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Problem Typus Hallenkirche

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Academic year: 2022

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Problem Typus Hallenkirche

Stefan Bürger

I

Einführung

Der folgende Beitrag versucht aufzuzeigen, welche Probleme der Typusbegriff .Hallenkirche' bereitet,warumdiessoist und wie sichmöglicherweisemit diesen Problemen produktiv umgehen lässt.DieHauptüberschriftzudiesemBeitragist,wasdie Kern­ probleme anbelangt, zunächst wenig aussagekräftig. Schon durcheine unterschiedliche Interpunktion bzw. Zeichensetzung würde deutlich werden, dasssich das Problem durchmehrere Ebenenzieht, und es wird notwendig sein, diese Vielschichtig­

keitder Problemlagedarzustellen:

a) Problem? Typus.Hallenkirche'?

b)Problem: Typus .Hallenkirche' c) ,Problem-Typus'Hallenkirche d)Problem: ,Typus-Hallenkirche‘

Zunächst: a) Gibt es überhaupt ein Problem? Ja.Es gibtsogar mehrere. Dies solltedurch die syntaktischen Fokussierungen veranschaulicht werden,denn es ist notwendig,dieProblemlage zu differenzieren:

b) Durchdie Hervorhebungdes Problems im Typusbegriff .Hallenkirche' soll deutlich gemacht werden,dass zunächst die formspezifischen Aspekte als Kriterien desBautyps .Hallenkir­

che' imVordergrund stehen können.Die Bauwerke und ihre Räumemüssensich begrifflichklar erfassenlassen,umsieana­

lysieren, vergleichen und deuten zu können. EinProblemhier­

bei ist, dass sich die unglaublich unterschiedlichen Erschei­ nungsformen in einemBegriff,Hallenkirche'schwer fassen las­ sen bzw. unangemessen nivelliert werden. Manche Hallenkirche undBasilika stehen sich gestalterischnäheralszweiHallenkir­

chenzueinander.

c)Doch nicht nur gebaute Hallenkirchen als solche sindin ihren räumlich gestalteten Eigenarten schwer in einem Begriff zu fassen, sondern auchdie Aufbauleistungender architektur­

historischenForschung, d.h.diejeweilig zeitbedingte Art und Ausgestaltung der Typus- und Begriffsbildungsamt ihren zuge­ hörigen Kriterienund Denkgebäuden. Sokönnte dasThema

ebenso fokussiert unterdem Untertitel laufen: .Problem-Typus' Hallenkirche. Der Begriff .Hallenkirche' wäredabei nicht als Ka­

tegorie, alskunstgeschichtliches Werkzeug,sondern alsErgebnis einer historischen Kulturtechnikzu verstehen, samt ihren histo­ rischen Bedingungen und darausresultierenden Verwerfungen.

d) Daran anknüpfend ließe sich überlegen, zu welchenPro­

blemen die Entwicklungdes methodischen Instrumentariums und dieBegriffsbildung geführt haben.Welche Fehlentwicklun­

genim kunsthistorischen Diskurs führten zu welchenneuen Schwierigkeiten? Worin wurzeln unsere gegenwärtigen Proble­ me imUmgang mit den Hallenkirchenbauwerken?Am Ende lie­

ße sich fragen, warum man durch die fachspezifische Begriffs­

und Typusbildung und die stetigenormative Selbstvergewisse­

rung der Fachdisziplin das Problemder ,Typus-Hallenkirche‘ überhaupt erst hat entstehen und reifenlassen undwarumuns der Umgang entweder mit den Denkfiguren und/odermit den Hallenkirchenräumen heutegewisse Problemebereitet. Was be­

deutet es füruns, wennwirmit demDoppelbegriff operieren?

Wie gehen wir mitdenPositionenunddemSpannungsverhält­

nis zwischen dem architekturhistorischen Phänomen.Hallen­ kirche' und der kulturhistorischenKonstruktion .Hallenkirche' um? Aber auch: Was bedeutet esfür uns, wennwir heuteBegrif­

feund Denkmuster neu prägen? Sind wir dem historischen Be­ standoderdemgegenwärtigenInteressean Kultur(kampf) ver­ pflichtet?

Der Beitrag geht zunächstvom historischen Bestandaus. Eine Passage aus einem der gern benutzten Kirchenführer, dieoft für Besucherinnenund Besucher in den Kirchen ausliegen, soll exemplarisch als Einstiegdienen, umein erstes undernstesPro­

blem im Umgang mit Hallenkirchen aufzuzeigen. Ein Hallen­ kirchenraum wirdfolgendermaßen charakterisiert: Wer in einer derhinteren Bänke der Kirche Platz genommen hat, dem teilt sich eine besondereStimmung mit. (...) Die Betrachtungder Weite des Kirchenraumes und derHöhe der Gewölbe eröffnet eine Perspek­

tive für den Willen des Baumeisters, irdischeProportionen in Rich­ tung auf jenseitige Grenzenlosigkeit zu sprengen.Wurdedoch er­ sichtlicherweise der Gemeindebau aus dem Quadrat entwickelt, Originalveröffentlichung in: Stiegemann, Christoph (Hrsg.): Gotik : der Paderborner Dom und die Baukultur des 13. Jahrhunderts in Europa, Petersberg 2018, S. 312-325

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Abb. 1 I Ev. Wolfgangskirche in Schneeberg, Gewölbe

indem die überdrei Joche hin drei Felder von Hauptschiff und Ne­ benschiffen nahezu quadratisch sind. DadurchverliertderRaum seine Richtung undbewirkt ein Bewußtseinvon Grenzenlosigkeit.

(Gruna, Warendorf St. Laurentius, S. 6)

Das Problem tritt - wenn auch nur schemenhaft - hervor:

Der Charakterdes Kirchenraums wird nicht durch klareKrite­

rien bestimmt. Aufgrundäußerst weicher und unpräziserBe- grifflichkeiten entstehen keine scharfen Konturen, die den Raum alsTypus angemessen fassen.Stattdessen wird von Stimmung ge­

sprochen, von der WeitedesKirchenraumes,von einer Perspek­ tive, vom Willen des Baumeisters, von irdischenProportionen, von verlorenen Richtungen und Bewusstseinvon Grenzenlosig­

keit. Alle Begriffe sind unspezifisch undunkonkret. Sie sind im Gegenteil auffallend subjektiv unddamitfür jeden freiwählbar und formbar. Die zitierte Beschreibung, die gut zum Innenraum vonSt. Wolfgangin Schneeberg(Abb.1) zu passen scheint, wur­ de aber nicht für diese spätgotische erzgebirgische Hallenkirche verfasst, sondern für denInnenraum vonSt.Laurentius im west­

fälischenWarendorf(Abb. 2). Beide Hallenkirchen sind aber derart unterschiedlich, dassman am Aussagewert der Beschrei­

bungbzw. des Instrumentariums zweifeln muss. Dochworan

liegt das? Anscheinend lassen sichbestimmteBeschreibungs­ muster jedem x-beliebigenHallenraumanpassen,obwohl sie of­ fensichtlichgravierende Unterschiede inder Raumdisposition undRaumwirkung aufweisen. Dassdies nicht nur ein Problem ist, was den Schreibstilder Autoren,die künstlerischeFreiheitals Literaten, betrifft,sondern maßgeblich vom Raumtypus .Hallen­ kirche* mitverursacht wird, darum soll es im Folgenden gehen.

II Zur

Beschreibung des Problems

Das Problemtritt offenzuTage,wennTexte wieLexika-Artikel hinzugenommen werden, die zurAufgabe haben, den Typusbe- griffzu schärfen und die zugehörigen Aspekte präzisedarzustel­ len. Doch dadurch,dass keine gesonderte Betrachtung des ar­

chitekturhistorischenPhänomens .Hallenkirche* undder kultur­

historischen Konstruktion .Hallenkirche* erfolgt, kommtes zu systembedingten Unschärfen und Folgefehlern.

Im Lexikon der Kunst wird die Hallenkirche folgendermaßen definiert: Die Hallenkircheist eine Raumformdes mittelalterl. Kir­

chenbaus, bei der - im Gegensatz zurBasilika -Mittelschiffe und

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Abb. 2 I Kath. Pfarrkirche St. Laurentius in Warendorf, Kirchenschiff Richtung Orgelempore

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Seitenschiffe gleiche Höhe habenund untereinem gemeinsamen Dachzusammengefasst werden. (Lexikon der Kunst 1996, S. 101)

Und Ähnliches ist im Internet bei Wikipedia zu lesen:Die Hallenkirche ist ein Bau typeiner Kirche, der durch die Gestalt des Langhauses gekennzeichnet ist.Dessen Schiffe sindvon gleicher oder annähernd gleicher Höhe und meist untereinem gemeinsa­ menSatteldachvereinigt. Im Unterschiedzur Basilika hatdie Hal­

lenkirche keinen Obergaden.Neben der Saalkirche,der Basilika unddem Zentralbau bildet dieser Bautyp einen der Grundtypen des christlichenKirchenbaus. (Wikipedia, Hallenkirche)

Deutlich wird also dieHallenkirchealsBautyp- als Typus - herausgestellt, und so wirder auch in der Lehre vermittelt. Die Hallenkirche gilt- mit großemdidaktischemErfolg - mithin als eine der Grund-und Modellformen des Sakralbausund fasst ei­ negrößere Gruppe vonGebäuden durchfolgendeHauptkrite­

rienzusammen:Die Gestalt eines LanghausesmitSchiffenvon annähernd gleicher Höhe, wasa) dazu führt,dass sich der längs gerichtete Raum von Zentralbauten unterscheiden muss, b) ein solchesLanghauseine Mehrschiffigkeit in Abgrenzung zur Saal­

kirche voraussetzt und c) der Raum keinen Obergaden imMit­

telschiffin Abgrenzung zurBasilika aufweisen kann. Jedoch nur dieser letztgenannte Unterschied zur Basilika alsdemälteren Bautyp wirdmit besonderer Schärfe herausgestellt. Weniger deutlich herausgearbeitet werden dieUnterschiede zu Saalbau­

ten oderZentralbauten.

Schon diesesProblem scheint in denLexika-Einträgendeut­

lich auf. ImLexikon der Kunstheißt es wieschon erwähnt: Die Hallenkircheist eineRaumform desmittelalter! Kirchenbaus,bei der - imGegensatzzur Basilika - Mittelschiffeund Seitenschiffe gleiche Höhe haben und unter einem gemeinsamenDach zusam­

mengefasst werden.

Basilika und Hallenkirche gelten alsoals Typus und Antity­ pus.Und weiter: DieHalletendiertzumEinheitsraum, dersich gleichmäßig nach allenSeitenausdehnt.(Dieseund folgende Zi­ tate: Lexikon der Kunst 1996, S. 101-102) Das bedeutet: Eine Halle tendiert- anders als eine Basilika? - aufgrunddieserra­ dialenWirkunganscheinendimmer auch zu einemZentralbau.

Weiterhin:Vom Typ her sind langgestreckte H(allenkirche)n, die dadurch das Langhausals,viasacra akzentuieren, von Kurzhal­ len zu unterscheiden, die einen saalartigeinheitl.Rechteckraum bilden,bei demdie Pfeiler keinenWandcharakter mehr haben, sondernnurnoch die Gewölbe tragen.(...).

Das bedeutetoffenbar, dass eine Hallenkirche - immer auch? -große Affinität zu Saalkirchen aufweisen kann. Weiter:

Den Hallencharakter durchgängig als stark profan undim Unter­ schied zurBasilika stadtbürgerlich demokratisch orientiert zucha­

rakterisieren, läßt sich so absolut nichtmehraufrechterhalten, we­

der von der Genesis der H(allenkirche) nochvom Gebrauch durch unterschied!soziale Kräfte her.

Hier wird das Typus-Antitypus-Verhältnis vonBasilika und Hallenkirchenicht mehr nur aufformaler, sondern architektur­ historisch insbesondere durch Wilhelm Lübke eingeführt auch auf architekturikonologischer Ebene begründet (Lübke1853, S.37) und aufgrund der jüngeren Forschungzugleich wieder dekon- struiert. Bischofbzw. Klerus und Bürger werden als Gegenspie­

lerzwar aufgestellt,aber sogleich wieder vom Spielfeld genom­

men. Und: Auch dieGestalt- und Raumqualität differieren be­

trächtlich.

Hier stellt sich dann allerdings einegrundsätzliche Frage: Ist es dennsinnvoll, Hallenräume,dieoffenbar sobeträchtliche Un­

terschiede aufweisen können, überhaupt unter einem Typusbe- griffzusammenzufassen?

Und weiterheißtes imLexikonartikel:Weder ist Hallenkir­ che) =H(allenkirche), noch kann in zahlreichen Fällen von einem Einheitsraumim engeren Sinn gesprochenwerden, raumtrennende Bauformen sindzu beachten.

Das wirft unweigerlich neue Fragen auf: Inwelchen Fällen kannüberhaupt voneinem (idealerweise richtungslosen) Ein­

heitsraum gesprochen werden (Nußbaum/Lepsky 1999,S. 159)?

Ist es überhaupt sinnvoll, von Einheitsräumen zusprechen?Ist der,Einheitsraum überhaupt als Unterkategorie des Typus Hal­

lenkirchegeeignet und welches wären dannandereKategorien?

ImLexikon folgt nun: Richtig hingegen ist zweifellos,daß die H(allenkirche) bes(ondere) Bedeutung in der Spätgotikin Deutsch­ land erlangt hat, v. a. alsStadtpfarrkirche. (...).

Bedeutet dies, wennhier das Richtigebetontwird, dass das Bisherige falsch oder zu relativieren ist bzw. dieWissenschaft inder Vergangenheit nicht aufdem richtigen Weg war? Jeden­

fallsmehren sich die Zweifel mitzunehmender Erläuterung des SachverhaltsundimVerlauf des Lexikoneintrags:Auchfür die verschiedenen Varianten der spätgot(ischen) H(allenkirche) ist diejeweilige Spannungzwischen Raumvereinheitlichung und raumtrennenden Elementen zu beachten, letztere wurdenin der Forschung lange Zeitaus eher ideologischen Gründen übersehen.

(...)•

Bedeutet das,dassdieEntstehungund der Gebrauch des Ty- pusbegriffs .Hallenkirche“nur einProblemälterer Generationen war,dassunsereAltvorderen diesverschuldet habenundunsere latente Unsicherheit heutelediglich wissenschaftsgeschichtlich auf romantischen Vorstellungen, aufnationalen Aneignungen unddem ideologischen Missbrauch von fehlgeleiteten Erkennt­

nissenfrühererForschergenerationen beruht?

AmEnde heißtes: DerreinsteHallensaal in der obersächs- (ischen) Entwicklung wurde St. WolfganginSchneeberg(1515 beg.) durch ein flaches, segmentbogenhaftes Polygondes Chores (4/16-Schluß) und die vierseitigeUmgangsempore, mit Gleichheit aller Raumteileundeinemweitgehenden Ausgleich von Horizon­ taleund Vertikale.

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316 STEFAN BÜRGER

Doch worauf beruht ein solch scheinbar präzises Urteil?

Welches sind denn die Maßstäbe, mit denen St. Wolfgangin Schneebergund andereHallenkirchen überhaupt verglichen und bemessen werden können,um einsolches Urteil fällenzu können? Die wohl wichtigste Aussage des zitierten Artikels für die Problemdiskussionist:(...)fürdie verschiedenen Varianten der spätgot(ischen) H(allenkirche) ist diejeweilige Spannung zwi­

schenRaumvereinheitlichung undraumtrennendenElementenzu beachten (...)!

Es muss also Variantengeben, und es ist notwendig,be­

stimmte Kriterien an Hallenkirchenanzulegen, um diese Vari­ antenüberhaupt als Gruppe zu erkennen und zugleich nach Kri­ terien wiederumzu unterteilen und adäquat zubeschreiben.

Wiewären danndie Varianten typologischherauszuarbeiten und als Unterkategorien der Hallenkirche begrifflich zu fassen?

III Thesen

und Vorüberlegungen

Eine Hallenkirche ist nicht bloß eine bzw. die räumlicheAlter­

nativezurBasilika. Ihre Existenz wird auch nichtdurch einen architektonischen und/oderhistorischenGegensatzund damit durcheinantithetisches Spannungsverhältnis zur Basilikabe­

gründet (Kat. Marburg1983,S. 28; Nußbaum 1985, S. 125; Hel­

ten 2014b,S. 84), sondern ließe sich ebenso aus einemVerhältnis zu Saalkirchen oderZentralbauten ableiten (Nußbaum 1994, S. 87; vgl. zurDifferenzierung bereitsFink 1934, S.2-67). Dies würde zu drei Unterkategorien führen:1. basilikalwirkende Hal­

lenkirchen (zudieser Gruppe gehören die Staffel- bzw. Stufen­

hallen);2. saalartige Hallen (häufig werden bereits derBegriff Einheitsraum oder der hybride Begriff ,Hallensaal‘ verwendet, um dieseKategorie zuerfassen); 3. zentralisierte bzw.zentrali­ sierende Hallenräume.

Doch warumwurde derTypusHallenkirchevon derBasilika ausgehendabgeleitet und bestimmt? Von der Raumform her ge­

dacht sindes die Gemeinsamkeiten: dieLongitudinalität und die Mehrschiffigkeit (Fink 1934, S. 67). DochGemeinsamkeiten sind ungeeignet,zwei Typen voneinander zu scheiden.So wird folgerichtigauf die Unterschiede, das Fehlen einer gestaffelten Raumhöhe, das Fehlendes Obergadensund damitdas Fehlen der direkten Beleuchtung des Mittelschiffs hingewiesen.Doch kannnur das Fehlen vonetwaseinenneuen,andersartigen Wert darstellen und einen neuen Typus ausmachen? DieseFehlstellen wurden gewissermaßen kulturgeschichtlich gefüllt, dennes wur­

de behauptet, die Hallenkirche sei einst ein (antibasilikales) Ge­

staltungsziel gewesen, seiquasimit derAbsicht entwickelt wor­

den, umim Verlauf der Gotikmit der Hallenkirche eine neue, typische Raumform einzuführen - ebenim bewussten Gegen­ satz zu den Basiliken. Aufgrund dieser Behauptung taugtedie

Hallenkircheals typologischer Gegenspieler im Kulturkampf zwischen Frankreich undDeutschland umdienationale Vor­

herrschaft in bestimmten Epochen der KulturEuropas. Ganz unsinnig wurden dann Formtypenmit Funktionstypen und Epochenbegriffen amalgamiert und die ,Hallengotik‘ bzw.

.Deutsche Sondergotik“ alsgenuin deutscher Protagonist gegen die ,Kathedralgotik“ französischer Herkunft ins Feldgeführt (sie­

heEssay Niehr). Als einer der wichtigsten Feldherren in diesem KulturkampfmussKurt Gerstenberggelten (Gerstenberg, Deut­ sche Sondergotik; vgl.Helten 2014b, S. 87).

Gerstenberg formte und konditioniertedieHallenkircheals neuen Typus mit entsprechender Gesinnung(vgl.Bürger 2017a, S. 20-29). Hinsichtlich der Andersartigkeit derHallenkirche konstatierteGerstenberg unterschiedliche Formen,die sich als Raum-Bewegung ausdrücken.Diesbezüglich beschrieb er neue Bewegungseindrückeder Spätgotik, insbesondere die Halle als .Einheitsraum,deren Entstehung erauf gesellschaftliche Impulse zurückführteund so als unmittelbare Ausdrucksform innerhalb einer national geprägten Formentwicklung aufschließen konnte.

Gerstenberg schilderte „diesevermeintliche Entwicklungals ein Nachlassen der Tiefenbewegung der Schiffeund deren Ver­

schmelzung zubewegungsdurchzogenen Breitenräumen, in de­

nenvöllige Richtungsfreiheit herrscht.Schon Gerstenberg ver­ bandden .Einheitsraum mit dem Aufkommender Predigeror­

den und ihremAnliegen, fürihre Zuhörerschaft weite und mög­

lichst ungeteilte Räumezu schaffen, in denen die Kanzelweithin sichtbarund das Wort des Predigers überall zu vernehmen war.

Weil dieser Raumtypvom Bürgertum für seine Stadtkirchen übernommen worden sei, hieltGerstenberg dieHallen der deut­

schen .Sondergotik“ für Ausdrucksformen einerbürgerlichen Architektur.“ (Nußbaum 1985,S.124f.) Formal gehörten dazu das Verlassen des reinen Vertikalismusund das Nachlassen der intensiven Tiefenbewegung (Gerstenberg, Deutsche Sondergo­ tik, S.22f.).Vor dem Hintergrunddieser Gefühlslagen sei die Hallenkirche derfolgerichtige Raumausdruck im Unterschied bzw. in der Abkehr von Basiliken.Insofern ging er vom Subjek­ tiven aus, um Konsequenzen fürdie - objektiv unterscheidbaren - Architekturgestaltungen abzuleiten.Gerstenberg forderte dies­ bezüglich: Erst muß dargelegt werden, wiesich die gotischen For­

menanschauungen lockern, ehe von dem überdas Gotische hi­ nausgehenden Wesen dieser Räume gesprochen werden kann.

(Gerstenberg, DeutscheSondergotik, S. 23)

Tatsächlich lockerte sich aber imHallenkirchenkonzept das Korsettder Grund-und Aufrissbezüge. An Gerstenbergs ver­ meintlich objektiver Kategorieder,Bewegung“ lässt sichdiesskiz­ zieren: Das Ablegen der basilikalen Kräftekäfige, also derfehlen­ dekonstruktive Zwang,die Gewölbeschübeder hohen Mittel­ schiffe über die Seitenschiffe hinwegnach außen ableitenzu müs­ sen, bewirkte in den Hallenkirchen eine neue Gestaltungs- und

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.Bewegungsfreiheit“.Diesem konstruktiven Zwang unterlagen Hallenkirchennicht (mehr), denn vor allemdennachaußen ge­ richtetenSeitenschüben der Mittelschiffe wirkten u. a. die nach innen gerichteten Schübeder Seitenschiffe entgegen, sodass sich Kräfte aufhoben. Diese Kraftrichtungen und deren formverbin­ dende bzw. formverbindliche Strukturen verlorenindenHallen­

räumen an Bedeutung. Dies bewirkteeineneue Freiheit,sodass in Hallenkirchen anstelle der basilikalenTiefenbewegung als Konsequenz undAufhebungvieler unterschiedlich gerichteter Kräfte nichtbloß.Bewegungslosigkeit“ trat, sondern ebeneine Vielfalt neuer Bewegungsmöglichkeiten undWirkungen.

Diese neue Freiheit erlaubte dabei in bestimmten Grenzen dieArtikulation sehr unterschiedlicher Raumrichtungen und verschieden starkerRichtungskonsequenzen,die sich medial nutzenund sozial aushandeln ließen. Anstelledominanter Ver­

tikal- undLongitudinaldominanten warendiverse Raum- und Formausrichtungen, Raumachsen undRaumfolgen möglich, wobei sich nur im(völlig überflüssigen) Verrechnen ihrer Rich­ tungenund Stärken die .Gesamtgeschwindigkeit“ verringerte.

Dabei fieldenalternativenGestaltungsaspekten in der Vertika­

len, Horizontalen und Longitudinalen eine neueAussagekraft imGesamtspektrumder Formensprache zu.

Diesedurch Formenzu gestaltenden und durch Wahrneh­ mung lesbaren .Bewegungen“ wurden zum Mittel (und für die objektivierende Wissenschaft zum Kriterium), um in spätgoti­

schen Räumen Sinnzusammenhängein ihren räumlichen und zeitlichen Dimensionenneu zu ordnen- und dies differenzier­

ter, als esbislang möglich gewesenwar. Die räumlichen und zeit­

lichen Ordnungen dienten dabei als Träger biblischer undwelt­ licher, heilsgeschichtlicher und historischer Positionenund Nar­

rative. AuchsozialeKonstellationenwie Stand und dynastische Historiografien, gewachsene Legitimationen und neuausgerich­

tete Argumentationen vonRecht und Ordnungin innerweltli­

chen(Repräsentation) und jenseitig ausgerichteten (Memoria) Sozialordnungen ließen sich abbilden, räumlich verkörpern und vermitteln, stabilisierenund verändern.

D. h. für dieKonstitution undVisualisierungvon Inhalten stelltdie .Bewegung“ eine Art Träger und Transmitter dar, der das AusgangssignaleinesWertesbzw. stellvertretenden Symbols ausrichten unddamit die Bedeutung verstärkenkann. Dem Be­ trachterdientdiese .Bewegung“ als Schwingung, alsSignal,was dann nicht nurgefühltalsTeileinerGesamtfeldspannung,son­

dern konkret mitseinen Einzelspannungen wahrgenommen und dechiffriertwerden muss. „Sogab es eine breite Diskussion über Raum- und Schiffsgrenzenin der Sakralarchitektur des Mittelalters, dieFrage, wieund worin sich Architekturtypen wie Halle und Basilika unterschieden,(auch) ob es Zitate über Grundrisse und architektursystematische Gliederungsformen gab u. a. m. (...).“ (Schenkluhn 2014, S.189)

IV Probleme

Undhierliegt das Problem. Bisher werden spätgotische Hallen ohne festeKriterien, manchmal nur subjektiv hinsichtlichihrer Form- und Raumwirkungen, Bewegungsintensitäten und Raumrichtungen beschriebenoder erfühlt. Jeder Autorscheint sich aufgrund der räumlichenGestaltungsfreiheit literarischfrei zufühlen, einen Kirchenraum nach Beliebenals weitund licht, himmlisch undgrenzenloszu beschreiben. DerBegriff .Hallen­

kirche“dient in den Narrativen als fachspezifischerAktant, als Trägervon Stimmungen, zur Projektionvon Formwertungen, umeine emotional aufgeladene, bestenfallsspannendeBeschrei­

bungandieetablierte wissenschaftliche Terminologiezurück­ zubinden.

Das Problem besteht -konkret bezogenauf das Kriterium .Bewegung“ - darin, dass nicht der Raum in Bewegung istoder Bewegung verkörpert. Ein zunächst zeitunabhängiger dreidi­ mensionalerRaum hat selbst keineGeschwindigkeit und kann keineGeschwindigkeitausdrücken. Was denRaum auszeichnen kann, sind Formen alsSehangebote,die den Betrachter derart ansprechen,dass sie ihnin Bewegung versetzen.Betrachter kön­ nensich dann angeleitet durch den Raum verschieden schnell in unterschiedliche Richtungen bewegen -körperlich und men­

tal (Bürger 2017a). Zeitwirddabei vergehen.Und dadurch wird der Faktor ,Zeit“einmaßgeblicher Bestandteil derRaumbeschaf­ fenheit von Hallenkirchen, nämlichweilsich bestimmte Quali­

täten erst inbesonderem Maße im Bewegungsvorgang offenba­

ren. Jedeunabdingbar zeitabhängige Bewegung beruht aufeiner schnellenoder gemäßigterenAbfolge von Reizenund Sinnes- eindrücken, die als QualitätendenObjekteninnewohnen und erst dann im Betrachter Gefühle und Denkprozesse auslösen.

Wenn solche Qualitäten prägnante Muster ausbilden,dannsoll­

tensie auch zuobjektiven Kriterien werden.

Doch istes überhaupt möglichund sinnvoll, einenreinen Formtypusmit solchen subjektiven bzw. zeitabhängigen Aspek­

tenzu beschreiben?Nein, es ist nicht möglich: Ein Typus als fes­ te architektonische bzw. architekturhistorische Kategorie muss durch harte Kriterienbeschriebenwerden. D. h. eine Hallenkir­ che verfügt 1.über mehrere Schiffe vongleicher oder annähernd gleicher Höhe und hat 2. im Unterschied zur Basilikakeinen Obergaden. Diese Kriterien erfassenzwarden Typus, beschrei­ ben ihnaber nicht. Wer .Hallenkirche“ sagt, weist also lediglich daraufhin,dasseine Hallenkirche eben keineBasilika, auchkei­ ne Saalkirche und kein Zentralbauist. Die Hallenkirche alsTy­

puszubenennen reicht nichtaus, denndieser Typus selbstist nur ein kleinstergemeinsamer Nenner für diverse Raumformen, deren Unterschiede viel größer ausfallen können als zwischen mancher Basilika und Hallenkirche.MitdemBegriff.Hallenkir­

che“ wird ein Bauwerk in Abgrenzung ,zu etwas“ beschrieben,

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318 STEFAN BÜRGER

aber nicht,vonetwas1, es werden keineKriterien benannt,die die Charakteristika derRaumformen selbst betreffen. Weralso .Hal­

lenkirche sagt, stehtimmerin der Verantwortung, die räumlichen Qualitäten genauer zu beschreiben, denn es ist wie oben erwähnt wesentlich, (...)für dieverschiedenenVarianten der spätgot(ischen) H(allenkirchen) die jeweilige Spannung zwischen Raumvereinheit­

lichung und raumtrennenden Elementen zu beachten'.

Und hier liegt einweiteres Problem verborgen:Denn wie der Passusbereits formuliert, gehtes bei .Vereinheitlichungen und .Trennungen nicht um konkrete Positionen. Es geht vielmehr umdie .Spannungen dazwischen, die alsformsprachliche, d. h.

kommunikative AngeboteinStärke und Ausrichtung graduell sehr unterschiedlich beschaffen sein können, bzw.subjektiv un­

terschiedlich gesehenund interpretiertwerden können.Dieser Umstand machtes objektiv unmöglich, innerhalb desTypus .Hallenkirche“ klareUnterkategorien festzulegen, denn der Ty­

pus wird im Unterschiedzu allen anderenBautypendurcheine erheblicheMöglichkeitsvielfalt bestimmt (deren Spektrum sich noch einmal erheblich verbreitert,wenn Ausstattungen alspri­

märe, raumkonstitutive Elemente berücksichtigt würden).Soist es denkbar(und wird ja zumTeil schon praktiziert),mit.basili­

ka-affinen Hallenkirchen, .saalartigen Einheitsräumeri und .zentrierten Hallenkirchen“ein Feldaufzuspannen, denen sich die jeweiligen Räumejedoch nur ingewisser Weise zuordnen ließen. Eine verbindliche, eben nichtnursubjektiv erfühlte Ver- ortung ist jedoch nur möglich, wenn der Raum Schritt für Schritt nachfesten Regeln analysiert wird,also dieStrategie der Wahrnehmung, Beschreibung und Bewertungfesten, überprüf­ baren Kriterien folgt.

V

Lösungen

1. DieersteLösung isteinfach. Wir machen soweiter wie bisher.

Wir haltenan dergewachsenen Unterscheidung vonHallenkir­

chen und Basilikenfest,weildies kulturhistorisch ein spannen­ derBefundistunddieseralsDiskursgegenstand auch fürkom­

mende Generationen von Interesse sein dürfte.Wir halten auch daran fest, weil es gegenwärtigdidaktischsinnvoll und fach­

sprachlich einfach ist, mitdiesen Begriffenzuoperieren. Wir verwenden die Begriffe aber imBewusstsein, dass a) sie aufpro­

blematischen Entstehungsumständenberuhen,b)sie im Um­ gang als Typusbegriffespezifische Probleme aufweisen und c) die Bautypen alternativexistierten und mit ihnen keine gegen­ sätzlichen Positionen manifestiert werden sollten.Und d) wir vor allemim Begriff .Hallenkirche“ eine doppelte Begriffsver­ wendungveranschlagen müssen:die .Hallenkirche“als Begriff, um eine architektonische Bau- und Raumform zu beschreiben, und als Narrativ, als .deutsche, sondergotische Meistererzäh­

lung“,dielehrreich zeigt, wie sich miteinem kunsthistorischen Begriff Geschichte schreiben undfolgenschwer verfälschen ließ.

2. Die zweite Lösung des Problems istebenfallseinfach, um­ schifft aberdas Problem auf der methodischen EbenedesTy- pusbegriffs: Wir könntenunsdarauf verständigen, dassdie .Hal­ lenkirche“gar keinwerthaltiger Bautyp ist,weilsichderRaum­

typus nichtvon festen Kriterien ableitet und weildie Diversität eine exakte Bestimmbarkeit ausschließt. Der Begriff .Hallenkir­

che“ wäre dann kulturgeschichtlich komplett entschärftund schlicht als pragmatische, sinnbefreite Formelfür eine architek­

tonische Lösung zu verstehen: einegroße, im Prinzip unspezifi­ sche Hausform mit Stützenreihen,dieetwa ähnlich hohe Decken tragen. Das Prägende dieser Hausform istes, dass sie große Spielräume besitzt, Innenräume zu ordnen und zu gestalten.Die Hallenkirchesteht als schlichte Hausform denSaalkirchen nahe, welche dann ebenfallskeinen eigentlichen Typus,sondern ledig­ licheinepraktikableBauformmit vergleichsweise geringenDi­

mensionendarstellen würde. Hallenkirchensind dann im Un­ terschied zuSaalkirchen eine Bauwerksform mit hohemPlatz­ angebot. Die unterteilenden Pfeilerstellungen im Innerenwur­

den konstruktivbenötigt, umdiegroßen Dachwerke undDe­

cken zu tragen. Jenach Konstruktionsart konntedies zuunter­

schiedlichenäußeren Erscheinungsbildern und inneren Raum­

ordnungen führen bzw. geführt werden (Huyer 2014,S. 16-28).

DieRaumformen wurden von der Art und Weisebestimmt, wie dieDachlasten abgeleitet wurden, wiedie Dachentwässerungen erfolgten und wiedann womöglich außenmit oder ohne Giebel besondere Schauseiten herausgearbeitet und im Inneren die bestmöglichenSichtbeziehungen zumHauptaltar und optimale Verhältnisse hinsichtlich der Beleuchtungund Akustikerreicht wurden.Diesbezüglichkann gemutmaßt werden, dass die zu­ nehmende Schaufrömmigkeitseit dem13. Jahrhundertdieser Bau- und Raumformenormen Vorschub leistete(siehe Vertie­

fungstext Hoeps, Eucharistiefrömmigkeit, Kap. V).

DieHallenkirche wäregestalterischalsschlicht und funktio­

nal, als nützlich, als kostengünstigund dadurch ökonomisch sinnvoll (Nußbaum/Lepsky 1999, S. 159), typologischund ar- chitekturikonologisch aber zunächst als.sinnfrei“zu betrachten.

Lediglich die Größe und ihre enorme Gestaltungs- und Bewe­ gungsfreiheit waren für diese Bauform typisch. Die Bauform selbst dienteinerster Linie nicht dazu, historisch den Typus .Kirche“ abzubilden, Sozialgemeinschaften wie .Deutschland“

oder.Bürgertum“zu verkörpern oder heilsgeschichtlich Sinnbil­ der wie,Haus Gottes“ oder.Himmlisches Jerusalem zu sein.Der ,sinnfreieri Struktur ließensich aber solche Bedeutungen durch zusätzlicheGestaltungen durchausapplizieren: Außen und in­

nen ließen sich durchTürme, Schaugiebel,Strebe-oder Wand­

pfeiler, Maßwerkfenster,Emporen usw.differenteWirkungen und Bedeutungen erzeugen. Dochsolchesekundären Elemente

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Abb. 3 I Dom zu Meißen, Mittelschiff mit kräftig gegliederten Pfeilern, die wie in Basiliken die Seitenschiffe stark abgrenzen

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320 STEFAN BÜRGER

Abb. 4 I Dom zu Freiberg, Innenansicht, arkadentoses Langhaus mit raumvereinheitlichendem Gewölbe und einfassender Empore

und Aspekte sindallesamtnicht typischund damit auch nicht typusbestimmend, sondern lokal und historisch (räumlich und zeitlich) spezifisch.

3. Die dritte Lösung des Problems ist weniger einfach:Wir müssten unsdarauf verständigen, nicht nur .Hallenkirche“ als Typus und damit per se als werthaltiges, gestalterisches Ziel zu fokussieren, sondern davon ausgehen, dass die Wahl dieser räumlichflexiblenbzw. begrifflich fluidenBauform der gestal­ terische Ausgangspunkt ,vohbzw. ,füretwas“war. Damit wäre dieForderung verbunden, sich jeweils Zeit zu nehmen, um mit ausführlicheren Beschreibungen-ebenfesten Kriterien folgend -genau jene raumspezifischen .Spannungen“ unddamitall jene Möglichkeiten aufzuzeigen, wie Räume und Grenzen die Bewe­ gungen im Raum zielführend ordnen, wiedabeidie.Bewegung“ und damit dynamische Betrachtungsformen und soder Faktor .Zeit“ inden Räumenverarbeitet wurde,indem nacheinander die Beschaffenheit1. der Joche,2. der Jochgrenzen,3. der Raum­ teile und 4. der entstehendenRaumrichtungen beschrieben wer­ den.Was ist gemeint? Ingetrennten SchrittenmüssenGrund­ riss, Aufriss und Gewölbeuntersucht werden. Getrenntdeshalb, weil spätestens seitPeterParlersRaumschöpfungen der zweiten

Hälfte des 14. Jahrhunderts diverse Möglichkeitenbestanden, diese dreiEbenen des Raumes -natürlich im Rahmen des kon­

struktiv Möglichen - getrennt voneinander zu gestalten (zur Be­

deutung der GewölbeMundt1959, S. 129).

Um einen Kirchenraumexakt zubeschreiben,müsste fol­ genden Fragennachgegangen werden:Wiesind beispielsweise die Dispositionen vonMittelschiff und Seitenschiffen beschaf­ fen; auch in ihrem Verhältnis zu den Dachkonstruktionen und Außenwirkungen? Welche Jochgrößenund-formate sind imIn­

neren angelegtworden, um den Raum zuformen? Die Heraus­ forderung dabeiist,dass sichjedeBeschreibung zunächstaufdas Eigene, das Eigenartige und nicht das Typische bzw.das Typen­

bildendekonzentrieren muss. Danach wäre der Aufrisszu erklä­ ren: Wie sind die Pfeiler,Wände und Fenster, die Kämpfer- und Auflagerformen und insbesondere auch die Gestaltung der Scheidbögen entlang derArkaden und der Schildbögen entlang der Wandfluchten beschaffen? Zuletzt wärendie modellierenden Qualitäten der Gewölbe darzustellen: Weisen dieJochezentrie­

rende, sternförmigeFigurationen auf oder sind sie schiffsweise oder raumweitvernetzendwirksam? Wie ist das Verhältnis der Wölbjoche zuden Raumjochen, werden RaumteilewieSchiffe

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Abb. 5 I Marktkirche in Halle (Saale), Mittelschiff, Gewölbe mit hängendem Schlussstein im Bereich der Kanzel

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322 STEFAN BÜRGER

betontoderunterdrückt, wiesinddieJochgrenzen bzw. Jochver­ netzungen und damit Raumvereinheitlichungenausgeformt?

Wenn wiruns diese Zeit nehmenund uns hinsichtlich der vier Kriterien - Joche, Jochgrenzen, Raumteile undRaumrich­

tungen - Klarheit verschaffen, werdenwirkonzisere Wertungen vornehmen können. Dafürwären 1.die Joche in ihrer Dimen­ sionierung zu erfassen.Dabei sollte deutlich gemacht werden, ob 2. dietrennenden bzw. verschleifenden Gestaltungen der Jochgrenzen diese Dispositionen derJoche unterstützenoder bereits Spannungenerzeugen: Neigen die Jochformatezu einer Vereinheitlichung undwird dies durcheine entsprechende Auf­

riss- undJochgrenzengestaltung befördert? Danach lässt sich klar benennen,ob 3. in konsequenter Weise oder nur graduell bestimmte Raumteilezu Einheitenverbundenwerden.Zuletzt wäre 4. zu untersuchen,ob es durch die Ausgestaltung vonOrten bzw. räumlichenAkzentuierungen imRaumSehangebote gibt, die diesen Räumenbzw. Raumteilen eine Richtungverleihen.

Besonders markant werden innerhalb des Hallenkirchen­

spektrumsbestimmte Raum(unter)typenausgeformt, wenn die einzelnengestalterischen Wirkungen des Grundrisses, Aufrisses und GewölbesimRaumdirekt miteinanderkorrespondieren und einer gemeinsamen Gestaltungsabsichtverpflichtet sind.

Modellhaft wärendiesbezüglich für die drei benannten Unter­ gruppen folgende Kriterien zu veranschlagen:Bei,basilika-affi­

nenHallenkirchenwirken hohe Joche,dichte Jochgrenzen, lon­ gitudinale Raumteile mit konsequenten Raumrichtungen auf denChorals Raumzentrum hin (Abb. 3). Diesgeschieht vor al­ lem durch die Gestaltung der Binnenarchitekturmit raumkon­ stituierenden Pfeilerformen und Dienstsystemen (vgl. z.B. Meu- che 1971,S. 175). Eine klar gerichteteAxialität alsEinheit von Wegund Ziel wären für diesen Typus maßgeblich.Die räumli­

che Peripheriewirdim Gegenzug marginalisiert. In ,saalartigen Einheitsräumen wird in umgekehrter Weise die Peripherie be­ tont(Abb.4). Diesbedeutet, dassdie Raumeinfassung raumkon­ stitutiv wirkt und als SehangeboteineStreuung der Achsen und Wege ermöglicht. Bedeutsam ist, dass gestalterisch aufdie RaumschaleWert gelegtwurde. Für die Raumwirkung ist die be­ sondere Rolle der Fenster bzw. desLichteinfalls zu berücksich­ tigen. ,Saalartige Einheitsräume1beruhenauf demZusammen­

wirken materieller und immaterieller Raumqualitäten.Injedem Fall wird die trennende Wirkung der Binnenarchitektur, also der Freipfeiler und Arkaden, unterdrückt.Wichtig ist, dass trotz konstruktiv notwendiger Binnenarchitekturen, dieunweigerlich trennend wirken, ein einheitlicher Raum entstehen sollte. Die Raumorientierung istzumeist unspezifisch, d.h. nachallen Sei­

ten und Richtungen wirkend, eher zentrifugal nach außenge­

richtet oder gar richtungslos (Nußbaum 1994,S. 127-128). In­

nerhalb dieserEinheitsräume sind dieRichtungen gewisserma­ ßenfrei(eigentlich im Unterschied zu richtungslos), dadurch

freiverhandelbar und nutzbar.Wird durch die Architekturim Inneren solcherEinheitsräume einbau- oderbildkünstlerischer Akzent gesetzt, kommt es zu lokalen Zentrierungen. Dabei kön­

nen zentrierte Raumteile,bei konsequenter Gestaltung auch ,zentrierteHallenkirchen entstehen, insbesondere dann, wenn dierelevanten Architekturaspekte von Grundriss, Aufrissund Gewölbe hinsichtlich dieser Zentrierung zusammenspielen. Bei­ spielsweiseließen sich so in Mittelschiffenneue liturgische Zen­

tren ausformen(Abb.5). Weist einRaum mehrere Akzentuierun­

gen und Zentrenauf, könnenin den Einheitsräumen diffuse oder besserpolyfokale Raumwirkungen und -richtungenerzeugt wer­

den,die dann zu reizvollen, charakteristischen Raumspannungen führen und dem Bauwerk zu eigen sind (Abb. 6).

Für dieHallenkirchen insgesamt ist charakteristisch, dass diese Unterkategorienin dergebauten Wirklichkeitniemals in Reinform auftreten.DasVorhandensein von liturgischen Orten und Lichtwirkungen führt in den Räumen unweigerlichzu einer Mitwirkungvon gerichteten, trennendenodervereinheitlichen­ denRaumqualitäten (Abb. 7).DieArchitektur der Hallenräume istdahingehend zubefragen, auf welche Art und Weisesie zu ei­

nerOrdnung dieseransonsten gestreuten Richtungen und dif­ fusen Wirkungenbeitragen.

VI Hallenkirche

und Basilika

Würde man vor diesem Hintergrund eine Typusunterscheidung zwischen .Hallenkirche“ und .Basilika“ erzwingen wollen, dann wäre darauf hinzuwirken, dass dieUnterscheidbarkeit nicht auf derreinformalen Beschaffenheit des Baukörpersund ihrer Bau­

gliederberuht, sondernauf der Konzeptionalität der Raumkör­

per. Als Voraussetzungwäre zuunterstellen, dassauf der einen Seite die Basiliken an sich etwasverkörpern, typisch für die sa­

krale Raumideedes .Himmlischen Jerusalem und/oder die sa­ kramentale Raumform einer durchgestalteten ,via sacra“ zum Al­ tar. Hallenkirchen sind dagegenbesser geeignet,etwas zu er­ möglichen, zu transzendieren und zusakralisieren,was über die Bedeutung derBauform als Symbol hinausgeht.Dies beruht wo­ möglichdarauf, dass dieHallenkirchen, die von vornhereindie Akteure(Trinität, Heilige, Geistliche, Laien) alsraumkonstitu­ ierende Aktanten stärker einbeziehenkönnen, eben nichtnur das Heilige verkörpern undvermitteln,sondernauchvonund für die Laien als Hörer undalsBetrachterausgehend, Teilhabe ermöglichen. HinsichtlichderTeilhabe-und Rezeptionsbedin­ gungenwäre zu konstatieren, dass die Hallenkirchen über grö­

ßere architektonischeOrdnungspotentiale verfügen,ummittels materieller Gliederungen und immaterieller (Licht-)Inszenie- rungenSeh- und Bewegungsvorgänge zu erzeugenund auszu­ gestalten, diesich deutlich von basilikalen, dadurch zumeist

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Abb. 6 I Ev. Stadtkirche St. Michael in Jena, Kirchenschiff mit sterngewölbtem Doppeljoch und zentralem Himmelsloch

kanalisiertenRäumen unterscheiden. Denn in Hallenkirchen lassen sich außen wie innenzahlreiche (bildmäßige) Raumein­

drücke - d. h. Bild- undBetrachterräume - konstituieren. Und durch die Möglichkeiten der physischen undmetaphysischen Bewegungen in diesenRäumenkönnen sichzudemdieseBe­

trachterräume auch noch inikonischeHandlungsräume mit neuen Formen der Inszenierung und Teilhabe verwandeln(Bür­

ger2017b). Diese multiplen Möglichkeiten derInszenierung wä­

ren als Leistungsfähigkeit zu verstehen, .multiple Bewegungen in denRäumenzu initiieren und auszugestalten.Die .Bewegung1 wäreentsprechend als raumspezifischer Ausdruck bzw. als rau­ mimmanente Dimension von .Zeit1 unddamitalswomöglich ty- pusbestimmendes Kriteriumzu verstehen. Dies würde am Ende wohl bedeuten,dass sich Hallenkirchen von Basiliken in derArt ihrer Betrachtung - also hinsichtlich ihrer Rezeptionsbedingun­

gen und derenAnforderungen an dieBeschreibung - unter­

scheiden lassen. Damit wäre allerdings eine Verschiebung des Typusbegriffs von einer architektonischen Kategorie hinzu ei­

nem Instrument der rezeptionsästhetisch-ikonischen Klassifi­ zierung verbunden.

VII Fazit und Schluss

Dennoch:Diese ordnenden Möglichkeiten,mit zielführenden - inszenierenden und ikonischen - Mitteln äußerst eigensinnige, partizipative Raumspannungenzu erzeugen, warenbedeutsam, denn sie ließensichfür gemeinschaftliche und individuelle Par­ tizipationnutzbarmachen.Die Vielfältigkeit derHallenkirchen als Ausdruck leistungsstarkerKommunikationsfähigkeit be-

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324 STEFAN BÜRGER

Abb. 7 I Kath. Stadt- und Marktpfarrkirche Sankt Lamberti in Münster, trennende und/oder verbindende Qualitäten der Pfeilerformen, Scheidbögen und Gewölbe­

lösungen

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gründetewohl einerseitsden Erfolg dieses Typus, zum anderen bereitete dieses vielfältige Sprachvermögen den Grund, um höchst individuelle Raumlösungen zu erschaffen,die es uns heu­

te so schwer machen, Hallenkirchenmiteinem Wort als ,Typus“ zu fassen. Doch dieser in höchstem Maße raumimmanente In­

dividualismusist es auch, der die Hallenkirchensoüberaus in­ teressant macht, der verhindert,dass sich die Räume nach einem festen Schema ordnen,rezipierenund interpretierenlassen. Für dasarchitekturhistorische Werkzeugder Bautypologieistdies zweifellos von Nachteil. DennfürdiesenTypus ist geradezu ty­

pisch,dasser sich einerklaren, regelrechten Typologie entzieht.

Wenn wir aber die Formennicht nur nutzen, um dieBau­

werkestilistisch und typologisch bestimmtenGruppen, Zeiten, Regionen oder Personen zuzuordnen, sondern die Formen nach ihren Spannungsverhältnissen im Raum befragen und zugleich unterstellen,dassdiese Wirkungen beabsichtigt sind, dannwäre es vielleicht möglich, Muster innerhalb dieserräumlichenVer­

hältnisse als Interaktions- und Kommunikationsangebote für denBetrachter zu erkennen,die typisch ,füretwas“ sind und da­ mitals historisch bedeutsam.Füreine Hallenkircheist im Un­

terschied zur Basilika der Betrachter bzw. dessen Bewegung und

Wahrnehmung als Motorund Generatorvon Raumwirkungen und deren Bedeutungenzweifellosvon größerer Wichtigkeit.

Für eine raumikonologischeEbene oder gar eine raumsoziolo­

gische Betrachtung, um ggf. über die Motiveder Bauwerke auf die Motivationenihrer Schöpfer schließen zu können, stellen die Raumlösungen zweifellos einen reichen Quellenschatz dar, den es erst noch zu heben,auszuwerten und zu systematisieren gilt.

Wir sollten zwei Dingeaber nicht tun: Zum einensollten wir nicht versuchen, invorschnellerWeise diesen Typus auf wenige harteKriterienzubegrenzenunddadurchzumNachteil zu be­

schneiden,undzum anderen solltenwir auch nicht ingut ge­ meinter Weise diespezifischen Prägungen dieses Typusinsub­

jektiven Stimmungsbildernaufweichen. In den diesbezüglichen Gefühlsbegriffen und Metaphern würde sich derTypus Hallen­

kirche unweigerlich auflösen, verflüchtigen und amEnde voll­ kommen unbegreiflich und unbrauchbar werden.

Quellen: Gerstenberg, Deutsche Sondergotik; Gruna, Warendorf St. Laurentius;

Lexikon der Kunst 1996; Wikipedia, Hallenkirche

Literatur: Bürger 2017a; Bürger 2017b; Fink 1934; Helten 2014b; Huyer 2014; Kat.

Marburg 1983; Lübke 1853; Meuche 1971; Mundt 1959; Nußbaum 1985; Nuß­

baum 1994; Nußbaum/Lepsky 1999; Schenkluhn 2014

Referenzen

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