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Archiv "Freud und Mao — Psychiatrie und Psychotherapie in der Volksrepublik China" (22.08.1984)

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Freud und Mao

Psychiatrie und Psychotherapie in der Volksrepublik China

K

ommentar der Verfasser:

„Unsere Reise hat uns deut- lich gezeigt, daß China nicht so weit weg ist, daß wir nichts über seine Entwicklung erfahren können, aber doch weit genug, daß wir geneigt sind, den uns zu- gänglichen Informationen eigene Vorstellungen beizumengen, die teilweise sehr falsch sind. Den Chinesen geht es so noch stärker, da ihnen weniger Literatur zu- gänglich ist als uns und niemand eine Reise nach Europa privat fi- nanzieren kann. Wenn wir Mißver- ständnisse bei der Aufnahme un- serer Theorien und therapeuti- schen Methoden Verhindern wol- len, ist es nötig, geduldige An- strengungen in Richtung auf eine wechselseitige Verständigung zu machen. Da zunehmend mehr junge chinesische Ärzte Englisch lernen, ist ein wissenschaftlicher Austausch durchaus möglich." Im übrigen enthält der Beitrag eine Fülle von Informationen über ein im Westen kaum bekanntes Stück medizinischer Wirklichkeit in China.

Die großen Erfolge Chinas bei der Bekämpfung der Prävention von Infektionskrankheiten konnten di- rekt in Verbindung gebracht wer- den mit den wesentlichen Prinzi- pien der chinesischen Gesund- heitspolitik, die an den Bedürfnis- sen der gesellschaftlichen Ent- wicklung ausgerichtet waren. Die- se Grundsätze lauteten:

(D Widersprüche sind so anzuge- hen, daß politische Lösungen den Vorrang vor rein fachlichen ha- ben;

C) Die Massen sind an allen Ent- scheidungen zu beteiligen;

® Es wird für jeden Einzelnen ei- ne Kombination manueller und in- tellektueller Arbeit angestrebt;

® Die Unterschiede zwischen Stadt und Land sollen aufgearbei- tet werden. Aus diesen allgemei- nen Direktiven ergaben sich drei spezielle Vorgehensweisen: Der Schwerpunkt der Anstrengungen sollte auf den ländlichen Gebieten

Alf Gerlach und Elisabeth Troje

liegen; im Vordergrund stand Prä- vention; moderne Methoden soll- ten mit traditioneller chinesischer Medizin kombiniert werden.

Für die psychiatrische Versor- gung hatte besonders die Kultur- revolution seit Mitte der sechziger Jahre wesentliche Veränderun- gen nach sich gezogen: Die Me- thoden der westlichen und russi- schen Psychiatrie wurden kritisch gesehen, und in Besinnung auf die eigene kulturelle Geschichte wurden Erkenntnisse der alten chinesischen Philosophie und Medizin in die Behandlung psy- chisch Kranker eingebracht. Nach Berichten ausländischer Beob- achter lag der wesentliche Unter- schied zu der Praxis in westlichen Ländern darin, daß psychisch Kranke in China in nicht so star- kem Ausmaße wie hier von der Gesellschaft isoliert wurden. Ärzte und Pflegepersonal verstanden sich als Teil der Gemeinschaft, zu der auch die Kranken gehörten, und lebten mit diesen im Sinne ei- ner „therapeutischen Gemein- schaft" zusammen. Das medizini- sche Modell von Diagnostik und Therapie war zurückgedrängt zu- gunsten eines mehr pädagogi- schen, in dem Appelle an das Selbstbewußtsein der Kranken und Erziehung zu sozialem Ver-

halten und politischem Bewußt- sein im Vordergrund standen.

Auf dem Hintergrund dieser Infor- mationen und Illusionen reisten wir im März 1983 in die VR China.

Während unseres vierwöchigen Aufenthalts hatten wir Gelegen- heit, vier Psychiatrische Kliniken unterschiedlicher Größe zu besu- chen und über eine Woche hin- weg Vorträge vor chinesischen Psychiatern zu halten und mit ih- nen zu diskutieren. Zu diesen Vor- trägen hatte uns Prof. Dr. Kan- Ming Mo eingeladen, der leiten- der Arzt der Psychiatrischen Klinik in Kanton und Vizepräsident der Chinesischen Gesellschaft für Neurologie und Psychiatrie ist. Er hatte übrigens einen Teil seines Studiums an der Sun Yat-Sen-Uni- versität in Kanton absolviert, wo von 1924 bis 1938 Medizin in deut- scher Sprache und unter Beteili- gung deutscher Professoren, zum Beispiel des Gynäkologen Prof.

Dr. Günther Huwer, gelehrt wor- den war. Insgesamt waren über hundert Psychiater aus den ver- schiedenen chinesischen Provin- zen nach Kanton gekommen, um die Vorträge über psychoanalyti- sche Krankheitslehre, Entwick- lungspsychologie, Psychothera- pie und Psychosomatik zu hören.

Unser Besuchsprogramm umfaß- Bericht über eine Desillusionierung könnte auch als Titel über diesem Artikel stehen. Illusionen gab es auf beiden Seiten. Die Autoren — sie sind an der Abteilung für Psychotherapie und Psy- chosomatik im Zentrum der Psychiatrie des Universitätsklinikums Frankfurt am Main tätig — reisten mit hochgespannten, noch von der hierzulande lange gepflegten Mao-Ideologie geprägten Er- wartungen nach China und trafen dort durchweg auf Psychiater, die weit mehr am westlichen Weg interessiert waren.

Ausgabe A 81. Jahrgang Heft 34 vom 22. August 1984 (23) 2415

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te das „Institute of Mental Health"

des Beijing Medical College mit einer Abteilung von etwa hundert Betten, die Psychiatrischen Groß- krankenhäuser in Shanghai (rund 2000 Betten) und Kanton (rund 1300 Betten) sowie die Psychiatri- sche Klinik in Fo Shan (rund 200 Betten), in der Nähe von Kanton.

Unser Eindruck war in Peking am positivsten und in Fo Shan am ne- gativsten. Dabei mag aber unsere zunehmende Bereitschaft eine Rolle spielen, eigene Illusionen und Erwartungen, mit denen wir angereist waren, aufzugeben. Zu unserer Desillusionierung trug die folgende Wahrnehmung bei: wo immer wir Chinesen trafen, also von morgens bis abends, wurden an uns Erwartungen festgemacht.

Die Tendenz, in unserer Lebens- weise und in unserem Lebens- raum in Westeuropa all das rea- lisiert zu finden, was sie entbeh- ren, sich wünschen oder zu rea- lisieren hoffen, war stark und wur- de uns durch Blicke, Worte und Verhaltensweisen gezeigt. Wir merkten, wie schwer, wie unmög- lich oft es war, dieses Bild von uns abzuschütteln oder es auch nur geringfügig zu verändern.

Die Veränderung unserer Ein- drücke von eher positiven zu eher negativen mag auch ihren Grund in der Auswahl und Reihenfolge der besichtigten Kliniken haben.

Peking schien uns mehr von der Ruhe und Geschlossenheit, dem chinesischen Stolz auf die Befrei- ung und der Identifikation mit den sozialistischen Zielen zu zeigen als Shanghai. Aber Kanton als die südlichste und Hong Kong am nächsten gelegene Großstadt war vielleicht am stärksten mit der Hoffnung beschäftigt, durch die Auflösung der Abgeschlossenheit gegen den Westen und durch die Liberalisierung seit 1976 und 1978 positive Veränderungen durchzu- setzen. Die Öffnung dem Westen gegenüber, d. h. die Bereitschaft von Europa und den USA zu ler- nen, ist indes geprägt von Vorstel- lungen, die teilweise nicht oder nicht mehr adäquat sind.

Das Pekinger

Institut für geistige Gesundheit Das Institute of Mental Health in Peking ist vor allem mit Aufgaben der Forschung, Lehre und Weiter- bildung betraut und somit am ehesten einer hiesigen Universi- täts-Klinik vergleichbar. Beson- ders bekannt geworden sind sei- ne epidemiologischen Untersu- chungen in zehn Volkskommunen in einem ländlichen Distrikt Pe- kings (2) sowie die großen An- strengungen, mit präventiver Be- treuung Rückfälle psychotischer Patienten zu vermeiden.

Im Gespräch mit Dr. Zhang, dem Leiter der epidemiologischen Ab- teilung, beeindruckte besonders seine Formulierung der therapeu- tischen Ausrichtung der Klinik:

„Wir versuchen gemeinsam mit dem Patienten zu verstehen, was zu seiner Erkrankung geführt hat und wie er aus ihr herausfinden kann". Diese eher psychosoziale Orientierung fand sich auch im Umgang des ärztlichen und Pfle- gepersonals mit den Patienten, soweit wir es der unmittelbaren Beobachtung entnehmen konn- ten. Bei unserem Rundgang durch die Klinik fiel uns die liebe- volle, intime Atmosphäre auf, in der die Patienten offenbar jeder- zeit nach ihren Bedürfnissen Part- ner zum Sprechen und Zuhören finden konnten.

In der chinesisch-englischen Be- schreibung der Aufgabenberei- che des Institute of Mental Health des Beijing Medical College (1982) ist zu lesen: „1958, bewegt von dem Wunsch, revolutionäre Menschenfreundlichkeit zu prak- tizieren, unternahm das gesamte Klinikpersonal Schritte, die psy- chisch kranken Patienten von dem Druck der Isolation und des Zwangs zu befreien. Das Ergebnis war, daß alle unsinnigen Vor- schriften auf den Stationen abge- schafft wurden. Die Umgebung wurde verschönert, den Patienten wurde Gelegenheit zum Lernen, zum Arbeiten, zur Freizeitgestal- tung und zu sportlichen Aktivitä-

ten gegeben. Das Leben in der Klinik sollte so angenehm und leicht sein wie das Leben zuhau- se. Außerdem arbeiteten wir au- ßerhalb der Klinik an der Entwick- lung eines Programms für seeli- sche Gesundheit in der Gemeinde und führten epidemiologische Forschungen durch, indem wir die 30 000 Einwohner von Chang- quiao (einem Distrikt Pekings) Haushalt für Haushalt untersuch- ten. Eine Feldstudie über Neur- asthenie wurde in einigen Fabri- ken und verschiedenen Universi- täten durchgeführt, Möglichkeiten der Behandlung außerhalb der Klinik wurden geschaffen".

Zur Auswirkung der Kulturrevolu- tion finden wir: „Mitte der 60er Jahre bis Mitte der 70er Jahre war die Entwicklung der wissenschaft- lichen Forschung unterbrochen und die Laborarbeiten konnten nicht weitergeführt werden". Aus dem Zusammenhang ist zu ent- nehmen, daß neurophysiologi- sche Forschungen gemeint sind.

Andere Arten der Forschung wa- ren möglich, zum Beispiel 1974 die große Felduntersuchung im Haidian District (rund 190 000 Ein- wohner).

Zum Ende der Kulturrevolution heißt es: „Als 1976 die akademi- sche Atmosphäre so lebendig wurde wie nie zuvor, hatten wir Diskussionen über einige sehr weittragende Themen mit Kolle- gen aus ganz China, über Themen wie die Klassifizierung und die diagnostischen Kriterien bei psy- chischen Krankheiten, über die Kombination von traditioneller Medizin mit westlicher Medizin im Bereich der Psychiatrie. Interna- tionaler akademischer Austausch wurde gefördert. Wir führten ein Seminar zur Epidemiologie in der Psychiatrie durch, eine Veranstal- tung über Psychiatrie-Unterricht im Medizinstudium, die vom Ge- sundheitsministerium und von der WHO unterstützt wurde, sowie ei- nen Kurs über die Standardisie- rung psychiatrischer Interviews, der 1980 und 1981 für Ärzte und Psychiater aus ganz China bei uns

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stattfand. 1982 wurde das Institut von der WHO als Forschungs- und Ausbildungszentrum für psychi- sche Gesundheit anerkannt. Die Gründung als Institut für psychi- sche Gesundheit datiert von 1980 (mit der Zustimmung des Gesund- heitsministeriums). Das Institut besteht jetzt aus 9 Forschungsein- heiten, das medizinische Personal umfaßt 151 Mitarbeiter; darunter 5 Professoren, 12 Dozenten oder Assistenzärzte, 20 Klinikärzte, 53 Schwestern, 9 Techniker und 1 In- genieur".

Zu diesem Text ist anzumerken:

Zum Institut gehören 100 Betten, jährlich werden etwa 300 Patien- ten behandelt. Die meisten Pa- tienten sind in großen Schlafsälen untergebracht, die durch halbho- he Wände in Einheiten von acht Betten eingeteilt sind. Nur wenige Patienten lagen im Bett. Sie wa- ren nicht ansprechbar, weil sie stark sediert waren. Die meisten Patienten befanden sich in einem Saal, in dem sie lesen, etwas ar- beiten oder auch nichts tun konn- ten. Sie kamen sehr freundlich und nah an uns heran und wurden von den Ärzten freundlich behan- delt; es gab nur wenige Einzelzim- me r.

Aus dem übersetzten Text geht deutlich hervor, in welche Rich- tung sich die Psychiatrie seit 1976 entwickelt hat. Mit der „zweiten Befreiung" verbinden sich Bemü- hungen um Modernisierung, Öff- nung zum Westen hin, wirtschaft- lichen Aufschwung. Sie wollen uns gegenüber nicht rückständig sein, knüpfen aber an die klassi- sche westliche Psychiatrie an und verfechten sie rigider als es hier- zulande der Fall ist. Die Psychia- trie wird charakterisiert durch: In- sulinschockbehandlung (die aus Kostengründen selten ist), Elek- troschockbehandIng (bei etwa fünf Prozent aller Patienten), star- ke Gaben von Neuroleptika (200 bis 1000 mg Chlorpromazin), stan- dardisierte Tests, Klassifizierung der psychischen Krankheiten.

Psychiatrie ist Unterrichtsfach für Medizinstudenten. Es gibt eine

Art Zusatz- oder Facharztweiter- bildung.

Der Ansatz, der die westlichen Ärzte fasziniert: Verbindung von traditioneller und westlicher Me- dizin, ein anderes Rollenverhalten in der Begegnung zwischen Arzt und Patient, die Gemeinsamkeit schaffende Atmosphäre der Auf- bauphase, die Bereitschaft, den psychisch Kranken als Bruder oder Genossen anzusehen und ihn nicht abzusondern, all das ge- hört weitgehend der Vergangen- heit an, wobei wir nicht wissen, ob es diese Vergangenheit faktisch gab oder ob es sich zu jeder Zeit um eine unrealisierte Hoffnung handelte. Geblieben ist: mehr kör- perliche Nähe zu den Kranken und zwischen den Kranken als bei uns, die Bemühung um rasche Heilung und vollständige Wieder- eingliederung der Kranken in das Arbeitsleben und die frühere Ge- meinschaft (der Familie und der Arbeitskollegen), eine sorgfältige Nachbehandlung und Beobach- tung ehemals Kranker. Akupunk- tur und die Verabreichung tradi- tioneller chinesischer Arzneimit- tel neben den modernen Neuro- leptika gibt es zwar weiterhin, ihre Wirkung wird allerdings vor allem in der Unterdrückung von Neben- wirkungen gesehen (3).

Die psychiatrische Klinik in Shanghai

An der Spitze eines breit angeleg- ten Systems der psychiatrischen Versorgung, das auf relativ klei- nen Psychiatrischen Kliniken und Ambulanzen auf Distriktebene und auf der ambulanten Behand- lung in Nachbarschaftshospitä- lern und Volkskommunestationen aufbaut, steht die psychiatrische Klinik in Shanghai. 80 Prozent der Patienten sind als schizophren diagnostiziert und werden medi- kamentös mit Chlorpromazin so- wie Haloperidol behandelt. Für die stationäre Behandlung stehen etwa tausend Betten zur Verfü- gung. Das zweite psychiatrische Hospital in Shanghai ist für die

Aufnahme chronischer Fälle zu- ständig.

Etwa 400 Patienten kommen täg- lich in die Ambulanz (outpatient department) und werden dort von zehn Ärzten versorgt, fast aus- schließlich mit Medikamenten.

Die stationären Patienten sind auf 15 Stationen mit jeweils 60 bis 80 Betten aufgeteilt, zwei Stationen sind für organische Psychosen vorgesehen, 13 Betten für geriatri- sche Fälle, 6 Betten für Kinder.

Wie unser Gesprächspartner, Dr.

Zhang Ming-yuan, erklärte, wird die Aufklärung der Patienten über ihre Krankheit und die eher päd- agogische Beeinflussung in Grup- pen mit Gruppenleitern (Patien- ten) für wichtig gehalten. Die Ar- beits- oder Beschäftigungsthera- pie spielt eine große Rolle. In Zim- mern eng beieinander sitzen Pa- tienten, die mit unterschiedlichen Arbeiten beschäftigt sind. Wäh- rend ein Teil Stoffreste zu Putz- wolle zupft, besticken andere Kis- senbezüge mit komplizierten Blu- menmustern. Es gibt auch eine richtige Werkstatt, in der Patien- ten arbeiten, die bald entlassen werden oder solche, die schon entlassen sind. Die Aufent- haltsdauer in der Klinik beträgt zwei bis drei Monate.

Bei der Diskussion über die prä- ventive Arbeit der Klinik konnten wir uns auf einen Artikel stützen, den Dr. Zhang zusammen mit Prof. Xia im „Chinese Medical Journal" veröffentlicht hatte. Dr.

Zhang wies stolz darauf hin, daß die Versorgung jedem Einwohner von Shanghai zukommt. „Der er- ste Verantwortliche für einen Kranken ist die Familie", sagte er, erläuterte aber, wie die Familie unterstützt wird durch das

„psychiatrische Netzwerk auf drei Ebenen". Die oberste Ebene mit (dem hier beschriebenen) Shang- hai Psychiatry Hospital und dem städtischen Krankenhaus für chronische Fälle, die mittlere Ebe- ne mit psychiatrischen Kranken- häusern, die für jeweils einen städtischen Distrikt oder länd- Ausgabe A 81. Jahrgang Heft 34 vom 22. August 1984 (27) 2417

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In einem der Innenhöfe des psychiatrischen Krankenhauses in Kanton haben sich die gastgebenden Psychiater zum Gruppenfoto versammelt

lichen Bezirk zuständig sind, die dritte Ebene mit kleinen Kliniken der Kommunen und Nachbar- schaften. Hier sind auch Teilzeit- ärzte, Arbeitstherapie-Gruppen, Barfußärzte tätig, die aber in Shanghai in der Regel im Ange- stelltenverhältnis arbeiten. Prä- vention heißt Vorsorge gegen Rückfälle. Wer psychisch krank war, soll möglichst nicht noch ein- mal stationär behandelt werden müssen, möglichst kein chroni- scher Fall werden, soll bald wieder in das Arbeitsleben integriert sein.

Neurotische und psychosomati- sche Erkrankungen werden in der psychiatrischen Klinik nur selten behandelt. Dr. Zhang hatte wäh- rend der Kulturrevolution die am- bulante Behandlung mit westli- chen und traditionellen Methoden auf dem Lande kennengelernt; er schätzte die Anzahl der Patienten mit neurotischen Störungen auf etwa 10 Prozent aller Patienten, wobei hysterisches Verhalten und Zwangsneurosen, vor allem Reini- gungsneurosen, im Vordergrund ständen. Hier käme nur medika- mentöse Behandlung mit Valium oder Bromiden, in seltenen Fällen Verhaltenstherapie zur Anwen- dung; westliche psychodynami- sche Theorien würden aufgrund der kulturellen Unterschiede eher abgelehnt; zugleich gebe es hier

aber auch einen großen Mangel an Ausbildung und Wissen.

Die psychiatrische Versorgung im Raum Kanton

Das psychiatrische Krankenhaus in Kanton ist groß. Es gibt 800 Bet- ten für akute Fälle und in einer Dependance, die wir nicht sahen, 700 chronische Patienten. Es ist zuständig für einen Einzugsbe- reich mit einer Bevölkerung von fünf bis sechs Millionen und ist übrigens das älteste psychiatri- sche Krankenhaus in China (1897 von dem amerikanischen Psychia- ter John Kerr und der presbyte- rianischen Mission gegründet und in zwei alten Gebäuden, bis dahin Mittelschulen, eingerichtet). Wäh- rend es bis 1949, also vor der chi- nesischen Revolution, mehr Asyl war, wurde nach 1949 die Behand- lung differenzierter: Die Behand- lung mit Insulinschocks (15 bis 16 im Verlauf von zwei Monaten), mit Chlorpromazin und Haldol. Durch die neuroanatomische Forschung seien eine Reihe von Fehldiagno- sen entdeckt worden, hieß es. Die häufigste Diagnose laute auf Schi- zophrenie, es gebe auch Patien- ten mit schwerer Depression, kaum Alkoholabhängige und in drei Jahrzehnten nur zwei Fälle von Drogenabhängigkeit.

In Kanton verbrachten die Patien- ten, nach Geschlechtern getrennt, den Tag in großen Höfen, die von- einander durch abgeschlossene Gittertüren getrennt waren. Die leeren Schlafsäle in den alten Schulgemäuern waren karg und unpersönlich, enthielten eigent- lich nur Betten und unter jedem Bett eine Waschschüssel.

Machte schon die Psychiatrische Klinik in Kanton den Eindruck ei- ner „Verwahranstalt", so verstärk- te sich dieser Eindruck noch in Fo Shan, obwohl diese mit etwa 200 Betten kleine Klinik erst 1969 ge- baut wurde. Wenn der eben ferti- ge Neubau bezogen ist, soll die Klinik 300 Patienten aufnehmen.

Im Moment fehlt es noch an Per- sonal. Man sagt uns, Verwandte und die Patienten selbst würden einem Aufenthalt hier leichter zu- stimmen, weil hier die Bedingun- gen besser seien als zum Beispiel in Kanton.

Es gibt eine eigene Abteilung für hochgradig erregte Patienten, von der allgemeinen Abteilung durch ein Gitter getrennt. Es gibt einen Raum für Beschäftigungsthera- pie, allerdings wird dort fast nur Putzwolle gezupft. Es gibt 190 Mit- arbeiter, davon sind 30 akade- misch ausgebildete Ärzte, 106 sind Ärzte aus medizinischen Fachhochschulen, 54 Kranken- schwestern, 6 der akademischen Ärzte und 8 Krankenschwestern arbeiten in der Ambulanz, die sich in Fo Shan selbst befindet, wäh- rend das Krankenhaus außerhalb liegt.

Der Einzugsbereich von Fo Shan mit elf Stadt- und Landbezirken sowie zwei Städten umfaßt 6,8 Mil- lionen Einwohner; es sind vor al- lem Bauern und Arbeiter, auch sehr viele Studenten. Die Nachbe- handlung, Beratung und Beob- achtung ehemaliger Patienten wird sehr ernst genommen. Für psychisch Kranke stehen gleich- zeitig sechs psychiatrische Be- zirkskrankenhäuser zur Verfü- gung mit insgesamt 500 Betten.

Ob ein Kranker in ein Bezirkskran-

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Große abgeschlossene Gittertüren trennen die Höfe, in denen die Patienten, nach Geschlechtern getrennt, den Tag verbringen

kenhaus oder hierher kommt, ent- scheidet die Familie. Dabei ent- scheidet auch der Kostenträger mit, das ist meistens die Kommu- ne oder die Betriebsleitung.

Wir fragen, wie hier der Tag eines Arztes aussieht. Viele Chinesen und auch die Ärzte stehen um 5 oder 1 /2 6 Uhr auf, obwohl sie erst um 1 /2 8 oder 8 Uhr arbeiten. Wir erfahren, daß der Arzt in der Regel morgens mit den Patienten arbei- tet, ihnen Informationen über ihre Krankheit gibt und die Neuzugän- ge sieht; am Nachmittag hat er Zeit zu lesen und sich zu informie- ren oder mit den Kollegen zu be- sprechen. Um 17 Uhr geht er nach Hause. Nach 5 Uhr und sonntags ist ein einziger Arzt für die Klinik verantwortlich. Die Schwestern teilen sich einen Nachtdienstpo- sten, indem sie sich um Mitter- nacht abwechseln. Daß in Deutsch- land eine Nachtschwester durch- arbeitet, verwundert die Chinesen sehr, weil sie denken, daß die Schwester dann nicht genug Schlaf bekommt. Recht haben sie.

Wir fragen diesmal auch nach dem Schicksal einzelner Patien- ten. Was ist mit dieser Frau, die an einem Infusionsgerät hängt und Haldol bekommt? Ihre nackten Füße sind am Bett festgebunden, aber sie schläft fest. Was waren ihre Symptome? — Erregungszu- stände. Schizophrenie. Sie ist

„noch nicht eine Woche" da. Ihr Mann hat sie gebracht. Was ist mit diesem jungen Mann, der schla- fend am Infusionsgerät hängt? Er bekommt Chlorpromazin, ist erst gestern hierher gekommen. Die Eltern brachten ihn. Er hat Suizid machen wollen, kein Versuch, hat nur davon geredet. Warum wollte er Selbstmord machen? Er wollte sich unbedingt beruflich verän- dern, aber das ist in China unmög- lich. Da habe auch noch mehr ei- ne Rolle gespielt. Er ist 26 Jahre alt, wohnt bei den Eltern, ist noch nicht verheiratet. Welche Diagno- se? — Ich denke, Psychose, sagt der sehr nette junge Arzt verunsi- chert. Er spricht nicht englisch, sondern läßt übersetzen.

Von den unterschiedlichen Erwartungen auf beiden Seiten Wir waren vom Direktor der psychiatrischen Klinik zu Vorträ- gen nach Kanton eingeladen wor- den. Zu unserer Überraschung waren etwa hundert Psychiater und einige Psychologen aus 15 der 22 chinesischen Provinzen versammelt. Im fahnenge- schmückten Sitzungssaal der Stadtverordenten hielten wir an vier Vormittagen jeweils zwei Vor- träge von je etwa 1 1 /2 Stunden. Am Nachmittag war zwei Stunden Dis- kussion. Die Vorträge waren von uns in englischer Sprache abge- faßt und behandelten auf Wunsch des einladenden Psychiaters fol- gende Themen:

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Phasen der kindlichen Ent- wicklung und ihre Bedeutung für das Verständnis psychodynami- scher Prozesse.

© Neurotische Störungen als pa- thologisches Resultat innerer Konflikte.

® Psychische Störungen infolge von Konflikten und Mängeln im 1. Lebensjahr: Psychosen, Border- line, narzißtische Neurosen.

® Psychoanalytische Therapie in Theorie und Praxis. Eine Über-

sicht über unsere Arbeit in der Psychotherapeutischen Bera- tungsstelle für Studierende in Frankfurt/M.

(D Psychotherapie in der Psychia- trie: Ambulante Behandlung von psychotischen und Borderline-Pa- tienten (5).

® Psychoanalytische Gruppen- psychotherapie.

C) und ® Neue Ergebnisse der psychosomatischen Medizin:

Asthma bronchiale und Ulkus- krankheit.

Da nur wenige der Zuhörer Eng- lisch sprechen oder verstehen konnten, gestalteten sich unsere Gespräche mit ihnen schwierig.

Die Ärzte aus Kanton, die die Übersetzung unserer Vorträge und der Diskussionsbeiträge übernahmen, waren im Dolmet- schen nicht geübt. Sie erklärten oder antworteten selbst oder kommentierten oder kürzten die Diskussionsbeiträge ihrer Kolle- gen. Wir selbst konnten nicht be- urteilen, was die Übersetzung ins Chinesische aus unseren Formu- lierungen machte. Am meisten verstanden und profitierten ver- mutlich die übersetzenden Ärzte von dem, was wir vorbereitet hat- ten.

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Unsere Rolle war nicht einfach:

wir waren eingeladen, um Vorträ- ge über die psychoanalytische Theorie und Behandlungsmetho- de, über psychoanalytische Ent- wicklungspsychologie und die Entwicklung der Psychosomatik zu halten — Themen, von denen kaum einer der Zuhörer etwas wußte. Manche von ihnen wußten etwas über den MMPI, über stan- dardisierte psychiatrische Inter- views, über Klassifikation von Psy- chosen und Neurosen. Die mei- sten waren sehr an der Pharma- kotherapie interessiert. Was sie wußten —teils aus alten psychiatri- schen Lehrbüchern, teils aus neuesten nordamerikanischen Veröffentlichungen, kannten wir nicht, oder wir hielten es nicht für so wichtig. Deshalb war an den er- sten beiden Vormittagen ein star- ker Widerstand spürbar, der in den Diskussionen am Nachmittag uns als peinliches Schweigen ent- gegenschlug. Unsere Gastgeber setzten ihre Überredung und ihre Autorität ein, um uns das Publi- kum geneigter zu machen. Da wir uns mit den auf Englisch ge- schriebenen Vorträgen sowie die übersetzenden Ärzte sich mit ih- ren Übersetzungen ins Chinesi- sche und den erklärenden Zusät- zen große Mühe gaben, auch we- gen der aufmerksamen und freundlichen Lernwilligkeit der Kongreßteilnehmer, wurde die an- fängliche Enttäuschung und Ab- lehnung allmählich überwunden.

Als Fremde und aus dem Westen Kommende sollten wir offenbar in die chinesische Psychiatrie eine andere als die naturwissenschaft- lich-positivistische medizinisch- psychiatrische Betrachtungswei- se einführen und den psychoana- lytischen Ansatz vertreten. Diese Tendenz zeigt sich auch darin, daß die chinesischen Übersetzun- gen der Referate inzwischen zu einem kleinen Band mit dem Titel

„Medizinische Psychologie" zu- sammengefaßt und unter den Kol- legen verbreitet wurden. Die Rol- lenzuweisung war so stark, daß wir während der Tagung wenig Gelegenheit hatten, unsere eige-

nen neugierigen Fragen an die anwesenden Psychiater zu richten oder private Gespräche mit ihnen zu führen.

Der ausdrückliche Wunsch nach Vermittlung psychodynamischer Betrachtungsweisen stand also in einem spannungsvollen Gegen- satz zu der im Moment besonders forcierten Übernahme der klassi- schen westlichen Psychiatrie. Die- ser Widerspruch erscheint zu- nächst auch als ein politischer im aktuellen Leben Chinas: Auf der einen Seite die Forderungen der Kulturrevolution nach „Verbun- denheit mit den Massen", nach Aufhebung des Gefälles zwischen Experten und Betroffenen, nach Herstellung einer Gemeinschaft zwischen Ärzten, Pflegepersonal und Patienten; auf der anderen Seite die Losung der „vier Moder- nisierungen", die mit einer aus- drücklichen Förderung des Ex- pertentums und der Öffnung zum Westen hin verbunden ist. Wenn der psychiatrische Kongreß in Kanton ein Zeichen für diese Öff- nung zum westlichen Wissen ist, so drückt sich darin sicherlich auch das Interesse an psychody- namischer Theorie und Therapie aus.

Interesse an der „klassischen"

westlichen Psychiatrie

Dennoch zielten die meisten Fra- gen der teilnehmenden chinesi- schen Psychiater auf Probleme der Klassifikation psychischer Er- krankungen, auf Psychopharma- kologie sowie auf standardisierte Meßmethoden der psychiatri- schen Diagnostik. Auf diesen Ge- bieten besteht großes Interesse an den neuesten Forschungser- gebnissen der westlichen Medi- zin, aber auch an der konkreten Praxis westlicher Psychiatrie. So- mit scheint über den vermehrten wissenschaftlichen Austausch das Besinnen auf die Gemeinsam- keiten menschlichen Daseins, auf die für Arzt wie Patient grundle- gend ähnlichen Konflikte, zurück- zutreten zugunsten einer mehr

auf Distanz ausgerichteten, mes- senden und klassifizierenden Be- gegnung. Die Konfrontation mit der psychodynamischen Betrach- tungsweise psychischer Erkran- kungen ist zwar im Zuge dieser Öffnung erst wieder neu möglich, irritiert aber auch Erwartungen der chinesischen Kollegen, die sich von einer Standardisierung größere Sicherheit in den schwie- rigen Arzt-Patient-Beziehungen erwarten.

Nach der großen Verunsicherung ihres Rollenverständnisses im Rahmen der Kulturrevolution er- hoffen sie sich eher innere Stabili- sierung durch Übernahme west- lich-traditioneller Normen, die in- nerhalb eines positivistischen Wissenschaftsverständnisses auf- gestellt werden. Die Psychoanaly- se, die im psychisch Kranken letztlich die gleichen Triebkonflik- te am Wirken sieht wie im schein- bar Normalen, hebt diese Tren- nung aber zumindest tendenziell wieder auf und verweist in ihrer Art auf Gemeinsamkeiten, die in der Kulturrevolution als politische Forderungen eine Rolle spielten.

Literatur

(1) Xia Zhenyi, Zhang Mingyuan, History and Present Status of Modern Psychiatry in China, in: Chinese Medical Journal, Vol. 94, 1981; (2) Shen Yucun, Zhang Weixi u. a., Investigation of Mental Dis- orders in Beijing Suburban District, in:

Chinese Medical Journal, Vol. 94, 1981;

(3) vgl. Xu Sheng-han, Traditional Chi- nese Medicine in Mental Illnesses, in:

Chinese Medical Journal, Vol. 95, 1982;

(4) Elisabeth Troje, Psychiatrie in der Volksrepublik China, in: Deutsches Ärz- teblatt, 80. Jg., Heft 8 vom 25. Februar 1983, Seiten 59 bis 65; (5) Referat von St.

Mentzos: Psychotherapie in der Psychia- trie, unveröffentlichtes Vortragsmanu- skript.

Anschrift der Verfasser:

Diplomsoziologe Alf Gerlach, Arzt Diplompsychologin Elisabeth Troje

Psychotherapeutische Beratung für Studierende

Postfach 11 19 32 6000 Frankfurt/Main 11

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