Archiv "Ultima Thule: Sagenhafte Insel im hohen Norden" (21.02.1991)

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In Thingvellir tagte 930 das erste Parlament

Dt.

Ärztebl. 88, Heft 8, 21. Februar 1991

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Als im Winter 1783/84 in Süd-Island der Vulkan Laki ausbrach, förderten 130 Kra- ter über zwölf Milliarden Ku- bikmeter dünnflüssige Lava, die Flußtäler und Küstenebe- ne auf 565 Quadratkilometer überflutete: Es war bislang der größte Lavaausbruch in der Geschichte der Mensch- heit. Vieh und Weideflächen wurden durch die giftigen Vulkangase weiträumig ver- nichtet, Hunger und Krank- heit waren die Folgen: Für die Isländer war das Leben schon immer ein Kampf ums Überleben.

Dennoch lieben sie ihr Land wie kaum ein anderes Volk. Sie wissen, daß man in Island mit sich allein sein können muß. Das war seit der ersten Besiedlung so und gilt außerhalb von größeren Sied- lungen noch immer. Denn das Land bietet nur entlang der Küsten einen schmalen Strei- fen nutzbaren Landes. Ent- sprechend dünn ist die Be-

Ultima Thule

Sagenhafte Insel im hohen Norden

Das Leben in Island ist von besonderen Umständen ge- prägt: Rauhes Klima, kaum Wälder, und nur einen schmalen Küstenstreifen kann der Mensch als Lebens- raum nutzen. Das Landesinnere ist geprägt von weiten Wüsten, aktiven Vulkanen und reißenden Flüssen. Den- noch lockt die karge Insel im kühlen Norden mit einem besonderen Charme, denn der Charakter von Land und Mensch ist einzigartig.

siedlung, entsprechend ein- sam leben die Bauern.

Wikinger im Nord- Atlantik

Im 8. Jahrhundert began- nen die Wikinger ihren krie- gerischen Siegeszug durch Europa. Ihre hochseetüchti- gen Schiffe und ihre Navigati- onskunst erlaubten ihnen auch abenteuerliche Fahrten in den Nordatlantik, denn der

„leidarsteinn", ein Vorläufer des Kompasses, wies ihnen den Weg. Durch einen Sturm nach Island getrieben, ent- deckten Nadodur und Gardar Svarvasson 860 Island.

865 folgte Floki Vilgerdar- son ihren Spuren. Nach mehreren Fehlschlägen mußte er Island wieder verlassen, wor- auf er der Insel den Namen Eisland, „Island", gab.

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Der isländische Sommer ist sehr kurz

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Hrödmarsson waren die ersten, die ihre Heimat verlie- ßen, um in Island ein neues Leben zu beginnen Doch überließ es Ingölfur seinen Göttern, ihm den idealen Siedlungsplatz zu weisen.

Kurz bevor er Island 874 er- reichte, warf er seine Hoch- sitzsäulen, die in seinem Haus in Sogne neben seinem Eh- renplatz standen, in das Meer, und dort, wo die Göt- ter die Säulen ans Land trie- ben, sollte seine neue Heimat sein. Seine Sklaven fanden die Säulen 877 in einer Bucht im Südwesten der Insel. Über der Bucht lag der Dampf hei- ßer Quellen. Ingölfur nannte den Hof, den er hier errichte- te, Rauchbucht, „Reykjavik".

Er legte zugleich den Grund- stein der heutigen Haupt- stadt.

Während der Jahrzehnte der Landnahme bildeten sich politisch unabhängige Ge- meinden, deren Zusammen- arbeit und Verständigung zu- nächst auf regionale Ver- sammlungen - die Thingver- sammlungen - beschränkt blieb. Doch für die Zukunft der Siedler war es wichtig, ein landesweites Gremium zu bil- den, das eine gemeinsame Staatsform mit einheitlichen Gesetzen und allgemeingülti- ger Rechtsprechung garan- tierte. Für dieses Althing wählte man die Ebene am Ufer des Sees Thingvallavatn, wo sich die Abgeordneten 930 zum erstenmal versammelten und den unabhängigen Staat ausriefen.

Ältestes Parlament

Ein auf drei Jahre gewähl- ter Gesetzessprecher, der

„lögsögumadur", trug bei dem jährlichen Althing im Ju- ni jeweils ein Drittel der Ge- setze laut vor, denn eine schriftliche Fixierung der Rechte und Pflichten gab es noch nicht. Das Althing war aber vor allem ein vierzehntä- giges Volksfest. Auf der Thingebene am See, den Thingvellir, errichteten die Isländer Buden und vergnüg- ten sich mit Spielen, Ring- kämpfen, Gedichten, ^erzähl- ten sich Geschichten und die neuesten Nachrichten. Eltern verheirateten ihre Kinder, Familien verhandelten ihre Streitigkeiten. Mörder wurden für geächtet erklärt und Ehebrecherinnen in einem wassergefüllten Graben er- säuft.

Doch die neugewonnene Freiheit, die den Nährboden der reichhaltigen Literatur und Dichtung Islands bot, war bald verloren. Streitigkei- ten mit der römischen Kirche und Stammesfehden brachten der norwegischen Krone - die als Vermittlerin angerufen wurde - neuen Machteinfluß in Island. 1264 gaben die Is- länder dem Herrschaftsan- spruch nach, und Island wurde norwegische Kolonie.

Nun begann das schwarze Kapitel der isländischen Ge- schichte: Hungersnöte und Seuchen zogen übers Land.

Und nachdem Island 1380 an die dänische Krone gefallen

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Insel durch eine restriktive Handelspolitik unerträglich.

Als schließlich im Winter 1783/84 in Südisland auch noch der Vulkan Laki ausbrach, schien die Zukunft des Landes besiegelt. Mehr als die Hälfte der Rinder, über achtzig Prozent der Schafe und drei Viertel der Pferde verhungerten. Für die Men- schen wurden die Lebensbe- dingungen unerträglich: Der Hunger zwang die Menschen,

Haupterwerbsquelle: Fischfang sich von Ratten, Algen und Seetang zu ernähren. Nach- dem die Bevölkerung von 1784 bis 1786 um ein Fünftel auf 38 000 Menschen gesun- ken war, gab es in Dänemark Pläne, die Isländer in die Hei- den Jütlands umzusiedeln.

Doch bevor die Dänen Island aufgaben, besonnen sie sich eines besseren und lockerten 1788 die ruinöse Handelspoli- tik. Isländische Waren konnten von nun an zu vernünfti- gen Preisen verkauft werden, und mit dem Erlös konnten die Isländer dringend benö- tigte Waren vom Festland im- portieren.

Erst 1918 ging die däni- sche Vorherrschaft zu Ende, und am 17. Juni 1944 hatten sich die Isländer durch die Unabhängigkeitserklärung von ihrer Jahrhunderte dau- ernden Fremdherrschaft end- gültig losgesagt. Heute genie- ßen sie mit den höchsten Le- bensstandard der Welt, den sie sich durch Fischfang auf

Dt. Ärztebl. 88, Heft 8, 21.

stürmischer See hart erarbei- ten müssen. In den Jahren von 1950 bis 1965 machten Fisch und Fischprodukte über 90 Prozent der isländi- schen Exportgüter aus. Doch Dienstleistungen aller Art und andere Industrieproduk- te wie Diatomit, Zement, Ferro-Silizium, Woll- und Le- derwaren gewinnen immer mehr an Bedeutung. Beson- ders energieintensive Produk- te sind in Island günstig her- zustellen, denn an Energie mangelt es nicht.

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genommen. Das Magma im Vulkan heizt die Erdkruste so stark auf, daß hier immense Energiemengen zur Verfü- gung stehen. Doch im selben Jahr erwachte der Vulkan zu neuem Leben, nachdem er 246 Jahre nicht mehr aktiv war. Seit 1975 ergossen sich knapp ein Dutzend Lavaströ- me, haben aber bislang das Kraftwerk nicht unmittelbar bedroht. Aus 11 Bohrungen strömt der heiße Wasser- dampf durch isolierte Rohre zum Turbinenhaus. Der hohe Anteil an chemischen Be- standteilen zeigt deutlich, daß der Dampf nicht nur aus aufgeheiztem Grundwasser, sondern auch aus der Mag- makammer stammt, die hier in rund 4000 Meter Tiefe liegt.

Fernheizsystem

Weniger spektakulär ist die Gewinnung geothermaler Wärmeenergie außerhalb der aktiven Vulkanzone. Auf der Halbinsel Reykjanes (rau- chende Halbinsel), im Südwe- sten der Insel, wird die dünne Erdkruste durch das heiße Erdmantelgestein in wenigen tausend Meter Tiefe so stark aufgeheizt, daß in rund

1100

Meter Tiefe das Grundwasser eine Temperatur von 260 Grad Celsius erreicht. Durch konsequente Nutzung und Ausbau konnten die teueren Erdölimporte um gut 80 Pro- zent reduziert werden, was der schlechten Außenhan- delsbilanz zugute kommt.

Während der zwölfmonatigen Heizperiode bleiben den Is- ländern und ihrer Umwelt zu- dem noch 3800 Tonnen Schwefeldioxid, 1600 Tonnen Nitrogenverbindungen und 410 Tonnen Ruß und Asche erspart.

1939 begann man mit dem Bau der städtischen Heißwas- serversorgung, und heute sprudelt heißes Wasser vom modernen Fernheizsystem im Wohnbereich von 99 Prozent der 130 000 Menschen im Großraum Reykjavik — das ist die Hälfte der isländischen Bevölkerung.

Bananen am Polarkreis

Knapp 40 Kilometer öst- lich von Reykjavik liegt die kleine Stadt Hveragerdi („heißer Garten"). Ihre Ein- wohner verdienen sich ihren Lebensunterhalt ausschließ- lich mit ihren Gewächshäu- sern. Fast an jedem Haus liest man: „Frische Blumen" oder

„Gemüse-Verkauf". In lan- gen Glashallen geht man zwi- schen üppigem Blattgrün,

Unentbehrlich: Islandpferd und die schweren Gurken werden aus Platzgründen an ein kräftiges Gestell gebun- den. In den Glashäusern ne- benan gedeihen Paprika, Gummibäume, Kokospal- men, Usambara-Veilchen und vieles mehr. „Auf einer Ge- samtfläche von über 200 000 Quadratmetern ernten wir is- ländischen Gärtner", erzählt Markus, „etwa 2000 Tonnen frisches Gemüse: Gurken, Tomaten, Paprika, Aubergi- nen und so ziemlich alle übli- chen Gemüsesorten. Wir pro- duzieren billiger, als uns Im- portware im Winter kosten würde." Außerdem gedeihen unter dem schützenden Glas- dach ein paar Millionen Zier- pflanzen und zwei Millionen Bäume — meist Alaskapap- peln und Erlen, aber auch Nadelbäume, die vorher nie auf Island wuchsen. „Die Fußbodenheizung im Gemü- sebeet macht's eben mög- lich." Christof Hug-Fleck A-606 (104) Dt. Ärztebl. 88,