Problem Typus Hallenkirche
Stefan Bürger
I
Einführung
Der folgende Beitrag versucht aufzuzeigen, welche Probleme der Typusbegriff .Hallenkirche' bereitet,warumdiessoist und wie sichmöglicherweisemit diesen Problemen produktiv umgehen lässt.DieHauptüberschriftzudiesemBeitragist,wasdie Kern probleme anbelangt, zunächst wenig aussagekräftig. Schon durcheine unterschiedliche Interpunktion bzw. Zeichensetzung würde deutlich werden, dasssich das Problem durchmehrere Ebenenzieht, und es wird notwendig sein, diese Vielschichtig
keitder Problemlagedarzustellen:
a) Problem? Typus.Hallenkirche'?
b)Problem: Typus .Hallenkirche' c) ,Problem-Typus'Hallenkirche d)Problem: ,Typus-Hallenkirche‘
Zunächst: a) Gibt es überhaupt ein Problem? Ja.Es gibtsogar mehrere. Dies solltedurch die syntaktischen Fokussierungen veranschaulicht werden,denn es ist notwendig,dieProblemlage zu differenzieren:
b) Durchdie Hervorhebungdes Problems im Typusbegriff .Hallenkirche' soll deutlich gemacht werden,dass zunächst die formspezifischen Aspekte als Kriterien desBautyps .Hallenkir
che' imVordergrund stehen können.Die Bauwerke und ihre Räumemüssensich begrifflichklar erfassenlassen,umsieana
lysieren, vergleichen und deuten zu können. EinProblemhier
bei ist, dass sich die unglaublich unterschiedlichen Erschei nungsformen in einemBegriff,Hallenkirche'schwer fassen las sen bzw. unangemessen nivelliert werden. Manche Hallenkirche undBasilika stehen sich gestalterischnäheralszweiHallenkir
chenzueinander.
c)Doch nicht nur gebaute Hallenkirchen als solche sindin ihren räumlich gestalteten Eigenarten schwer in einem Begriff zu fassen, sondern auchdie Aufbauleistungender architektur
historischenForschung, d.h.diejeweilig zeitbedingte Art und Ausgestaltung der Typus- und Begriffsbildungsamt ihren zuge hörigen Kriterienund Denkgebäuden. Sokönnte dasThema
ebenso fokussiert unterdem Untertitel laufen: .Problem-Typus' Hallenkirche. Der Begriff .Hallenkirche' wäredabei nicht als Ka
tegorie, alskunstgeschichtliches Werkzeug,sondern alsErgebnis einer historischen Kulturtechnikzu verstehen, samt ihren histo rischen Bedingungen und darausresultierenden Verwerfungen.
d) Daran anknüpfend ließe sich überlegen, zu welchenPro
blemen die Entwicklungdes methodischen Instrumentariums und dieBegriffsbildung geführt haben.Welche Fehlentwicklun
genim kunsthistorischen Diskurs führten zu welchenneuen Schwierigkeiten? Worin wurzeln unsere gegenwärtigen Proble me imUmgang mit den Hallenkirchenbauwerken?Am Ende lie
ße sich fragen, warum man durch die fachspezifische Begriffs
und Typusbildung und die stetigenormative Selbstvergewisse
rung der Fachdisziplin das Problemder ,Typus-Hallenkirche‘ überhaupt erst hat entstehen und reifenlassen undwarumuns der Umgang entweder mit den Denkfiguren und/odermit den Hallenkirchenräumen heutegewisse Problemebereitet. Was be
deutet es füruns, wennwirmit demDoppelbegriff operieren?
Wie gehen wir mitdenPositionenunddemSpannungsverhält
nis zwischen dem architekturhistorischen Phänomen.Hallen kirche' und der kulturhistorischenKonstruktion .Hallenkirche' um? Aber auch: Was bedeutet esfür uns, wennwir heuteBegrif
feund Denkmuster neu prägen? Sind wir dem historischen Be standoderdemgegenwärtigenInteressean Kultur(kampf) ver pflichtet?
Der Beitrag geht zunächstvom historischen Bestandaus. Eine Passage aus einem der gern benutzten Kirchenführer, dieoft für Besucherinnenund Besucher in den Kirchen ausliegen, soll exemplarisch als Einstiegdienen, umein erstes undernstesPro
blem im Umgang mit Hallenkirchen aufzuzeigen. Ein Hallen kirchenraum wirdfolgendermaßen charakterisiert: Wer in einer derhinteren Bänke der Kirche Platz genommen hat, dem teilt sich eine besondereStimmung mit. (...) Die Betrachtungder Weite des Kirchenraumes und derHöhe der Gewölbe eröffnet eine Perspek
tive für den Willen des Baumeisters, irdischeProportionen in Rich tung auf jenseitige Grenzenlosigkeit zu sprengen.Wurdedoch er sichtlicherweise der Gemeindebau aus dem Quadrat entwickelt, Originalveröffentlichung in: Stiegemann, Christoph (Hrsg.): Gotik : der Paderborner Dom und die Baukultur des 13. Jahrhunderts in Europa, Petersberg 2018, S. 312-325
Abb. 1 I Ev. Wolfgangskirche in Schneeberg, Gewölbe
indem die überdrei Joche hin drei Felder von Hauptschiff und Ne benschiffen nahezu quadratisch sind. DadurchverliertderRaum seine Richtung undbewirkt ein Bewußtseinvon Grenzenlosigkeit.
(Gruna, Warendorf St. Laurentius, S. 6)
Das Problem tritt - wenn auch nur schemenhaft - hervor:
Der Charakterdes Kirchenraums wird nicht durch klareKrite
rien bestimmt. Aufgrundäußerst weicher und unpräziserBe- grifflichkeiten entstehen keine scharfen Konturen, die den Raum alsTypus angemessen fassen.Stattdessen wird von Stimmung ge
sprochen, von der WeitedesKirchenraumes,von einer Perspek tive, vom Willen des Baumeisters, von irdischenProportionen, von verlorenen Richtungen und Bewusstseinvon Grenzenlosig
keit. Alle Begriffe sind unspezifisch undunkonkret. Sie sind im Gegenteil auffallend subjektiv unddamitfür jeden freiwählbar und formbar. Die zitierte Beschreibung, die gut zum Innenraum vonSt. Wolfgangin Schneeberg(Abb.1) zu passen scheint, wur de aber nicht für diese spätgotische erzgebirgische Hallenkirche verfasst, sondern für denInnenraum vonSt.Laurentius im west
fälischenWarendorf(Abb. 2). Beide Hallenkirchen sind aber derart unterschiedlich, dassman am Aussagewert der Beschrei
bungbzw. des Instrumentariums zweifeln muss. Dochworan
liegt das? Anscheinend lassen sichbestimmteBeschreibungs muster jedem x-beliebigenHallenraumanpassen,obwohl sie of fensichtlichgravierende Unterschiede inder Raumdisposition undRaumwirkung aufweisen. Dassdies nicht nur ein Problem ist, was den Schreibstilder Autoren,die künstlerischeFreiheitals Literaten, betrifft,sondern maßgeblich vom Raumtypus .Hallen kirche* mitverursacht wird, darum soll es im Folgenden gehen.
II Zur
Beschreibung des ProblemsDas Problemtritt offenzuTage,wennTexte wieLexika-Artikel hinzugenommen werden, die zurAufgabe haben, den Typusbe- griffzu schärfen und die zugehörigen Aspekte präzisedarzustel len. Doch dadurch,dass keine gesonderte Betrachtung des ar
chitekturhistorischenPhänomens .Hallenkirche* undder kultur
historischen Konstruktion .Hallenkirche* erfolgt, kommtes zu systembedingten Unschärfen und Folgefehlern.
Im Lexikon der Kunst wird die Hallenkirche folgendermaßen definiert: Die Hallenkircheist eine Raumformdes mittelalterl. Kir
chenbaus, bei der - im Gegensatz zurBasilika -Mittelschiffe und
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Abb. 2 I Kath. Pfarrkirche St. Laurentius in Warendorf, Kirchenschiff Richtung Orgelempore
Seitenschiffe gleiche Höhe habenund untereinem gemeinsamen Dachzusammengefasst werden. (Lexikon der Kunst 1996, S. 101)
Und Ähnliches ist im Internet bei Wikipedia zu lesen:Die Hallenkirche ist ein Bau typeiner Kirche, der durch die Gestalt des Langhauses gekennzeichnet ist.Dessen Schiffe sindvon gleicher oder annähernd gleicher Höhe und meist untereinem gemeinsa menSatteldachvereinigt. Im Unterschiedzur Basilika hatdie Hal
lenkirche keinen Obergaden.Neben der Saalkirche,der Basilika unddem Zentralbau bildet dieser Bautyp einen der Grundtypen des christlichenKirchenbaus. (Wikipedia, Hallenkirche)
Deutlich wird also dieHallenkirchealsBautyp- als Typus - herausgestellt, und so wirder auch in der Lehre vermittelt. Die Hallenkirche gilt- mit großemdidaktischemErfolg - mithin als eine der Grund-und Modellformen des Sakralbausund fasst ei negrößere Gruppe vonGebäuden durchfolgendeHauptkrite
rienzusammen:Die Gestalt eines LanghausesmitSchiffenvon annähernd gleicher Höhe, wasa) dazu führt,dass sich der längs gerichtete Raum von Zentralbauten unterscheiden muss, b) ein solchesLanghauseine Mehrschiffigkeit in Abgrenzung zur Saal
kirche voraussetzt und c) der Raum keinen Obergaden imMit
telschiffin Abgrenzung zurBasilika aufweisen kann. Jedoch nur dieser letztgenannte Unterschied zur Basilika alsdemälteren Bautyp wirdmit besonderer Schärfe herausgestellt. Weniger deutlich herausgearbeitet werden dieUnterschiede zu Saalbau
ten oderZentralbauten.
Schon diesesProblem scheint in denLexika-Einträgendeut
lich auf. ImLexikon der Kunstheißt es wieschon erwähnt: Die Hallenkircheist eineRaumform desmittelalter! Kirchenbaus,bei der - imGegensatzzur Basilika - Mittelschiffeund Seitenschiffe gleiche Höhe haben und unter einem gemeinsamenDach zusam
mengefasst werden.
Basilika und Hallenkirche gelten alsoals Typus und Antity pus.Und weiter: DieHalletendiertzumEinheitsraum, dersich gleichmäßig nach allenSeitenausdehnt.(Dieseund folgende Zi tate: Lexikon der Kunst 1996, S. 101-102) Das bedeutet: Eine Halle tendiert- anders als eine Basilika? - aufgrunddieserra dialenWirkunganscheinendimmer auch zu einemZentralbau.
Weiterhin:Vom Typ her sind langgestreckte H(allenkirche)n, die dadurch das Langhausals,viasacra akzentuieren, von Kurzhal len zu unterscheiden, die einen saalartigeinheitl.Rechteckraum bilden,bei demdie Pfeiler keinenWandcharakter mehr haben, sondernnurnoch die Gewölbe tragen.(...).
Das bedeutetoffenbar, dass eine Hallenkirche - immer auch? -große Affinität zu Saalkirchen aufweisen kann. Weiter:
Den Hallencharakter durchgängig als stark profan undim Unter schied zurBasilika stadtbürgerlich demokratisch orientiert zucha
rakterisieren, läßt sich so absolut nichtmehraufrechterhalten, we
der von der Genesis der H(allenkirche) nochvom Gebrauch durch unterschied!soziale Kräfte her.
Hier wird das Typus-Antitypus-Verhältnis vonBasilika und Hallenkirchenicht mehr nur aufformaler, sondern architektur historisch insbesondere durch Wilhelm Lübke eingeführt auch auf architekturikonologischer Ebene begründet (Lübke1853, S.37) und aufgrund der jüngeren Forschungzugleich wieder dekon- struiert. Bischofbzw. Klerus und Bürger werden als Gegenspie
lerzwar aufgestellt,aber sogleich wieder vom Spielfeld genom
men. Und: Auch dieGestalt- und Raumqualität differieren be
trächtlich.
Hier stellt sich dann allerdings einegrundsätzliche Frage: Ist es dennsinnvoll, Hallenräume,dieoffenbar sobeträchtliche Un
terschiede aufweisen können, überhaupt unter einem Typusbe- griffzusammenzufassen?
Und weiterheißtes imLexikonartikel:Weder ist Hallenkir che) =H(allenkirche), noch kann in zahlreichen Fällen von einem Einheitsraumim engeren Sinn gesprochenwerden, raumtrennende Bauformen sindzu beachten.
Das wirft unweigerlich neue Fragen auf: Inwelchen Fällen kannüberhaupt voneinem (idealerweise richtungslosen) Ein
heitsraum gesprochen werden (Nußbaum/Lepsky 1999,S. 159)?
Ist es überhaupt sinnvoll, von Einheitsräumen zusprechen?Ist der,Einheitsraum überhaupt als Unterkategorie des Typus Hal
lenkirchegeeignet und welches wären dannandereKategorien?
ImLexikon folgt nun: Richtig hingegen ist zweifellos,daß die H(allenkirche) bes(ondere) Bedeutung in der Spätgotikin Deutsch land erlangt hat, v. a. alsStadtpfarrkirche. (...).
Bedeutet dies, wennhier das Richtigebetontwird, dass das Bisherige falsch oder zu relativieren ist bzw. dieWissenschaft inder Vergangenheit nicht aufdem richtigen Weg war? Jeden
fallsmehren sich die Zweifel mitzunehmender Erläuterung des SachverhaltsundimVerlauf des Lexikoneintrags:Auchfür die verschiedenen Varianten der spätgot(ischen) H(allenkirche) ist diejeweilige Spannungzwischen Raumvereinheitlichung und raumtrennenden Elementen zu beachten, letztere wurdenin der Forschung lange Zeitaus eher ideologischen Gründen übersehen.
(...)•
Bedeutet das,dassdieEntstehungund der Gebrauch des Ty- pusbegriffs .Hallenkirche“nur einProblemälterer Generationen war,dassunsereAltvorderen diesverschuldet habenundunsere latente Unsicherheit heutelediglich wissenschaftsgeschichtlich auf romantischen Vorstellungen, aufnationalen Aneignungen unddem ideologischen Missbrauch von fehlgeleiteten Erkennt
nissenfrühererForschergenerationen beruht?
AmEnde heißtes: DerreinsteHallensaal in der obersächs- (ischen) Entwicklung wurde St. WolfganginSchneeberg(1515 beg.) durch ein flaches, segmentbogenhaftes Polygondes Chores (4/16-Schluß) und die vierseitigeUmgangsempore, mit Gleichheit aller Raumteileundeinemweitgehenden Ausgleich von Horizon taleund Vertikale.
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Doch worauf beruht ein solch scheinbar präzises Urteil?
Welches sind denn die Maßstäbe, mit denen St. Wolfgangin Schneebergund andereHallenkirchen überhaupt verglichen und bemessen werden können,um einsolches Urteil fällenzu können? Die wohl wichtigste Aussage des zitierten Artikels für die Problemdiskussionist:(...)fürdie verschiedenen Varianten der spätgot(ischen) H(allenkirche) ist diejeweilige Spannung zwi
schenRaumvereinheitlichung undraumtrennendenElementenzu beachten (...)!
Es muss also Variantengeben, und es ist notwendig,be
stimmte Kriterien an Hallenkirchenanzulegen, um diese Vari antenüberhaupt als Gruppe zu erkennen und zugleich nach Kri terien wiederumzu unterteilen und adäquat zubeschreiben.
Wiewären danndie Varianten typologischherauszuarbeiten und als Unterkategorien der Hallenkirche begrifflich zu fassen?
III Thesen
und VorüberlegungenEine Hallenkirche ist nicht bloß eine bzw. die räumlicheAlter
nativezurBasilika. Ihre Existenz wird auch nichtdurch einen architektonischen und/oderhistorischenGegensatzund damit durcheinantithetisches Spannungsverhältnis zur Basilikabe
gründet (Kat. Marburg1983,S. 28; Nußbaum 1985, S. 125; Hel
ten 2014b,S. 84), sondern ließe sich ebenso aus einemVerhältnis zu Saalkirchen oderZentralbauten ableiten (Nußbaum 1994, S. 87; vgl. zurDifferenzierung bereitsFink 1934, S.2-67). Dies würde zu drei Unterkategorien führen:1. basilikalwirkende Hal
lenkirchen (zudieser Gruppe gehören die Staffel- bzw. Stufen
hallen);2. saalartige Hallen (häufig werden bereits derBegriff Einheitsraum oder der hybride Begriff ,Hallensaal‘ verwendet, um dieseKategorie zuerfassen); 3. zentralisierte bzw.zentrali sierende Hallenräume.
Doch warumwurde derTypusHallenkirchevon derBasilika ausgehendabgeleitet und bestimmt? Von der Raumform her ge
dacht sindes die Gemeinsamkeiten: dieLongitudinalität und die Mehrschiffigkeit (Fink 1934, S. 67). DochGemeinsamkeiten sind ungeeignet,zwei Typen voneinander zu scheiden.So wird folgerichtigauf die Unterschiede, das Fehlen einer gestaffelten Raumhöhe, das Fehlendes Obergadensund damitdas Fehlen der direkten Beleuchtung des Mittelschiffs hingewiesen.Doch kannnur das Fehlen vonetwaseinenneuen,andersartigen Wert darstellen und einen neuen Typus ausmachen? DieseFehlstellen wurden gewissermaßen kulturgeschichtlich gefüllt, dennes wur
de behauptet, die Hallenkirche sei einst ein (antibasilikales) Ge
staltungsziel gewesen, seiquasimit derAbsicht entwickelt wor
den, umim Verlauf der Gotikmit der Hallenkirche eine neue, typische Raumform einzuführen - ebenim bewussten Gegen satz zu den Basiliken. Aufgrund dieser Behauptung taugtedie
Hallenkircheals typologischer Gegenspieler im Kulturkampf zwischen Frankreich undDeutschland umdienationale Vor
herrschaft in bestimmten Epochen der KulturEuropas. Ganz unsinnig wurden dann Formtypenmit Funktionstypen und Epochenbegriffen amalgamiert und die ,Hallengotik‘ bzw.
.Deutsche Sondergotik“ alsgenuin deutscher Protagonist gegen die ,Kathedralgotik“ französischer Herkunft ins Feldgeführt (sie
heEssay Niehr). Als einer der wichtigsten Feldherren in diesem KulturkampfmussKurt Gerstenberggelten (Gerstenberg, Deut sche Sondergotik; vgl.Helten 2014b, S. 87).
Gerstenberg formte und konditioniertedieHallenkircheals neuen Typus mit entsprechender Gesinnung(vgl.Bürger 2017a, S. 20-29). Hinsichtlich der Andersartigkeit derHallenkirche konstatierteGerstenberg unterschiedliche Formen,die sich als Raum-Bewegung ausdrücken.Diesbezüglich beschrieb er neue Bewegungseindrückeder Spätgotik, insbesondere die Halle als .Einheitsraum,deren Entstehung erauf gesellschaftliche Impulse zurückführteund so als unmittelbare Ausdrucksform innerhalb einer national geprägten Formentwicklung aufschließen konnte.
Gerstenberg schilderte „diesevermeintliche Entwicklungals ein Nachlassen der Tiefenbewegung der Schiffeund deren Ver
schmelzung zubewegungsdurchzogenen Breitenräumen, in de
nenvöllige Richtungsfreiheit herrscht.Schon Gerstenberg ver bandden .Einheitsraum mit dem Aufkommender Predigeror
den und ihremAnliegen, fürihre Zuhörerschaft weite und mög
lichst ungeteilte Räumezu schaffen, in denen die Kanzelweithin sichtbarund das Wort des Predigers überall zu vernehmen war.
Weil dieser Raumtypvom Bürgertum für seine Stadtkirchen übernommen worden sei, hieltGerstenberg dieHallen der deut
schen .Sondergotik“ für Ausdrucksformen einerbürgerlichen Architektur.“ (Nußbaum 1985,S.124f.) Formal gehörten dazu das Verlassen des reinen Vertikalismusund das Nachlassen der intensiven Tiefenbewegung (Gerstenberg, Deutsche Sondergo tik, S.22f.).Vor dem Hintergrunddieser Gefühlslagen sei die Hallenkirche derfolgerichtige Raumausdruck im Unterschied bzw. in der Abkehr von Basiliken.Insofern ging er vom Subjek tiven aus, um Konsequenzen fürdie - objektiv unterscheidbaren - Architekturgestaltungen abzuleiten.Gerstenberg forderte dies bezüglich: Erst muß dargelegt werden, wiesich die gotischen For
menanschauungen lockern, ehe von dem überdas Gotische hi nausgehenden Wesen dieser Räume gesprochen werden kann.
(Gerstenberg, DeutscheSondergotik, S. 23)
Tatsächlich lockerte sich aber imHallenkirchenkonzept das Korsettder Grund-und Aufrissbezüge. An Gerstenbergs ver meintlich objektiver Kategorieder,Bewegung“ lässt sichdiesskiz zieren: Das Ablegen der basilikalen Kräftekäfige, also derfehlen dekonstruktive Zwang,die Gewölbeschübeder hohen Mittel schiffe über die Seitenschiffe hinwegnach außen ableitenzu müs sen, bewirkte in den Hallenkirchen eine neue Gestaltungs- und
.Bewegungsfreiheit“.Diesem konstruktiven Zwang unterlagen Hallenkirchennicht (mehr), denn vor allemdennachaußen ge richtetenSeitenschüben der Mittelschiffe wirkten u. a. die nach innen gerichteten Schübeder Seitenschiffe entgegen, sodass sich Kräfte aufhoben. Diese Kraftrichtungen und deren formverbin dende bzw. formverbindliche Strukturen verlorenindenHallen
räumen an Bedeutung. Dies bewirkteeineneue Freiheit,sodass in Hallenkirchen anstelle der basilikalenTiefenbewegung als Konsequenz undAufhebungvieler unterschiedlich gerichteter Kräfte nichtbloß.Bewegungslosigkeit“ trat, sondern ebeneine Vielfalt neuer Bewegungsmöglichkeiten undWirkungen.
Diese neue Freiheit erlaubte dabei in bestimmten Grenzen dieArtikulation sehr unterschiedlicher Raumrichtungen und verschieden starkerRichtungskonsequenzen,die sich medial nutzenund sozial aushandeln ließen. Anstelledominanter Ver
tikal- undLongitudinaldominanten warendiverse Raum- und Formausrichtungen, Raumachsen undRaumfolgen möglich, wobei sich nur im(völlig überflüssigen) Verrechnen ihrer Rich tungenund Stärken die .Gesamtgeschwindigkeit“ verringerte.
Dabei fieldenalternativenGestaltungsaspekten in der Vertika
len, Horizontalen und Longitudinalen eine neueAussagekraft imGesamtspektrumder Formensprache zu.
Diesedurch Formenzu gestaltenden und durch Wahrneh mung lesbaren .Bewegungen“ wurden zum Mittel (und für die objektivierende Wissenschaft zum Kriterium), um in spätgoti
schen Räumen Sinnzusammenhängein ihren räumlichen und zeitlichen Dimensionenneu zu ordnen- und dies differenzier
ter, als esbislang möglich gewesenwar. Die räumlichen und zeit
lichen Ordnungen dienten dabei als Träger biblischer undwelt licher, heilsgeschichtlicher und historischer Positionenund Nar
rative. AuchsozialeKonstellationenwie Stand und dynastische Historiografien, gewachsene Legitimationen und neuausgerich
tete Argumentationen vonRecht und Ordnungin innerweltli
chen(Repräsentation) und jenseitig ausgerichteten (Memoria) Sozialordnungen ließen sich abbilden, räumlich verkörpern und vermitteln, stabilisierenund verändern.
D. h. für dieKonstitution undVisualisierungvon Inhalten stelltdie .Bewegung“ eine Art Träger und Transmitter dar, der das AusgangssignaleinesWertesbzw. stellvertretenden Symbols ausrichten unddamit die Bedeutung verstärkenkann. Dem Be trachterdientdiese .Bewegung“ als Schwingung, alsSignal,was dann nicht nurgefühltalsTeileinerGesamtfeldspannung,son
dern konkret mitseinen Einzelspannungen wahrgenommen und dechiffriertwerden muss. „Sogab es eine breite Diskussion über Raum- und Schiffsgrenzenin der Sakralarchitektur des Mittelalters, dieFrage, wieund worin sich Architekturtypen wie Halle und Basilika unterschieden,(auch) ob es Zitate über Grundrisse und architektursystematische Gliederungsformen gab u. a. m. (...).“ (Schenkluhn 2014, S.189)
IV Probleme
Undhierliegt das Problem. Bisher werden spätgotische Hallen ohne festeKriterien, manchmal nur subjektiv hinsichtlichihrer Form- und Raumwirkungen, Bewegungsintensitäten und Raumrichtungen beschriebenoder erfühlt. Jeder Autorscheint sich aufgrund der räumlichenGestaltungsfreiheit literarischfrei zufühlen, einen Kirchenraum nach Beliebenals weitund licht, himmlisch undgrenzenloszu beschreiben. DerBegriff .Hallen
kirche“dient in den Narrativen als fachspezifischerAktant, als Trägervon Stimmungen, zur Projektionvon Formwertungen, umeine emotional aufgeladene, bestenfallsspannendeBeschrei
bungandieetablierte wissenschaftliche Terminologiezurück zubinden.
Das Problem besteht -konkret bezogenauf das Kriterium .Bewegung“ - darin, dass nicht der Raum in Bewegung istoder Bewegung verkörpert. Ein zunächst zeitunabhängiger dreidi mensionalerRaum hat selbst keineGeschwindigkeit und kann keineGeschwindigkeitausdrücken. Was denRaum auszeichnen kann, sind Formen alsSehangebote,die den Betrachter derart ansprechen,dass sie ihnin Bewegung versetzen.Betrachter kön nensich dann angeleitet durch den Raum verschieden schnell in unterschiedliche Richtungen bewegen -körperlich und men
tal (Bürger 2017a). Zeitwirddabei vergehen.Und dadurch wird der Faktor ,Zeit“einmaßgeblicher Bestandteil derRaumbeschaf fenheit von Hallenkirchen, nämlichweilsich bestimmte Quali
täten erst inbesonderem Maße im Bewegungsvorgang offenba
ren. Jedeunabdingbar zeitabhängige Bewegung beruht aufeiner schnellenoder gemäßigterenAbfolge von Reizenund Sinnes- eindrücken, die als QualitätendenObjekteninnewohnen und erst dann im Betrachter Gefühle und Denkprozesse auslösen.
Wenn solche Qualitäten prägnante Muster ausbilden,dannsoll
tensie auch zuobjektiven Kriterien werden.
Doch istes überhaupt möglichund sinnvoll, einenreinen Formtypusmit solchen subjektiven bzw. zeitabhängigen Aspek
tenzu beschreiben?Nein, es ist nicht möglich: Ein Typus als fes te architektonische bzw. architekturhistorische Kategorie muss durch harte Kriterienbeschriebenwerden. D. h. eine Hallenkir che verfügt 1.über mehrere Schiffe vongleicher oder annähernd gleicher Höhe und hat 2. im Unterschied zur Basilikakeinen Obergaden. Diese Kriterien erfassenzwarden Typus, beschrei ben ihnaber nicht. Wer .Hallenkirche“ sagt, weist also lediglich daraufhin,dasseine Hallenkirche eben keineBasilika, auchkei ne Saalkirche und kein Zentralbauist. Die Hallenkirche alsTy
puszubenennen reicht nichtaus, denndieser Typus selbstist nur ein kleinstergemeinsamer Nenner für diverse Raumformen, deren Unterschiede viel größer ausfallen können als zwischen mancher Basilika und Hallenkirche.MitdemBegriff.Hallenkir
che“ wird ein Bauwerk in Abgrenzung ,zu etwas“ beschrieben,
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aber nicht,vonetwas1, es werden keineKriterien benannt,die die Charakteristika derRaumformen selbst betreffen. Weralso .Hal
lenkirche sagt, stehtimmerin der Verantwortung, die räumlichen Qualitäten genauer zu beschreiben, denn es ist wie oben erwähnt wesentlich, (...)für dieverschiedenenVarianten der spätgot(ischen) H(allenkirchen) die jeweilige Spannung zwischen Raumvereinheit
lichung und raumtrennenden Elementen zu beachten'.
Und hier liegt einweiteres Problem verborgen:Denn wie der Passusbereits formuliert, gehtes bei .Vereinheitlichungen und .Trennungen nicht um konkrete Positionen. Es geht vielmehr umdie .Spannungen dazwischen, die alsformsprachliche, d. h.
kommunikative AngeboteinStärke und Ausrichtung graduell sehr unterschiedlich beschaffen sein können, bzw.subjektiv un
terschiedlich gesehenund interpretiertwerden können.Dieser Umstand machtes objektiv unmöglich, innerhalb desTypus .Hallenkirche“ klareUnterkategorien festzulegen, denn der Ty
pus wird im Unterschiedzu allen anderenBautypendurcheine erheblicheMöglichkeitsvielfalt bestimmt (deren Spektrum sich noch einmal erheblich verbreitert,wenn Ausstattungen alspri
märe, raumkonstitutive Elemente berücksichtigt würden).Soist es denkbar(und wird ja zumTeil schon praktiziert),mit.basili
ka-affinen Hallenkirchen, .saalartigen Einheitsräumeri und .zentrierten Hallenkirchen“ein Feldaufzuspannen, denen sich die jeweiligen Räumejedoch nur ingewisser Weise zuordnen ließen. Eine verbindliche, eben nichtnursubjektiv erfühlte Ver- ortung ist jedoch nur möglich, wenn der Raum Schritt für Schritt nachfesten Regeln analysiert wird,also dieStrategie der Wahrnehmung, Beschreibung und Bewertungfesten, überprüf baren Kriterien folgt.
V
Lösungen1. DieersteLösung isteinfach. Wir machen soweiter wie bisher.
Wir haltenan dergewachsenen Unterscheidung vonHallenkir
chen und Basilikenfest,weildies kulturhistorisch ein spannen derBefundistunddieseralsDiskursgegenstand auch fürkom
mende Generationen von Interesse sein dürfte.Wir halten auch daran fest, weil es gegenwärtigdidaktischsinnvoll und fach
sprachlich einfach ist, mitdiesen Begriffenzuoperieren. Wir verwenden die Begriffe aber imBewusstsein, dass a) sie aufpro
blematischen Entstehungsumständenberuhen,b)sie im Um gang als Typusbegriffespezifische Probleme aufweisen und c) die Bautypen alternativexistierten und mit ihnen keine gegen sätzlichen Positionen manifestiert werden sollten.Und d) wir vor allemim Begriff .Hallenkirche“ eine doppelte Begriffsver wendungveranschlagen müssen:die .Hallenkirche“als Begriff, um eine architektonische Bau- und Raumform zu beschreiben, und als Narrativ, als .deutsche, sondergotische Meistererzäh
lung“,dielehrreich zeigt, wie sich miteinem kunsthistorischen Begriff Geschichte schreiben undfolgenschwer verfälschen ließ.
2. Die zweite Lösung des Problems istebenfallseinfach, um schifft aberdas Problem auf der methodischen EbenedesTy- pusbegriffs: Wir könntenunsdarauf verständigen, dassdie .Hal lenkirche“gar keinwerthaltiger Bautyp ist,weilsichderRaum
typus nichtvon festen Kriterien ableitet und weildie Diversität eine exakte Bestimmbarkeit ausschließt. Der Begriff .Hallenkir
che“ wäre dann kulturgeschichtlich komplett entschärftund schlicht als pragmatische, sinnbefreite Formelfür eine architek
tonische Lösung zu verstehen: einegroße, im Prinzip unspezifi sche Hausform mit Stützenreihen,dieetwa ähnlich hohe Decken tragen. Das Prägende dieser Hausform istes, dass sie große Spielräume besitzt, Innenräume zu ordnen und zu gestalten.Die Hallenkirchesteht als schlichte Hausform denSaalkirchen nahe, welche dann ebenfallskeinen eigentlichen Typus,sondern ledig licheinepraktikableBauformmit vergleichsweise geringenDi
mensionendarstellen würde. Hallenkirchensind dann im Un terschied zuSaalkirchen eine Bauwerksform mit hohemPlatz angebot. Die unterteilenden Pfeilerstellungen im Innerenwur
den konstruktivbenötigt, umdiegroßen Dachwerke undDe
cken zu tragen. Jenach Konstruktionsart konntedies zuunter
schiedlichenäußeren Erscheinungsbildern und inneren Raum
ordnungen führen bzw. geführt werden (Huyer 2014,S. 16-28).
DieRaumformen wurden von der Art und Weisebestimmt, wie dieDachlasten abgeleitet wurden, wiedie Dachentwässerungen erfolgten und wiedann womöglich außenmit oder ohne Giebel besondere Schauseiten herausgearbeitet und im Inneren die bestmöglichenSichtbeziehungen zumHauptaltar und optimale Verhältnisse hinsichtlich der Beleuchtungund Akustikerreicht wurden.Diesbezüglichkann gemutmaßt werden, dass die zu nehmende Schaufrömmigkeitseit dem13. Jahrhundertdieser Bau- und Raumformenormen Vorschub leistete(siehe Vertie
fungstext Hoeps, Eucharistiefrömmigkeit, Kap. V).
DieHallenkirche wäregestalterischalsschlicht und funktio
nal, als nützlich, als kostengünstigund dadurch ökonomisch sinnvoll (Nußbaum/Lepsky 1999, S. 159), typologischund ar- chitekturikonologisch aber zunächst als.sinnfrei“zu betrachten.
Lediglich die Größe und ihre enorme Gestaltungs- und Bewe gungsfreiheit waren für diese Bauform typisch. Die Bauform selbst dienteinerster Linie nicht dazu, historisch den Typus .Kirche“ abzubilden, Sozialgemeinschaften wie .Deutschland“
oder.Bürgertum“zu verkörpern oder heilsgeschichtlich Sinnbil der wie,Haus Gottes“ oder.Himmlisches Jerusalem zu sein.Der ,sinnfreieri Struktur ließensich aber solche Bedeutungen durch zusätzlicheGestaltungen durchausapplizieren: Außen und in
nen ließen sich durchTürme, Schaugiebel,Strebe-oder Wand
pfeiler, Maßwerkfenster,Emporen usw.differenteWirkungen und Bedeutungen erzeugen. Dochsolchesekundären Elemente
Abb. 3 I Dom zu Meißen, Mittelschiff mit kräftig gegliederten Pfeilern, die wie in Basiliken die Seitenschiffe stark abgrenzen
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Abb. 4 I Dom zu Freiberg, Innenansicht, arkadentoses Langhaus mit raumvereinheitlichendem Gewölbe und einfassender Empore
und Aspekte sindallesamtnicht typischund damit auch nicht typusbestimmend, sondern lokal und historisch (räumlich und zeitlich) spezifisch.
3. Die dritte Lösung des Problems ist weniger einfach:Wir müssten unsdarauf verständigen, nicht nur .Hallenkirche“ als Typus und damit per se als werthaltiges, gestalterisches Ziel zu fokussieren, sondern davon ausgehen, dass die Wahl dieser räumlichflexiblenbzw. begrifflich fluidenBauform der gestal terische Ausgangspunkt ,vohbzw. ,füretwas“war. Damit wäre dieForderung verbunden, sich jeweils Zeit zu nehmen, um mit ausführlicheren Beschreibungen-ebenfesten Kriterien folgend -genau jene raumspezifischen .Spannungen“ unddamitall jene Möglichkeiten aufzuzeigen, wie Räume und Grenzen die Bewe gungen im Raum zielführend ordnen, wiedabeidie.Bewegung“ und damit dynamische Betrachtungsformen und soder Faktor .Zeit“ inden Räumenverarbeitet wurde,indem nacheinander die Beschaffenheit1. der Joche,2. der Jochgrenzen,3. der Raum teile und 4. der entstehendenRaumrichtungen beschrieben wer den.Was ist gemeint? Ingetrennten SchrittenmüssenGrund riss, Aufriss und Gewölbeuntersucht werden. Getrenntdeshalb, weil spätestens seitPeterParlersRaumschöpfungen der zweiten
Hälfte des 14. Jahrhunderts diverse Möglichkeitenbestanden, diese dreiEbenen des Raumes -natürlich im Rahmen des kon
struktiv Möglichen - getrennt voneinander zu gestalten (zur Be
deutung der GewölbeMundt1959, S. 129).
Um einen Kirchenraumexakt zubeschreiben,müsste fol genden Fragennachgegangen werden:Wiesind beispielsweise die Dispositionen vonMittelschiff und Seitenschiffen beschaf fen; auch in ihrem Verhältnis zu den Dachkonstruktionen und Außenwirkungen? Welche Jochgrößenund-formate sind imIn
neren angelegtworden, um den Raum zuformen? Die Heraus forderung dabeiist,dass sichjedeBeschreibung zunächstaufdas Eigene, das Eigenartige und nicht das Typische bzw.das Typen
bildendekonzentrieren muss. Danach wäre der Aufrisszu erklä ren: Wie sind die Pfeiler,Wände und Fenster, die Kämpfer- und Auflagerformen und insbesondere auch die Gestaltung der Scheidbögen entlang derArkaden und der Schildbögen entlang der Wandfluchten beschaffen? Zuletzt wärendie modellierenden Qualitäten der Gewölbe darzustellen: Weisen dieJochezentrie
rende, sternförmigeFigurationen auf oder sind sie schiffsweise oder raumweitvernetzendwirksam? Wie ist das Verhältnis der Wölbjoche zuden Raumjochen, werden RaumteilewieSchiffe
Abb. 5 I Marktkirche in Halle (Saale), Mittelschiff, Gewölbe mit hängendem Schlussstein im Bereich der Kanzel
322 STEFAN BÜRGER
betontoderunterdrückt, wiesinddieJochgrenzen bzw. Jochver netzungen und damit Raumvereinheitlichungenausgeformt?
Wenn wiruns diese Zeit nehmenund uns hinsichtlich der vier Kriterien - Joche, Jochgrenzen, Raumteile undRaumrich
tungen - Klarheit verschaffen, werdenwirkonzisere Wertungen vornehmen können. Dafürwären 1.die Joche in ihrer Dimen sionierung zu erfassen.Dabei sollte deutlich gemacht werden, ob 2. dietrennenden bzw. verschleifenden Gestaltungen der Jochgrenzen diese Dispositionen derJoche unterstützenoder bereits Spannungenerzeugen: Neigen die Jochformatezu einer Vereinheitlichung undwird dies durcheine entsprechende Auf
riss- undJochgrenzengestaltung befördert? Danach lässt sich klar benennen,ob 3. in konsequenter Weise oder nur graduell bestimmte Raumteilezu Einheitenverbundenwerden.Zuletzt wäre 4. zu untersuchen,ob es durch die Ausgestaltung vonOrten bzw. räumlichenAkzentuierungen imRaumSehangebote gibt, die diesen Räumenbzw. Raumteilen eine Richtungverleihen.
Besonders markant werden innerhalb des Hallenkirchen
spektrumsbestimmte Raum(unter)typenausgeformt, wenn die einzelnengestalterischen Wirkungen des Grundrisses, Aufrisses und GewölbesimRaumdirekt miteinanderkorrespondieren und einer gemeinsamen Gestaltungsabsichtverpflichtet sind.
Modellhaft wärendiesbezüglich für die drei benannten Unter gruppen folgende Kriterien zu veranschlagen:Bei,basilika-affi
nenHallenkirchenwirken hohe Joche,dichte Jochgrenzen, lon gitudinale Raumteile mit konsequenten Raumrichtungen auf denChorals Raumzentrum hin (Abb. 3). Diesgeschieht vor al lem durch die Gestaltung der Binnenarchitekturmit raumkon stituierenden Pfeilerformen und Dienstsystemen (vgl. z.B. Meu- che 1971,S. 175). Eine klar gerichteteAxialität alsEinheit von Wegund Ziel wären für diesen Typus maßgeblich.Die räumli
che Peripheriewirdim Gegenzug marginalisiert. In ,saalartigen Einheitsräumen wird in umgekehrter Weise die Peripherie be tont(Abb.4). Diesbedeutet, dassdie Raumeinfassung raumkon stitutiv wirkt und als SehangeboteineStreuung der Achsen und Wege ermöglicht. Bedeutsam ist, dass gestalterisch aufdie RaumschaleWert gelegtwurde. Für die Raumwirkung ist die be sondere Rolle der Fenster bzw. desLichteinfalls zu berücksich tigen. ,Saalartige Einheitsräume1beruhenauf demZusammen
wirken materieller und immaterieller Raumqualitäten.Injedem Fall wird die trennende Wirkung der Binnenarchitektur, also der Freipfeiler und Arkaden, unterdrückt.Wichtig ist, dass trotz konstruktiv notwendiger Binnenarchitekturen, dieunweigerlich trennend wirken, ein einheitlicher Raum entstehen sollte. Die Raumorientierung istzumeist unspezifisch, d.h. nachallen Sei
ten und Richtungen wirkend, eher zentrifugal nach außenge
richtet oder gar richtungslos (Nußbaum 1994,S. 127-128). In
nerhalb dieserEinheitsräume sind dieRichtungen gewisserma ßenfrei(eigentlich im Unterschied zu richtungslos), dadurch
freiverhandelbar und nutzbar.Wird durch die Architekturim Inneren solcherEinheitsräume einbau- oderbildkünstlerischer Akzent gesetzt, kommt es zu lokalen Zentrierungen. Dabei kön
nen zentrierte Raumteile,bei konsequenter Gestaltung auch ,zentrierteHallenkirchen entstehen, insbesondere dann, wenn dierelevanten Architekturaspekte von Grundriss, Aufrissund Gewölbe hinsichtlich dieser Zentrierung zusammenspielen. Bei spielsweiseließen sich so in Mittelschiffenneue liturgische Zen
tren ausformen(Abb.5). Weist einRaum mehrere Akzentuierun
gen und Zentrenauf, könnenin den Einheitsräumen diffuse oder besserpolyfokale Raumwirkungen und -richtungenerzeugt wer
den,die dann zu reizvollen, charakteristischen Raumspannungen führen und dem Bauwerk zu eigen sind (Abb. 6).
Für dieHallenkirchen insgesamt ist charakteristisch, dass diese Unterkategorienin dergebauten Wirklichkeitniemals in Reinform auftreten.DasVorhandensein von liturgischen Orten und Lichtwirkungen führt in den Räumen unweigerlichzu einer Mitwirkungvon gerichteten, trennendenodervereinheitlichen denRaumqualitäten (Abb. 7).DieArchitektur der Hallenräume istdahingehend zubefragen, auf welche Art und Weisesie zu ei
nerOrdnung dieseransonsten gestreuten Richtungen und dif fusen Wirkungenbeitragen.
VI Hallenkirche
und BasilikaWürde man vor diesem Hintergrund eine Typusunterscheidung zwischen .Hallenkirche“ und .Basilika“ erzwingen wollen, dann wäre darauf hinzuwirken, dass dieUnterscheidbarkeit nicht auf derreinformalen Beschaffenheit des Baukörpersund ihrer Bau
gliederberuht, sondernauf der Konzeptionalität der Raumkör
per. Als Voraussetzungwäre zuunterstellen, dassauf der einen Seite die Basiliken an sich etwasverkörpern, typisch für die sa
krale Raumideedes .Himmlischen Jerusalem und/oder die sa kramentale Raumform einer durchgestalteten ,via sacra“ zum Al tar. Hallenkirchen sind dagegenbesser geeignet,etwas zu er möglichen, zu transzendieren und zusakralisieren,was über die Bedeutung derBauform als Symbol hinausgeht.Dies beruht wo möglichdarauf, dass dieHallenkirchen, die von vornhereindie Akteure(Trinität, Heilige, Geistliche, Laien) alsraumkonstitu ierende Aktanten stärker einbeziehenkönnen, eben nichtnur das Heilige verkörpern undvermitteln,sondernauchvonund für die Laien als Hörer undalsBetrachterausgehend, Teilhabe ermöglichen. HinsichtlichderTeilhabe-und Rezeptionsbedin gungenwäre zu konstatieren, dass die Hallenkirchen über grö
ßere architektonischeOrdnungspotentiale verfügen,ummittels materieller Gliederungen und immaterieller (Licht-)Inszenie- rungenSeh- und Bewegungsvorgänge zu erzeugenund auszu gestalten, diesich deutlich von basilikalen, dadurch zumeist
Abb. 6 I Ev. Stadtkirche St. Michael in Jena, Kirchenschiff mit sterngewölbtem Doppeljoch und zentralem Himmelsloch
kanalisiertenRäumen unterscheiden. Denn in Hallenkirchen lassen sich außen wie innenzahlreiche (bildmäßige) Raumein
drücke - d. h. Bild- undBetrachterräume - konstituieren. Und durch die Möglichkeiten der physischen undmetaphysischen Bewegungen in diesenRäumenkönnen sichzudemdieseBe
trachterräume auch noch inikonischeHandlungsräume mit neuen Formen der Inszenierung und Teilhabe verwandeln(Bür
ger2017b). Diese multiplen Möglichkeiten derInszenierung wä
ren als Leistungsfähigkeit zu verstehen, .multiple Bewegungen in denRäumenzu initiieren und auszugestalten.Die .Bewegung1 wäreentsprechend als raumspezifischer Ausdruck bzw. als rau mimmanente Dimension von .Zeit1 unddamitalswomöglich ty- pusbestimmendes Kriteriumzu verstehen. Dies würde am Ende wohl bedeuten,dass sich Hallenkirchen von Basiliken in derArt ihrer Betrachtung - also hinsichtlich ihrer Rezeptionsbedingun
gen und derenAnforderungen an dieBeschreibung - unter
scheiden lassen. Damit wäre allerdings eine Verschiebung des Typusbegriffs von einer architektonischen Kategorie hinzu ei
nem Instrument der rezeptionsästhetisch-ikonischen Klassifi zierung verbunden.
VII Fazit und Schluss
Dennoch:Diese ordnenden Möglichkeiten,mit zielführenden - inszenierenden und ikonischen - Mitteln äußerst eigensinnige, partizipative Raumspannungenzu erzeugen, warenbedeutsam, denn sie ließensichfür gemeinschaftliche und individuelle Par tizipationnutzbarmachen.Die Vielfältigkeit derHallenkirchen als Ausdruck leistungsstarkerKommunikationsfähigkeit be-
324 STEFAN BÜRGER
Abb. 7 I Kath. Stadt- und Marktpfarrkirche Sankt Lamberti in Münster, trennende und/oder verbindende Qualitäten der Pfeilerformen, Scheidbögen und Gewölbe
lösungen
gründetewohl einerseitsden Erfolg dieses Typus, zum anderen bereitete dieses vielfältige Sprachvermögen den Grund, um höchst individuelle Raumlösungen zu erschaffen,die es uns heu
te so schwer machen, Hallenkirchenmiteinem Wort als ,Typus“ zu fassen. Doch dieser in höchstem Maße raumimmanente In
dividualismusist es auch, der die Hallenkirchensoüberaus in teressant macht, der verhindert,dass sich die Räume nach einem festen Schema ordnen,rezipierenund interpretierenlassen. Für dasarchitekturhistorische Werkzeugder Bautypologieistdies zweifellos von Nachteil. DennfürdiesenTypus ist geradezu ty
pisch,dasser sich einerklaren, regelrechten Typologie entzieht.
Wenn wir aber die Formennicht nur nutzen, um dieBau
werkestilistisch und typologisch bestimmtenGruppen, Zeiten, Regionen oder Personen zuzuordnen, sondern die Formen nach ihren Spannungsverhältnissen im Raum befragen und zugleich unterstellen,dassdiese Wirkungen beabsichtigt sind, dannwäre es vielleicht möglich, Muster innerhalb dieserräumlichenVer
hältnisse als Interaktions- und Kommunikationsangebote für denBetrachter zu erkennen,die typisch ,füretwas“ sind und da mitals historisch bedeutsam.Füreine Hallenkircheist im Un
terschied zur Basilika der Betrachter bzw. dessen Bewegung und
Wahrnehmung als Motorund Generatorvon Raumwirkungen und deren Bedeutungenzweifellosvon größerer Wichtigkeit.
Für eine raumikonologischeEbene oder gar eine raumsoziolo
gische Betrachtung, um ggf. über die Motiveder Bauwerke auf die Motivationenihrer Schöpfer schließen zu können, stellen die Raumlösungen zweifellos einen reichen Quellenschatz dar, den es erst noch zu heben,auszuwerten und zu systematisieren gilt.
Wir sollten zwei Dingeaber nicht tun: Zum einensollten wir nicht versuchen, invorschnellerWeise diesen Typus auf wenige harteKriterienzubegrenzenunddadurchzumNachteil zu be
schneiden,undzum anderen solltenwir auch nicht ingut ge meinter Weise diespezifischen Prägungen dieses Typusinsub
jektiven Stimmungsbildernaufweichen. In den diesbezüglichen Gefühlsbegriffen und Metaphern würde sich derTypus Hallen
kirche unweigerlich auflösen, verflüchtigen und amEnde voll kommen unbegreiflich und unbrauchbar werden.
Quellen: Gerstenberg, Deutsche Sondergotik; Gruna, Warendorf St. Laurentius;
Lexikon der Kunst 1996; Wikipedia, Hallenkirche
Literatur: Bürger 2017a; Bürger 2017b; Fink 1934; Helten 2014b; Huyer 2014; Kat.
Marburg 1983; Lübke 1853; Meuche 1971; Mundt 1959; Nußbaum 1985; Nuß
baum 1994; Nußbaum/Lepsky 1999; Schenkluhn 2014