A-232 Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 5, 4. Februar 2000 eraltet ist das Wissen um die
Pathogenese der chronisch ve- nösen Insuffizienz sowie ihrer Folgen bis hin zum Ulcus cruris.
Auch gibt es in Deutschland kaum ernst zu nehmende Forschungsakti- vitäten auf diesem Gebiet, obwohl Venenerkrankungen bei rund 30 Pro- zent der Erwachsenen in den Indu- strienationen zu diagnostizieren sind.
Die Patienten sind in ihrer Bewe- gungsfreiheit eingeschränkt und ha- ben Schmerzen. „Dennoch werden Venenleiden oftmals bagatellisiert“, kritisierte Prof. Robert Stemmer (Straßburg) beim 24. Interdisziplinä- ren Forum der Bundesärztekammer in Köln.
Üblicherweise werden Venener- krankungen auf die ungünstigen Druckverhältnisse in den Gefäßen zurückgeführt. Diese Hypothese aber ist alt und erklärt nach Ansicht von Prof. Stephan Nees (München) keines- wegs die eigentliche Patho-
genese. Diese scheint viel- mehr auf eine zelluläre Stö- rung der postkapillären Ve- nulen zurückzugehen, wie der Mediziner in Köln be- richtete. „Die Phlebologie stellt die großen Venen und die hämodynamischen Ge- gebenheiten in den Vorder- grund. Das aber erklärt nicht, warum einige Men- schen erkranken, andere je- doch nicht“, meinte Nees.
Die derzeitigen Hypo- thesen ziehen nach seiner
Ansicht „das Pferd vom Schwanz auf“. Denn das Krankheitsgeschehen setze schon viel früher ein als bisher angenommen, und zwar schon „lange bevor Veränderungen direkt sichtbar werden“. Diese gehen von Störungen
im Bereich der Venulen aus, die durch immunologische Faktoren ver- ursacht sein können, aber auch durch Vergiftungen, Infektionen, erworbe- ne oder genetisch bedingte Stoffwech- selerkrankungen oder durch eine kon- stitutive oder altersmäßig bedingte Leistungsminderung der Endothel- zellen der inneren Gefäßwand.
Die Rolle der Venulen wurde nach Ansicht von Nees bisher weitge- hend unterschätzt. Denn diese klein- sten Strukturen des Venensystems be- sitzen in ihrer Gesamtheit eine viel größere Kontaktfläche mit dem Blut als alle Venen zusammengenommen.
Sie steuern in hochspezifischer und fein abgestimmter Weise die lokal be- grenzte Rekrutierung aller Arten von Leukozyten im entzündeten Gewebe.
Da aktivierte venuläre Endothelzel- len nach Nees eine „beachtliche Kon- traktilität“ aufweisen, können leicht intrazelluläre Fugen entstehen, und es
kann zur Bildung entzündlicher Öde- me kommen. Wie in einem Teufels- kreis bedingt dies die Anlagerung von Leukozyten, die ihrerseits pathogene- tisch wirksam werden und die Kon- traktilität der venulären Endothelzel-
len noch steigern. Es resultiert eine maximale Weitung der Interzellular- spalten. Ausgedehnte entzündliche Ödeme sind die Folge, ebenso wie die Bildung aggressiver Sauerstoffverbin- dungen und hydrolytischer Enzyme, der Prozess mündet schließlich in Strukturverluste und einen komplet- ten Zusammenbruch der venulären Endothelbarriere zwischen Blut und Insterstitium.
Diese Situation dürfte, so die der- zeitige Hypothese, der Ausgangs- punkt thrombophlebitischer und thrombotischer Prozesse sein, wobei das Krankheitsbild eine besondere Dramatik erhält, wenn nicht nur die Venenwände, sondern auch die durch sie gebildeten Venenklappen zer- stört werden. „Dann kommt verstärkt auch die schlechte Hämodynamik zum Tragen“, erklärte Nees auf dem Kölner Forum.
Acetylsalicylsäure wirkt nicht nur arteriell
Er forderte zugleich eine deutli- che Stärkung der phlebologischen Grundlagenforschung und speziell die Entwicklung von Strategien zur Früherkennung von Venenerkrankun- gen. Dies ist umso bedeutsamer, als es durchaus Möglichkeiten gibt, die Progression der Erkrankung aufzuhal- ten. Als Beispiel nannte Nees die medi- zinische Kompressionstherapie sowie Pharmaka wie die Hydroxy- ethyl-Rutoside und auf Aes- cin standardisierte Rosskasta- nienextrakte.
Therapeutische Bedeu- tung misst er auch der Acetyl- salicylsäure bei, die keines- wegs nur auf das arterielle System wirkt. „Es geht weni- ger um die Plättchenaggrega- tion. Die Thrombozyten ha- ben weitere Funktionen und setzen Mediatoren frei, wel- che die Endothelzellen ver- anlassen, die Zellverbindungs- strukturen zu lösen“, sagte Nees. Auch diese Funktion kann durch Acetylsalicylsäure gehemmt werden, wie In-vitro-Untersuchungen zeigen.
Doch besteht auch in dieser Hin- sicht nach Nees noch erheblicher For- schungsbedarf. Christine Vetter
P O L I T I K MEDIZINREPORT
Venenerkrankungen
Forschungsdefizite trotz hoher Morbidität
Das 24. Interdisziplinäre Forum der Bundesärztekammer plädiert für die Entwicklung von Früherkennungs-Strategien.
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Periphere Gefäßleiden – abgebildet das Ulcus cruris – werden immer noch als Risikofaktor für andere kardiovaskuläre Ereignisse unterschätzt. Foto: Archiv