sich sicherlich angesichts der epochalen Anregungen, die von seinen Hauptwerken ausgehen, auf Piaget anwenden. Auch jene, die Piagets Theorien verwerfen, seine Daten anzweifeln und seine Methodologie tadeln 3, sind in ihren entwicklungsgeschichtlichen Fragestellungen und Untersuchungen sehr weit- gehend vonder Arbeit Piagets und seiner Schule abh~ingig, da er, wie kein anderer, dem Gebiet der kognitiven Entwicklungspsychologie eine vereinheit- lichende Grundlegung verlieh. Peter Bryant (Oxford) schrieb in seinem Nachruf auf Piaget, ,,Quests into the minds of children", ,,his most obvious achievement was to transform child psychology from a narrow, unimaginative and largely descriptive subject into an exciting and often successful quest for the factors which prompt intellectual growth during childhood ''4.

2 In H. Bergson, ~uvres, Edition du Centennaire, Presses Universitaires de France, 1959, p. 1331.

3 Vgl. M. Boden, Piaget, Fontana Modern Masters, 1979, S. 11.

4 In The Observer, 21 September 1980.

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Jean Piaget (1896-1980) 3 Unzweifelhaft iibte yon friih an Piagets Werk den gr6ften Einfluf innerhalb der Entwicklungspsychologie aus. Es ist aber uniibersehbar, dat3 seine tiefsten wissenschaftlichen Intentionen nicht der Entwicklungs- oder gar der Kinder- Psychologie als solcher galten; vielmehr strebte er, von philosophisch- erkenntniskritischen Problemstellungen motiviert, eine erfahrungswissen- schaftlich fundierte ,,genetische Epistemologie" an. So sagt Piaget z. B. im Vorwort zu der von Howard E. Gruber und Jacques Von&he zu seinem 80.

Geburtstag im Sommer 1976 fertiggestellten Anthologie The Essential Piaget (1977), die er als die beste und vollst~indigste bezeichnet: , , . . . my efforts directed toward the psychogenesis of knowledge were for me only a link between two dominant preoccupations: the search for the mechanisms of biological adaptation and the analysis of that higher form of adaptation which is scientific thought, the epistemological interpretation of which has always been my central aim . . . . To make of epistemology an experimental discipline as well as a theoretical one has always been my goal, and I dare to hope that something durable will come of our efforts." Und im Jahre 1969, als er als erster Europ~ier die Distinguished Scientist Award vonder American Psycho- logical Association erhielt, hief es in der Ehrung: ,,He has approached questions up to now exclusively philosophical in a resolutely empirical manner, and has made epistemology into a science separate from philosophy, but related to all the human sciences." Die leitende erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Perspektive muff in der Auseinandersetzung mit Piagets Untersuchungen tiber die kognitive Entwicklung der Kinder deutlich im Auge behalten werden; sie bildet den zentralen Gesichtspunkt, der den Blick auf seine besondere Leistung und deren Grenzen erm6glicht. Piaget schreibt in seiner Selbstdarstellung: ,,The following theory of development, which is particularly concerned with the development of cognitive functions, is impossible to understand if one does not begin by analyzing in detail the biological presuppositions from which it stems and the epistemological consequences in which it ends" (a.a.O, S. 703).

Es schien mir, der ich nur einen kleinen Teil des monumentalen Lebenswer- kes Piagets einigermaflen kenne, statt einer sachlichen Detaildiskussion dieses oder jenes zuf~illig gerade mir besonders bedeutungsvoll erscheinenden Aspektes, fiir diese Wiirdigung besser angezeigt, zu versuchen, Piagets von friih an erstaunlichen intellektuellen Lebensweg in einigen Ziigen in Erinne- rung zu rufen. Nun war sein ,network of enterprises', wie H. Gruber sagen wiirde, aber so reichhaltig, daft die folgenden Zeilen oft genug nur Hinweis- charakter haben. Ich habe indessen versucht, in etwa einen Eindruck vonder Wichtigkeit, die Piaget immer wieder den rnethodischen Besinnungen in der Mannigfaltigkeit seiner Forschungsbereiche beimaf, zu vermitteln. Es ergab sich dabei das Bild einer iiber Jahrzehnte fortschreitenden Integration verschiedener Methoden in die vereinheitlichte Konzeption der genetischen Epistemologie, die Piaget zunehmends als rein wissenschaftliche und nicht mehr philosophische Disziplin verstand. Systematisch wurde diese Konzep-

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tion in vollem Umfang zuerst 1950 in der dreib~indigen Introduction l'3pist~mologie g3n3tique vorgetragen, einem Werk, das fiiglich als ein H6he- punkt in Piagets Schaffen zu bezeichnen ist, aber auch als ein Wendepunkt zu bewufgt interdisziplin~ir aufgezogener Kooperation mit anderen Wissenschaft- lern in seinem alsbald ins Leben gerufenen Centre International d'Epist~molo- gie G~n&ique.

Bis hin zum Werk von 1950 schien es mir reizvoll und auch einigermaf~en realisierbar, die zoologisch-biologischen, die psychogenetischen und die eigentlich philosophisch-epistemologischen Arbeitsgebiete einzeln und in ihren teilweisen, vor allem methodisch abgestiitzten Verkniipfungen sozusagen in Piagets eigener ,epistemologischen Genesis' in etwa in den Griff zu bekommen und da und dort Denkmotive, die sich in seinen Werken nach 1950 wiederfinden, in ihrem friihen Auftreten anzuzeigen. Hingegen nicht nur aus Platzgriinden, sondern auch weil ich aut~erstande w~ire, die Fiille der Ergeb- nisse ad~iquat zusammenzufassen, die w~ihrend der letzten 25 Jahre unter Piagets Leitung vom Centre gezeitigt wurden, beschr~inkte ich mich bei der Er6rterung dieser Sp~itzeit auf eine blot~ skizzenhafte Angabe einiger For- schungsthemen 5.

Jean Piaget wurde am 9. August 1896 in der Stadt NeuchStel (Schweiz) als

~iltestes von drei Kindern geboren. Er sagt von seiner Kindheit, er habe das Spiel zugunsten ernsthafter Arbeit vernachl~issigt und habe jede Realit~itsflucht verabscheut. Schon friih zeigte er hingegen ein aut~ergew6hnliches Interesse an Naturbeobachtungen und Sammlungen von Naturgegenst~inden. Im Alter yon kaum elf Jahren schickte er eine kleine Beschreibung eines von ihm in einem Park einen Monat zuvor beobachteten Albino-Spatzen an die lokale naturhi- storische Zeitschrift Rameau de Sapin, wo sie ver6ffentlicht wurde. Er trat alsbald mit dem Direktor des Naturhistorischen Museums der Stadt in Kontakt und bat um Erlaubnis, die Sammlung von V6geln, Fossilien und Muscheln aufgerhalb der Offnungszeiten des Museums studieren zu diirfen. Es traf sich, dab der Direktor, P. Godet, ein grofger Spezialist fiir Mollusken war.

5 In seinem Bericht ,,Wissenschaftstheorie in der Schweiz" hat H. Lauener bereits einmal in dieser Zeitschrift eine kurze Darstellung yon Piagets Epistemologie gegeben; vgl. Heft II/2, 1971 mit zugeh6riger Bibliographie. - Fiir die nachfolgende Skizze stiitzte ich reich neben Piagets Autobiographie vor allem anf Hinweise in ,,Piaget und seine Zeit, Daten zu Leben, Werk und Wirkung'" von M.-P. Michiels und A.-S. Vauclair-Visseur, dt. in Die Psychologie des 20. Jahrhun- derts, Bd. VII, Piaget und die Folgen, Ziirich, 1978, S. 8ft.; ferner ,,Jean Piaget y la escuela de Ginebra. Itinerario y tendencias actuales" von C. Coll und C. Gilli~ron (ira Druck), die mir auch die Bibliographie zur Verfiigung stellten; weiter auf The Essential Piaget. An Interpretative Reference and Guide, hrsg. yon H. Gruber und J. Von~che, New York 1977, und auf J.-P.

Bronckart, ,,The International Center of Genetic Epistemology (Geneva)" in French-Language Psychology 1 (1980), 241-252. Schlie~lich standen mir aufs grof~ziigigste s~ntliche Arbeitsinstru- mente der Fondation Archives Jean Piaget in Genf zur Verfligung, wo ich hilfreiche Gespr~iche mit Frau Prof. B. Inhelder, Dr. C. Monnier, Ms. A. Wells und v. a. M. J.-J. Ducrez fiihren konnte; M.

Ducrez steht vor dem Abschluf~ seiner grof~en Studie ,,Essai sur les ann&s de formation de la pens& de Jean Piaget" und gab mir bereitwillig Hinweise auf wichtiges Quellenmaterial.

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Jean Piaget (1896-1980) 5 W~hrend vier Jahren stand der junge Piaget in w/Schentlichem Kontakt mit dem Malakologen - wie Fausts Famulus, soll Godet gesagt haben! - und wurde von der Zusammenarbeit mit ihm so sehr angeregt, dai~ er auch die ganze freie Zeit mit der Suche nach Mollusken verbracht habe! Beim Tode Godets, 1911, konnte der nun 15j~ihrige Piaget aufgrund seiner Erfahrung selbst~indig eine Reihe von Aufs~itzen tiber die Mollusken der Schweiz, Savoyens, der Bretagne und solchen, die ein Besucher aus Kolumbien mitgebracht hatte, vorzulegen beginnen. Diese Ver6ffentlichungen brachten ihm u. a. das Angebot eines Postens als Konservator der Molluskensammlung am Naturhistorischen Museum in Genf ein, das er mit dem Hinweis ablehnen mutate, noch zwei Jahre bis zum Abitur vor sich zu haben!

Zur Zeit des Abiturs,1915, hatte Piaget bereits 22 Artikel tiber Mollusken ver/Sffentlicht. Schon drei Jahre sp~iter legte er eine ,,Introduction ~ la malacologie valaisanne" als Doktorarbeit an der Mathematisch-Naturwissen- schaftlichen Fakult~it der Universit~it Neuch~tel vor. Zu dieser Zeit waren auch schon zwei gr6~ere Arbeiten Piagets erschienen, die ihn von einer ,philosophi- schen', stark weltanschaulich-, religi6s-bekenntnishaften Seite her zeigen und auch die Erschiitterung widerspiegeln, die das Geschehen des Ersten Weltkrie- ges im Heranwachsenden bewirkte.

Fi~r den in der Dissertation enthaltenen umfangreichen Katalog der Arten und Lokalit~iten der Mollusken konnte Piaget sich auf eine, mit Unterbrechun- gen, fiber acht Jahre sich erstreckende Erfahrung in der Region Wallis stiitzen ! In dem auf September 1918 datierten Vorwort schrieb er, das Studium dieser Fauna, die er als die sicherlich interessanteste der Schweiz bezeichnete, sei schwierig, weil so speziell, daf~ ihr Interesse ganz im Detail der T~ler und der von der Adaptation herriihrenden Mannigfaltigkeiten liege. U m das von ihm erreichte Wissensstadium zu iiberschreiten, bediirfe es einer totalen methodi- schen Umstellung. Man schwimme im Ungewissen mit den subjektiven Artbestimmungen und der subjektiven Einsch~itzung der Naturgebilde. Die Malakologie sei eine Wissenschaft, die zu hinreichender Reife gelangt sei, sich fortan in einer deutlich biologischen Richtung zu entfalten, und zwar mittels der Biometrie in engem Zusammenhang mit den statistischen Arbeiten der Botaniker und Psychologen. Er k6nne selbst aber noch nicht daran denken, biometrisch und statistisch vorzugehen, da die bescheidenste L6sung jahre- lange Untersuchungen verlange. Er lege den Katalog als Zusammenfassung vergangener Forschungen daher als jemand vor, der heute nicht mehr viel verstehe und ohne Methodenwechsel nicht vorankomme, jedoch, bevor er sich an diese Arbeit mache, das Bed~irfnis empfinde, Bilanz zu ziehen.

In dem 1950 verfaf~ten Teil der Autobiographie schreibt Piaget im Zusam- menhang der Rede von den malakologischen Arbeiten vor dem Doktorat, ,,erst viel sp~iter, im Jahre 1929, war ich imstande, etwas Ernsthafteres auf diesem Gebiet zu leisten" (vgl. dt. Ubers., S. 18 und S. 34f.). Er denkt dabei an die grof~e zoologische Arbeit ,,L'adaptation de la Limnaea stagnalis aux milieux lacustres de la Suisse romande. Etude biom~trique et g~n~tique", eine Untersuchung, die sich auf mehr als 80 000 Exemplare dieser Art von Schlammschnecken stiitzte, und an den Aufsatz ,,Les races lacustres de la

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,Limnaea stagnalis' L. Recherches sur les rapports de l'adaptation h~r~ditaire avec le milieu ''6. Die Schluflfolgerungen beziiglich des Grundproblems der Beziehungen zwischen der Vererbungsstruktur und der Umwelt, dem Piagets Interesse galt, laufen auf der Basis seines enormen, minuti6s analysierten Beobachtungsmaterials auf ein ,tertium' zwischen einem vollst~indigen Muta- tionismus und der Hypothese der kontinuierlichen Vererbung des Erworbe- nen (cf. Lamarck) hinaus, das er nicht als eine L6sung, sondern nur als eine genauere Umgrenzung des Problems betrachte: Die Umwelt driickt sich nicht einfach passiv dem Organismus ein, w~ihrend andererseits auch nicht eine vollst~indige Unabh~gigkeit des Organismus beziiglich der Umwelt anzuneh- men ist. Er schl~igt daher die Hypothese einer Interaktion zwischen der Umwelt und den Faktoren der Organisation selbst vor, also den sozusagen ,konstruktivistischen' Gedanken, daf~ der Organismus ein System sei, das sich in Abh~ngigkeit von der Umwelt organisiert. Er bringt das Problem der Beziehungen zwischen dem individuellen Akkomodat des Organismus und der Vererbung mit der Frage der Beziehungen zwischen Gewohnheit und Reflex in Zusammenhang und stellt fest, es bestehe keine vollst~indige Heterogenit~it, sondern es finde eine Interaktion zwischen Gewohnheit und Reflex statt. Er beschreibt ausffihrlich die ,,psychologischen Reaktionen" der Limnaea stagnalis nach vererblichen ,,reflexiven Reaktionen" (oder Instinkten) und ,,Tropismen", nach Gewohnheiten (konditionierten Reflexen und motori- schem Ged~ichtnis), die im Verlaufe des Wachstums ohne vererbliche P r i o r - marion angeeignet werden, und nach tastenden Versuchen oder motorischen Akkomodationen an neue Umst~nde, die eine einfache Verl~ingerung der Gewohnheiten bilden.

Eine solche Analyse h~ilt schon wesentliche Mittel fiir die wenige Jahre danach ausgearbeitete, fiir Piaget so ¢harakteristische biologische Theorie der sensomotorischen Intelligenz beim Kleinkind bereit, worauf Piaget selbst unter dem Titel ,,Le probl~me biologique de l'intelligence" in der Einleitung zu La naissance de Hntelligence von 1936 zuriickkommen wird. Es sei andererseits erw~ihnt, dat~ Piaget aufgrund seiner in den zwanziger Jahren durchgefiihrten psychogenetischen Arbeiten mit etwa 3- his 15j~ihrigen Kindern sowie aufgrund seiner epistemologischen Studien - worauf zuriickzu- kommen sein wird - in dieser an sich rein zoologischen Schrift von 1929 auch vergleichend auf eine verwandte Problemstellung in der Psychologie, die er von friih an zu den biologischen Wissenschaften z~ihlt, hinweisen kann. Man habe in der Psychologie in der Tradition des Empirismus ebenfalls alle Erscheinun- gen dureh den einfachen Druck, den die Umwelt aus/ibt, zu erkl~iren versucht:

die Gewohnheit, die mechanisch angeeigneten Assoziationen h~itten den Schliissel zur ganzen Intelligenz abzugeben geschienen. Doch heute sei man sich einig, eine Wesensdifferenz zwischen Verstehen (,,comprehension") und Assoziation zu sehen. Die Assoziation stamme unmittelbar von den mechani- schen Einfliissen der Umwelt, w~hrend, was eben vor allem seine eigenen

6 In Revue Suisse de Zoologie, 36, 1929, pp. 263-531, mit 4 Bildtafeln, bzw. in Bulletin Biologique de la France et de la Belgique, 33, 1929, pp. 424-455.

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Jean Piaget(1896-1980) 7 Untersuchungen zeigen, das Verstehen die T~itigkeit der vollen Intelligenz voraussetze, d. h. insbesondere die Funktion der Kausalit~it und der logischen Beziehung etc., die Teil der menschlichen Vererbung und wahrscheinlich sogar der allgemeinen Vererbung jedes BewuBtseinswesens ausmachten.

Neben den friihen zoologisch-biologischen Arbeiten sind nun Piagets ebenfalls von friih an intensiv in Erscheinung tretenden philosophisch- epistemologischen und psychologischen Interessen etwas n~iher zu beleuchten.

Als Heranwachsender wurde er vor allem vonder Aufgabe der Vers6hnung von Glauben und Wissen erfaf~t. Durch seinen Paten, der ihn v o n d e r Einengung auf die zoologischen Arbeiten befreien wollte, wurde der etwa 15j~rige in die Gedankenwelt von H. Bergsons L'Evolution Cr~atrice (1907) eingefiihrt. Die Begegnung muf~ tier aufwiihlend gewesen sein. Piaget l~it~t in seinem stark autobiographisch gehaltenen ,philosophischen Roman' Recher- che, den er als 21j~riger schrieb, den Helden S~bastien sich wieder jener Zeit erinnern, wo sein ,,Verlangen nach einem Absoluten" aufbrach und ihn die Relativit~it seiner zoologischen Arbeiten niederschlug, da die kleinen, schnell voriibergehenden Ideen, mit denen er seine naturhistorischen Forschungen umgeben hatte, eine nach der anderen in sich zusammenbrachen; doch sei er im Grunde genommen, da er ja in die Wissenschaft eingeweiht war, gewit~

gewesen, eigenst~indig eine Metaphysik aufbauen zu k6nnen, die ihm den festen Halt zuriickgeben wiirde.

Die Jahre vor dem Abitur und die erste Zeit danach befat~te Piaget sich neben Schule und malakologischen Arbeiten, aufgrund auch von ausgiebiger Lektiire von Autoren wie Kant, Spencer, A. Comte, Fouill~e und Guyau, Lachelier, Boutroux, Lalande, Durkheim, Tarde, Le Dantec, W. James, Th.

Ribot und Janet sehr stark mit der ,,Konstruktion eines Systems". In Recherche, abgeschlossen Ende 1917, nimmt er aper~uhaft Gedanken vorweg, die ihn danach stets im Banne halten werden. Unter dem tiefen Eindruck der Lehre vom Evolutionismus, die alle Disziplinen bis hinein in die Erkenntnis- theorie revolutionierte, drehen sie sich im wesentlichen um die ,,Synthese der Wissenschaften vom Leben", wobei der Errichtung einer sich. auch schon kritisch von Bergson abhebenden ,,biologischen Psychologie" besondere Bedeutung zuk~ime.

Nach dem Doktorat beginnt er Studien der experimentellen Psychologie, um sein ,,System" zur Verwirklichung zu bringen! Zun~ichst verbringt er kurze Zeit in Ziirich, wo er im Labor yon G. E. Lipps und Wreschner sowie in der psychiatrischen Klinik von Bleuler mitarbeitete und wo er auch die Psychoanalyse (Freud, Jung, Adler) entdeckte. Im Friihjahr 1919 kommt er nach Paris an die Sorbonne. Der Pariser Aufenthalt brachte den eigentlichen Durchbruch in Piagets Forscherleben, da er zu dieser Zeit mit ftir ihn fortan grundlegenden Methoden konkret bekannt wurde. Bereits in Neuch~tel hatte er Unterricht in Psychologie, Logik und Wissenschaftsmethodologie bei A.

Reymond genossen, der eine historisch-leritische Methode vertrat 7. In Paris

7 Zum philosophischen Klima in der Westschweiz in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh. und der Rolle A. Reymonds .als philosophischer Mentor" vgl. den Nachruf auf Ferdinand Gonseth von A. Mercier, in Heft VII/1 (1976) dieser Zeitschrift.

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h6rte er nun Logik und Philosophie der Naturwissenschaften bei A. Lalande und L. Brunschvicg. Vor allem vom ,,kritischen Relativismus" der historisch- kritischen Arbeiten Brunschvicgs, in denen dieser sich auf die Psychologie bezog, wurde Piaget tier beeinflufgt. Andererseits traf es sich, daft er von Dr. T.

Simon mit der Aufgabe betraut wurde, verbale Intelligenz-Tests des Amefika- hers Cyril Burt fiir die Pariser Kinder zu standardisieren. Dazu stand ihm w~ihrend zwei Jahren das Labor von A. Binet zur Verffigung. Piaget, der auch Einblick in die klinische Befragung von Kranken an den Spitiilern Ste-Anne und Salp~tri~re bekam, machte sich, betroffen von den bei den Denkprozessen der Kinder fiberraschend h~iufig auftretenden logischen Fehlern, alsbald selbst daran, diesen in ,klinischer' Art auf den Grund zu gehen, also die Kinder entsprechend zu befragen, in ein Gespriich einzubeziehen, statt deren Antwor- ten nur quantitativ zu erfassen. Die Ergebnisse seiner Untersuchungen, in denen er das ,formale' (verbale) Denken als psychologische Tatsache bei Kindern zwischen etwa 7 und 14 Jahren studierte, mit einigen Hinweisen auf die Sachlage bei 3- bis 7j~ihrigen, ver6ffentlichte Piaget zwischen 1921 und 1923 in drei Artikeln, die seine ersten eigentlich psychologischen Publikatio- nen bilden.

In der Zeit jener Untersuchungen hielt er auch einen groflen Vortrag fiber ,,La Psychanalyse dans ses rapports avec la psychologie de l'enfant" vor der A.

Binet-Gesellschaft in Paris. Erwiihnt sei auch, dafg er im Beisein S. Freuds auf dem VII. Internationalen Kongrefl ffir Psychoanalyse im September 1922 in Berlin iiber ,,La pens~e symbolique et la pens~e de l'enfant" sprach.

Aufgrund eines jener Artikel fiber die Logik der Kinder bot E. Clapar~de im Jahre 1921 Piaget den Posten eines ,,chef de travaux" am Institut Jean-Jacques Rousseau in Genf an. Piaget akzeptierte. Neben seinen Arbeiten am Institut gab er als Privatdozent auch Vorlesungen fiber die Psychologie des Kindes an der Naturwissenschaftlichen Fakult~it der Universitiit Genf. In Clapar~de und P. Bovet traf er auf Psychologen, deren zugleich funktionale und genetische Methode, die Bildung von Begriffen und Verhaltensweisen von der Kindheit an zu studieren, seinen eigenen Intentionen nahestand. Aus dem idealen Arbeitsmilieu des Rousseau-Institutes gingen in rascher Folge die Schriften hervor, aufgrund derer der junge Piaget bekannt, alsbald zu Vortriigen ins Ausland eingeladen und in viele Sprachen iibersetzt wurde. Es handelt sich um das zweib~indige Werk Etudes sur la logique de l'enfant, Band I: Le langage et la pens~e chez l'enfant (1923), Band II: Le jugement et le raisonnement chez l'enfant (1924); ferner La representation du monde chez l'enfant (1926), La causalit# physique chez l'enfant (1927), Le jugement moral chez l'enfant (1932).

In der Einleitung zu La representation du monde chez l'enfant setzt Piaget sich ausfiihrlich mit den Vorteilen und Gefahren der ,,m~thode clinique"

auseinander. Sp~iter wird er zu dieser zuerst fiir das Studium der verbalen und begrifflichen Aspekte des kindlichen Denkens gebrauchten klinischen Methode als freier Konversation kritisch Stellung nehmen. Gestfitzt auf die inzwischen gemachten Erfahrungen bei der Erforschung der vorsprachlichen, praktischen Intelligenz des Kleinkindes, wo sich die Manipulationen an Gegenst~inden als wesentliche Anzeigen des intelligenten Verhaltens erwiesen,

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Jean Piaget(1896-1980) 9 wird Piaget fortan das Gespr~ich mit den Kindern zu vorangehenden oder gleichzeitig mit dem Gespr~ich vollzogenen Handlungen an einem entspre- chend gew~ihken Material in Beziehung bringen. Dieser wichtige Methoden- wechsel wurde seit etwa Mitre der dreiffiger Jahre in Zusammenarbeit vor allem mit Alina Szeminska und B~irbel Inhelder beim Studium der Bildung der logischen Denkstrukturen zur Anwendung gebracht. Piaget erw~ihnt diesen Methodenwechsel im Vorwort zu La gen~se du nombre chez l'enfant (1941) und, unter dem Titel ,,m&hode critique", etwas ausfiihrlicher im Vorwort zur dritten Auflage von Le jugement et le raisonnement (1947), wo er die Arbeiten der friihen zwanziger Jahre in den Zusammenhang des inzwischen Erreichten stellt.

Einen Eindruck von dem fiir die Psychologie der geistigen Entwicklung in sachlicher und methodischer Hinsicht bahnbrechenden Beitrag schon der ersten Arbeiten Piagets vermittelt E. Clapar~des Vorwort zu Le langage et la pens~e chez l'enfant von 1923. Bis dahin habe der Geist des Kindes den Psychologen den Eindruck eines erschreckenden Chaos gemacht, wohingegen Piagets Untersuchungen von diesem Geist eine total neue, vereinheitlichende Sicht b/Sten, schreibt Clapar~de. Es sei an dieser Stelle nur an die bekannt gewordene, oft auch mii~verstandene Lehre vom kognitiven kindlichen ,,Egozentrismus" im allgemeinen - als Mangel der Differenzierung zwischen dem eigenen Gesichtspunkt und m6glichen anderen Gesichtspunkten, d. i. als Mangel der Dezentrierung - und vom sprachlichen Egozentrismus im besonderen erinnert, die schon in diesen ersten Schriften Piagets eine zentrale Rolle bei der Interpretation der empirischen Ermittlungen spielte.

In methodischer Hinsicht von Interesse ist m. E. noch folgendes. Bei seinen ersten systematischen Beobachtungen des intelligenten Verhaltens des vor- sprachlichen Kleinkindes, die Piaget an seiner ersten, im Jahre 1925 geborenen Tochter durchfiihrte und iiber die er bereits in einem am 7. M~irz 1927 vor der British Psychological Society gehaltenen Vortrag unter dem Titel ,,La premiere annie de l'enfant" berichtete, lief~ er sich in seiner Arbeitshypothese yon den bei den 3- bis 15j~ihrigen Kindern gewonnenen Einsichten in den ,,bedeutend- sten Charakterzug dieses Denkens", eben den ,,Egozentrismus", leiten. Piaget sagt zu Beginn seiner Ausfiihrungen: ,,Das erste Jahr des Kindes ist leider noch ein Abgrund von Geheimnissen fiir den Psychologen. Wenn wir die Bewut~tseinszust~inde des Kleinkindes gleichzeitig mit unseren Beobachtungen seiner Bewegungen kennen k6nnten, wiirden wir wahrscheinlich die ganze Psychologie verstehen . . . . Da der Erwachsene ein Denken hat, da das Kind jedes Alters ein Denken hat, und ein yon unserem sehr verschiedenes, ist es notwendig, sich zu fragen, wie dieses Denken entstehen konnte (comment cette pens~e a pu naltre). Wir miissen uns also mit der Genesis des Denkens beim Kleinkind befassen, selbst wenn dies ein besonders schwieriger Untersu- chungsgegenstand ist. Beginnen wir mit der Suche nach einer Methode". Er bringt dann, eingedenk der Gefahren vor allem des ,Erwachsenen-Zentrismus', eine ,,regressive Methode" zum Ansatz, die man best~indig in der Biologie gebrauche, wo die h6heren mit den niederen Lebewesen verglichen und die einen die anderen erhellen wiirden. In diesem Sinne schl~igt er den Schritt vom

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kindlichen Egozentrismus zum ,Grenzwert' des ,,Solipsismus des ersten Jahres" vor: ,,Wir werden versuchen, die Einstellungen des Kleinkindes durch den Solipsismus zu erkliiren, wie wir das Denken des Kindes durch den Egozentrismus interpretiert haben".

Nun hatte Piaget wiederum schon in den Etudes sur la logique de l'enfant (1923, 1924) darauf hingewiesen, daft die Psychologie des Denkens stets die Aufgabe haben werde, die Beziehung der zwei Grundfaktoren, des biologi- schen und des sozialen, zueinander zu erkliiren. In diesen Schriften habe er im Ausgang vom Ph~omen des Egozentrismus zur Erkl~irung die soziologische Sprache gew~It. Er behalte sich aber vor, auf die biologische Erkl~ung des kindlichen Denkens zuriickzukommen (vgl. 1924, p. 162f.). Diese setzte er dann, wie oben angezeigt, unter Ankniipfung an die Ergebnisse der zoologi- schen Arbeit yon 1929 zuerst fiir das vertiefte Studium der Intelligenz des Kleinkindes (also etwa der ersten beiden Lebensjahre) in den dreit~iger Jahren im Detail in die Tat um. Wie allgemein bekannt, stiitzte er sich f~ir die epochemachenden Biicher La naissance de l'intelligence chez l'enfant (1936) und La construction du r~el chez l'enfant (1937) sowie fiir La formation du symbole chez l'enfant, das erst 1946 ver6ffentlicht wurde, zur Hauptsache auf die yon seiner Frau und yon ihm selbst durchgefiihrten minuti6sen Beobach- tungen an den eigenen drei Kindern (geboren 1925, 1927 und 1931). Als Ergebnis entstand - sehr verkiirzt gesagt - die Theorie der Entwicklung der sensomotorischen Intelligenz als Verl~ingerung biologischer Anpassungsvor- giinge (NI), die Theorie der von dieser geleisteten progressiven Konstruktion der raumzeitlich-kausalen Welt (CR) und schliefllich die Theorie der in funktionaler Kontinuit~it aus den sensomotorischen T~itigkeiten hervorgehen- den Anf~inge der verschiedenen Systeme (Nachahmung, geistiges Bild, Spiel) und Interaktionen der Repr~isentation oder symbolischen (semiotischen) Funktion, die die Briicke zwischen der vorsprachlichen, sensomotorischen und der eigentlichen, operativen Intelligenz bilden (FS). Zum Beschlut~ der ersten beiden Biicher dieser grundlegenden ,Trilogie' bringt Piaget unter dem Titel ,,L'~laboration de l'univers" (CR, p. 307ff.) in Ans~itzen die auf den Assimilations- und Akkomodationsfunktionen beruhende biologische Erkl~i- rung der friihkindlichen Intelligenz dann auch bei den vom Egozentrismus progressiv sich befreienden Denkprozessen der ~ilteren Kinder zum Tragen. Er kann sich dabei fiber die Arbeiten der zwanziger Jahre hinaus bereits auch auf die neuesten Untersuchungen fiber die Prinzipien der Erhaltung (conservation) (s. unten) stiitzen.

Die bisherige Skizze der zoologisch-biologischen und entwicklungspsycho- logischen Forschungen des jungen Piaget ist nun durch ein paar genauere Hinweise auf seine spezifisch philosophisch-epistemologischen Arbeiten, in deren Kontext jene Untersuchungen einzuordnen sind, zu erg~inzen. Im Jahre 1925 wurde der 29j~ihrige Piaget mit einem Teil der Lehrt~itigkeit seines friiheren Lehrers A. Reymond an der Universit~it Neuch~tel betraut. Er lehrte Psychologie und Wissenschaftsgeschichte an der Philosophisch-Historischen Fakult~it sowie Soziologie am Institut fiir Sozialwissenschaften; daneben fuhr er fort, Kinderpsychologie am Institut Rousseau in Genf zu unterrichten.

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Jean Piaget (1896-1980) 1 1 Einen guten Begriff von Piagets schon damals sich abzeichnender epistemo- logischer Position vermittelt seine am 1. Mai 1925 gehaltene Antrittsvorlesung ,,Psychologie et critique de la connaissance". Er kniipft an die historisch- kritische Tradition des yon A. Reymond/ibernommenen Lehrstuhls sowie an die psychologische Tradition der Universit~it Neuch~tel an und stellt sich als Thema seiner Vorlesung die Frage nach den diese beiden Tendenzen vereini- genden Beziehungen. Seine Ausfiihrungen sind geleitet von einer Auseinander- setzung mit Kants Vernunftkritik im Lichte der neueren historisch-kritischen Methode, die er als die heute wahre philosophische Methode bezeichnet, vor der die Kantische Kritik, d. h. die direkte (reflexive) Analyse der Wissenschaft einer bestimmten Epoche (n~imlich der Wissenschaft Newtons) zuriickzutre- ten habe. Heutzutage sei man sich einig, daf~ allein die Geschichte der Wissenschaften bef~ihigt sei, die Probleme der Erkenntnistheorie zu 1/Ssen. In diesem Zusammenhang nach dem m6glichen Beitrag der Psychologie zur Erkennmistheorie fragend, stellt er eine wachsende Verwandtschaft zwischen der genetischen Psychologie und der historisch-kritischen Analyse lest, w~h- rend fiir Kant eine vollst~indige Trennung von genetischer Psychologic und Erkenntnistheorie bestanden habe. Sobald man aber beim kritischen Studium der Struktur des Geistes - anstatt sie als a priori vorgebildete zu betrachten - der Geschichte Rechnung trage, geh6re es zur Aufgabe des Psychologen, in das Wesen der rationalen Begriffe selbst vorzudringen. Fiir Kant habe die genetische Psychologie hingegen allein die Aufgabe gehabt, die Ordnung des Auftretens der Begriffe und die zuf~illigen Umstiinde ihrer Bewuf~twerdung festzustellen, sie habe selbst abet in keiner Weise kritische Arbeit leisten k6nnen. Heutzutage scheine sich die Erkennmistheorie aber dank ihrer historischen Entwicklung auf ein psychologisches Terrain zu stellen. Anhand von Beispielen aus der griechischen Wissenschaftsgeschichte und aus Untersu- chungen fiber die Denkart der sog. Primitiven weist Piaget dann auf m6gliche Beriihrungspunkte zwischen der historisch-kritischen und der psychogeneti- schen Forschung hin, wobei er sich auf seine eigenen Untersuchungen jener Jahre stiitzen kann. Er setzt sich f~r genau umgrenzte Detailfragen ein, von denen er die L6sung des wohl wichtigsten der gegenw~irtigen Probleme der Erkenntnistheorie erwartet, n~imlich des Problems der Unwandelbarkeit (fixitY) oder der Plastizit~it der Kategorien der Vernunft. Das Problem kennzeichnet er auch wie folgt: ,,Kann die Vernunft in ihrer Struktur selbst sich entwickeln, oder gibt es einen einzigen menschlichen Geist, ewigen Gesetzen gehorchend trotz der Unterschiede des sozialen Milieus, des Alters und der wissenschaftlichen Entwicklung?" Dies sei eine faktische Frage, es komme also nicht der reflexiven Analyse, sondern der Geschichte und Soziologie zu, sie zu behandeln, und der Rekurs auf die genetische Psychologie sei dabei von hohem Interesse, da diese die Problemstellung in Begriffen direkter Beobachtung und Erfahrung und nicht bloi~ in solchen der Geschichte erm6gliche. Schliet~lich betont Piaget noch, dat~ sein Appell an die Psychologie nicht einer Riickkehr zu Locke und zur empiristischen Erkenntnistheorie, die dieser aus der genetischen Psychologic gezogen habe, gleichkomme. Im Gegenteil, in dem Maf~e, wie der Psychologe durch die Fakten die Plastizit~it

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der Vernunft beweise und die unaufh6rlichen Adaptationen beschreibe, welche die Intelligenz zwingen, ihre Struktur zu modifizieren und neue intellektuelle Werkzeuge zu konstruieren, hole er die Kritik wieder ein: denn jede Variation in der Struktur der Vernunft zeige zum einen, dat~ die Vernunft t~itig sei, anstatt passiv den Druck der Fakten zu erleiden, und daf~ es folglich zum anderen vielleicht keine unver~inderlichen ,Gegebenheiten' gebe, well, was in einem bestimmten Stadium ,gegeben' scheine, im nachhinein unter die vorliiufigen Konstruktionen des Geistes klassiert werden k6nne. Abschliet~end unter- streicht Piaget die Tatsache, daB, wie die historisch-kritische Analyse allein eine Methode sei, die nicht im voraus tiber die Ergebnisse, die sie zu erzielen erlaube, urteile, so auch die

genetische Analyse

eine unparteiische

Methode

sei.

Bereits vier Jahre spiiter, im Jahre 1929, verliet~ Piaget Neuch~ttel wieder, um als Professor einen neugeschaffenen Lehrstuhl ftir die ,Geschichte des wissen- schaftlichen Denkens' an der Naturwissenschaftlichen Fakult~it der Universit~it Genf zu iibernehmen. Gleichzeitig wurde er stellvertretender Direktor des J.- J. Rousseau-Institutes und iiberdies Direktor des Bureau International de l'Education, ein Posten, der ihn tiber Jahre hinweg viel Zeit gekostet, ihm aber auch viel tiber die ,Psychologie der Erwachsenen' beigebracht habe.

Wiederum gibt seine Antrittsvorlesung, gehalten am 26. April 1929, guten Aufschluf~ fiber weitere Bausteine seiner sp~iter voll entfalteten epistemologi- schen Position. Sie stand unter dem Titel ,,Les deux directions de la pens~e scientifique"; gemeint sind Mathematik und Biologie. Eingangs betont Piaget, dalg heutzutage eine der deutlichsten Forderungen des wissenschaftlichen Geistes diejenige der

Reflexion

der Wissenschaft auf ihr eigenes Wesen und Tun sei, denn die Wissenschaft stelle den Wissenschaftlern durch ihr blot~es Dasein ein Problem. Als Anpassungsprozefg des Geistes an die Wirklichkeit stelle sie das interessanteste der psychologischen, er m6chte fast sagen der

biologischen

Phiinomene dar, da die geistigen Schemata der Wissenschaft in ihrer Wurzel v o n d e r psycho-physiologischen Organisati0n selbst abhingen.

Seine Frage lautet dann: Wie dieses Problem 16sen, ohne genetisch vorzuge- hen, ohne allem voran die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens nachzuzeichnen ? Die Wissenschaft in ihrem Entstehen und ihrer Entwicklung studieren; die Geschichte und Psychologie der Begriffe, auf denen sie beruht, vornehmen; zeigen, wie sich die Formen des menschlichen Geistes in der Bertihrung mit den Fakten bilden: dies sei notwendig die Methode, die derjenige zu befoIgen habe, der das Wesen und das Funktionieren des wissenschaftlichen Geistes verstehen wolle. Da die wissenschaftlichen Begriffe sich nur langsam und mtihsam vom gemeinen Menschenverstand abgehoben h~itten, sei allein das experimentelle Studium der Intelligenz, die sog. ,pri- mitive' und jene der Kinder inbegriffen, befiihigt, uns diese Genesis verst~ind- lich zu machen. So setzt sich Piaget unter Hinweis auf die Tradition Th.

Flournoy's in Genf und auf seine Lehrer A. Reymond und E. Clapar~de for die Verbindung von experimenteller Psychologie und Geschichte der Wissen- schaften ein.

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Jean Piaget(1896-1980) 13 Beziiglich der Richtung der Mathematik stehen im Mittelpunkt Gedanken zur zunehmenden Reduktion der Wirklichkeit auf die Mathematik, besonders seit der Renaissance, wo korrelativ zur Entwicklung der Mathematik auch eine Mathematisierung der Erfahrung eingetreten sei. Angesichts der Tatsache, daft die Mathematik sich nicht auf die Erfahrung begriindet, stellt Piaget die Frage, wie sich dennoch die

Obereinstimmung

der Mathematik mit der physischen Wirklichkeit erkl~ire, wie sich das Paradox erkl~ire, dat~ die oft der Erfahrung selbst welt vorausgreifende Mathematik dennoch friiher oder sp~iter vonder Erfahrung erfiillt werde und die Erfahrung sich an die mathematischen Schemata genau anpasse. Piaget hebt hervor, daf~ die Mathematik eine Art Sch6pfung, die vom Geist vollzogene Konstruktion einer neuen Wirklichkeit darstelle. Der mathematische Denkprozet~ erscheine als konstruktiv, die reine mathematische Deduktion, unabh~ingig von Beobachtung und Erfahrung, deren die anderen Wissenschaften zu ihrem Fortschritt bediirfen, als wirklich produktiv. Und diese Konstruktion, weit enfernt, ~iber der Wirklichkeit zu schweben, und sogar entfernt davon, der Wirklichkeit nur Zusammenh~inge zu verschaffen, f~ihre dazu, unser Universum in seiner eigenen Struktur umzubil- den, dutch eine vom Geist geschaffene Architektur die sinnliche Wirklichkeit zu verdr~ingen. Angesichts der Tatsache, da~ die Mathematik aus dem Denken hervorgehe, sich aber zur Wirklichkeit hin orientiere, zur Koordination und Bildung der Erfahrung notwendig sei und letzten Endes zur Erkl~irung und rationalen Verarbeitung der Wirklichkeit fiihre, wird Piaget zur Frage geleitet, die er auch in den sp~iteren epistemologischen Schriften immer wieder er/Srtern wird : ,,Wie ist diese 13bereinstimmung des Denkens und der Dinge m6glich ?"

Er bezeichnet sie als das zentrale Problem des abendl~indischen Denkens seit Descartes und Leibniz und h~ilt dafiir, daf~ es nur auf dem Terrain der positiven Wissenschaft fruchtbar er6rtert werden kann. Die philosophische Erkenntnis- theorie stelle die Frage an sich und absolut" Wie ist Erkenntnis m6glich?

Bescheidener und pr~izis umgrenzt frage die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens einfach: Wie hat Erkenntnis zugenommen, durch welchen Mechanis- mus nimmt sie zu (s'accrolt-elle)?

Mit der Frage, ob jene Ubereinstimmung von Denken und Dingen nicht ein

biologisches

Ph~inomen, ob die Mathematik nicht auch, geradeso wie visuelle Wahrnehmung und die Intelligenz iiberhaupt, eine Anpassung an das Milieu sei, leitet Piaget zur zvceiten Richtung der Entwicklung der Wissenschaften hin~iber, zur biologischen, die er als zur mathematischen komplement~ire einfiihrt. Die Biologie, und ihr zugeh6rig die experimentelle Psychologie, trachten danach, das Denken, die Mathematik inbegriffen, mittels Gesetzen biologischer und folglich physisch realer Organisation zu erkl~iren. Jeder Fortschritt der Biologie fiihre natiirlicherweise dazu, den Mechanismus des Denkens zu erhellen. Ftir den Biologen sei das Denken das Erzeugnis einer Reihe von Anpassungen, und diese Anpassungen erkl~irten sich durch die /.iblichen Gesetze der Morphogenese, der Vererbung und der individuellen Akkomodation. Das Problem der Beziehungen zwischen Denken und Dingen, das die Verbindung der mathematischen Deduktion und der physischen Erfahrung stelle, erweise sich so vom biologischen Gesichtspunkt blof~ als

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Sonderfall des grof~en Problems der Beziehungen zwischen Organismus und Milieu. Man wird bei solchen Ausfiihrungen unmittelbar an das Gedankengut der oben erw~nten zoologischen Arbeit aus demselben Jahr 1929 erinnert.

In einer Schluflbetrachtung der beiden Richtungen des wissenschaftlichen Denkens kommt, wie schon ansatzweise in friiheren Schriften, Piagets Auffassung vom ,,Kreis" bzw. der ,,Spirale" der Wissenschaften in ihrer gegenseitigen Aufeinanderbezogenheit zur Geltung, die er vor allem gegen A.

Comtes Modell der ,,linearen Hierarchie" der Wissenschaftsklassifikation abhebt. Spiitere ausfiihrliche Er6rterungen zu diesen Fragen des ,,Systems der Wissenschaften" finden sich z.B. im dritten Band der Introduction l'~pist~mologie gdn~tique (1950) und im Band Logique et connaissance scientifique der Encyclop~die de la Pl~iade (1967).

In der Autobiographie hiilt Piaget lest, daft ihm jene tiber zehn Jahre fortgesetzte Lehrt/kigkeit tiber ,Geschichte des wissenschaftlichen Denkens' erlaubt habe, entschiedener in Richtung einer Epistemologie, die sowohl auf die ontogenetische wie auch phylogenetische geistige Entwicklung begri~ndet sei, voranzuschreiten. Er babe intensiv das Auftreten und die Geschichte der Hauptbegriffe der Mathematik, der Physik und der Biologie erforscht.

In den Jahren um 1930/iuflerte Piaget sich verschiedentlich nochmals zu weltanschaulich-religi6sen Fragen, wovon z. B. sein grofler Vortrag ,,Imman- entisme et foi religieuse" vom 16. Juni 1929 (ver6ffentlicht 1930) Zeugnis ablegt. Im Vergleich mit Piagets sp~iteren Stellungnahmen zum Verh/iltnis von Wissenschaft und Philosophie ist historisch interessant, datg er in diesem Vortrag die in der kurz zuvor gehaltenen Antrittsvorlesung in Genf er6rterte Aufgabe der Reflexion der Wissenschaft auf sich selbst der Philosophie zuordnet. Die Frage, ob es neben der wissenschaftlichen Erkenntnis noch eine andere Erkenntnis der Wirklichkeit gebe, beantwortet er negativ, bzw. alles andere sei praktische Erkenntnis, d. i. Unterlage ki~nftiger wissenschaftlicher Erkenntnis, oder aber Pseudoerkenntnis; nur die wissenschaftliche Methode erlaube die Erforschung der Objektivit~it. Die philosophische Erkennmis betreffe nicht die Wirklichkeit oder das Sein, sondern das Denken, das die Wirklichkeit erkenne und das Sein beurteile. So tritt Piaget hier noch fiir eine kritische Erkenntnisfunktion der Philosophie ein: die als Faktum akzeptierte Wissenschaft zu erkl~iren durch Reflexion auf die Bedingungen der wissen- schaftlichen Tiitigkeit selbst. Diese kritische Idee sei korrelativ zum Fortschritt in den Wissenschaften unaufh6rlich vorangeschritten, von Platon zu Descar- tes, zu Berkeley, zu Kant und Brunschvicg, und man k6nne bez~iglich dieser fortschreitenden Reflexion des Denkens auf sich selbst von einer ,philosophia perennis' sprechen.

Gegen Mitre der dreiffiger Jahre beginnt eine unerh6rt fruchtbare Periode psychogenetischer Untersuchungen und theoretisch-epistemologischer Inter- pretation. Als eigentlicher Durchbruch in Richtung auf die Formulierung yon Piagets Theorie der Entwicklung der Intelligenz mut~ sicherlich, iibrigens auch nach seinem eigenen Zeugnis in der Autobiographie, die ihm damals in Zusammenarbeit mit A. Szeminska und B. Inhelder gelingende Erforschung der sog. konkreten Operationen, wie sie bei den vielfach variierten Experimen-

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Jean Piaget (1896-1980) 15 ten iiber Erhaltung (conservation) greifbar wurden, gelten. Sie stellen ein wesentliches Zwischenglied zwischen der sensomotorischen Intelligenz und friihen Ausbildung der semiotischen Funktion einerseits und der formalen (rein verbalen, propositionalen) Intelligenz andererseits dar. Es ist ausge- schlossen, hier auf die Fiille der in den einzelnen Untersuchungen gewonnenen Einsichten in die im Detail verfolgte Entwicklung der operativen Intelligenz durch die Kindheit bis ins Jugendalter einzugehen. Zu den wichtigsten experimentellen Ver6ffentlichungen miissen gez~hlt werden: La gen~se du hombre chez l' enfant, zusammen mit A. Szeminska (1941), Le d~veloppement des quantit~s chez l'enfant: conservation et atomisme, zusammen mit B.

Inhelder (1941), und Les notions de rnouvement et de vitesse chez l'enfant (1946).

Andererseits machte Piaget sich daran, die logischen Strukturen zu bestim- men, die den in den entwicklungspsychologischen Experimenten verfolgten, zunehmend komplexeren Denkoperationen zugrundeliegen, insbesondere die von ihm umgrenzte Gleichgewichtsstruktur der ,Gruppierung'. Bereits im Jahre 1937 erstattete er am Internationalen Psychologenkongrefl in Paris einen ersten Bericht iiber sein ,work in progress'. Im Jahre 1941 ver6ffentlichte er den wichtigen, groi~en Artikel ,,Le m&anisme du d&eloppement mental et les lois du groupement des operations. Esquisse d'une th~orie op~ratoire de l'intelligence" ; 1942 folgte die Schrift Classes, relations et hombre. Essai sur les groupements de la logistique et la r~versibilit~ de la pens~e.

Diese experimentellen und theoretischen Schriften bilden zweifelsohne eine der markantesten Etappen in Piagets Lebensweg. Die operative Theorie der Intelligenz erm6glichte es ihm, auch die friiheren Arbeiten zur Logik des Kindes, die unter dem Ha upttitel des ,Egozentrismus' standen, und sogar die ganz elementaren Formen sensomotorischer Intelligenz in eine vereinheitli- chende theoretisch-interpretative Sichtweise zu integrieren, in welcher der ,vorlogische' Egozentrismus bzw. die operative Gruppierung als die beiden Extreme der geistigen Entwicklung begriffen werden, die zueinander im Verh~iltnis der Umkehrung stehen" Die egozentrische Welt als Welt praktischer Gegenst~inde und unmittelbarer, auf die eigene momentane T~itigkeit bezoge- ner Eigenschaften ist ein System von Beziehungen, die nicht gruppiert werden k6nnen, die sich also durch die (sensomotorische und intuitive, voroperative) Irreversibilit~it, durch die Nicht-Gruppierbarkeit definieren l~if~t. Die Gruppie- rung psychologisch betrachtet, besteht hingegen gerade darin, dai~ die gleichen Gegenst~inde und Eigenschaften durch einen Akt der Dezentrierung koordi- niert werden, daf~ sie also vom Ich, welches sie momentan verbindet, losgel6st und miteinander durch ein reversibles und assoziatives System von Transfor- mationen verbunden werden, wobei die eigene Perspektive sich in die Gesamtheit der m6glichen Gesichtspunkte einordnet und nut noch die Rolle eines beweglichen Bestandteils unter anderen spielt. Die Gesetze der operati- ven Gruppierung sind nach Piaget zugleich Gleichgewichtsbedingungen fiir das Denken eines Individuums und Regeln oder Normen fi~r den sozialen Austausch auf einer neuen Gleichgewichtsebene der ,,Ko-operation". In einem Artikel von 1945 iiber ,,Les operations logiques et la vie sociale" ffihrt Piaget

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diesen ihm aufgrund der gerade erreichten operativen Interpretation der Logik des Kindes m/Sglich gewordenen Ansatz detaillierter durch, wobei er ihn ausdriicklich yon seinen ~ilteren Arbeiten iiber das individuelle oder soziale Wesen der Logik (cf. Durkheim, L6vy-Bruhl, Tarde) abhebt.

Der Entdeckung der logischen Struktur der operativen ,Gruppierung' als geschlossenem und reversiblem System, das Piaget als Widerspiegelung eines noch vorkiufigen, d. h. iiber sich selbst hinausdr~genden ,Gleichgewichtszu- standes' des werdenden logischen Denkens versteht, kommt m. E. im gr6fteren Zusammenhang seiner genetischen Epistemologie eine nicht zu untersch~it- zende Bedeutung zu. In der Tat war Piaget sich von fr/.ih an bewuftt, daft im Unterschied zur quantifizierenden Mathematisierung der physikalischen Natur die Ph~inomene der Biologie und der ihr zugeh6rigen Psychologie einer exakten, wissenschaftlichen Fassung zu entraten schienen. Bereits in seinem ,philosophischen Roman' Recherche (1918) stellte er lest, daft vor allem seit dem universalen Mathematismus Descartes' die Wissenschaft sich auf das Studium der Quantit~'t beschr~inkt habe. Ein Ph~omen sei fiir den Wissen- schaftler nur dann von Wert, wenn es meftbar sei. Biologie und Geisteswissen- schaften h~itten hingegen best~indig die Qualitiit in ihr Forschungsfeld eingefiihrt, allerdings mit dem Hintergedanken, es geschehe in Vorl~iufigkeit, und friiher oder sp~iter wiirde die Quantit~it die solcherart etablierten Gesetze verifizieren. Der junge Piaget ruft dann zur Einfiihrung einer ,,positiven Theorie der Qualit~it" auf, die nur ,,den Gleichgewichts- und Ungleichge- wichtsbeziehungen zwischen den Qualit~iten" Rechnung triJge, und man h~itte damit ,,eine ganze Wissenschaft des Lebens, sich begriindend auf den Ruinen der Metaphysik" !

Zu Beginn seiner ,,Esquisse d'une th6orie op6ratoire de l'intelligence" von 1941 (s. oben) gibt Piaget nun gerade derartigen Erw~igungen pr~izisen Ausdruck. Er stellt fest, die Psychologen h~itten oft die Hoffnung gehegt, die Gesetze des Verhaltens und sogar des Bewufttseins in einer mathematischen Form auszudriicken. Bislang habe die Messung psychologischer Tatsachen aber kaum die Stufe statistischer Gesetze iiberschritten. Solche ,Intelligenz- Skalen' wiirden aber nicht erlauben, die intellektuellen Operationen selbst, noch auch das Detail der Transformationen, die die Entwicklung als solche konstituieren, zu messen oder sie auch nut in ein analytisches Schema zu iibersetzen. Angesichts dieses Widerstandes der psychologischen Wirklichkei- ten gegen die mathematische Behandlung k6nne man sich fragen, ob der Grund nicht darin bestehe, daft sie eben, wenigstens hinsichtlich gewisser Aspekte, auf die metrische und numerische Quantifikation nicht riickfiihrbar seien. W~ire das der Fall, fiihrt Piaget welter aus, miiftte man sicher den Versuch wagen, diese qualitativen Aspekte der intellektuellen Entwicklung und der intellektuellen Operationen in der Sprache nicht mehr der Mathema- tik selbst, sondern jener anderen, strengen und heutzutage durch ihre technischen Fortschritte sehr geschmeidig gewordenen Axiomatik auszudriik- ken, die der lo&ische Kalkiil darstelle. In der Tat zeige das Beispiel der zeitgen6ssischen Mikrophysik, daft dort, wo Detailmessung fehlgehe, die Hilfsmittel der Mengenlehre oder der Topologie abstrakter R~iume und vor

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Jean Piaget (1896-1980) 17 allem der ,Operatoren'-Kalkiil eine Pr~izision erm6glichten, die dank theoreti- scher Kiihnheit gewonnen sei. So fragt Piaget: Weshalb also nicht, wenigstens auf dem Gebiet der Denkpsychologie, die operative Technik der (formalen) Logik anzuwenden versuchen, die an die allgemeinsten Teile der Mathematik erinnere und dabei doch auf dem qualitativen Terrain verbleibe, wo das Nicht- Mef~bare dieselbe Pr~izision erreiche wie das Numerische ?

Aufgrund seiner jiingsten Arbeiten iiber die Entwicklung des Zahlbegriffs und der physikalischen Quantit~iten sei er zur psychogenetisch leicht verifi- zierbaren Hypothese gelangt, dat~ die logische Gruppierung nicht allein die Wirkung, sondern die Ursache der Bildung der Operationen selbst konstitu- iere. Von da sei er zur allgemeinen Auffassung geleitet worden, dergem~if~ die intellektuelle Entwicklung insgesamt sehr wohl die Form einander sukzessive hervorbringender Gruppierungen annehmen k6nnte. Dies w~irde dann erlau- ben, diese Entwicklung zugleich empirisch, durch Beobachtung oder Experi- ment, und theoretisch, durch die formallogische Deduktion, die die axiomati- schen Modelle beibr~ichte, zu studieren. Als Einfiihrung in ein Forschungspro- gramm, und nicht etwa als ,vollendete Lehre', f/ihrt er dann die Frage nach der Beziehung zwischen den Gruppierungen und der Entwicklung der Intelligenz selbst n~iher aus. Er stellt als Hauptprobleme zur Diskussion die Aspekte des Gleichgewichts (als Frage nach den Faktoren, die die intellektuelle T~itigkeit zur Gruppierung iiberhaupt leiten) und der Transformation (als Frage nach den Faktoren, die die sukzessiven Gruppierungen miteinander verbinden). Er er6rtert auch ausfiihrlich die mit der Transformation zusammenh~ingenden Ph~inomene der vertikalen und horizontalen zeitlichen Verschiebung (d6ca- lage) im Erreichen der sukzessiven Gruppierungen oder Organisationsstufen.

Es scheint mir nun naheliegend, anzunehmen, dat~ Piaget sich dank dieses Durchbruchs eines - sp~iter mehrmals verfeinerten und vor allem auch expliziter auf den Bereich der formalen oder propositionalen Operationen, wie sie ab etwa 11 oder 12 Jahren in der Entwicklung der Kinder auftreten, ausgedehnten - logisch formalisierenden Modells der operativen T~itigkeiten zur Ausarbeitung einer systematisch konzipierten wissenschaftlichen geneti- schen Epistemologie vorbereiteter als je zuvor fiihlte. Jedenfalls f~illt auf, daf~

er sich schon in den ersten systematisierenden Kut~erungen zur Etablierung dieser seiner Epistemologie in den vierziger Jahren gegeni~ber friiheren Bestimmungen ihrer methodischen Verfassung gerade dank der neu erreichten operativen Theorie der Entwicklung der Intelligenz zuversichtlicher und auch pr~iziser ausdr~icken kann. So etwa in dem kleinen Artikel ,,Les trois conditions d'une 6pist~mologie scientifique" vom Jahre 1946. Wie schon friiher tritt Piaget hier fiir genau umgrenzte Problemstellungen ein, hier nun ausdriicklich zwecks Unabh~ingigkeit vonder Philosophie, wie dies in den Einzelwissenschaften vonder Mathematik bis zur experimentellen Psycholo- gie geschehen sei. Deshalb k6nne eine Epistemologie, die wissenschaftlich sein wolle, sich nicht damit begniigen, das zu allgemeine philosophische Problem ,Was ist Erkenntnis?' aufzunehmen. Der Gegenstand der Epistemologie sei vielmehr wie folgt zu definieren: ,,Wie nimmt die Erkenntnis zu? Oder genauer noch: Wie nehmen die Erkennmisse zu ? Anders gesagt, wie geht man

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in den verschiedenen v o n d e r Mathematik, Physik, Biologie und Psycho- Soziologie konstituierten Disziplinen von einem Zustand geringerer Erkennt- nis tiber zu einem Zustand fortgeschrittenerer Erkenntnis ?" Zur Erfiillung dieses Programms nennt Piaget dann folgende notwendigen Bedingungen" 1) schrittweise, historisch, die wirkliche Entwicklung der Erkenntnisse verfolgen, 2) formallogische Analyse der den deduktiven Disziplinen eigenen axiomati- schen Fundamente, und 3) genetische und psycho-soziologische Analyse. Er stellt dabei die psychogenetisch zu studierende Entwicklung hin zur operati- ven Reversibilit~it als einen der lehrreichsten Bereiche vom Gesichtspunkt der Zunahme der Erkenntnisse dar, da sie die Konstruktion der logischen Operationen selbst und nicht allein den Aufbau der Erfahrung umfasse. Stets unter Abstiitzung auf seine und seiner Mitarbeiter neuesten Untersuchungen, z. B. fiber den Zahlbegriff, den Raum, die Beziehung von Zeit und Geschwin- digkeit, Erhattungsprinzipien fiir Masse und Gewicht, die Begriffe yon Zufall und Wahrscheinlichkeit, die alle auch in Buchform erschienen (vgI. Bibli0gra- phie), zeigt er kurz an, wie die Psychologie fiir die wissenschaftliche Epistemologie dank der genetischen Analyse f6rderlich sein k6nne. Und er schlietk, in dem Mat~e, wie die wissenschaftliche Epistemologie sich fiir die wirkliche Begriffsbildung interessiere, k6nnte die historische Rekonstitution ihr ohne Erg~inzung durch eine stets weiter vorangetriebene psychogenetische Analyse nicht geniigen, und diese, weir enfernt, der formallogischen oder axiomatischen Analyse zu widersprechen, sei heute - eben dank seiner Theorie der operativen Gruppierung - im Gegenteil imstande, letztere mit den Operationen der Intelligenz selbst in ihrer Entwicklung zu koordinieren.

Kurze Zeit danach, im Jahre 1950, tegt Piaget dann die dreib~indige Introduction ~ l'dpist~mologie gdn~tique vor, das ,,Werk der Synthese", von dem er seit Beginn seiner Studien getr~iumt habe, wie er im 1950 verfal~ten Teil der Autobiographie berichtet. Es trifft sich, daft diese grofhngelegte Studie, die damals ebensosehr eine Art ,Schlutgstein' yon Piagets fiber praktisch dreit~ig Jahre - statt urspriinglich geplanter fiinf! - fortgefiihrten psychogenetischen Untersuchungen bildete (,,il 6tait temps de conclure...") wie eine zukunfts- tr~ichtige ,Programmschrift', zeitlich fast genau in die Mitte yon Piagets Forscherleben riel.

Bevor abschliei~end einige Hinweise auf die im Geiste dieser ,Einleitungs- schrift' durchgefiihrten Arbeiten des Centre International d'Epist6mologie G6n6tique, die Piaget in den letzten 25 Jahren wissenschaftlich wohl haupt- s~ichlich in Anspruch genommen hatten, folgen, soll diese Skizze des Lebens- werkes noch etwas vervollst~indigt werden beziiglich einiger noch vor der Griindung des Centre liegenden bzw. mit dem Centre nicht so unmittetbar zusammenh~ingenden Forschungsarbeiten, die m. E. vom Gesichtspunkt sei- ner operativen Theorie der Intelligenz bei aller Erweiterung des Forschungs- feldes eine h6chst eindriickliche theoretische Einheitlichkeit aufweisen. Frei- tich ist diese ,Trennung' innerhalb von Piagets Arbeiten bei einem Forscher yon seinem Schlage zum Tell wohI etwas kiinstlich ! Insbesondere betonte er ja z. B. fiber die Arbeit am Centre hinaus sehr stark die Rolle des ,teamwork' und der Interdisziplinarit~it seiner Forschungen insgesamt.

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Jean Piaget (1896-1980) 19 Im Jahre 1940 beim Tode E. Clapar~des iibernahm Piaget dessen Lehrstuhl fiir Psychologie und die Leitung des Laboratoriums f/Jr Psychologie in Genf.

Im Jahre 1938 war er iibrigens auch fiir Experimentalpsychologie und Soziologie nach Lausanne berufen worden. Zwischen 1952 und 1963 wird er an der Sorbonne in Paris tiber genetische Psychologie lesen. Am Laboratorium in Genf fiihrt er alsbald zusammen mit M. Lambercier umfangreiche Untersu- chungen iiber Wahrnehmung durch. Er studiert sie insbesondere in ihrem Verh~ilmis zu der von ihm bisher erforschten operativen Intelligenz, aber auch in Auseinandersetzung mit den Thesen der Gestaltpsychologie. Die Untersu- chungen erschienen zun~ichst nur als Zeitschriftenartikel, im Jahre 1961 dann zusammengefaf~t als Les m~canismes perceptifs in Buchform.

Aufgrund einer Vortragsreihe am Coll~ge de France, zu der er 1942 von H.

Pi~ron eingeladen worden war, verfaf~t er die kleine Schrift La Psychologie de l'intelligence, die 1947 erscheint. Sie stellt die erste Synthese der ,,im Fluf~

begriffenen Forschung" dar, n~imlich der ,,noch in ihren Anf~ingen" stecken- den ,,Erforschung der intellektuellen Mechanismen", wie sie seine operative Theorie an den Tag legte. Zusammen mit dem von ihm sp~iter mit B. Inhelder geschriebenen Biichlein La psychologie de l'enfant, das 1966 in der Taschen- buchserie ,,Que sais-je ?" erschien, bildet La psychologie de l'intelligence wohl die zug~inglichste und am besten geschriebene l~bersicht fiber seine psychoge- netischen Untersuchungen und Theorien, allerdings auf den damaligen Stand beschr~inkt.

Sp~iter untersuchte Piaget jahrelang zusammen mit B. Inhelder et al. auch die Entwicklung der sog. ,geistigen Bilder' (images mentales), und zwar nicht im Hinblick auf die ,sch6pferische Phantasie" verstanden, sondern wesentlich in der Verl~ingerung der friiheren Studien iiber die Wahrnehmungsmechanismen.

Im Mittelpunkt stehen also die Beziehungen zwischen den figurativen und operativen Aspekten der kognitiven Funktionen, die bildliche Vorstellung wird in ihrem Verh~iltnis zum Denken, zur Intelligenz im eigentlichen Sinne studiert. Zusammenfat~end erschien 1966 L'irnage mentale chez l'enfant. Uber Jahre hin wandte Piaget sich, ebenfalls vor allem mit B. Inhelder und H.

Sinclair, auch der Erforschung der ,Erinnerungsbilder' und des Gediichtnisses zu, und zwar haupts~ichlich in Hinsicht auf die Abh~ingigkeit oder Unabh~in- gigkeit vonder allgemeinen Schematik der Handlungen und Operationen. Die Untersuchungen bel6gten sehr detailliert die Interaktion zwischen Gediichtnis und operativer Intelligenz. Ferner unternahm Piaget auch hier Versuche, die Beziehungen zwischen figurativen und operativen Aspekten in der Strukturie- rung der Erinnerung zu bestimmen. Die Arbeiten erschienen 1968 unter dem Titel M~moire et Intelligence.

Zu erw~ihnen ist natiirlich auch die stark pers6nlich gef~irbte, polemisch vor allem in die akademische Situation Frankreichs hineinsprechende Schrift Sagesse et illusions de la philosophie von 1965. In ihr wird die beriihmt gewordene These ausgefiihrt, dat~ die Philosophie eines eigentlichen Wissens, ausgestattet mit den Garantien und Kontrollen, die dem entsprechen, was man ,Erkenntnis' nenne, nicht f~ihig sei und nur die Wissenschaft solche Erkennmis hervorbringe. Der Philosophie wird die Rolle verniinftiger Stellungnahme zur

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Totalit~it des Wirktichen, zum Sinn des menschlichen Lebens zugesprochen, was Piaget auch als die ,,Probleme der Wertkoordination" anspricht, die eben nicht zur Erkenntnis, sondern nur zu einer ,Weisheit' (sagesse) fi~hren k6nnen.

Im aufschiuisreichen Vorwort zur 2. Auflage nuanciert Piaget seine Hahung und ~iuisert sich dahin, dais die Philosophie dank ihrer reftexiven Methode Probteme stelle, sie aber mangels Verifikationsinstrumenten nicht 16sen k6nne.

Er sagt dort auch, was er selbst in der Tat von seiner philosophischen Ausbildung erhalten habe: nichts weniger n~imlich als die allgemeine Probte- matik der Arbeit, die er in der Folge habe leisten k6nnen. U n d e r betont als wesentlich die ,,Trilogie Reflexion x Deduktion x Experiment, deren erstes Glied die heuristische Funktion darstelle und die anderen beiden die kognitive Verifikation, die allein ,Wahrheit' hervorbringe".

Was nun die von Piaget geleiteten, im Jahre 1955 begonnenen Arbeiten des Centre International d'Epist~mologie G~ndtique in Genf betrifft, sei hervorge- hoben, dais Piaget mit diesem Centre nichts anderes als die konkrete Ausarbeitung seiner genetischen Epistemologie bezweckte. In dem lehrreichen sp~iteren Uberblick fiber seine Auffassung der Epistemologie im Abschnitt ,,Nature et M~thodes de l'Epist6mologie" des unter seiner Leitung entstande- nen reichhaltigen Bandes Logique et Connaissance Scientifique der Encyclopg- die de la Pl~iade yon 1967 weist Piaget darauf hin, dab - sozusagen institutionell - folgende zwei Bedingungen zur Verwirklichung der geneti- schen Epistemologie zu erffillen waren: 1) die systematische Organisation von Experimenten fiber die Bildung der haupts~ichlichen Begriffe und operativen Strukturen, die ffir die Wissenschaft yon Interesse seien, indem man deren Entwicklung yon der Kindheit bis ins Erwachsenenalter verfolge; 2) die systematische Zusammenarbeit der Psychologen, die sich dieser Untersuchun- gen ann~ihmen, mit den Logikern, den Mathematikern und den Spezialisten der technischen Anwendung der in Betracht gezogenen Begriffe. Er bezeichnet diese interdisziplindre Zusammenarbeit als unerl~iislich, um die genetische Analyse im allgemeinwissenschaftlichen und epistemologischen Zusammen- hang zu situieren. Es gelang ibm denn auch aufs eindrfictdichste, w~ihrend all der Jahre namhafteste Fachgelehrte der yon ihm bevorzugten Gebiete der Mathematik, Logik, Wissenschaftstheorie, Physik, Biologie und Psychologie zu echter Mitarbeit in Genf zu bewegen. Piaget unterstreicht in der genannten Ubersicht auch wieder sehr die notwendige Koordinierung bzw. Interdepen- denz der verschiedenen Methoden direkter, formalisierender, historisch- kritischer und genetischer Analyse. Ein anderer allgemeiner Gedanke yon zentraler Bedeutung fiir das Centre ist der des epistemologischen Konstrukti- vismus, und eines der Hauptziele daher der nicht nur kritische, sondern positive Nachweis, dais es sich bei den Erkennmisprozessen weder um eine Pr~formation im Objekte (Empirismus), noch um eine Pr~ormation im Subjekte (Apriorismus oder Inneismus) handeln k6nne.

So sind z. B. die ersten Arbeiten des Centre yon kritischen Auseinanderset- zungen mit dem logischen Positivismus oder Empirismus gepr~igt gewesen, Stellungnahmen zum Werke yon R. Carnap, zu den Beziehungen zwischen Logik und Sprache und vor allem zur umstrittenen Frage der analytischen und

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