A-295 Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 5, 5. Februar 1999 (59)
V A R I A FEUILLETON
U
m die Auseinanderset- zung zwischen einem jungen Mädchen, dem sich die Welt der Musik er- schließt, und ihrem gehörlo- sen Vater ging es unter ande- rem in dem Oscar-nominier- ten Film „Jenseits der Stille“ . Die angehende Klarinettistin stößt zunächst auf Unver- ständnis und Ablehnung.Dieser Konflikt wurde nachvollziehbar und überzeu- gend dargestellt. Dennoch ist es auch für Gehörlose durch- aus möglich, Musik umzuset- zen, zu tanzen und auch Thea- ter zu spielen. Den Beweis lie- fert eine nach eigenen Anga- ben bundesweit einmalige Theatergruppe des Rheini- schen Gehörlosenheimes Eus-
kirchen. Dort führten geistig behinderte, gehörlose Laien- schauspieler kürzlich eine moderne Version des Mär- chens „Rotkäppchen“ auf.
Und dies ist nicht ihre erste Einstudierung. Über die Grenzen Nordrhein-Westfa- lens bekannt wurde die Thea- tergruppe mit der Aufführung des Stückes „Das Ende“ bei den Kulturtagen der Gehörlo- sen in Dresden im Jahr 1997.
Über die Entstehung der Theatergruppe berichtete En- de letzten Jahres ihr In- tendant, der Sozialpädagoge Dietmar Mauermann: Seit 1990 habe man unter Anlei- tung professioneller Schau- spieler mit dem Training be- gonnen. Jeweils vier Semina- re wurden, so der Sozial- pädagoge, „für eine Gruppe von schwerer Behinderten und vier Seminare für eine Gruppe von eher Lernbehin- derten und Schwachbegabten durchgeführt“. Von 1994 an wurde die Arbeit mit der zweiten Gruppe intensiviert, so daß ein erster öffentlicher Auftritt der Laienschauspie-
ler möglich wurde. Wegen des erstaunlich großen Erfolges folgten zahlreiche weitere Einstudierungen.
Realistischer Bezug
Doch wie werden die Stücke für geistig behinderte Gehörlose darstellbar? Mau- ermann sucht zunächst um- setzbare Vorlagen aus, die ei- nen realistischen und perso- nenbezogenen Bezug zu den Darstellern haben sollen. „Im Handlungsablauf soll immer deutlich ein Anfang, ein logi-
scher Verlauf bis zum Höhe- punkt und ein Ende erkenn- bar sein. Dies alles muß für die Teilnehmer und Teilneh- merinnen sinnvoll und stim- mig sein“, erläutert Mauer- mann sein Konzept. Die Dar- stellung der Geschichten wer- de so gestaltet, daß bei ihnen und bei den Zuschauern „ein Wiedererkennen der eigenen Realität und Mitfühlen mit den handelnden Personen und der Geschichte entsteht“.
Mauermann reduziert die Geschichten, er schreibt sie um, und er übersetzt sie schließlich in Gebärdenspra- che. Noch während der Pro- ben wird das Stück oft spon- tan umgeschrieben.
Auf diese Weise entstand eine ganz eigenwillige Inter- pretation des Märchens „Rot- käppchen“. Da gibt es nicht wie in der Grimmschen Fas- sung nur einen, sondern gleich mehrere Wölfe – mit menschlichen Zügen. Da werden ein Mutter-Tochter- Konflikt herausgearbeitet, ei- ne Liebesgeschichte einge- baut und eine ungewöhnliche Großmutter eingeführt.
Daß die jugendlichen Schauspieler sich mit dieser Version des Märchens identi- fizieren konnten, merkte man ihrem begeisterten, engagier- ten Spiel an. Da spielte es im Grunde auch keine Rolle, wenn man die Gebärdenspra- che nicht beherrschte. Die Botschaft des Stückes kam trotzdem an.
Übrigens: Wenn ein Büh- nenboden durch voll aufge- drehte Musik zum Vibrieren gebracht wird, können Ge- hörlose auf Töne reagieren.
Gisela Klinkhammer
Mehrfachbehinderte gehörlose Jugendliche können beachtliche Leistungen zeigen auf den „Brettern, die die Welt bedeuten“.
Gehörlosen-Theatergruppe
„Rotkäppchen“ in Gebärdensprache
Weitere Informationen: Theatergruppe des Rheinischen Gehörlosenheimes Euskirchen, Dietmar Mauermann, Billiger Straße 48, 53879 Euskirchen, Tel 0 22 51/8 28 67, Fax 8 28 68. Die Theatergruppe wird weitgehend finanziert vom Förderverein des Rheinischen Gehörlosenvereins Euskirchen. Dafür bittet der Verein um Spenden.
Bankverbindung: Kreissparkasse Euskirchen, Konto 2 702 330, BLZ 382 501 10.
Gehörlose geistig Behinderte führen eine eigenwillige Interpretation des Märchens „Rotkäppchen“ auf. Foto: Dietmar Mauermann