Open Access
Ursula Stangel. 2015.Form und Funktion der Reflexiva in österreichischen
Varietäten des Bairischen(ZDL Beihefte Band 161). Stuttgart: Franz Steiner. 212 S.
Besprochen vonHorst Haider Munske:Universität Erlangen-Nürnberg, Lange Zeile 129a, D-91054 Erlangen, E ˗ Mail: horst.munske@fau.de
DOI 10.1515/zrs-2016-0014
Regenseananed so auf„Regen Siesichnicht so auf“ –solche Fälle von Personal- pronomen statt (im Standard) Reflexivpronomen (und umgekehrt) behandelt diese Münchener Dissertation vom Jahre 2012. Das Phänomen ist ein bairisches Spezifikum, das auch in die österreichische Variante des Standarddeutschen Eingang gefunden hat. Deshalb orientiert sich die Autorin vor allem an Quellen des östlichen Teils des Bairischen. Als Datengrundlage dienten die Belege aus bisherigen dialektologischen Untersuchungen, aus der Dialektliteratur, aus dem Wiener Phonogrammarchiv, dem Steirischen Wörterbuch und–zur Überprüfung und Ergänzung–einem eigenen Fragebuch (abgedruckt S. 204–212). Dieses bietet im Multiple-Choice-Verfahren jeweils mehrere Varianten eines Satzes an. Gefragt wird nach jener Variante, die der Informant aus seinem eigenen Dialekt kennt.
Leider wird das gesammelte Material nur in statistischer Auswertung dokumen- tiert sowie exemplarisch im Zuge der Analyse genannt. Zu fragen ist auch, warum die Sammlungen des Bayerischen Wörterbuchs nicht einbezogen wurden, zumal dessen Leiter im Promotionsverfahren beteiligt war. Offenbar dominiert hier ein typologisches Interesse gegenüber einem dialektologischen. Das ist vor allem deshalb schade, weil die bairischen und österreichischen Sprachatlanten das Phänomen gar nicht berühren. (Dies liegt u. a. an ihren Fragebüchern, die sich an den alemannischen Atlanten, dem Schweizerdeutschen und dem Süddeutschen Sprachatlas, orientieren.) Auch wenn mit der vorliegenden Arbeit die Chance einer Ergänzung nur eingeschränkt genutzt wurde, zeigt sich doch, dass selbst der fast 50-bändige Bayerische Sprachatlas noch vieles undokumentiert gelassen hat. Zum Typus der Arbeit gehört auch die Ausblendung jeglicher diachronischer Aspekte des Themas. Denn schon im Mittelhochdeutschen und Frühneuhoch- deutschen sind der Synkretismus von Dativ und Akkusativ sowie die Nutzung des Personalpronomens als Reflexivum vorgezeichnet. (Es könnte lohnen, nach kliti- schen Varianten in den handschriftlichen Texten zu suchen.)
Schon vor einer Auswertung ihres Materials widmet sich die Autorin ausführ- lich den typologischen Fragen der Klassifikation, da im Dialekt gerade bei den Personalpronomina neben den lexikalischen Vollformen auch unbetonte Formen
© 2016 Horst Haider Munske, published by De Gruyter
This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 License.
ZRS 2016; 8(1–2): 79–80
und vor allem Klitika, d. h. suffixartige, an die Verbform angehängte Reduktions- formen gebräuchlich sind. Vollformen und Klitika sind sowohl phonologisch wie syntaktisch (verschiebbar vs. gebunden) unterscheidbar, wobei unbetonte For- men einen Übergang bilden. Dies ist ein wunderbares Beispiel von Grammatikali- sierung, ein Aspekt, der in dieser Arbeit leider gar nicht berührt wird.
Ausgangspunkt der Analyse ist ein Grundschema der Personalpronomina im Bairischen, das die drei Typen Vollform, schwache Form und Klitikon enthält.
Ausführlich (S. 83–115) widmet sich die Autorin zunächst dem Synkretismus von Dativ und Akkusativ (wie bei sich im Standarddeutschen) bzw. zwischen Per- sonalpronomen und Reflexivum. Unter der Überschrift„Intensivierung und Des- ambiguierung“(S. 116–143) werden sodann funktionale und strukturelle Fragen der Intensivierung (durchselbst) erörtert. Das letzte Kapitel (S. 145–188) handelt von den Funktionen des Reflexivums. Dieses Thema hat die Grammatikforschung bereits gut erschlossen. Die Autorin nutzt dies, um die eigenen Daten einzuord- nen und sozusagen ein Profil des Reflexivums im Bairischen und im österrei- chischen Deutsch aufzustellen.
Mein Gesamteindruck von dieser Dissertation ist durchwachsen. Einerseits ist anzuerkennen, dass sich die Autorin intensiv mit den diversen funktionalen, lautlichen und semantischen Fragen der Reflexiva befasst und dazu die vielfälti- ge (oft generativistische) Literatur einbezogen hat. Allerdings ist die Lektüre oft beschwerlich, da die Verfasserin sich zahlreicher ungeläufiger Abkürzungen be- dient (z. B. CL, DOCCL, IOCL, HON, VF, PMK) und die Kenntnis der zitierten Titel meist voraussetzt, ohne deren Positionen ausreichend darzustellen. Es fehlt ein gut rezipierbarer Forschungsüberblick. Auch die Zusammenfassungen vermitteln nur begrenzt ein Gesamtbild der Beobachtungen und Ergebnisse. War die Autorin vom Thema überfordert? Oder fehlte es an einer erfahrenen Betreuung? Es bleibt zu loben, dass ein charakteristisches Phänomen des Bairischen und regionaler Standardvarianten empirisch erschlossen und theoretisch durchleuchtet wurde.
In Ergänzung zu traditioneller Sprachgeographie gelangt damit die ganze Band- breite der Variation und des Wandels gesprochener Sprache in den Blick.
80 Horst Haider Munske