Glukokortikoidinduzierte Myopathien
Aus der Sicht des klinischen Myologen
Dieter Pongratz
Aus dem Friedrich-Baur-Institut
(Leitender Arzt: Professor Dr. med. Dieter Pongratz) bei der Medizinischen Klinik Innenstadt
der Universität München
In der klinischen Praxis ist die Langzeittherapie mit Glukokortikoiden bekanntermaßen nicht selten mit einer breiten Palette von Nebenwir- kungen vergesellschaftet, In der Literatur wird immer wieder darauf hingewiesen, daß im Rahmen einer Langzeittherapie mit Gluko- kortikoiden eine erhöhte Gefahr bezüglich der Entstehung von Myo- pathien gegeben sein soll. In diesem Übersichtsaufsatz wird kritisch überprüft, was heute aus klinischer und morphologischer Sicht über glukokortikoidinduzierte Muskelaffektionen als gesichert gelten kann.
Zur Fortbildung Aktuelle Medizin ÜBERSICHTSAUFSATZ
Einleitung
In der Literatur wird immer wieder darauf hingewiesen, daß im Rahmen einer Langzeittherapie mit Gluko- kortikoiden eine erhöhte Gefahr be- züglich der Entstehung von Myopa- thien gegeben sein soll.
Dabei wird in besonderem Maße vor der Applikation 9-alpha-halogenier- ter Steroide gewarnt.
In der klinischen Praxis ist die Lang- zeittherapie mit Glukokortikoiden
bekanntermaßen nicht selten mit ei- ner breiten Palette von Nebenwir- kungen vergesellschaftet.
Diese Berichte sollen Anlaß geben, kritisch zu überprüfen, was heute aus klinischer und morphologischer Sicht über glukokortikoidinduzierte Muskelaffektionen als gesichert gel- ten kann.
Symptome
Zweifellos ist seit den klassischen Arbeiten von Cushing die Muskel- schwäche, insbesondere in den pro- ximalen Abschnitten der unteren Ex- tremitäten, als eines der zahlreichen Symptome des Hyperkortizismus wohl bekannt. Sie ist Ausdruck der katabolen Wirkung der Glukokorti- koide, welche zu einer Atrophie der Skelettmuskulatur Anlaß gibt. Dane- ben spielen aber auch Elektrolytver- schiebungen, insbesondere eine Verminderung der intrazellulären Kaliumkonzentration, eine Rolle. Sie stellt ohne Frage einen ernst zu neh- menden Befund dar, wenngleich -sie meist im Vergleich zu anderen Leitsymptomen (Vollmondgesicht, stammbetonte Adipositas, Hyperto- nie, verminderte Glukosetoleranz, Amenorrhöe, Hirsutismus) vom Schweregrad wie auch von der Häu- figkeit her in den Hintergrund tritt.
Klinische Befunde
Die klinischen Kardinalsymptome sind Schwäche und Atrophie, vor- wiegend im Bereich der Quadriceps- muskulatur.
Die zu erhebenden technischen Un- tersuchungsbefunde erscheinen im Regelfall eher diskret. So besteht so gut wie nie eine Erhöhung der CK im Serum beziehungsweise ein schwer- wiegenderer elektromyographischer Befund.
Morphologisch ist im wesentlichen eine Atrophie des Skelettmuskels nachweisbar, wobei insbesondere die anaerob arbeitende weiße Mus- kelfaser (= Typ-Il-Muskelfaser) be- ziehungsweise ganz überwiegend deren Untergruppen, nämlich die rein glykolytisch tätige Typ-IIB-Faser betroffen erscheint (Abbildung Da).
Derartige myopathologische Befun- de sind jedoch nur bei ausgeprägten Fällen eines Cushing-Syndroms zu erheben und strukturell nicht von ei- ner reinen Inaktivitätsatrophie ande- rer Genese abzutrennen.
Nur selten finden sich additiv ver- mehrt zentralständige Kerne sowie kleine vakuoläre Faserdegeneratio- nen (Abbildung Ob), wie sie wohl auf den Elektrolytverschiebungen beruhen. Die bevorzugte Atrophie der Typ-IIB-Muskelfaser korreliert mit einer entsprechenden bioche- misch nachweisbaren Verminde- rung glykolytischer Muskelenzyme.
Generell muß man darauf hinweisen, daß ähnlich wie bei allen übrigen endokrinen Myopathien die myopa- thologisch zu erhebenden Befunde, insbesondere regressive Faserver- änderungen, nur relativ dezent sind, beziehungsweise in klarem quan- titativem Gegensatz etwa zu ei- ner dystrophischen Myopathie oder einer erworbenen Polymyositis stehen.
Daraus ergibt sich zum Beispiel auch, daß bei entzündlichen Muskel- erkrankungen, welche im Regelfall schwerwiegende, auf die Grund- krankheit zu beziehende myopatho- 1458 Heft 30 vom 23. Juli 1981 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
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Abbildungen io a und) b: Muskelatrophie bei Cushing-Syndrom") C) a: Myofibrilläre ATP-ase-Reaktion bei pH 9,4 (Vergrößerung 100x) 3 b: Trichromfärbung (Vergrößerung 400x)
Allgemeine Muskelatrophie mit überwiegender Verschmächtigung eines Teils der in der ATP-ase-Reaktion dunkler tingierten Typ-Il-Muskelfasern. Bei stärkerer Vergröße- rung erkennt man vermehrt zentralständige Kerne sowie kleine vakuoläre Degenera- tionen von Muskelfasern
*) Aus: Pongratz, D.; Scriba, P. C.: Muskelschwäche als Leit- und Warnsymptom bei Endokrino- pathien, Verhandlungen Deutsche Gesellschaft Innere Medizin 84 (1978) 846-852 (mit freundli- cher Genehmigung des Verlages).
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logische Befunde aufweisen, im Therapieverlauf keine sicheren Aus- sagen über eine mögliche überla- gernde sogenannte Glukokortikoid- myopathie zu machen sind.
Tierexperimentelle Daten
Etwas anders verhält es sich mit tier- experimentellen Daten, meist ge- wonnen durch hochdosierte Appli- kation der verschiedensten Gluko- kortikoide in einem Zeitraum zwi- schen 14 bis maximal 60 Tagen, im Rahmen derer neben der zunehmen- den Ausbildung einer Typ-Il-Faser- Atrophie auch stärkere regressive Faseralterationen bis hin zu Nekro- sen beobachtet wurden.
Derartige Veränderungen wurden mit fast sämtlichen auf dem Markt befindlichen Präparaten, unter an- derem auch mit Hydrocortison in ho- hen Dosen erzeugt.
Ihre Übertragbarkeit auf die Human- medizin, speziell auf die Fragestel- lung einer vermehrten Myopath iege- fahr unter der Langzeittherapie mit einer wesentlich niedrigeren Erhal- tungsdosis, erscheint dementspre- chend fragwürdig.
Kasuistik
Prinzipiell muß darauf hingewiesen werden, daß das Symptom „Muskel- schwäche" dem Glukokortikoidex- zeß auf dem Boden eines endoge- gen oder latrogenen Cushing-Syn- droms zuzuordnen ist.
Daraus folgt, daß dieses Symptom als Therapienebenwirkung nur dann auftritt, wenn über längere Zeit die Cushing-Schwellendosis überschrit- ten wurde.
Eine präparatespezifische Häufung in der Auslösung von glukokorti- koidinduzierten Muskelaffektionen ist bis heute nicht bewiesen.
Aus der Literatur geht hervor, daß in den Jahren 1958 bis 1979 insgesamt 170 einschlägige Kasuistiken publi- ziert wurden, die im Einzelfall mehr oder minder gut belegt erscheinen.
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Glukokortikoidnebenwirkungen
Die Tabellen 1 und 2 zeigen, daß doch eine relativ breite Streuung un- ter den jeweils applizierten Präpara- ten vorhanden ist, wobei die beiden mit Abstand am häufigsten verwen- deten Substanzen, nämlich Triamci- nolon und Prednison zahlenmäßig führen.
Was die 9-alpha-halogenierten Glu- kokortikoide betrifft, so ist anzuneh- men, daß bei ihrer stärkeren Wirk- samkeit die entsprechende Äquiva- lenzdosis nicht, beziehungsweise noch nicht ausreichend Beachtung findet und demgemäß eine Überdo- sierung häufiger vorkommt.
Langzeittherapie
In der klinischen Praxis ist die Lang- zeittherapie mit Glukokortikoiden bekanntermaßen nicht selten mit fol- genden Nebenwirkungen vergesell- schaftet:
> gastrointestinale Blutungen
> Ausbildung einer Osteoporose
> Exazerbation eines Diabetes mel- litus
> Verstärkung einer arteriellen Hy- pertonie
> Verstärkung einer thrombophi- len Diathese
> steroidbedingte Katarakte
> steroidbedingte Glaukome.
Oligosymptomatisch kann all dies ohne sichere Ausprägung eines ia- trogenen Cushing-Syndroms ge- schehen.
Eine isolierte Muskelschwäche da- gegen ist nicht geläufig.
Endokrine Myopathien sind grund- sätzlich therapierbar und reversibel, sofern die Schädigung nicht lange Zeit unerkannt bestanden hat. Auf den exogenen Glukokortikoidexzeß bezogen, heißt dies, daß im Falle des Auftretens entsprechender Sympto- me die applizierte Dosis zu senken
Tabelle 1: Systemische Myopathien unter oralen/parenteralen Glu- kokortikoiden*) [nach (16)]
Hydro- Pred- Pred- 6-a- Jahr Cortison cortison nison nisolon Methyl—
pred- nisolon 1958
1959 1 3 4 9
2
1960 3 4
1
1961 2 2
1962 2 2
1963 I 3 3 2 8
1964
1965 2 1 1 5
1
1966 3 3
1967 2 2
1968 1 1 1 2
1969 1970 1971 1972 1973
1974 6 6
1975 5 5
1976 5 3 1 17
8 1977
1978 1979
6 1 51 7 5 70
*) in der Literatur beschriebene Fälle bei nicht fluorierten Präparaten
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Tabelle 2: Systemische Myopathien unter oralen/parenteralen Glu- kokortikoiden*) [nach (16)]
Jahr Para- Fluocor- Triamci- Dexa- Beta- methason tolon nolon methason methason
1958 4/6 10
1959 4/5/3 12
1960 1/3/1/1/1/2 1/2 12
1961 4/1/1 3 9
1962 5/5 3 13
1963 1 1/5/1 1 9
1964 1 2 1/2 4 10
1965 1 1 1 3
1966
1967 2
1968 1/1 2
1969 1970 1971
1972 7 3 10
1973
1974 2
1975 3 3
1976 1977 1978 1979
3 0 74 14 9 100
*) in der Literatur beschriebene Fälle bei fluorierten Präparaten
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und je nach Grunderkrankung gege- benenfalls pharmakologisch andere Substanzen zu addieren sind.
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Anschrift des Verfassers:
Professor Dr. med. Dieter Pongratz Friedrich-Bau r-Institut
bei der Medizinischen Klinik Innenstadt
der Universität München
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