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Mythopoiesis der Organisierten Kriminalität in deutschen Fernsehserien: Erzählmuster zwischen fiktionaler Tradition und 'authentischen Fällen'

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Academic year: 2022

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(1)

Ina Schlegel

Mythopoiesis der Organisierten

Kriminalität in deutschen Fernsehserien

Erzählmuster zwischen fiktionaler Tradition und

‚authentischen Fällen‘

Dissertation

Sozialwissen-

schaften

(2)

Mythopoiesis der Organisierten Kriminalität in deutschen Fernsehserien

Erzählmuster zwischen fiktionaler Tradition und ‚authentischen Fällen‘

Inauguraldissertation

zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie an der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften

der FernUniversität in Hagen

vorlegelegt von Ina Schlegel, M.A.

September 2019

Betreuer und Erstgutachter: Prof. Dr. Michael Niehaus Zweitgutachterin: Jun.-Prof. Dr. Irina Gradinari

Promotionsfach: Neuere deutsche Literaturwissenschaft Datum der mündlichen Prüfung: 18. April 2019

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I n h a l t s v e r z e i c h n i s

1 Einleitung ... 5

2 Mythopoetik ... 17

2.1 Mythoskonzeptionen ... 21

2.1.1 Mythos als semiotisches Modell... 22

2.1.2 Mythos als Wissensspeicher ... 32

2.1.3 Mythen und Mytheme der Kriminalitätsfiktion ... 35

2.2 Fernsehen als narratives Medium ... 37

3 Kriminalitätsnarrationen... 45

3.1 Geschichte des Themas Kriminalität ... 45

3.2 Darstellungsperspektiven ... 49

3.3 Kriminalitätsfiktion als Genre ... 52

3.4 Textualität – Sprache und Bild ... 58

4 Narration und Serialität... 59

4.1 Geschichte der Seriennarration ... 60

4.2 Formate serieller Narration: Von der Episodenserie zum Mehrteiler .... 63

4.2.1 Traditionelle Fernsehserien in Episodenform ... 64

4.2.2 Serien als Reihen ... 65

4.2.3 Serials – Mehrteiler ... 66

5 Medienkontext als Referenzrahmen ... 77

5.1 Dokumentation und Fiktion ... 78

5.2 Kontextbildung via Mythopoetik ... 84

6 Mythos und Stoff der OK ... 91

6.1 Wissen des Mythos und Wissen der Kriminologie ... 91

6.2 Poetischer Mythos: OK-Konfliktkonstellationen ... 94

6.3 OK als historischer Stoff ... 98

7 Zur Analyse der Serienbeispiele ... 102

7.1 Korpuskonstitution ... 104

(4)

7.2 Kategoriale Leitbegriffe ... 106

7.2.1 Paratexte – Intro ... 108

7.2.2 Handlung ... 110

7.2.3 Zeit- und Raumstruktur ... 111

7.2.4 Figuren ... 114

7.2.5 Erzählinstanz ... 122

8 Beispielanalysen ... 124

8.1 Beispielanalyse Eurogang ... 124

8.1.1 Nationalität – Internationalität ... 125

8.1.2 Zeitgenössische Rahmenbedingungen ... 127

8.1.3 Orte der Handlung ... 131

8.1.4 Intro ... 134

8.1.5 Licht und Dunkel ... 134

8.1.6 Exposition der Handlung ... 134

8.1.7 Figuren der OK ... 137

8.1.8 Erzählperspektive ... 139

8.1.9 Gewaltdarstellung und Spezialeffekte ... 139

8.1.10 Protagonisten des Rechts ... 141

8.1.11 Folge 4: Die letzte Lieferung ... 142

8.2 Beispielanalyse Die Straßen von Berlin ... 147

8.2.1 Nationalität – Internationalität ... 147

8.2.2 Zeitgenössische Rahmenbedingungen ... 148

8.2.3 Ort der Handlung – „Hauptstadt des Verbrechens“ ... 149

8.2.4 Intro ... 152

8.2.5 Licht und Dunkel ... 152

8.2.6 Exposition der Handlung ... 153

8.2.7 Figuren der OK ... 155

8.2.8 Erzählperspektive ... 159

8.2.9 Gewaltdarstellung und Spezialeffekte ... 162

8.2.10 Protagonisten des Rechts ... 164

8.2.11 Folge 11: Die Bazooka-Bande ... 167

8.3 Beispielanalyse The Team (2015) ... 175

(5)

8.3.1 Nationalität – Internationalität ... 175

8.3.2 Zeitgenössische Rahmenbedingungen ... 177

8.3.3 Orte der Handlung ... 179

8.3.4 Intro – Recaps ... 183

8.3.5 Licht und Dunkel ... 185

8.3.6 Exposition der Handlung ... 185

8.3.7 Erzählperspektiven ... 188

8.3.8 Figuren der OK ... 191

8.3.9 Protagonisten des Rechts ... 195

8.3.10 Handlungsverknüpfung jenseits der Figuren ... 197

8.3.11 Jean-Louis ... 199

8.4 Beispielanalyse Der große Schmerz (2015) ... 203

8.4.1 Nationalität – Internationalität ... 205

8.4.2 Zeitgenössische Rahmenbedingungen ... 206

8.4.3 Orte der Handlung ... 208

8.4.4 Intro – Recaps ... 209

8.4.5 Licht und Dunkel ... 209

8.4.6 Exposition der Handlung ... 210

8.4.7 Erzählperspektive ... 211

8.4.8 Figuren der OK ... 212

8.4.9 Protagonisten des Rechts ... 213

9 Fazit ... 215

10 Literatur- und Quellenverzeichnis ... 237

10.1 Literatur ... 237

10.2 Internetquellen ... 251

10.3 Fernsehserien auf Datenträgern ... 253

11 Abbildungsverzeichnis ... 253

Danksagung………...254

(6)

1 Einleitung

Das Genre, das seit vielen Jahren verkürzt ,Krimi‘ genannt wird, war seit dem 19. Jahrhundert Bestandteil der ästhetisch eher anspruchslosen Unterhaltungs- literatur1 und ist heute weit verbreitet in Fernsehprogrammen. Unter den Fern- sehserien nimmt es eine herausragende Stellung ein und genießt hohe Ein- schaltquoten. Anteile von Kriminalthemen in deutschsprachigen TV- Programmen betrugen bereits 2005 durchschnittlich 19 % der Sendezeit von Fiktion.2 ,Krimi schauen‘ von der wöchentlichen Episodenfolge bis zum stun- denlangen ,Koma-Gucken‘“3 (engl. ,Binge Watching‘) neuerer Serials gehört für viele Menschen zur Freizeitgestaltung. Ob dies auf die Weltwahrnehmung des Publikums einen Einfluss hat, bleibt weiterhin umstritten; DER SPIEGEL mo- nierte, dass das ZDF im Jahre 2015 437 Kriminalfiktionen gesendet habe und die Zuschauer den Eindruck gewinnen müssten, die Welt bestünde aus nichts als Schurken und Ermittlern.4

Doch obwohl sie flächendeckend konsumiert werden, erfahren TV- Kriminalfiktionen nicht überall Anerkennung, Vorwürfe cinéastischer und narra- tiver Trivialität sind geläufig. Für die Grundstruktur von Kriminalserien gilt, was thematisch unabhängig für alle Serien gilt, der Begriff „impliziert [...] das Merk- mal Wiederholung“5. Erzählmuster und Komplexität von Kriminalitätsfiktion im Fernsehen stehen weithin unter dem Vorbehalt narrativer Vereinfachung und

„Nivellierung“6, die als Unzulänglichkeit gegenüber wie auch immer bestimmter

1 Zum historischen Überblick vgl. u. a. Tom Zwaenepoel: Dem guten Wahrheitsfinder auf der Spur. Das populäre Krimigenre in der Literatur und dem ZDF-Fernsehen. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 27ff.

2 Vgl. Camille Zubayr/Stefan Geese: Krimis im deutschen Fernsehen. Angebot, Nutzung und Bewertung von Kriminalfilmen und -serien. In: Media Perspektiven, Heft 10, 2005, S. 511-520.

3 Acht Stunden Koma-Gucken in der ZDF-Mediathek. Handelsblatt 2015. URL:

www.handelsblatt.com/panorama/tv-film/the-team-zdf-ermoeglich-binge-watching/11476610-3.html (Zugriff: 23.07.2017)

4 Vgl. Martin Müller: 437 Krimis in 365 Tagen. In: Der Spiegel. URL:

http://www.spiegel.de/kultur/tv/zdf-zeigte-437-krimis-in-365-tagen-in-2015-a-1082685.html (Zugriff:

23.12.2017)

5 Michael Niehaus: Was ist ein Format? Hannover: Wehrhahn 2018, S. 86.

6 Angela Keppler/Martin Seel: Zwischen Vereinnahmung und Distanzierung. Vier Fallstudien zur Mas- senkultur. Merkur 45, 1991, S. 877-889; hier 879.

(7)

Authentizität7 beklagt wird – es mag anfangs vorwiegend „im intellektuellen Mi- lieu Ressentiments“8 gegeben haben, heute gehören diese zur weitverbreiteten Medienskepsis.

Unter den Kriminalitätsfiktionen sind Genreausprägungen wie Polizei-, Detektiv- oder Gangsternarrationen schon vielfach reflektiert und erforscht worden.9 In den vergangenen Dekaden ist ein Stoffkomplex hinzugekommen, der sich von den traditionellen Figurenkonstellationen unterscheidet: Organisierte Kriminali- tät (OK). Es handelt sich dabei um einen eigenen Stoff, der nicht nur eine fort- geschrittene Ausgestaltung des Bandensujets mit zugehörigen sozialen Milieus etc. darstellt. Banden sind aus Sicht von Ermittlungsbehörden und Kriminologie

„ein lokales Problem“10, das über eine festgefügte Sozialstruktur verfügt und an einen Ort gebunden ist. Heute wird der Terminus vor allem für Gruppen ver- wendet, die Stadtviertel oder ganze Städte mit deliktischem Handeln überzie- hen, sogenannte „Straßenbanden“ oder „Gangs“.11 In Filmen und TV-Serien bildet dies seit Langem in Form von Schmuggler-, Erpresser- und Einbrecher- banden ein Sujet, am ausgeprägtesten wohl in den Organisationsformen der süditalienischen und US-amerikanischen Mafia, die eine deliktische Gegenwelt mit umfangreichen sozialen Regeln aufstellen, bei denen wirtschaftlicher Erfolg nicht immer oberste Leitlinie ist.

Während Banden angestammte Räume, Zielgruppen und Deliktfelder haben, handeln Akteure der OK nach dynamischen Gesetzen von Märkten. Die Akteu- re formieren sich „aus lockeren Zusammenschlüssen von Geschäftsleuten, Poli-

7 Vgl. Dennis Gräf/Stephanie Grossmann/Peter Klimczak/Hans Krah/Marietheres Wagner: Filmsemiotik.

Eine Einführung in die Analyse audiovisueller Formate. 2. Auflage, Marburg: Schüren 2017, S. 227.

8 Nora Hilgert: Unterhaltung, aber sicher! Populäre Repräsentationen von Recht und Ordnung in den Fernsehkrimis „Stahlnetz“ und „Blaulicht“, 1958/59-1968. Bielefeld: transcript 2013, S. 399.

9 Vgl. Arno Meteling. Gangsterfilm. In: Markus Kuhn/Irina Scheidgen/Nicola Valeska Weber (Hg.):

Filmwissenschaftliche Genreanalyse. Eine Einführung. Berlin/Boston: De Gruyter 2013, S. 119-141, hier 119ff.; Zwaenepoel, Dem guten Wahrheitsfinder auf der Spur, S. 27ff.

10 Hans Joachim Schneider: Organisierte Kriminalität. In: Ders. (Hg.): Internationales Handbuch der Kri- minologie. Band 1: Grundlagen der Kriminologie. Berlin: De Gruyter Recht 2009, S. 691-738; hier S.

693.

11 Elmar G. M. Weitekamp: Bandendelinquenz. In: Hans Joachim Schneider (Hg.): Internationales Hand- buch der Kriminologie. Band 2: Besondere Probleme der Kriminologie. Berlin: De Gruyter Recht 2009, S. 983-994; hier S. 984.

(8)

tikern, Gewerkschaftlern und Polizisten“12, die für begrenzte Zeit an verschiede- nen Orten ein gemeinsames Ziel verfolgen. Lokale Banden, auch Mafiagrup- pen, können daran beteiligt sein, prägen jedoch weder die Tatmuster noch die Kooperationen durch ihre Sozialstrukturen. Die „Flexibilität und Prozesshaf- tigkeit der verschiedenen Erscheinungsformen des gegenwärtigen Organisier- ten Verbrechens“13 etablieren Netzwerke, die raschen Veränderungen unterlie- gen.

OK ist seinem Ursprung nach ein juristischer Begriff aus der Feldbeschreibung der Ermittlungsbehörden, er wird international verwendet. Die vorliegende Un- tersuchung stützt sich vorrangig auf die Entwicklung in Deutschland, zunächst Westdeutschlands und anschließend der gesamten vereinigten Bundesrepublik.

OK ist mit ihren Auswirkungen ein gesellschaftliches Problem, welches in allen Gesellschaften westlichen Typs parallel an Bedeutung zugenommen hat. Da jedoch die juristische Situation zunächst im nationalen Rahmen definiert ist und zudem Kriminalitätsfiktionen im Umfeld nationaler Kriminalitätsdiskurse der Me- dienöffentlichkeit verankert sind, sei die Perspektive in diesem Sinne be- schränkt. Die zu analysierenden Beispiele werden ohnehin zeigen, dass weiter- reichende politische und Verwaltungseinheiten wie die Europäische Union als reale Institutionen auf Narrationen einwirken, sobald sie im öffentlichen Leben eine entsprechende Funktion einnehmen. Ein großer Teil der Kriminalitätsfiktio- nen bedient sich realistischer Darstellungskonzepte. Dem erwartbaren Ein- wand, die Herkunft aller Mafiaserien liege aber doch im US-Fernsehen, ist mit dem Hinweis zu begegnen, dass die Bedingungen des amerikanischen Rechts- systems andere Schwerpunktbildungen erfordern und dass die chronologischen Entwicklungsschritte der US-Gesellschaft andere sind.

OK ist ein Begriff der Behördensprache. Bundeskriminalamt und Bundesminis- terium des Inneren messen dem Gegenstand auf ihren öffentlichen Internetsei- ten erhebliche Bedeutung zu und geben folgende Nominaldefinitionen:

12 Schneider, Organisierte Kriminalität, S. 701.

13 Ebd.

(9)

Die bundesweite Gemeinsame Arbeitsgruppe Justiz/Polizei (GAG) hat im Mai 1990 die folgende Definition "Organisierter Kriminalität" entwickelt: „Organisierte Kriminalität ist die von Gewinn- oder Machtstreben bestimmte, planmäßige Be- gehung von Straftaten, die einzeln oder in ihrer Gesamtheit von erheblicher Be- deutung sind, wenn mehr als zwei Beteiligte auf längere oder unbestimmte Dauer arbeitsteilig

a) unter Verwendung gewerblicher oder geschäftsähnlicher Strukturen, b) unter Anwendung von Gewalt oder anderer zur Einschüchterung geeigneter

Mittel oder

c) unter Einflussnahme auf Politik, Medien, öffentliche Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft zusammenwirken“.14

Typische Felder, auf denen solche Gruppierungen ihre kriminellen Aktivitäten entfalten, sind der Rauschgifthandel und -schmuggel, die Kriminalität im Zusam- menhang mit dem Wirtschaftsleben und Delikte der Eigentumskriminalität.15 Unterschieden werden zwei europäische Herkunftsgebiete der in der Verbre- chensprävention und Strafverfolgung hervortretenden Organisationen, „Italieni- sche Organisierte Kriminalität (IOK)“ sowie „Russisch-Eurasische Organisierte Kriminalität (REOK)“.16 Für das öffentliche Bewusstsein stehen italienische Or- ganisationen in der längeren Tradition von Mafiaerzählungen, osteuropäische Akteure kamen erst nach der Wende Ende 1989 schrittweise hinzu. Im Folgen- den wird sich die vorliegende Studie auf die REOK konzentrieren, beide ethni- schen Ursprünge weisen gewisse Unterschiede auf, die eine gleichlautende Untersuchung an beiden erheblich aufweiten würden. In den Fiktionen deut- scher Fernsehserien wurde REOK in den 1990er Jahren sukzessive berück- sichtigt, heute bildet sie einen wesentlichen Bestandteil des Stoffes OK.

Die vereinfachende Konstruktion der ,Krimis im Fernsehen‘ und ein komplexe- rer öffentlicher und Fachdiskurs über zunehmende Bedrohung durch OK bilden

14www.bka.de/DE/UnsereAufgaben/Deliktsbereiche/OrganisierteKriminalitaet/organisiertekriminalitaet_

node.html (Zugriff: 28.03.2018)

15 www.bmi.bund.de/DE/themen/sicherheit/kriminalitaetsbekaempfung-und-gefahrenabwehr/organisierte- kriminalitaet/organisierte-kriminalitaet-node.html (Zugriff: 28.03.2018)

16www.bka.de/DE/UnsereAufgaben/Deliktsbereiche/OrganisierteKriminalitaet/organisiertekriminalitaet_

node.html (Zugriff: 28.03.2018)

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den Rahmen für einschlägige Drehbücher. Verarbeitet werden vor allem „Reiz- themen, die von journalistischer Seite vorgegeben werden“17. Auch wenn weiter unten auf die Entstehungsphase des Themas in westdeutschen Serien einzu- gehen sein wird, steht in vorliegender Studie nicht die Stoffgeschichte im Vor- dergrund. Stoffgeschichte mag ein literaturwissenschaftlicher Gegenstand über eine langwährende Historia literaria hinweg sein, für die erst kurze Entste- hungszeit des Themas OK gibt sie nicht viel her. OK bildet ein gesellschaftli- ches Problem, dem in der Realität von Politik und Ermittlungsbehörden mit gro- ßer Aufmerksamkeit begegnet wird, es ist aktuell unmittelbarer Diskussionsgegenstand der Gegenwart. Einschlägige Fernsehserien beziehen sich auf diesen Diskurs und werden von den Medien ihrerseits in diesen einbe- zogen. Drehbuchautoren betreiben ernsthafte Recherche und genießen dabei – wie seit den 1950er Jahren schon18 – Unterstützung durch Fachleute aus den Behörden, Fernsehkritiker untersuchen den Inhalt von Serien in „Realitäts- checks“19. Das deutsche Publikum bewertet diese Referenz positiv: „Nur eine Minderheit ist der Meinung, dass die [...] gezeigten Geschichten ,zu weit herge- holt sind‘“20, „54 Prozent der Publika [...] halten sie für ,glaubwürdig und authen- tisch‘“.21 Damit wird eine Haltung fortgesetzt, die zu Beginn bundesdeutscher Produktion von Kriminalserien offiziell vertreten wurde, dass nämlich eine

„überzeugende Darstellung polizeilicher Arbeit“22 angestrebt werde, die Aufklä- rung und Abschreckung zugleich biete. Ein deutscher „journalistisch- dokumentarischer Ansatz“23 – auch als rein „dokumentarischer Ansatz“24 be-

17 Klaus Plake: Handbuch Fernsehforschung. Befunde und Perspektiven. Wiesbaden: Springer 2013, S.

143.

18 Vgl. Christian Hißnauer: Stahlnetz + Kommissar = Tatort? Zur Frühgeschichte bundesdeutscher Krimi- serien und -reihen. In: Ders.: Stefan Scherer/Claudia Stockinger (Hg.): Zwischen Serie und Werk: Fern- seh- und Gesellschaftsgeschichte im ,Tatort‘. Bielefeld: transcript 2014, S. 147-217; hier 161.

19 Vgl. Jonas Jansen: Todesfluss Thaya? In:

www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/tatortsicherung/wiener-tatort-grenzfall-im-realitaets-check- 13467756.html (Zugriff: 27.6.2016)

20 Zubayr/Geese, Krimis im deutschen Fernsehen, S. 519.

21 Ebd., S. 518.

22 Nora Hilgert, Unterhaltung, aber sicher!, S. 10.

23 Hißnauer, Stahlnetz + Kommissar = Tatort?, S. 155.

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zeichnet – wurde, angeregt durch amerikanische und englische Serien, um den Aspekt der Unterhaltung ergänzt. Die Verantwortlichen der Reihe Stahlnetz (1958) etwa beriefen sich ausdrücklich auf „vorgeblich authentische Fälle“25, während die Drehbuchautoren zugleich freimütig einräumten, „deutliche Fiktio- nalisierung“26 zu betreiben. Das Verhältnis einer engen Beziehung ist geblie- ben.

Auf den wechselseitigen Verweis zwischen den faktualen und fiktionalen Zei- chen wird heute von beiden Seiten vertraut; auch Sprecher der Behörden be- dienen sich ihrerseits in öffentlichen Stellungnahmen immer wieder des Ver- gleichs „wie im Krimi“. Die Elemente fiktionaler Diegesen bieten „semantische Referenz“27 auf gesellschaftliche Realität, ihre Zeichen stehen „auf einer abs- trakten Ebene“28 in Verbindung mit dem, was aus der Lebenswelt bekannt ist, die erzählte Welt schließt eine Ähnlichkeit mit der Erfahrungswelt ein. Authenti- zitätssignale fungieren in diesem Kontext als „Marker für die Relevanz der dar- gestellten Problematik“29.

Auffällig ist, dass in Nachrichten über Ermittlungserfolge gegen OK wenig Spek- takuläres berichtet oder gezeigt wird; Haufen von verpackten Drogen, Waffen oder auch einmal wertvolles Diebesgut liegen auf Tischen ausgebreitet, schwer bewaffnete Sicherheitskräfte stehen im Hintergrund und wortgewandte Staats- anwältinnen oder Staatsanwälte geben knappe Erklärungen ab. Bilder wie das Folgende gehören zum medialen Alltag:

Abb. 1: Beschlagnahmte illegale Drogen

24 Ingrid Brück: Alles klar, Herr Kommissar? Aus der Geschichte des Fernsehkrimis bei ARD und ZDF.

Bonn: ARCult Media 2004, S. 85.

25 Hißnauer, Stahlnetz + Kommissar = Tatort?, S. 171.

26 Ebd., S. 166.

27 Gräf et al., Filmsemiotik, S. 224.

28 Ebd.

29 Ebd.

(12)

Quelle: Tagesschau 20.07.2017.

Ein durch Absperrbänder markierter Tatort vielleicht, ein zerstörter PKW – ei- gentlich ergibt sich aus den Nachrichten kein eindrucksvolles und nachvollzieh- bares Bild schwerer Verbrechen. Beiträge über Kriminalität und Ordnungsbe- hörden machen innerhalb der Nachrichten der ARD und des ZDF 2012-2014 zwischen 1 bis 2 %30 aus, in deren Nachrichtenmagazinen zwischen 3 und 8 %, in diesen Zahlen sind jegliche Delikte und Täterprofile enthalten. Berichte aus dem Bereich der OK beziehen sich in der Regel auf Razzien, die Präsentation beschlagnahmter Güter oder auf den Abschluss von Gerichtsverfahren, im Agenda-Setting der Redaktionen sind andere Themen wichtiger.

Im fiktionalen Teil des Programms ist Kriminalität anteilig weitaus stärker reprä- sentiert als in Nachrichten und Dokumentationen. Inszenierung von Handlungen einer OK überbieten in der Fiktion alles, was aus einer lebensweltlichen Realität bekannt sein kann. Im Alltag ist OK unsichtbar, jedenfalls im Hinblick auf Er- scheinungsformen wie Gewalt, bandenmäßige Auftritte und ähnliche Merkmale, die im Fernsehfilm gerade das Thema OK wiedererkennbar machen. Eine Aus- nahme im Alltag bietet Max Mustermann, wenn er beim Dealer seines Vertrau-

30 Vgl. Udo Michael Krüger: Profile deutscher Fernsehprogramme – Tendenzen der Angebotsentwick- lung. Programmanalyse 2014 - Teil 1: Sparten und Formen. In: Media Perspektiven 3/2015, S. 146-163.

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ens illegale Drogen erwirbt. Die kleine Menge, die er erworben hat, liegt unter jenem Quantum zum Eigengebrauch, die in der Regel toleriert werden.31 Dro- genhandel fällt aber als Delikt per Gesetz in den Bereich der OK, dies wird von der Bevölkerung so nicht wahrgenommen.

Wenn Polizeisprecher in Pressekonferenzen nach Tathergängen gefragt wer- den, benutzen sie nicht selten den Vergleich ,Wie im Krimi‘, Journalisten verfah- ren ähnlich, anstelle der Berichte über (unbekannte) Taten tritt ein Vergleich des Typs „wie das Drehbuch zu einem Mafia-Epos“.32 Es werden in diesen Fäl- len keine Tatsachen dargelegt und Tathergänge erklärt, es wird Bezug genom- men auf vorhandene und allgemein als bekannt vorausgesetzte fiktionale Nar- rationen. Dabei wird gelegentlich konkret auf kanonisierte Werke verwiesen – der Hollywoodfilm „Der Pate“ erfreut sich einer gewissen Beliebtheit –, in der Regel handelt es sich jedoch nur um Anspielungen auf Stereotype. Diese Mus- ter haben als Vergleichsmaßstab Aussagekraft, sie sind offensichtlich Bestand- teile einer medialen Wissensvermittlung. Es geht um zentrale Motive des Gen- res Krimi, es geht um dessen weite Verbreitung, es geht um einen Mythos.

In der Literatur- und Medienwissenschaft werden Stoffe, die allgemein bekannt sind, aus der Perspektive einer Mythopoetik untersucht. Der Sammelband „My- thopoetik in Film und Literatur“33 etwa führt die Anwendung an vielen Beispielen vor. Von Interesse ist nicht die Verarbeitung antiker mythologischer Vorbilder, wie sie die Literatur bis in die Neuzeit prägt, sondern die Entstehung neuerer, eigenständiger Mythen und Mytheme. Typisch für Gangsterbiographien in die- ser mythologisierenden Form ist, dass sie einerseits aus dokumentarischen Quellen (u. a. Zeitungsberichten) hervorgehen, andererseits aber fiktional aus- gestaltet werden. Al Capone zum Beispiel ist als historischer Bandenchef all- gemein bekannt, wird jedoch heute weniger mit Ermittlungsakten und Pressebe- richten verbunden als vielmehr mit fiktionalen Ausgestaltungen eines

31 Vgl. http://www.fazemag.de/cannabis-und-die-deutsche-rechtslage/ (Zugriff: 28.08.2017)

32 Diana Maier: Mafia-Mord. Blutrache in Duisburg. In: Der Tagesspiegel 15.08.2007. URL:

http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/mafia-mord-blutrache-in-duisburg/1014296.html (Zugriff:

06.11.2016)

33 Vgl. Matthias Bauer/Maren Jäger (Hg.): Mythopoetik in Film und Literatur. München: et+k 2011.

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sagenhaften Gangsterlebens. Was eigentlich als Erinnerung bleibt, sind erfun- dene Darstellungen.

Mythen sind „Erinnerungsfiguren“34, die „kulturelles Wissen speichern“.35 Als Medienbeiträge konstituieren sie eine Wissensquelle und ein kulturelles Ge- dächtnisarchiv.36 Einschlägige Erzählungen transportieren keineswegs bloße Stoffe, sondern zugleich deren Bedeutungen und Strukturen. Einer „nachmytho- logischen Rationalität“37 erscheint Mythos als „narrative Überlieferung aus einer vor-schriftlichen Epoche“38, doch seit dem frühen 20. Jahrhundert sind mythi- sche Strukturen neu bewertet, wobei Mythos dann „nur mehr eine Struktur ohne Inhalt darstellt“39. Eine Analyse mythologisierender Texte kann sich besonders auf die Ansätze Lugowskis und Barthes’ stützen. Der Erstere legt dar, dass die mythische Struktur ein vorbestimmtes musterhaftes Ende – im Gegensatz zur Offenheit neuzeitlicher und moderner Werke autonomer Kunst – aufweise40, der Zweite weist auf eine spezifische Zeichenverwendung in der Mythologisierung als typische Verfahrensweise der massenmedialen Darstellung hin.41 Beide An- sätze erlauben es, mythologisierende Muster als Verfahren zu erklären, wie verschiedene mediale Formate auf standardisierte Mytheme zugreifen können.

34 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hoch- kulturen. 2. Auflage, München: Beck 2002, S. 52.

35 Claudia Jünge/Michael Schwarze: Mythopoiesis in der europäischen Romania der Gegenwart. In: Dies.

(Hg.): Unausweichlichkeit des Mythos: Mythopoiesis in der europäischen Romania nach 1945. München:

Meidenbauer 2007, S. 18.

36 Vgl. Leif Kramp: Gedächtnismaschine Fernsehen. Band 1: Das Fernsehen als Faktor der gesellschaft- lichen Erinnerung. Berlin: Akademie 2011.

37 Gerhart von Graevenitz: Mythos. Geschichte einer Denkgewohnheit. Stuttgart: Metzler 1987, S. 293.

38 Ute Heidmann Vischer: Mythos. In: Harald Fricke/Fricke Braungart/Klaus Grubmüller/Jan-Dirk Mül- ler/ Friedrich Vollhardt/Klaus Weimar (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubear- beitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 2, Berlin/New York: De Gruyter 2000, S. 664-668; hier 664.

39 Volker C. Dörr: Mythomimesis. Mythische Geschichtsbilder in der westdeutschen Erzählliteratur der frühen Nachkriegszeit (1945-1952). Berlin: ESV 2004, S. 28.

40 Vgl. Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. Studien zur inneren Struktur der frü- hen deutschen Prosaerzählung. Berlin: Junker & Dünnhaupt 1994, [Erstveröffentl. 1932].

41 Vgl. Roland Barthes: Mythen des Alltags. 4. Auflage, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2016.

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Fiktionale Musterbildung im Fernsehen wird von Formaten der Serialität domi- niert, deren künstlerische „Werkhaftigkeit“42 in Frage steht. Serien folgen einge- führten Schemata, gegeneinander und in sich selbst sind sie durch Schemava- riationen gekennzeichnet: „Als Format legt eine Serie des Fernsehens eine Anzahl von Regeln fest, eine Formel, nach der die Episoden zu bilden sind, und zwar so, dass die Varianz, die Anzahl verschiedener möglicher Episoden ten- denziell gegen unendlich gehen kann“43.

Auch wenn semantische Verweise auf die Lebenswelt präsent sind, kann das diegetische Geschehen nicht mit Erfahrungen, dokumentarischen Darstellungen oder eben ,echten‘ Vorgängen überhaupt verglichen werden. Handlungen der OK geschehen im Verborgenen, Ermittlungsakten sind geheim und die Akteure verschwiegen. Statt der juristischen Sprache, die auch in einer vom vielbe- schworenen Rechtsstaat begeisterten Öffentlichkeit nur die professionellen Ex- perten interessiert, herrschen in den mythologisierenden Mustern eigene Sem- antiken und Rhetoriken (des Wortes und des Bildes). Das Publikum erwartet bekannte Stereotype und narrative Schemata, weil ihm deren Konstruktion und Bedeutung bekannt ist und zur Rezeption einer fiktiven Geschichte genügt. Ein realer oder gar an tatsächlichen Details orientierter Sachbezug tritt in den Hin- tergrund: „Der Alltag der Menschen und die Massenkommunikation sind nun eine Einheit eingegangen, aus der sich ein spezifischer kultureller Typ, die ,Medienkultur‘, herausbildet“44. Sie verfügt über jenes Semiotisierungsverfah- ren, das Barthes als sekundäre Zeichenverwendung beschreibt.

Stoffgeschichte und Struktur- oder Zeichencharakter sind, soll die Entwicklung der Darstellung von OK verfolgt werden, nicht gänzlich voneinander zu trennen.

Zwar mag die Variation der seriellen Schemata zu großen Teilen in der Intenti- on von Drehbuchautoren liegen (die damit zugleich auf medienspezifische Pub-

42 Frank Kelleter: Populäre Serialität. Eine Einführung. In: Ders. (Hg.): Populäre Serialität: Narration – Evolution – Distinktion. Zum seriellen Erzählen seit dem 19. Jahrhundert. Bielefeld: transcript 2012, S.

11-46; hier 15.

43 Lorenz Engell: Fernsehtheorie zur Einführung. Hamburg: Junius 2012, S. 17.

44 Ben Bachmair: Fernsehkultur: Subjektivität in einer Welt bewegter Bilder. Opladen 1996, S. 23.

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likumserwartungen eingehen45), prägend sind jedoch jene Rahmenbedingun- gen des Themas, die im umfassenden Mediendiskurs verhandelt werden. Die semantischen Referenzen schließen einerseits die fiktionalen Muster in ihrer sukzessiven Variation, andererseits den Stand der gesellschaftlichen Entwick- lung ein. Insofern ist die Frage nach der Stoffentwicklung nicht von der nach Schemavariationen zu separieren. Woher stammen die Muster, mit denen OK- Fiktionen beginnen, welchen Verlauf nehmen sie in Abhängigkeit von sowohl der jeweils zeitgemäßen Serialität als auch dem gesellschaftlichen Umfeld, auf das sie mittelbar und in Auszügen verweisen? Wenn Mythopoetik als ein Medi- um des kulturellen Wissens, des kollektiven Gedächtnisses, verstanden wird, muss sie mit den Entwicklungen Schritt halten. Entsprechend ist auf eine Ent- wicklung der Motive im Genre zu achten.

In klassischen Kriminalitätsnarrationen wird die Sympathie der Rezipienten meist auf die Detektivfigur gelenkt, Ausnahmen bieten sozialkritische Studien, die Interesse für Motivation und Werdegang von Tätern bekunden, eher selten kommt die Glorifizierung von Gangstern vor. Auch wo die Erzählperspektive die ,gute‘ und die ,böse‘ Seite der Handlung berücksichtigt, bleibt diese Sicht in der Regel erhalten, unabhängig von Strukturoptionen der Narration ist vom Grund- muster her ein – mythologisierendes – Finale die Herstellung poetischer Ge- rechtigkeit, die Aufdeckung des Verbrechens und die Aussicht auf Bestrafung von Übeltätern gefordert. Die Definition von OK benennt ihrerseits Merkmale, die mit dieser bipolaren Struktur zwischen Detektiv und seinem Antagonisten nicht spannungsfrei vereinbar sind: Verlangt sind mehrere Figuren in einer ban- denmäßigen Organisation, eine planvolle Wiederholung von Delikten, Einbin- dung in unterschiedliche Sozialstrukturen oder Milieus. Diesen multiplen De- liktmerkmalen gegenüber wäre eine einzelne Detektivfigur kaum angemessen, deshalb steht den Verbrechern ein Ermittlungsteam gegenüber. Da OK an un- terschiedlichen Orten handeln kann, können mehrere Figuren auch an ver-

45 Vgl. Robin Nelson: Entwicklung der Geschichte: vom Fernsehspiel zur Hypermedia TV Narrative. In:

Susanne Eichner/Lothar Mikos/Rainer Winter (Hg.): Transnationale Serienkultur. Theorie, Ästhetik, Narration und Rezeption neuer Fernsehserien. Wiesbaden: Springer VS 2013, S. 21-44; hier 24.

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schiedenen Schauplätzen reagieren. Zu den zu berücksichtigenden Kategorien der Interpretation gehören folglich Repräsentanten der einen wie der anderen Seite. Orte als bedeutungstragende Umgebungen gehören ebenso dazu. Wird audiovisuelle Darstellung als Narration aufgefasst – was nicht nur in Bezug auf Fiktion, sondern auch auf Dokumentation mehrheitlich der Fall ist46 –, stellt sich die Frage nach Erzählperspektive und Erzählinstanz.

Für die Rekonstruktion einer Entwicklung im Poetomythos OK sollen in vorlie- gender Studie vier beispielhafte Serien seit der Ausdifferenzierung eines stoff- prägenden Begriffs von OK im deutschen Fernsehen berücksichtigt werden. Da audiovisuelle Serialität im gleichen Zeitraum in verschiedene Formate zu unter- gliedern ist, kann der Einfluss verschiedener Muster von der Episodenserie über die Reihe mit abgeschlossenen Beiträgen bis hin zu umfangreichen Mehr- teilern (Serials) verfolgt werden. Wie werden die unterschiedlichen narrativen Spielräume von zeitlicher Knappheit bis hin zur erheblichen epischen Breite für die Strukturentwicklung benutzt? Welche Motive und Merkmale werden bei der rezent als ,Qualitäts-Fernsehen‘47 emphatisch belobigten Schemavariation mit welcher Bedeutung weiter entfaltet oder hinzugefügt?

Die Fokussierung auf bestimmte Deliktgruppen in einer Serie ist selten. In der Regel orientieren sich deutsche TV-Angebote an der Ermittlungsseite und ver- handeln als Polizeiserien48 sehr heterogene Delikte und Täterkonstellationen (mit der Einschränkung, dass überall ein Tötungsdelikt genrekonstitutiv ist). Aus der Perspektive vorliegender Arbeit werden deshalb jene Serien ausgewählt, die explizit OK darstellen.

46 Vgl. u.a. Markus Kuhn: Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell. Berlin/New York:

De Gruyter 2011; Matthias Aumüller: Einleitung. Zur Theorie der Begriffsexplikation. In: Ders. (Hg.):

Narrativität als Begriff. Analysen und Anwendungsbeispiele zwischen philologischer und anthropologi- scher Orientierung. Berlin/Boston: De Gruyter 2012, S. 1-19; Johann N. Schmidt: Narration in Film. In:

the living handbook of narratology. URL: http://wikis.sub.uni-

hamburg.de/lhn/index.php?title=Narration_in_Film&oldid (Zugriff: 18.10.2017)

47 Vgl. Jonas Nesselhauf/Markus Schleich (Hg.): Quality-Television. Die narrative Spielwiese des 21.

Jahrhunderts?! Berlin: Lit 2014.

48 Vgl. Michael Reufsteck/Stefan Niggemeier: Das Fernsehlexikon. Alles über 7000 Sendungen von ›Ally McBeal‹ bis zur ›ZDF- Hitparade‹. München: Heyne 2005, S. 361.

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Zu den Auswahlkriterien gehört ein guter Platz im Programmschema, Anspruch auf Repräsentativität besteht nicht. Um Beobachtungen nicht auf verallgemei- nernde Feststellungen beschränken zu müssen, wurden jeweils einzelne Fol- gen in den Mittelpunkt gestellt. Berücksichtigt werden die Episodenserie Euro- gang (1975) als erste unter den westdeutschen Fernsehproduktionen, die OK aufgriff. Weiterhin folgt Die Straßen von Berlin (1995-2000), wo erstmalig in ei- ner deutschen Produktion die REOK – neben anderen ethnischen Gruppen – berücksichtigt wird. Es folgt das Serial The Team (2015), eine Koproduktion verschiedener europäischer Fernsehanstalten. Am Abschluss steht die Folge Der große Schmerz (2015) aus der Reihe Tatort.

2 Mythopoetik

Kriminalfilme und -serien enthalten viele Elemente, die als allgemein bekannt vorausgesetzt werden und somit verbreitete Stereotype bilden. Protagonisten können sich, vor allem wenn sie über lange Zeiträume hinweg regelmäßig als Serienhelden auftreten, zu vertrauten Akteuren oder sogar zu Sinnbildern kon- solidieren. Derartige Konstrukte repräsentieren nicht nur Stoffe, die an anderer Stelle aufgegriffen und weiterverwendet werden können, sondern transportieren zugleich Darstellungsweisen und Bedeutungen. Der Kernbestand entsprechen- der Geschichten kann zunächst als Legende bezeichnet werden, in ihrem Sammelband „Mythopoetik in Film und Literatur“49 wählen die Herausgeber die Erzählung von Jesse James, dem Eisenbahnräuber aus dem Wilden Westen, als Beispiel für eine Analyse sowohl von damit verbundenen Überlieferungs- und Verfestigungsbewegungen, als auch Variationen des bekannten Bestan- des. Anlässlich der Verfilmung aus dem Jahr 2007 (The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford) wird gezeigt, wie Regie und Darsteller die tradierte „Legende“ variiert haben um „gegen den Mythos anzuspielen“50: Der

49 Vgl. Bauer/Jäger, Mythopoetik in Film und Literatur.

50 Matthias Bauer/Maren Jäger: Statt einer Einleitung. In: Dies. (Hg.): Mythopoetik in Film und Literatur.

München: et+k 2011, S. 7-32; hier 7.

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Western-Outlaw wird nicht mehr nur als Gewalttäter gezeigt, sondern auch in seinen menschlichen Eigenschaften.

Trotzdem bleiben die Rollen gewahrt, wie sie schon in der seit dem späten 19.

Jahrhundert kursierenden Volksmusik-Ballade, die auch im Film vorkommt, überliefert sind: Jesse ist eine Art Robin Hood („He stole from the rich and he gave to the poor“) und der Schütze, der ihn in seinem eigenen Haus hinterrücks tötete, ein dem ausgesetzten Kopfgeld verfallener Feigling („It was Robert Ford, the dirty little coward“)51. Der Vergleich mit dem viel älteren englischen Banditen aus Sherwood Forest ist wenig originell, erfolgt aber zwingend: Wenngleich ei- ne spätmittelalterliche Existenz wie die Robin Hoods historisch nicht einmal zweifelsfrei belegt ist, liegt sie doch einem grundlegenden Mythos vom „edlen Banditen“52 zugrunde. Literarische und filmische Bearbeitungen sind Legion.

Dass es sich um einen auf soziale Gerechtigkeit zielenden Räuber handelt, mag die Rezeption erleichtert haben, eine moralische Rechtfertigung ist für den Prozess der Mythisierung jedoch nicht zwingend notwendig. Die Figur des Al Capone etwa wurde, nach breiter Berichterstattung in der Nachrichtenpresse, schnell zu einem Mythem des Gangsterfilms, ohne im Geringsten edel zu sein.

Methodisch bedeutsam ist bei dieser mythopoetischen Interpretation von Le- genden, dass ein Begriff von Mythos hier unabhängig von althistorischen Be- funden über kulturstiftende Mythologien verwendet wird.

Wenn man die genannten Stofftraditionen von Robin Hood und Jesse James als Mythen bezeichnet, stellt man sie begrifflich in eine Reihe bedeutender kul- turstiftender Vorläufer. Die Helden der griechischen Mythologie wären dabei als erste zu nennen, andere Erzählungen aus vor-schriftlichen Kulturstadien gehö- ren ebenfalls dazu. Ihnen allen ist gemein, dass ihre Schicksale in künstleri- schen Ausdrucksformen überliefert wurden. Den größten Anteil daran hatte mit

51 Beide Zitate aus JESSE JAMES (aka THE BALLAD OF JESSE JAMES) (Traditional c.1882 - Billy Gashade) URL: http://lyricsplayground.com/alpha/songs/j/jessejamesballadof.shtml (Zugriff:

13.03.2017)

52 Bauer/Jäger, Mythopoetik in Film und Literatur, S. 7.

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dem Eintritt in Schriftlichkeit zunächst die Literatur53, neuerdings sind jedoch die audiovisuellen Medien gleichberechtigt zu nennen. Sie liefern nicht nur eine Verfilmung literarischer Vorbilder, sondern schaffen mit ihren Bildern ihrerseits eigene memorierbare Inhalte. Das Modell, nach welchem Mythen literarisch überliefert werden, heißt Mythopoetik, vereinfacht gesagt, liefert der Mythos den Stoff und die Bedeutung, die zugeordnete Poetik die Verfahren der Darstellung.

In der Literaturwissenschaft umfasst die Kernbedeutung des Begriffs eine

„[n]arrative Überlieferung aus einer vorschriftlichen Epoche; auch: Form eines vor-rationalen Weltverständnisses“.54 Dieser historischen Struktur- und Funkti- onsbeschreibung stehen in einem eher alltäglichen Gebrauch des Begriffsworts auch die Bedeutungen „Überlieferung, überlieferte Dichtung, Sage, Erzählung“

sowie „Begebenheit, die [...] legendären Charakter hat“55 zur Seite. Auch in der Filmwissenschaft wird „Mythos“ gelegentlich vereinfacht als „Legende“ verstan- den.56

„[Ü]berlieferte Dichtung, Sage, Erzählung“ oder „aus meist verschwommenen, irrationalen Vorstellungen“ bezeichnen weder uneingeschränkt einen kunstlite- rarischen Charakter noch glaubwürdige vernünftig berichtende Darstellungen.

Mythos ist, betrachtet man ihn aus der rationalen Perspektive einer wissen- schaftlich geschulten Weltsicht, eine unsichere Angelegenheit, eine „primitive, pre-scientific and false explanation of the world“57. Und doch trägt er kein pau- schales Merkmal der Unwahrheit mit sich, nicht einmal der historischen Un- glaubwürdigkeit: Ob es Robin Hood jemals gegeben hat, ist zwar ungewiss, über Jesse James hingegen wurden seitenweise Zeitungsberichte veröffent- licht, er war Gegenstand medialer Dokumentation. Eindeutig sind jene Merkma- le, nach denen Mythen jenseits historischer Wahrheitstreue unveränderliche Kernbestände haben, Bedeutungen oder Werte transportieren und stets wie-

53 Vgl. Robert A. Segal: Myth and Literature. In: Bent Gebert/Uwe Mayer (Hg.): Zwischen Präsenz und Repräsentation: Formen und Funktionen des Mythos in theoretischen und literarischen Diskursen. Berlin/

New York: De Gruyter 2015, S. 258-273; hier 258.

54 Heidmann Vischer, Mythos, S. 664.

55 „Mythos“. In: DUDEN. URL: www.duden.de/rechtschreibung/Mythos (Zugriff: 24.06.2017)

56 Vgl. Bauer/Jäger, Mythopoetik in Film und Literatur, S. 8.

57 Segal, Myth and Literature, S. 260.

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dererkennbar bleiben. In der Gegenstandsbestimmung ,Mythopoesie‘ ist beides enthalten, der Bezug zum Mythos und damit zur mittelbaren Referenz auf eine historische Welt ebenso wie zur poetischen Fiktionalität – vorausgesetzt, der Begriff ,Poesie‘ wird in einem modernen Sinne verstanden und nicht nur als formale Kategorie.

Schwerpunkte der Mythenforschung liegen überwiegend in historischen Überlie- ferungstraditionen, sie betreffen mythologische Stoffe und die Funktionen my- thischer Erzählungen.58 Weder die Rezeption und Verarbeitung der griechi- schen Mythologie noch die Gründungserzählungen der Religionen oder Nationalmythen sollen im Folgenden berücksichtigt werden. Auf abstrakter Ebene haben sie, wie neu gebildete Mythen auch, eine Funktion als „Instrument der Herstellung, Sicherung und Legitimation gemeinschaftlicher Identität von unterschiedlichen, sich zum Teil überlagernden kollektiven Referenzrahmen“59. Der Umfang einzelner Mythen ist schwer zu bestimmen, Grenzen über den Kernbestand hinaus variabel. Mythen setzen sich außerdem aus jeweils ver- schiedenen Bestandteilen zusammen, die übergreifend in mehreren mythischen Erzählungen auftreten können. Lévi-Strauss hat für derartige Teilstücke von Mythen den Begriff ,Mythem‘ eingeführt, Mytheme sind in seiner strukturalisti- schen Auffassung „konstituierende Einheiten“60, die selbst mythologische Be- deutung transportieren. Die Struktur von Mythen stelle deshalb kein in sich ab- geschlossenes System dar, sondern unterliege einer Kumulation als

„bricolage“61, in der „aus dem Mytheninventar bestimmte Mytheme ausgewählt und narrativ miteinander verknüpft“62 werden.

Mit einem Medienbegriff, der nicht die technischen Übertragungsmittel meint, sondern übergeordnete Zeichensysteme wie Literatur im Allgemeinen, können

58 Vgl. den kurzen Forschungsüberblick bei Jünge/Schwarze, Mythopoiesis in der europäischen Romania der Gegenwart.

59 Ebd., S. 16.

60 Claude Lévi-Strauss: Die Struktur der Mythen. In: Ders.: Strukturale Anthropologie I. Frankfurt/M.:

Suhrkamp 1977, S. 231.

61 Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1968, S. 29.

62 Stephanie Wodianka: Mythos und Erinnerung. Mythentheoretische Modelle und ihre gedächtnistheore- tischen Implikationen. In: Günter Oesterle (Hg.): Erinnerung, Gedächtnis, Wissen: Studien zur kulturwis- senschaftlichen Gedächtnisforschung. Göttingen: V&R 2005, S. 211-230; hier S. 217.

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Mythen in der genannten Funktion selbst auch als „Medien“63 aufgefasst wer- den, die aus sich heraus eine „sinnerzeugende Kraft“ 64 entfalten. Audiovisuelle Darstellungen übernehmen in wachsendem Umfang ebenfalls diese Funktion.

2.1 Mythoskonzeptionen

In den Begriff Mythopoetik gehen mehrere Theoriekontexte ein. Begriff und Phänomen des Mythos wurde aus philosophischer, literaturwissenschaftlicher und semiotischer Perspektive oft analysiert, grundlegende Erkenntnisse daraus sind in aktuellen Konzepten der Mythopoetik rezipiert worden. Auf der einen Seite wird Mythos als „[n]arrative Überlieferung aus einer vor-schriftlichen Epo- che“65 verstanden, die Erzählungen variieren die enthaltenen Geschichten, transportieren aber die Mythen oder ihre Bestandteile (Mytheme) in immer ähn- licher Konfiguration und gleicher symbolischer Grundbedeutung. Es gilt, dass im Mythos „dieselben mythologischen Elemente immer neu kombiniert werden, aber gleichsam in einem geschlossenen System, im Gegensatz zur Geschichte, bei der es sich um ein offenes System handelt“.66 Lévi-Strauss betrachtet My- thos als vor-historiographische Überlieferungsform, die Wende von der mythi- schen Prägung hin zur historischen Wissenschaft und zum Logos allgemein sei im 17. und 18. Jahrhundert erfolgt.67 Die Diskussion, ob im Mythos Logos ent- halten sei oder ob letzterer sich mit der und durch die Abtrennung vom Mythos als eigenständige und vorherrschende Begriffs- und Darstellungsform durchge- setzt habe, braucht im vorliegenden Kontext nicht zu interessieren68, ebenso wenig wie die Frage, ob alte Mythen letztlich auf einen archaischen Grundmy- thos zurückgeführt werden können.69 Im Mittelpunkt steht im Folgenden die Frage nach der Form, in denen neue mythologische Erzählungen im Sinne der

63 Ebd., S. 18.

64 Ebd., S. 19.

65 Heidmann Vischer, Mythos, S. 664.

66 Claude Lévi-Strauss: Mythos und Bedeutung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980, S. 53.

67 Vgl. ebd., S. 17f.

68 Vgl. Serena Grazzini: Der strukturalistische Zirkel. Theorien über Mythos und Märchen bei Propp, Lévi-Strauss, Meletinskij. Wiesbaden: DUV 1999, S. 93.

69 Vgl. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979, S. 192ff.

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eingangs beschriebenen Legenden erzeugt und überliefert werden. Welche Rolle von edlen oder nicht edlen Banditen darin gespielt werden, wird erst in einem weiteren Schritt zu erörtern sein.

2.1.1 Mythos als semiotisches Modell

Die am weitesten reichende Diskussionsgrundlage im Rahmen der Medien- und Kulturwissenschaften hat der form- und zeichenorientierte Mythosbegriff von Roland Barthes erfahren. Er wurde in einem theoretischen Abriss entwickelt, der sich auf eine erfolgreiche Serie kurzer Abhandlungen von Ereignissen und Konstellationen stützt, die Bestandteil der französischen Alltags- und Medien- kultur der 1950er Jahre waren. Die Analyse geschieht aus synchroner Perspek- tive, Barthes greift nicht auf historische Vergleiche oder Herleitungen zurück:

Mythos ist hier ein Kommunikationsmodell der Gegenwart – im Titel der Ab- handlung „le mythe, aujourd’hui“ deutlich betont –, das „ephemere, ja triviale Phänomene der massenmedial strukturierten modernen Gesellschaften, wie Mode, Plastik und Werbung“70 betrifft. Es richtet sich nicht auf Poesie und ist somit zunächst unabhängig vom Zusammenhang zwischen Mythos und Litera- tur oder Film konzeptionalisiert.

Die deutsche Übersetzung – auch die neue aus dem Jahr 2012 – setzt eigene Akzente, die Barthes’ Beiträge als Kommentare zu „Praktiken der Alltagskul- tur“71 verstehen: Der Plural „mythologies“ im Titel der Originalausgabe wird mit

„Mythen des Alltags“ übersetzt, statt einer Vielzahl von mythologisierenden Er- zählungen entsteht der Kontext eines singularischen „Alltags“. Wo Barthes aus der Serie seiner periodischen Glossen abschließend und ergänzend eine theo- retische Quintessenz zieht, die keineswegs auf Alltag in Abgrenzung von etwas Anderem, sondern auf gesellschaftliche Zustände und Lebensbedingungen ab- zielt, äußert der deutsche Text von vornherein den Vorbehalt, es handele sich ,nur‘ um Alltägliches.

70 Mona Körte/Anne-Kathrin Reulecke: Einleitung: Intellektuelle Korrespondenzen. Roland Barthes’

Mythen des Alltags – Mythologies. In: Dies. (Hg.): Mythen des Alltags – Mythologies. Roland Barthes’

Klassiker der Kulturwissenschaften. Berlin: Kadmos 2014, S. 7-22; hier 7.

71 Ebd., S. 8.

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Für die vorliegende Argumentation soll kein Alltagsbegriff, der immer auch eine Abwertung gegenüber anderen als ,besonders‘ verstandenen Kulturbereichen impliziert, im Vordergrund stehen, vielmehr wird die von Barthes vorgefundene Bedeutung oder Bedeutungsentstehung auf alle Medienprodukte übertragen.

Speziell das in vorliegender Arbeit im Vordergrund stehende Fernsehen ist Vermittler jener Zeichenhaftigkeit, die die „mythologies“ ausmacht. Auch wenn Barthes in seiner Abhandlung den vorgefundenen Mythos als „entpolitisiert“

markiert, ist seine eigene Betrachtung im Sinne weltanschaulicher Gegensätze der späten 1950er Jahre doch selbst politisch; dieser Aspekt, die Aufteilung in politische Rechte und Linke zumal, kann heute allerdings zurückgestellt wer- den. Was bleibt und rezent immer wieder neues Interesse geweckt hat, ist die semiotische Konzeption des Mythosbegriffs.

Barthes zeigt anhand der höchst divergenten Gegenstände zeitgenössischer

„,mythologies“, deren mythologisierenden Charakter er erst durch seine Be- schreibung oder Darstellung, oft seine Interpretation, kenntlich macht, eine Zei- chenhaftigkeit, die er der bürgerlichen Gesellschaft zuordnet. Seine betrachten- den Artikel demonstrieren, wie diese Art Mythos zu entziffern ist, zugleich kommentieren sie die Entzifferung kritisch und machen die vorgefundene be- sondere Aussageweise deutlich. Das Verfahren ist durchaus mit dem Hinterfra- gen der Frankfurter Schule zu vergleichen. Weil die vorgeführten Beispiele Ge- genstände, Sachverhalte, Formen des sozialen Handelns und medialer Darstellung betreffen, ist der Zeichenbegriff, der daraus abstrahiert wird, umfas- send anwendbar. Rezeption und Ausübung der in den „mythologies“ skizzierten Darstellungen und Kulturpraxen ziehen keine besondere Aufmerksamkeit auf sich, Barthes unterstellt – mit dem Recht des teilnehmenden zeitgenössischen Beobachters – ihre weite Verbreitung. Nur gelegentlich verweist er auf die Be- teiligung des Massenpublikums an der Konstitution, Durchsetzung und Verbrei- tung von Mythemen mit Hinweisen, dass davon „ein ganzes Volk zehrt“72 oder

„in gespannter Erwartung“73 seine Faszination darauf richte. Eine der Vermitt-

72 Barthes, Mythen des Alltags, S. 196.

73 Ebd., S. 197.

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lungsinstitutionen neben der allgemeinen sozialen Praxis bildet die „Presse- kampagne“74.

Dies bestätigt, dass die überwiegende oder allgemeine Rezeption, die Teil sei- nes kommunikativen Mythosbegriffs ist, stets massenhaft und unreflektiert statt- findet: Wenn Barthes darauf hinweist, dass die mythische Verfasstheit der beo- bachteten Phänomene letztere ,natürlich‘ erscheinen lasse, beschreibt gerade dies einen Wahrnehmungsvorgang, in dem keine Fragen gestellt und keine Gründe gesucht werden. Jene Fähigkeit, die oben mit Jünge/Schwarze „sinner- zeugende Kraft“ genannt wurde – und die mit Barthes kritisch ,sinnverringernde‘

oder ,-kanalisierende‘ Kraft heißen könnte, wissenschaftlich gesprochen als komplexitätsreduzierend –, ist nicht nur eine der Narration inhärente Sinnfestle- gung, sondern hat zugleich „den Charakter einer Aufforderung, einer Anrufung“.

Der Mythos, „unmittelbar aus kontingenten Umständen auftauchend [...,] richtet [...] sich an mich“ [Hervorhebung im Original].75

Die Leistungen des Mythos, der das zeitgenössische Leben in diesem Sinne prägt, gründen sich auf eine besondere Zeichenstruktur. Barthes beginnt mit der Aussage „Der Mythos ist eine Rede [parole]“.76 Auf das Saussure‘sche Zei- chenmodell bezogen, heißt dies zunächst, dass nicht das Sprachsystem (langue) die mythologisierende Funktion generiert, sondern eine Selektion ge- eigneter Mittel zur Realisierung der Kommunikationsakte, die Rede (parole). Die in der mythischen Rede verwendeten Zeichen bezeichnen nicht einfach Gegen- stände, sondern verweisen zugleich (oder vorrangig) in einem Prozess in zwei- ter Ebene auf jene sachbezeichnenden Signifikanten, die den Signifikaten in der normalen Rede zugeordnet sind: „Das sprachliche oder bildliche Zeichen der ersten Ordnung wird dabei zum Ansatz, zum Signifikantenmaterial eines neuen, des mythischen Zeichens“.77 Mythische Zeichen bilden somit eine Gruppe von

74 Ebd.

75 Ebd., S. 271.

76 Ebd., S. 251.

77 Körte/Reulecke, Einleitung: Intellektuelle Korrespondenzen, S. 14.

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Zeichen zweiter Ordnung, die gegenüber dem ursprünglichen Signifikationspro- zess modifiziert werden.

In folgender Graphik ist die Ordnung der mythologisierenden Zeichen zweiten Grades (hier mit römischen Ziffern als Ordnungszahlen) wiedergegeben, es entsteht eine neues „Bedeutetes“:

Abb. 2: Signifikationsprozess des modernen Mythos

Quelle: Barthes 2016, S. 259.

Die Trennung bewirkt unterschiedliche Bedeutungsverschiebungen, in denen all jene Aussagemerkmale auftreten können, die Barthes dem Mythos zuordnet:

Die Aussagen werden anonymisiert78, enthistorisiert und entpolitisiert79, um eine falsche Natürlichkeit vorzutäuschen, um so zu tun, als seien sie „offenkundig vom Himmel gefallen“80:

Der Mythos leugnet nicht die Dinge, seine Funktion ist es vielmehr, davon zu sprechen; er reinigt sie einfach, gibt ihnen ihre Unschuld zurück, gründet sie in

78 Vgl. Barthes, Mythen des Alltags, S. 288.

79 Vgl. ebd., S. 294.

80 Ebd., S. 196.

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Natur und ewige Dauer, gibt ihnen die Klarheit nicht einer Erklärung, sondern ei- ner Feststellung [...] Er beseitigt die Komplexität der menschlichen Handlungen, verleiht ihnen die Einfachheit der Wesenheiten, unterdrückt jede Dialektik, jeden Rückgang hinter das unmittelbar Sichtbare; er organisiert die Welt ohne Wider- sprüche, weil ohne Tiefe, ausgebreitet in der Evidenz; er legt den Grund für eine glückliche Klarheit.81

Grundsätzlich kann diese Distanzierung der Zeichen zweiter Ordnung vom ur- sprünglichen Signifikat hier in Parallele zur strukturalistischen Filmsemiose ge- setzt werden. Unabhängig von der Qualität der sekundären Bedeutungsbildung – die eben genannten Bedeutungsverschiebungen können durch andere ersetzt werden – verwendet der fiktionale Film als „sekundäres“ Modell genau diesen Prozess, nämlich bekannte Bilder – ausgewählt als ikonisierende Sichtbarma- chung des Ausgewählten innerhalb des Raumes eines allgemein Sichtbaren – in einen neuen Zusammenhang zu stellen. Film als „sekundäres, modellbilden- des System“82 in strukturalistischen Definition Lotmans wählt Teile aus dem Kosmos des Sichtbaren aus, lädt sie mit sekundärer Bedeutung auf und fügt sie zu einer modellhaften geschlossenen Diegese zusammen. Die sekundären Be- deutungen können aus beliebigen Kontexten bestehen, im Kontext eines um- fassenden Fernsehprogramms besteht jedoch eine Tendenz, sie aus den My- then der Weltvermittlung dieses weltbildprägenden Mediums zu übernehmen.

Wenn eine Fernsehdarstellung auf die andere verweist, kann sich der Fern- sehmythos sogar als selbstreferentielles Verfahren innerhalb des gesamten TV- Programms erweisen.

Für die Fernsehanalyse ist hervorzuheben, dass sich die „parole“ des Mythos nicht auf die Sprache der Wörter beschränkt, sondern „sprachlich oder bild- lich“83 oder in beiden Formaten zusammen auftritt. Barthes nennt die wirkungs- volle Repräsentation mythologisierender Zeichen „magisch“ – d. h. beherr- schend und irrational –, dies gelinge bei der visuellen Wahrnehmung am

81 Ebd., S. 296.

82 Jurij Lotman: Die Struktur literarischer Texte. 2. Auflage, München: Fink 1981, S. 22.

83 Körte/Reulecke, Einleitung: Intellektuelle Korrespondenzen, S. 9.

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besten, weil „der Gesichtssinn von allen der magischste ist“84. Magie steht hier für widerspruchslose und unwidersprochene Dominanz. Visuelle Erscheinungen korrespondieren der „ikonischen Dimension des Mythos“85, sie konzentrieren die ihnen zugeordneten Bedeutungen auf engeren Raum und Kontext, als dies sprachliche Darstellung mit ihren längeren sukzessiven Zeichenketten könnte.

Dies erlaubt eine Interpretation dessen, was in Fernsehserien beispielsweise als schematische Wiederholung oder visuelles Stereotyp bezeichnet wird, po- tentiell als sekundäres Zeichen im Sinne des Mythos zu verstehen. In den Au- gen der Betrachter bestärkt die scheinbare „Bildprägnanz“86 die Möglichkeit zur mythologisierenden Stereotypenbildung.87

Doch die Ausweitung der Semiose auf Bildlichkeit bezieht sich nicht allein auf Bilder als Abbildungen, also vom Gegenstand separierte Zeichen, sie bezieht unmittelbar Gegenstände, Situationen oder Handlungen ein. Die realen Objekte können selbst die Bedeutungen ihres eigenen Mythos an sich haben, unter dem Einfluss des Mythos können sie also unkritisch gar nicht als Natürliche wahrge- nommen werden, sondern nur als Enthistorisierte im Schein jener Quasi- Natürlichkeit, die Barthes als typisch für die Redeweise des Mythos ansieht.

Ein beliebtes Beispiel aus dem Panoptikum der Barthes‘schen „mythologies“ ist sein Artikel mit dem Titel „Der neue Citroën“. Daran ist nachzuvollziehen, wie Gegenstände selbst, ohne abgebildet zu werden, ihren zeichenhaften Mythos mit sich führen, wenn dieser zuvor durch die Presse in Aussicht gestellt, nor- miert und als Erwartung eines großen Spektakels vermarktet wurde. Der den Artikel einleitende Vergleich zwischen einer Kathedrale und der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung erstmals auf den Markt gebrachten Limousine Citroën DS 19 eröffnet einen sehr weit gespannten Kontext. Der Rückgriff auf die Kathedra-

84 Barthes, Mythen des Alltags, S. 198.

85 Ebd., S. 10.

86 Thomas Abel/Martin Roman Deppner: Undisziplinierte Bilder. Fotografie als dialogische Struktur. In:

Dies. (Hg.). Undisziplinierte Bilder: Fotografie als dialogische Struktur. Bielefeld: transkript 2013, S. 9- 28; hier 9.

87 Vgl. Jörg Schweinitz: Film und Stereotyp: Eine Herausforderung für das Kino und die Filmtheorie.

Berlin: Akademie 2006, besonders S. 3ff. zum Stereotyp-Begriff; zur Wirksamkeit bildlicher Stereotype vgl. auch Volker Boehme-Neßler: BilderRecht. Die Macht der Bilder und die Ohnmacht des Rechts. Wie die Dominanz der Bilder im Alltag das Recht verändert. Berlin/Heidelberg: Springer 2010.

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le macht die gleichartige Funktion beider Gegenstände nachvollziehbar: „eine große epochale Schöpfung, die mit Leidenschaft von unbekannten Künstlern entworfen wurde und von deren Bild, wenn nicht von deren Gebrauch ein gan- zes Volk zehrt, das sie sich als ein vollkommen magisches Objekt aneignet“88. Der Citroën-Artikel wirkt in seiner Aussagekraft für gegenwärtige Leser beson- ders deutlich, weil sich das Mythem „DS 19“ (eingeschlossen die Nachfolgemo- delle) bis heute eher verdeutlicht denn abgeschwächt hat. In der Jahrzehnte andauernden Bewährung des Mythos verlor dieser freilich seine Qualität als Erzählung von Innovation.

Festzuhalten bleibt, dass in Mediendiskursen auch kurzfristig neue Mythen ge- schaffen werden können, die jedoch offenbar immer auf eine ältere mythologi- sche Narration Bezug nehmen müssen. Es stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen neue Gesichtspunkte, komplexitätsreduzierende Sinnzuschrei- bungen oder Motive überhaupt ,mythemfähig‘ werden. Aus Barthes‘ Ausführun- gen ließe sich die Antwort ableiten, dass erstens eine Tradition oder Gewohn- heit mythisierender Narration bestehen muss, zweitens ein verbreitetes Interesse an Mediendiskursen oder einer symbolgebenden Alltagspraxis und drittens eine Anknüpfung an vorbestehende Mytheme. Ein Fazit aus diesen An- nahmen lautet, dass mythopoetische Narration nicht emergent sein kann, son- dern die Ausbreitung vorhandener mythologisierender Parole auch auf jeweils neue Phänomene der Gegenwart fortsetzt.

Barthes hebt im Citroën-Artikel ausdrücklich hervor, dass, wie die Kathedrale durch die mächtige Religion und Kirche, eine längst bestehende „Mythologie des Automobils“89 die Neuerscheinung in einen bereits bestehenden Kontext einordnet. Die Limousine stelle einen Wendepunkt dar, an dem der Fetisch Au- tomobil neu mythologisiert werde: „Es ist der deutliche Übergang von einer Al- chemie der Geschwindigkeit zu einem opulenten Fahrvergnügen“90. Dabei wird die Technik der Mobilität, ursprünglich Ausgangspunkt des Automythos, durch

88 Barthes, Mythen des Alltags, S. 196.

89 Ebd., S. 197.

90 Ebd., S. 198.

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eine Mythologisierung der Ästhetik ersetzt, einer Ästhetik, die sich nicht nur in der Visualisierung vollendeter Form anschauen lässt, sondern mit allen Sinnen angeeignet wird. Barthes beschreibt, wie das Publikum auf dem Pariser Autosa- lon das ausgestellte Fahrzeug nicht nur „mit verliebtem Eifer besichtigt“, son- dern betastet, und obwohl „der Tastsinn [...] unter allen Sinnen der am stärksten entzaubernde“91 sei, keine Distanz gewinne, sondern der Magie des Objektes verfalle.

Mytheme in Film und Fernsehen können nicht taktil erkundet werden, das ge- schilderte Beispiel ist kein Vorbild für audiovisuelle Wahrnehmung. Und doch macht es die Funktionsweise des massenmedial angeregten Mythos noch ein- mal deutlich: Durch sinnliche Verfahren der Aisthesis wird er stabilisiert und ra- tionalen Annäherungen verweigert er sich (jedenfalls in Bezug auf seine unkriti- schen, also normalen Rezipienten). Allerdings trifft dies nur für die äußerliche Wahrnehmung zu, die das Objekt in seiner sekundären Zeichenhaftigkeit von den Wahrnehmenden distanziert – ein heute nicht mehr verwendeter Begriff wäre ,entfremdet‘ –, sobald die Betrachter eine Probefahrt mit dem Auto ma- chen, es sich temporär praktisch aneignen würden, könnte der Befund anders aussehen. Darum geht es beim Mythos aber gerade nicht, er kann und soll we- der der kognitiven Kontrolle noch der praktischen Erfahrung unterworfen wer- den, weil er dann möglicherweise die von Barthes durch den sekundären Zei- chencharakter definierte Magie einbüßen würde. So kann beispielsweise Max Mustermann aus der Einleitung auch gleichzeitig einen Joint rauchen und dem FBI im Fernsehdrogenkrieg die Daumen halten, das Eine ist Erfahrung, das An- dere Mythos.

Barthes’ Deskription der Citroën-Déesse postuliert einen Paradigmenwechsel im Automobilmythos, obwohl es sich eigentlich nur um Produktwerbung han- delt.92 Später hat sich Barthes auch mit der Zeichenhaftigkeit von Werbespots befasst und festgestellt, dass Werbung eine „bloße Verwendung eines Produkts

91 Ebd.

92 Vgl. Björn Weyand: Poetik der Marke. Konsumkultur und literarische Verfahren 1900-2000. Berlin/

Boston: De Gruyter 2013, S. 29.

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