DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
DAS EDITORIAL
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Fibroblasten-Wachstumsfaktor, Onkogene, Tumor-Angiogenese
Neues zur
Tumor-Neovaskularisation
Lothar Schweigerer
G
ospodarowicz beschrieb 1974 erstmals einen Wachstums-Faktor in bovinen Hypophysen. Dieser besaß einen basi- schen isoelektrischen Punkt, und er stimulierte die Proliferation von Fibroblasten. Er wurde deshalb basischer Fibroblasten-Wachstumsfak- tor genannt ( „basic fibroblast growth factor" , abgekürzt bFGF) (1).Durch Anwendung neuer molekularbiologi- scher Techniken und proteinchemischer Reini- gungsverfahren gelang der Gruppe von Gospo- darowicz kürzlich die Identifikation des bFGF- Gens und des kodierten Faktors (1, 2).
Physicochemische Eigenschaften
Das bFGF-Gen befindet sich auf dem Chro- mosom 4. Interessanterweise kodiert es keine Signal-Sequenz (2). Daher wird das bFGF-Pro- tein offenbar nicht sezerniert, sondern gelangt mittels anderer Mechanismen aus der Zelle.
Verteilung
bFGF ist ubiqitär vorhanden und nachweis- bar in fast allen Organen, die reichlich vaskulari- siert sind, darunter Gehirn, Hypophyse, Retina, Leber, Niere, Nebenniere, Plazenta und Corpus luteum (1). Der Faktor wird in vielen verschie- denen Zellen synthetisiert, darunter Endothel- zellen der Gefäßkapillaren (3) und der Kornea (4), Pigmentzellen der Retina (5), Korticoid- produzierende Zellen der Nebennierenrinde (6) und Myoblasten (1).
Bioaktivitäten
Der Faktor besitzt eine Vielzahl biologi- scher Aktivitäten (1), die er über die Bindung an einen spezifischen Zelloberflächen-Rezeptor (7) vermittelt. bFGF beeinflußt nicht nur das Zell- wachstum, sondern spielt ebenfalls eine wichtige Rolle im Rahmen der Zell- und Gewebsdiffe-
renzierung (1). Im Frühstadium der Embryonal- entwicklung findet man erhöhte Mengen des Faktors (8, 9), der dann wohl unter anderem die Entwicklung des Mesoderms induziert (10).
bFGF zählt deshalb auch zu den Morphogenen.
Zukünftige Untersuchungen werden zeigen, ob man Störungen der bFGF-Genexpression einem bekannten Mißbildungssyndrom zuordnen kann.
Besser untersucht sind die Einflüsse von bFGF auf das Zellwachstum. bFGF stimuliert das Wachstum vieler verschiedener Zellarten, darunter Fibroblasten, Myoblasten, Osteobla- sten, neuronaler Zellen, Endothelzellen der Kornea, der großen Gefäße, des Endokards, Zellen der glatten Gefäßmuskulatur und vieler weiterer Zellen (1).
bFGF als Angiogenesefaktor
Der wohl bemerkenswerteste Bioeffekt von bFGF ist sein Einfluß auf die Angiogenese, den Prozeß der Neubildung von Kapillaren: bFGF stimuliert nicht nur die Migration und Prolifera- tion von Kapillar-Endothelzellen, sondern auch die Ausbildung neuer Blutgefäße in vivo (1).
Die Angiogenese ist selten im Erwachsenenalter und ist beschränkt auf einige wenige Situationen wie die Korpus-Luteum-Entwicklung und das Plazentarwachstum. Sie wird auch beobachtet während der Wundheilung.
Doch führen neue Kapillaren, die am fal- schen Ort persistieren, zur Erblindung bei der diabetischen Retinopathie oder bei der retrolen- talen Fibroplasie, zur Zerstörung von Gelenk- knorpel bei der rheumatoiden Arthritis und zu intestinalen Blutungen und abdominellen Adhä- sionen.
Der Ophthalmologe sieht Angiogenese in Form der Abstoßungsreaktion nach Kornea- transplantationen, der Dermatologe sieht sie während der Psoriasis und der Pädiater in Form der Hämangiome.
Dt. Ärztebl. 85, Heft 22, 2. Juni 1988 (43) A-1611
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Eine der eindrucksvollsten Manifestationen der Angiogenese sieht man in der Umgebung maligner, solider Tumoren. Der Radiologe ent- deckt den Brustkrebs im Frühstadium nicht et- wa, weil er den Tumor sieht, sondern dessen Neovaskularisation. Auch der Gynäkologe be- merkt ein in situ-Karzinom der Zervix aufgrund seiner Neovaskularisation.
bFGF: Mediator
der Tumorangiogenese?
Die Tumor-Angiogenese beobachtet man, weil feste Tumoren ab einer Größe von etwa zwei bis drei Millimetern von der Angiogenese abhängig werden (11). In diesem Stadium kön- nen Sauerstoff und Nährstoffe, die für das weite- re Tumorwachstum benötigt werden, nicht mehr mittels Diffusion bis ins Tumor-Zentrum gelan- gen. Zum weiteren Wachstum benötigen die Tu- moren deshalb den Anschluß an das Gefäß- system.
Folkman und Kollegen vermuteten, daß den Tumoren dies gelingt, indem sie einen soge- nannten Tumor-Angiogenesefaktor freisetzen (11). Tatsächlich gelang der Gruppe 1984 der Nachweis des vermuteten Faktors (12). Bereits 1986 jedoch zeigte die gleiche Gruppe, daß der Tumor-Angiogenesefaktor strukturell eng ver- wandt, wenn nicht sogar identisch mit bFGF ist (13). Dieser Befund bedeutete aber gleichzeitig, daß bFGF als Mediator der normalen und der Tumorangiogenese wirken könnte. Obwohl dies zunächst als Widerspruch erscheint, so sind bei- de Prozesse einander doch sehr ähnlich. Es exi- stieren jedoch zwei entscheidende Unterschie- de: Kapillaren, die in normalen Geweben neu entstehen, reifen durch die Apposition von Peri- zyten und Zellen der glatten Gefäßmuskulatur, und ihre Neubildung ist begrenzt. Ganz anders verhält es sich in Tumoren: Darin neu entstan- dene Kapillaren reifen nicht, sondern werden umgrenzt von Tumorzellen, und ihre Neubil- dung ist nicht limitiert, sondern schreitet unkon- trolliert fort (11).
Mögliche Ursachen der unkontrollierten
Tumorangiogenese: bFGF und verwandte Onkogen-Produkte
Was sind die Ursachen der unkontrollierten Tumorangiogenese? Im folgenden möchte ich mögliche Ursachen am Beispiel von bFGF er- läutern.
Als Ursachen der unkontrollierten Tumor- angiogenese kommen in Frage quantitative Mo- difikationen der bFGF-Expression im Sinne ei- ner erhöhten bFGF-Expression. Untersuchun- gen zur bFGF-Expression an einer limitierten Anzahl normaler (3-6) und neoplastischer Zell- spezies (14-16) zeigten jedoch keine eindeutige Korrelation zwischen malignem Phänotyp und bFGF-Expression.
Dagegen leisten qualitative Modifikationen des bFGF-Gens oder verwandter Gene mögli- cherweise einen entscheidenden Beitrag zur Tu- morangiogenese. Wie bereits oben erwähnt, exi- stiert das bFGF-Gen ohne eine sogenannte Si- gnalsequenz (2). Solche Sequenzen ermöglichen den aktiven Transport von Wachstumsfaktoren und anderen Proteinen aus der Zelle. Da das bFGF-Gen eine solche Sequenz nicht besitzt, akkumuliert der kodierte Faktor in der Zelle und wird offenbar nur unter bestimmten Bedin- gungen wie Verletzungen oder durch andere, bisher wenig (3,17) oder nicht bekannte Mecha- nismen freigesetzt. Kürzlich wurde jedoch ein neues Onkogen entdeckt, das sogenannte hst- (18) oder Kaposi's sarcoma (19)-Onkogen. Die- ses Onkogen kodiert nicht nur einen Faktor, der dem bFGF sehr ähnlich ist, sondern darüber hinaus eine Signalsequenz. Dies bedeutet, daß Tumoren, die dieses aktivierte Onkogen expri- mieren, einen bFGF-ähnlichen Faktor konstitu- tiv sezernieren und somit ihre unlimitierte An- giogenese unterhalten könnten. Unterstützt wird diese Annahme durch den kürzlich erfolg- ten Nachweis, daß das Einfügen einer Signalse- quenz an das 5'-Ende des bFGF-Gens zur mali- gnen zellulären Transformation führt (20).
In den letzten Monaten wurden weitere On- kogene entdeckt, die bFGF-verwandte Faktoren kodieren, darunter das int-2-Onkogen (21) und weitere, noch nicht näher charakterisierte On- kogene wie das „human bladder cancer"-Onko- gen (22) und ein Onkogen aus HIV-infizierten Zellen, welches offenbar einen Wachstumsfak- tor für Kaposis-Sarkomzellen kodiert (R. Gallo, persönliche Mitteilung). Zukünftige Untersu- chungen werden zeigen, ob auch die zuletzt ge- nannten Onkogene aufgrund konstitutiver, das heißt nicht mehr regulierter Expression zur un- kontrollierten Angiogenese bestimmter Tumo- ren beitragen.
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literatur- verzeichnis beim Sonderdruck, zu beziehen über den Ver- fasser
Anschrift des Verfassers:
Dr. med. Lothar Schweigerer Universitäts-Kinderklinik
Im Neuenheimer Feld 150 • 6900 Heidelberg A-1614 (46) Dt. Ärztebl. 85, Heft 22, 2. Juni 1988