DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
EDITORIAL
Angiogenese, insbesondere nach ihrer Hemmung, stand dabei im Mittelpunkt.
Kontrolle der Angiogenese ein zukünftiges
therapeutisches Ziel?
Physiologische und pathologische Aspekte der Angiogenese
Die Bildung neuer Blutkapilla- ren (Angiogenese) läuft in ei- ner geordneten Folge einzel- ner Schritte ab: Dort, meist im Bereich postkapillärer Venu- len, wo ein neuer Gefäßsproß auszuwachsen beginnt, bauen Endothelzellen lokal die Basal- membran ab, wandern in Rich- tung auf die Quelle eines An- giogenesefaktors, wachsen und teilen sich, bilden ein Ge- fäßlumen und treffen auf ande- re Gefäßsprosse oder beste- hende Kapillaren, so daß ein neuer Kapillarabschnitt ent- steht, der sich schließlich mit einer neugebildeten Basal- membran umgibt.
Aufgrund dieses formalen Ab- laufes der Angiogenese sind ganz unterschiedliche Mög- lichkeiten vorstellbar, diesen Vorgang pharmakologisch zu beeinflussen. Entscheidend dabei ist es, das Signal zu fin- den, das den Vorgang der An- giogenese starten und ent- sprechende Veränderungen an den Endothelzellen und an der extrazellulären Matrix herbei- führen kann.
In vitro sind Endothelzellen in der Lage, unter Vermittlung ei- nes angiogenetischen Signals das Programm zu exprimieren, das über die genannte Se-
quenz von Schritten schließ- lich zur Formierung neuer Blutkapillaren führt (1). Die Entwicklung von Kapillaren hängt demnach nur von den Endothelzellen selbst und von den Kulturbedingungen ab.
In vivo wird dagegen die An- giogenese von einer Reihe zu- sätzlicher Faktoren beeinflußt:
Im Normalfall ist die angioge- netische Aktivität fast vollstän- dig gehemmt. Lediglich beim weiblichen Geschlecht laufen periodisch im Zusammenhang mit dem ovariellen Zyklus in- tensivere Angiogenesevorgän- ge ab (Neovaskularisation des Corpus luteum, Aufbau der Pars functionalis des Endo- metriums). Im allgemeinen ist jedoch die Umsatzrate der En- dothelzellen im Organismus gering. Die vollständige Er- neuerung einer bestehenden Endothelzellenpopulation dau- ert Jahre, wobei ausgeprägte organ- und gewebsspezifische Unterschiede vorkommen (2).
Die strenge Kontrolle, unter der das Gefäßwachstum nor- malerweise steht, ist bei der Expansion bestimmter solider Tumoren zeitlich unbegrenzt aufgehoben. Die Idee, daß das Wachstum dieser Tumoren auch von der Angiogenese ab- hängt, wirkte sehr fördernd auf die weitere Forschung. Die Frage nach der Regulation der
Auslösung, Modulation und Regulation
des Gefäßwachstums Abgesehen von den Endothel- zellen, die ein entscheidendes
Element der Angiogenese sind, befinden sich dort, wo Angiogenese in situ abläuft, noch andere Zellarten, die das Gefäßwachstum fördern oder hemmen können.
Sowohl beim Tumorwachstum, als auch bei Entzündung und bei der Wundheilung infiltrie- ren monozytäre Zellen (Makro- phagen) den Läsionsbereich.
Welche Rolle kommt diesen Zellen bei der Modulation des Gefäßwachstums zu? Tatsäch- lich können Makrophagen ein diffusibeles angiogenetisches Signal ausschütten, das die Proliferation von Mikrogefäßen induziert (3).
Schließlich kommt noch ein weiterer Zelltyp — die Mastzelle
— dort gehäuft vor, wo Gefäß- bildungsprozesse in Gang kommen. Diese Beobachtung führte zur Entdeckung der Wirkung des Heparins auf die Lokomotion von Kapillar-En- dothelzellen. Heparin oder be- stimmte Fragmente des Hepa- rinmoleküls verstärken das Ka- pillarwachstum in diesem Sin- ne und wirken als positive Re- gulatoren der Angiogenese.
Angesichts der vielfältigen zel- lulären Interaktionen während der Angiogenese in vivo und der gewebsspezifischen Regu- lation dieses Vorgangs er- scheint die große Zahl von an- giogenetisch wirksamen Fak- toren verständlich, die bisher
2300 (48) Heft 34/35 vom 22. August 1986 83. Jahrgang Ausgabe A
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beschrieben wurden. Angioge- nese wird anscheinend nicht von einer Substanz bewirkt, die allgemein wirksam ist.
Zwei Prinzipien lassen sich un- terscheiden, die weitgehend unabhängig voneinander ab- laufen können: Angiogenese im engeren Sinne, das heißt sämtliche Vorgänge, die zur Sproßbildung führen (Auflok- kerung der Basalmembran, Lo- komotion, Migration von En- dothelzellen), sowie Mitogene- se (Proliferation von Endothel- zellen). Die bisher beschriebe- nen Angiogenesefaktoren las- sen sich demnach in Gruppen einteilen, die sich in ihrer Wir- kung auf die Mitogenese, auf die Lokomotion der am Kapil- larwachstum beteiligten Zellen und in ihrer Zell-Spezifität un- terscheiden.
Bedeutung von Heparin oder Heparinfragmenten für die Kontrolle der Angiogenese
Eine neue Entwicklung mit Perspektiven für eine klinische Anwendung ergab sich aus der Erkenntnis, daß Heparin speziell an Endothelzellober- flächen bindet und möglicher- weise eine Rolle bei der Inter- aktion von Endothelzellen mit anderen Wachstumsfaktoren (Mitogenen) spielt. In der Tat besitzt Heparin eine hohe Affi- nität zu einer Reihe endothe- lialer Wachstumsfaktoren.
Dementsprechend lassen sich Angiogenesefaktoren in sol- che, die an Heparin binden, und andere, die keine oder ei- ne schwache Affinität für He- parin aufweisen, einteilen (2).
Interessanterweise besitzt das Heparinmolekül unterschied- liche Abschnitte, von denen ei-
ner fördernd, ein anderer je- doch hemmend auf die Angio- genese wirken kann (4). Das fördernde Prinzip stimuliert die Endothelzell-Migration, während die angiogenese- hemmende Wirkung sich zeigt, wenn ein Heparin-Hexasaccha- rid-Fragment oder ein syntheti- sches Pentasaccharid mit Kor- tison kombiniert gegeben wird. Diese Zusammenstellung erwies sich im Tierversuch als klar tumor-angionese-hem- mend (5). Die angiostatische Wirkung erwies sich als unab- hängig von der antikoagulato- rischen Wirkung des Heparin- moleküls (4, 6).
Die Entdeckung der synergisti- schen Wirkung von Heparin mit Steroiden im Hinblick auf die Angiogenesehemmung führte zur Definition einer neu- en Klasse von sogenannten angiostatischen Kortikoiden.
Die angiostatische Wirkung hängt nicht mit der glukokorti- koiden beziehungsweise mine- ralokortikoiden Aktivität zu- sammen. Bestimmte angiosta- tische Steroide, wie zum Bei- spiel Tetrahydrokortisol, sind natürliche Metabolite des Kor- tisons. Möglicherweise sind diese Metabolite an der phy- siologischen Hemmung des Kapillarwachstums beteiligt.
Konsequenzen für die Praxis
Aufgrund der Eigenschaft ver- schiedener Neoplasmen, ab- normes Kapillarwachstum zu induzieren, wurden klinische Tests entwickelt mit dem Ziel, das neoplastische Potential von Biopsiematerial und von Körperflüssigkeiten in vitro an Endothelzellkulturen zu prüfen (7). Dies erscheint sinnvoll, da die angiogenetische Kapazität
von maligne entartetem Gewe- be früher in Erscheinung tritt, als entsprechende morpholo- gische oder klinische Zeichen.
Eine pharmakologische Mani- pulation der Angiogenese er- scheint wünschenswert im Hinblick auf eine Begrenzung des Wachstum solider Neo- plasmen durch eine möglichst frühzeitige Hemmung der Ge- fäßversorgung des Tumors.
Demgegenüber wäre es in an- deren Fällen (Herzinfarkt, Atro- phie des Gefäßbindegewebes, Haarwachstum) sinnvoll, Maß- nahmen zur Förderung der An- giogenese zu ergreifen. Eine allgemeine klinische Anwen- dung der neueren Ergebnisse der Angiogeneseforschung steht jedoch bisher noch aus.
Literatur
(1) Folkman, J.; Haudenschild, C., Angio- genesis in vitro. Nature 288 (1980) 551-556 — (2) Folkman, J.: Toward an un- derstanding of angiogenesis: Search and discovery. Perspectives in Biology and Medicine 29 (1985) 10-36 — (3) Koch, A. E.; Polverini, P. J., and Leibovich, S. J.:
Induction of neovascularization by acti- vated human monocytes. Journal of Leu- kocyte Biology 39 (1986) 233-238 — (4) Folkman, J.: How is blood vessel growth regulated in normal and neoplastic tis- sue? G. H. A. Clowes memorial award lecture. Cancer Research 46 (1986) 467-473 — (5) Rong, G. H.; Alessandri, G., and Sindelar, W. F.: Inhibition of tumor angiogenesis by hexuronyl hexosamino- glycan sulfate. Cancer, Philadelphia 57 (1986) 586-590 — (6) Crum, R.; Szabo, S., and Folkman, J.: A new class of steroids inhibits angiogenesis in the presence of heparin or a heparin fragment. Science 230 (1985) 1375-1378 — (7) Brem, S. S.:
Gullino, P. M., and Medina, D.: Angioge- nesis: a marker for neoplastic transform- ation of mammary papillary hyperplasia.
Science 195 (1977) 880-881
Privatdozent
Dr. med. Thomas Bär Zentrum Anatomie der Universität Göttingen Abt. Klinische Anatomie und Entwicklungsneurobiologie Kreuzbergring 36
3400 Göttingen
Ausgabe A 83. Jahrgang Heft 34/35 vom 22. August 1986 (49) 2301