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Damit sind wir schon mitten in der Alltagsgeschichte des Etappenlebens und für sie bietet die vom MGFA aufbereitete Quelle selten reichhaltiges Material.

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Wilm Hosenfeld, »Ich versuche jeden zu retten«. Das Leben eines deutschen Offiziers in Briefen und Tagebüchern. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Thomas Vogel, München: Deutsche Verlags- Anstalt 2004,1194 S., EUR 32,00 [ISBN 3-421-05776-1]

>»Der Pianist< verdankt ihm sein Leben! Hier sind die Aufzeichnungen seines Ret- ters«. Mit diesen Worten wirbt der Verlag für seine gewichtige Neuerscheinung, und aus kommerzieller Perspektive ist dies verständlich. Sie ist auch insofern rich- tig, als sich die Publikation dieses enormen - und enorm wichtigen - Nachlasses ausschließlich dem Umstand verdankt, dass Wladyslaw Szpilman, eben jener »Pia- nist«, seinem Retter in seinen »Warschauer Erinnerungen« ein Denkmal setzte, dass diese Erinnerungen 1998 auf Deutsch erschienen und Wolf Biermann, der ei- nen Essay dazu beigesteuert hatte, an den damaligen Bundesverteidigungsminis- ter Rühe mit der Bitte um gebührende Würdigung Wilm Hosenfelds herantrat, und dass schließlich Roman Polanskis mit einem »Oscar« ausgezeichneter Film »Der Pianist« 2003 in die deutschen Kinos kam.

Habent sua fata libelli. Anders, d.h. heißt aus originär geschichtswissenschaft- lichem Interesse, war es offensichtlich nicht möglich, an diese Quelle heranzu- kommen, die schon längst, und zwar aus ganz anderen Gründen eine Entdeckung und Publikation verdient hätte. Historisch wird jedenfalls die Zuspitzung auf die Rettung des >Pianisten< diesem einzigartigen Quellenfundus kaum gerecht, was man schon daraus ersieht, dass Szpilman weder in Hosenfelds Briefen noch in sei- nen Notizen erscheint. Hosenfeld nennt diesen Namen zum ersten Mal überhaupt erst in seinem Verhör in russischer Kriegsgefangenschaft im Juni 1945. Szpilman sei- nerseits kannte zunächst den Namen seines Retters noch gar nicht. Hosenfeld ret- tete auch nicht nur ihn, er versuchte »jeden zu retten, der zu retten ist«, wie er sei- ner Frau am 23. August 1944 schrieb. Das waren mehrere Dutzend Personen, pol- nische Zivilisten vor allem und in wenigen Fällen auch Kombattanten bzw. Kom- battantinnen der »Armia Krajowa« während des Warschauer Aufstandes.

Die eigentliche Bedeutung dieses Fundus für die Geschichtswissenschaft liegt auf ganz anderen Gebieten. Niemals zuvor verfügten wir über einen vergleichbar aussagekräftigen Quellenbestand für zwei Fragen von allerdings sehr unter- schiedlichem Gewicht. Erstens: Wie wird jemand zum Retter, der 1933 in die SA und 1935 in die NSDAP eintritt, der an der Rechtfertigung des Krieges zunächst kei- nerlei Zweifel hat und lange an Hitlers politisches und militärisches Genie glaubt?

Wie >ganz normale Männer< zu Verbrechern wurden, kann seit Robert Gellatelys Untersuchungen vielleicht als einigermaßen geklärt gelten. Aber wie wird ein >ganz normaler Mann<, Volksschullehrer und Reserveoffizier, zum Retter? Zweitens: Wie sieht der Krieg in der Etappe aus? Die Kampftruppen stehen begreiflicherweise seit jeher im Mittelpunkt des Interesses, beim großen Publikum wie bei den Histori- kern. Der bei modernen Armeen viel umfangreichere Tross und erst recht die Etap- pe im engeren Sinne, Besatzungstruppen und Militärverwaltung, entgehen fast re- gelmäßig der Aufmerksamkeit. Freilich, da werden keine Ritterkreuze verdient und es geht auch nicht immer so elitär zu wie in Ernst Jüngers Pariser Erinnerungen zu lesen. In Warschau jedenfalls, wo Hosenfeld seit Juni 1940 Dienst tat, waren die Eliten entweder geflohen, ermordet oder untergetaucht. Fraternisiert haben allen- falls in gemischter Ehe lebende Deutsche - Hosenfeld lernt etliche von ihnen näher kennen -, kollaboriert haben, mehr oder minder gezwungen, Polizei und Kirche.

Militärgeschichtliche Zeitschrift 64 (2005), S. 523-611 © Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam

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Damit sind wir schon mitten in der Alltagsgeschichte des Etappenlebens und für sie bietet die vom MGFA aufbereitete Quelle selten reichhaltiges Material.

Beginnen wir der Dramaturgie halber mit diesem zweiten Aspekt. Bei Kriegs- beginn wurde der Weltkriegsteilnehmer Hosenfeld sofort eingezogen, aber mit sei- nen 44 Jahren war er schon zu alt fürs Feldheer. In der Nähe von Lodz baute er ein Kriegsgefangenenlager auf, in dem zuletzt zehntausend Soldaten untergebracht waren. Von Anfang an begegnete er diesen mit einer Mischung aus Respekt und Mitleid und setzte unter Überschreitung seiner Kompetenzen für einzelne von ih- nen die Freilassung durch. Gleich hier wird übrigens sein literarisches Talent sicht- bar. Nach Schließung des Lagers versah er Besatzungs- und Sicherungsdienste, bis er im Jurti 1940 zum Wachbataillon in der ehemaligen polnischen Hauptstadt ver- setzt wurde. Hosenfeld hat in den wachfreien Tagen Zeit für vielerlei anderes. Er kann sich sein Leben weitgehend selbst einrichten, liest und schreibt viel, ja er schreibt von allen, die er kennt, mit Abstand am meisten und gilt deshalb bei vie- len, die ihre Freizeit im Kasino zubringen, als etwas wunderlich. Der Krieg ist in weiter Ferne - nur: »Ich bin zwar nicht den Kugeln ausgesetzt, aber meinst Du, das wäre ein Leben hier, das mich und alle anderen befriedigte?«, teilt er seiner Frau schon am 20. Oktober 1939 mit, um dann fortzufahren: »Das Niederdrü- ckendste für mich ist, dass ich mir so zwecklos erscheine und Du und die Kinder mich so nötig haben, und ich kann Euch nicht beistehn.« >Gammeln< heißt das heute.

Hosenfeld gelingt es aber bald, sein Leben sinnvoll zu gestalten. Das hat weniger mit der Beförderung zum Leutnant (und den weiteren Beförderungen) zu tun, auch wenn diese ihn natürlich bestätigen und motivieren (Als er Hauptmann wird, schreibt er nach Hause: »Da habe ich mich gefreut. Der Leutnant paßt für uns alte Kerle auch nicht mehr«; 24. Juli 1942). In seinem Element ist der jugendbewegte, leidenschaftliche Pädagoge vielmehr, sobald er im Frühjahr 1941 zum leitenden Sportoffizier der Kommandantur Warschau ernannt wird und im Oktober des fol- genden Jahres zusätzlich die Leitung der Berufsfortbildungskurse übernimmt. Als sei tiefster Frieden, baut er in Warschau ein Trainingszentrum auf. Er übernimmt polnische Stadien, Reithallen, Bootshäuser und baut sich einen Stab von Trainern auf. Flügel und Harmonium stehen in der großen Halle. Er selbst betreibt vor al- lem Leichtathletik, Schwimmen, Reiten, Fechten. Zur Wehrmach tkampf spiel wo- che Ende August 1943 - Stalingrad lag ein halbes Jahr zurück, die Alliierten wa- ren auf Sizilien gelandet, deutsche Städte fielen in Schutt und Asche - meldeten sich über 1200 Teilnehmer. Hosenfeld beklagt das Desinteresse seiner Vorgesetzten, die nicht begriffen, dass mit einer solchen Veranstaltung die Wehrmacht »ganz un- ter sich ist und sich als ein machtvolles Ganzes einmal zu repräsentieren die Gele- genheit hatte« (6. September 1943). Sport also zur möglichsten Distanzierung von SS und Polizei, und deshalb geht es in erster Linie nicht um Sieg und Rekorde.

Wichtig ist ihm sein Beitrag zur »seelischen Tiefe« (6. April 1942), weshalb Ho- senfeld beim Training singen lässt und Gedichte vorträgt. Das alles leuchtete auch zwei jungen Offizieren ein, die ihn im Sommer 1944 anlässlich einer >Auskämm- aktion< an die Front schicken wollten. Er zeigt ihnen seine Programme und Be- richte und anschließend die Sportanlagen, und anstatt ihn auf ihre Liste zu setzen,

»meldeten [sie] sich für die nächste Freizeit zum Segeln an« (S. 814).

Hosenfelds zweite Tätigkeit, der er sich mit Leib und Seele verschreibt, ist die

Fortbildung der Soldaten. Einerseits organisiert er Facharbeiter- und Meisterkur-

se, andererseits, und dies mit besonderem Engagement, Lehrgänge für Studenten;

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an diesen nehmen allerdings auch gestandene Akademiker teil (»zum Beispiel meh- rere Amtsgerichtsräte, die aber einfache Soldaten sind«; S. 754). Dafür bittet er Do- zenten und Professoren deutscher Universitäten nach Warschau. Das Veranstal- tungsprogramm nennt er Vorlesungsverzeichnis. Das ist natürlich kein Zufall. Er, der selbst nie studieren konnte, sich aber nicht zu Unrecht zu den »Gebildeten«

(S. 227) rechnet, genießt die Möglichkeiten, die ihm seine dienstliche Stellung bie- tet, mit Koryphäen der Wissenschaft - und der Gesellschaft (z.B. S. 524) - in Kon- takt zu treten. Der Dorfschulmeister hätte das niemals vermocht. Ansprachen vor großem Publikum fallen ihm regelmäßig schwer, im Unterricht aber brilliert er. Er macht dabei zur Verblüffung der Teilnehmer aus seiner Ablehnung der deutschen Polenpolitik kein Hehl. Dankschreiben der jungen Leute zeugen von dem außer- ordentlichen Eindruck, den Hosenfelds Persönlichkeit gerade auch deshalb auf sie machte (S. 752,967 f.).

Wie sieht ein Tag in der Etappe aus? Zunächst ist Hosenfeld hinsichtlich seiner Diensteinteilung in vielem sein eigener Herr. Er kann sich auch eine eigene Welt auf- bauen, im Stadion, wo er sich eine gemütliche Wohnung eingerichtet hat. Sodann gibt es mehrmals im Jahr Urlaub, natürlich nie lang genug, aber deutlich mehr und vor allem regelmäßiger als bei den Kampftruppen. Schließlich herrscht auch wie im Zivilleben eine klare Unterscheidung zwischen Werk- und Sonntag. Wie letz- terer aussieht, wissen wir aus vielen Briefen, die er vorzugsweise sonntags schreibt.

Ein willkürlich herausgegriffenes Beispiel: Am 23. Mai 1943 - das Warschauer Ghetto wird soeben von der SS brutal geräumt - nimmt Hosenfeld am Gottesdienst seines polnischen Freundes, Pfarrer Cieciora (er wird ihn später verstecken), teil, danach wird er von dessen Hausherrn, einem ehemaligen polnischen Bankange- stellten, zum Frühstück eingeladen. Zum Mittagessen ist er bei einer anderen pol- nischen Familie eingeladen, aber er hat keine Lust hinzugehen. Dann muss er bei einem Pokalspiel zusehen, nimmt anschließend zwei Stabsärzten persönlich das Sportabzeichen ab und spielt »noch V2 Stunde mit meinem neuen Gehilfen Tennis [...]. Er ist ein Österreicher, von altem Adel« (S. 717).

Ist Hosenfeld zufrieden? »Ein schöneres Leben kann ich mir jetzt gar nicht wün- schen. Mit dem militärischen Dienst habe ich jetzt gar nichts zu tun. Es kommt mir vor, als wäre ich im Urlaub. Ich lebe ganz für mich und meine Gesundheit«, notiert er am 24. Juni 1941, zwei Tage nach Beginn des Russlandfeldzuges. An ihm nicht teilnehmen zu müssen, ist natürlich ein Glück. Immer wenn der Krieg naht, ge- denkt er dankbar seiner Stellung, zuletzt am 23. Juni 1944, kurz vor dem War- schauer Aufstand und der als sicher erachteten Eroberung der Stadt durch die Rus- sen. Und noch im November 1944, nach der Rückkehr der Stäbe nach Warschau, berichtet er von seiner nun zwar viel bescheideneren, aber immer noch »sehr schön eingerichtet[en]« Wohnung: »In den verlassenen Häusern stehen ja genug Möbel.

Es ist warm, elektrisches Licht ist da. Schöne Bücher, gute Bilder« (S. 875). Aber in Wirklichkeit ist das alles nicht so harmlos, wie es klingt. Erstens hat Hosenfeld ein schlechtes Gewissen gegenüber der Familie, namentlich aber gegenüber dem äl- testen Sohn, der in Russland kämpft und mit knapper Not der Katastrophe von Stalingrad entgeht. Zweitens und vor allem entgeht Hosenfeld natürlich weder die sich dramatisch verschlechternde militärische Lage - er hält den Krieg seit 1943 für verloren - noch macht er sich Illusionen hinsichtlich der menschenverachten- den und völkerrechtswidrigen Herrschaft der Nazis in Polen und anderswo. Im Gegenteil, Hosenfeld zeigt sich bestens informiert und formuliert ungewöhnlich hellsichtige Urteile.

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Und damit sind wir beim anderen Thema, für das diese Edition von außerge- wöhnlichem Wert ist: dem Weltbild Hosenfelds. Der Retter des >Pianisten< kam nicht als Heros nach Warschau und er war 1940 nicht einmal das, was man einen Gegner des Naziregimes nennen könnte. Was hat ihn also 1944 motiviert und wie konnte er seine Motive in die Tat umsetzen? Um mit letzterem gleich zu beginnen, sei hier die These formuliert, dass zwischen Hosenfelds militärischem Alltag und seinen Rettungsaktionen ein Zusammenhang besteht. Es erwies sich nämlich als ein Glück, dass, obgleich Hosenfeld dies mehr als einmal bitter vermerkt, sich die Stä- be für Sportunterricht und Berufswerk kaum interessierten. Das ermöglichte ihm einen großen Freiraum, in dessen Rahmen er zunächst intensive Kontakte zu Po- len herstellte und später seine Rettungsvorhaben auch realisieren konnte.

Was nun Hosenfelds Weltbild betrifft, so liegt für die Zeit vor 1935/36 kaum brauchbares Material vor. Mit Sicherheit wissen wir nur, dass Hosenfeld in seiner Jugend aktiver Wandervogel war und dass er den Ersten Weltkrieg frisch fröhlich - »ein lustiger Krieg begann« (S. 163) - erlebte. Danach trat er seine erste Stelle als Dorfschullehrer im Hessischen an und heiratete ein evangelisches Mädchen, das dem strengen Katholiken zuliebe konvertiert war. Aus seinen Aufzeichnungen vor 1933 geht nicht mehr hervor, als dass er bei aller obrigkeitsstaatlichen Prägung (»Parteiengezänk«, S. 201) loyaler Republikaner war.

Aber die Republiktreue war eine formale. Im Kern seines Wesens blieb er ein politikferner Bildungsbürger, der mit der Machtübernahme der Nationalsozialis- ten kein Problem hatte, ja sich alsbald aktiv zu ihnen bekannte. Von Hitlers poli- tischem Genie< blieb er bis 1942/43 fasziniert, von der Partei hielt er wenig bis nichts. Beides teilte er mit der Mehrheit der Deutschen. Was ihn dagegen unter- schied, war der Umstand, dass er bei aller Kritik an der unmodernen, langweiligen Amtskirche mit ihren formelhaften, lateinischen Gottesdiensten und ihren »vielen dicken Pfarrern« (S. 212) seinen Glauben offen bekannte. Auf eine knappe Formel gebracht, wollte Hosenfeld nach 1933 ein katholischer Nationalsozialist sein (vgl.

S. 226), und zwar ein »deutschkatholischer« (S. 222). Gesinnungsstark, aber poli- tisch unendlich naiv, durchschaute er nicht, dass alles mit allem zusammenhing, dass das Regime von Anfang an gegen Recht, Moral und Schutz der Andersdenkenden verstieß. Die Diktatur kritisierte er folglich, wenn sie die Bekenntnisschule ab- schaffte und den Frieden gefährdete, aber am >Tag des deutschen Volkstums< 1937 registrierte er beglückt, dass er die dörflichen Zuhörer zu begeisterten »Sieg Heil«- Rufen hatte veranlassen können (S. 225). Er mokierte sich über den »fanatisch[en], engstirnig[en], ungebildet[en]« Unterrichtsentwurf eines Kollegen zum Thema >Ju- den< (S. 239) und natürlich war er über die Vorgänge der sogenannten Reichskris- tallnacht entsetzt (S. 237), aber bei der Entlassungsfeier im selben Jahr ermahnte er die Schüler, »die Gesetze des Blutes« zu respektieren (S. 232) und unter den Stich- worten für die »rassenkundliche Arbeit« notierte er damals: »Kampf der Rassen- mischung« (S. 239). 1939 beschrieb er die Bewohner seines Dorfes Thalau unter Rassegesichtspunkten: »Die meisten Merkmale deuten auf die nordische Rasse hin« (S. 241). Der Rezensent der Süddeutschen Zeitung< hat schon recht: »So säu- berlich geschieden, wie wir es wünschen - und, wie man hinzufügen muss, wie es Thomas Vogel in seiner überlangen Einleitung will - ist hier nichts.« Aber gerade das macht ja den besonderen Wert dieser Quelle aus.

Mit Kriegsbeginn ändert sich die Tonlage rasch und vollständig. Das liegt an der existenziellen Grenzerfahrung des Krieges und an der Textsorte. Sofort ist Schluss mit Belehrungen Dritter, mit Reflexionen über den Auftrag des deutschen Volkes,

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mit Überlegungen zur >rassischen< Beschaffenheit hessischer Bauernkinder, Schluss mit Pathos vor allem. Jetzt zeigt sich einerseits der besorgte Familienvater, ande- rerseits der Soldat voller Ehrfurcht vor und Mitleid mit den Besiegten. Ersteres ist das Übliche in Feldpostbriefen, letzteres unterscheidet Hosenfeld von der Masse seiner Zeitgenossen. Schon am 30. September 1939 ist er empört, wie »schrecklich«

die Juden behandelt werden. »Davon kann ich Euch später mal erzählen. Ich kann darüber nichts schreiben« (S. 256).

Was Hosenfeld wie und wem schreiben konnte, hätte in der Einleitung oder in der editorischen Notiz klärende Hinweise verdient. Man weiß, dass Feldpostbrie- fe der stichprobenartigen Zensur unterlagen. Natürlich wusste auch Hosenfeld das. Wenn er 1942 seiner Frau brieflich alle Einzelheiten der im Gange befindli- chen >Endlösung< mitteilt, wüsste man gerne, ob er dafür die Feldpost benutzt hat - und damit um der Wahrheit willen ein ungeheueres Risiko eingegangen ist - oder ob er als >Etappenhengst< sich der normalen Post bedienen konnte. Die Edi- tion enthält hierzu keinerlei Hinweise. Jedenfalls fällt auf, dass Hosenfeld in den Feldpostbriefen an seinen Sohn Helmut einen anderen Ton anschlägt und dessen Kriegsoptimismus nur vorsichtig widerspricht. Aber auch hier muss offen bleiben, ob dies aus Zensurgründen geschah oder weil sein Sohn dem Regime damals näher stand als der Vater. Die wirklich brisanten Aussagen vertraute Hosenfeld jedoch sei- nem Tagebuch und den »Notizen« an, die er fallweise anfertigte.

In den ersten beiden Kriegsjahren trennt Hosenfeld klar zwischen Privatmoral bzw. persönlicher Anschauung und Politik. Das ist ungute deutsche Tradition. So empfindet er die Behandlung der Polen seit 1939 als schlechthin untragbar, doch auch 1941 ist >deutsch< noch immer ein hoher Wert (S. 434). Hitler aber ist »der un- eigennützigste Staatsmann der Welt« (S. 257), »ein großes Genie« (S. 350). Im Osten sichert das deutsche Heer »Nahrungsfreiheit« und »Volksboden«. Das sind natür- lich alles nationalsozialistische Parolen.

Ab Herbst 1941 geht Hosenfeld allerdings deutlich auf Distanz zum Regime und nun gerät auch der >Führer< nach seiner Rede zum 9. November ins Faden- kreuz der Kritik (S. 544 f.). Kurz zuvor hatte ihm ein aus Russland zurückkom- mender Soldat berichtet, dort würden unter den Juden »auch Frauen und Kinder«

erschossen (Notiz, S. 544). Anfang 1942 vergleicht er systematisch die Französi- sche, die Russische und die »nationalsozialistische Revolution« und kommt zu ei- nem vernichtenden Urteil über letztere (Tagebuch, S. 574 ff.). Die Ursachen- bzw.

Schuldfrage beantwortet er aber noch immer mit dem Hinweis auf >Lug und Trug<.

Das beginnt sich zu ändern, sobald er von der >Endlösung< erfährt. Am 17. April 1942 notiert er, dass in Auschwitz mit Gas getötet wird. Der Hergang der >Aktion Reinhard < ist ihm in allen Einzelheiten bekannt, kaum dass sie begonnen hat. Im Juli und August vertraut er das nicht nur seinem Tagebuch an, sondern berichtet es auch seiner Frau, schließlich sogar Sohn Helmut, mit dem er nur per Feldpost verkehren kann: »Was man jetzt zum Beispiel mit den Juden macht! Sie sollen aus- gerottet werden, und man ist dabei, dies zu tun.« (S. 642). Hosenfeld fügt hinzu, er lese, um der Sinnfrage auf die Spur zu kommen, jetzt Thomas a Kempis.

Hosenfeld und das Thema >Endlösung< verdiente eine eigene Betrachtung. Dass die Endlösung zu seinem Bruch mit dem >Dritten Reich< geführt hat, geht aus den Texten klar hervor. Mitte 1943 stellt Hosenfeld nun auch die Mitschuld der Arbei- ter, der Kirchen, des Bürgertums und der Eliten an der >Machtergreifung< fest und spricht dabei in der Wir-Form, schließt sich also mit ein (S. 730). Nie zuvor dachte er politisch so scharf. Im Hinblick auf seine Rettungsaktivitäten ein Jahr später ist

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aber die Feststellung seiner Integration in die polnische Gesellschaft nicht minder wichtig. Er besucht trotz Verbot regelmäßig den polnischen Gottesdienst, hat Pol- nisch gelernt, beschäftigt 30 polnische Zivilisten (»auf diese kann ich mich verlas- sen«, S. 703) und feiert mit ihnen Weihnachten, hat einen polnischen Diener und wird - gemeinsam mit seiner Frau - regelmäßig von polnischen Bekannten einge- laden. Mit dem nationalpolnischen Standpunkt identifiziert er sich voll und ganz, auch mit dem Aufstand (S. 846). Das alles ist ebenso bemerkenswert wie wohl auch einmalig.

Gleichwohl hält Hosenfeld den Aufstand im Sommer 1944 für töricht ange- sichts der Machtverhältnisse. Er leitet damals vertretungsweise die Abteilung Ic der Oberfeldkommandantur Warschau und hat deshalb Gefangene zu verhören. So- fort ergreift er die Chance, den Polen endlich einmal Gerechtigkeit zu verschaffen.

Er verlangt, dass die Verhafteten nach der Genfer Konvention behandelt werden;

sein widerstrebender General gibt aus taktischen Gründen schließlich nach. Ab Mitte August übernimmt jedoch die SS das Kommando und wenig später verlässt Hosenfeld mit allen Stäben vorübergehend die Stadt, so dass er nicht mehr helfen kann. Einzelheiten über seine Auseinandersetzungen mit Vorgesetzten und Ge- stapo teilt er in seinen Aufzeichnungen ebensowenig mit wie über seine sonstigen Rettungsaktionen. Näheres berichtet er erst in seinen Verhören in russischer Kriegs- gefangenschaft.

In dieser befand sich Hosenfeld vom Januar 1945 bis zu seinem Tod im August 1952. Dass ausgerechnet er 1950 als Kriegsverbrecher verurteilt wurde, hängt tra- gischerweise mindestens indirekt mit seinen Rettungsaktivitäten zusammen. Denn erstens machte Stalins Ukas von 1949 alle Angehörigen der Ic-Stäbe >ipso iure< zu Kriegsverbrechern und zweitens forderte der Gefangene unwillentlich die sowje- tischen Behörden dadurch heraus, dass er zu seiner Rettung an den polnischen Staatspräsidenten appellierte, wobei es keine Rolle spielte, dass diesen das Gesuch wohl nie erreicht hat. Auch tatsächliche Rettungsversuche durch Polen, darunter Szpilman, machten Hosenfeld in sowjetischen Augen nur um so verdächtiger.

Dass die Edition manche Wünsche offen lässt und dass die Einleitung viel zu unkritisch von vornherein auf den späteren Helden zusteuert, wurde bereits ge- sagt. Wiederholt sei deshalb aber auch die Feststellung, dass wir es hier mit einer außerordentlichen Quelle zu tun haben, sowohl was die Vollständigkeit als auch, was ihren Inhalt ausmacht. Wie ein politisch Irrender, am Sieg der Nationalsozia- listen Mitschuldiger, seine Irrtümer erkennt und in handelnder Selbstkritik - hier- in den nationalkonservativen Verschwörern durchaus ebenbürtig - wiedergutzu- machen sucht, hat man bislang kaum in solchem Detailreichtum nachlesen kön- nen. Dieser Umstand rechtfertigt nicht nur die umfangreiche Edition, sondern viel- leicht auch die überlange Besprechung.

Christof Dipper

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Jeremy Black, Rethinking Military History, London, New York: Routledge 2004, XIII, 257 S., £ 13,99 [ISBN 0-415-27533-4 (hbk), 0-415-27534-2 (pbk)]

Militärgeschichte, so Jeremy Black, »beschäftigt sich mit der Organisation und dem Austragen von Gewalt im Sinne des absichtlichen Tötens und Verletzens von vie- len Menschen«, wobei »das Töten ein Mittel zum Zweck, nicht ein Ziel an sich dar- stellt«. Die erste Hälfte dieser Definition kann eigentlich nur von jenen angefoch- ten werden, die Militärgeschichte als Organisationsgeschichte und Chronik der Armeen sehen, in deren Diensten sie stehen, ob in Krieg oder Frieden, wobei der Krieg für sie in den Hintergrund tritt. Die überwältigende Mehrheit der Militärhis- toriker, die im internationalen Diskurs stehen, sehen aber wie Jeremy Black den Krieg im Mittelpunkt der Militärgeschichte, und meinen entsprechend mit Michael Howard, dass »Militärgeschichte ein zu schwerwiegendes Geschäft ist, um es den Militärs zu überlassen«. Die zweite Hälfte der Definition Jeremy Blacks wird al- lerdings der Vision Ludendorffs vom Totalen Krieg nicht gerecht, weitgehend um- gesetzt von den Nationalsozialisten, für die die Ermordung der Juden und die Ver- sklavung der Slawen tatsächlich Ziele an sich waren. Dies würde Black aber si- cherlich im Gespräch zugeben, denn sein ganzes Buch unterstreicht die »sich än- dernde Natur der Normen, unter denen man den Krieg betrachtet«, die beweisen, dass »Krieg, und die Reaktionen auf ihn, kulturell konstruiert sind«, wobei die Konstruktion sowohl in Gesellschaften insgesamt erfolgt, als auch in Teilen dieser Gesellschaften, von Parteien oder Verbänden bis hin zum Militär selbst.

Jeremy Black ist in seiner Forschungskarriere die Geschichte des Krieges vom 18. Jahrhundert aus angegangen. Uber eine ganze Serie von Büchern hat er sich ei- nen immer weiteren Zeitrahmen erschlossen, wie auch seine Interessen über den westlichen Kulturraum hinausentwickelt, was inzwischen als sein Hauptmarken- zeichen gilt (siehe z.B. sein Warfare in the 18th century, London 1999, das bewusst mit kriegerischen Auseinandersetzungen außerhalb Europas ohne Teilnahme der europäischen Mächte anfängt).

Wie Black selbst richtig aufzeigt, gibt es ein Dilemma: Einerseits finden wir die engen Interessen von westlichen Lesern (und Verlegern) an der Militärgeschichte ihrer eigenen Länder, die zu unendlich vielen Schlachtenbüchern über Waterloo und Somme und zu Biographien über Napoleon und Rommel geführt haben. Dies macht aber andererseits ein wirklich ausgewogenen Studium der großen Weltge- schichte des Krieges kaum möglich. Wie Black zu Recht bemerkt, werden die mei- sten Konflikte der Gegenwart nicht innerhalb des »Westens« ausgefochten, wes- wegen die traditionelle (d.h. 1648-1945) »westliche« Theorie zum Krieg als Kon- flikt zwischen souveränen Staaten einfach nicht mehr anwendbar ist. Allein schon der Glaube, es gebe eine einzige spezifisch westliche »Art des Krieges«, hält Black für eine absurde Uberzeichnung, die große Teile auch der europäischen Kriege aus- blendet. Dieser Band, wie mehrere andere Bücher aus seiner Feder, sind ein pas- sioniertes Plädoyer für die Öffnung der Militärgeschichtsschreibung für andere Kontinente und andere Epochen, anstelle der traditionellen Konzentration auf den

»klassischen Zeitraum« vom Siebenjährigen Krieg bis zum Irak-Krieg 2003, mit der obligatorischen westlichen Perspektive.

Jeremy Blacks Buch ist gegliedert in eine sehr knapp gehaltene, und daher sehr oberflächliche Revue der militärgeschichtlichen Literatur der letzten Jahre. Dem folgt eben jenes Plädoyer für eine Öffnung anderen Kulturräumen gegenüber. Die nächsten zwei Kapitel sind konzeptionell spannend, da sie essayistisch die Rolle

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der Technologie in der Militärgeschichte und die Rolle militärischer Objektive be- handeln. Beim ersten dieser zwei Themen stellt sich Black gegen den Mythos einer völlig linearen Steigerung in der Entwicklung der Waffentechnologie, die vielleicht erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts festzustellen ist, und gegen den Mythos, dass die Technologie immer die Entscheidung diktiert. Hier sei der Mythos von der überlegenen Feuerkraft als simpler Entscheidungsfaktor erwähnt, der spätestens mit dem Vietnamkrieg widerlegt worden ist. Wirtschaftliche Faktoren und die Fähigkeit von Gesellschaften, das Potenzial von Waffen voll auszuschöpfen, seien es auch die Macheten im Bürgerkrieg Ruandas, sind seiner Meinung nach meist wichtiger. Auch folgert er aus dem interkulturellen Vergleich, dass die militärische Praxis wichtiger war als das Vorhandensein von bestimmten Waffen(systemen).

So weist Bernard Bachrachs bahnbrechende Studie zum frühen Militärwesen der Karolinger auf die Wichtigkeit von Organisation gegenüber allen anderen Fakto- ren (wie etwa Waffen) hin - im Übrigen ein Hinweis dafür, wie wichtig auch für den Militärhistoriker der Neuzeit das Mittelalter und Altertum sind. Es gibt wirk- lich keinen plausiblen Grund, so Jeremy Black, das Studium der Militärgeschich- te nur auf die Zeit seit dem 18. Jahrhundert und nur auf die westliche Welt zu be- schränken, wobei der größte Teil an Grundlagenforschung für die außereuropäi- sche Welt - mit Ausnahme Japans - noch zu leisten ist.

Spannend zu lesen ist auch das Kapitel zu den militärischen Zielen, die ihrer- seits wieder Funktionen von politischen Kriegszielen sind bzw. von verschiede- nen Kulturen und ihrer Einstellung zum Krieg, zum Wert eines Menschenlebens im Verhältnis zu anderen zeit- und kulturgebundenen Idealen wie Ehre des Sol- daten oder dem kriegerischen Ruhm des Fürsten abgeleitet werden. In Bezug auf die deutsche Militärgeschichte meint Black interessanterweise, dass »die Rolle des deutschen Militärs bei Gräueltaten [im Ersten und Zweiten Weltkrieg] die Not- wendigkeit einer neuen Militärgeschichte Deutschlands suggeriert, und ein Fra- gezeichen hinter den Glauben an Fortschritt in militärischen Entwicklungen setzt«.

Da Black an anderer Stelle beweist, dass ihm die MGFA-Reihe »Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg« wohl bekannt ist, scheint er die ihm vorschwebende

»neue Militärgeschichte Deutschlands« hier nicht gefunden zu haben.

Sehr anregend ist für den Historiker auch der Hinweis, dass sich oft große Feld- herrn an Helden der Vergangenheit und deren Handeln orientiert haben, was ein interessantes Konferenzthema abgeben könnte: Die Rolle historischer Vorbilder für das Handeln von Nachgeborenen. Moritz von Sachsen pflegte seine Büste Caesars, Napoleon in Ägypten sah sich als neuen Alexander den Großen und Robert Brooke, der im Ersten Weltkrieg vor Gallipoli/Geliboglu kämpfte und starb, hatte den hero- ischen Kampf ums nahegelegene Troja im Kopf.

Es folgen drei Kapitel, in denen Black in groben Zügen die Militärgeschichte der Neuzeit neu umreißt, als Alternative zur vorherrschenden Meistererzählung (master narrative), wobei er ebenfalls bewusst eine scharfe zeitliche Abgrenzung der Perioden ablehnt. Daher unterteilt er die Militärgeschichte seit dem späten Mit- telalter in drei große Zeiträume: »1500 bis 1815«, »1775 bis 1918« und »1914 bis heute«. Damit sieht er besonders den Dreißigjährigen Revolutions-Krieg von 1775 bis 1815 und den Ersten Weltkrieg als Teile sowohl einer älteren Epoche als auch einer neuen. Zu 1775 bis 1815 bemerkt er, dass zumindest eine Seite - die britische - weitgehend im davor entwickelten Stil weiterkämpfte und damit auch schließlich über Napoleon triumphierte. Es waren also gleichzeitig alte und neue Formen der Kriegführung auf den Schlachtfeldern vertreten, was schon allein dagegen spricht,

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diese sonst als Wendepunkt dargestellte Übergangszeit nur dem Ancien Regime oder nur dem 19. Jahrhundert zuzuordnen. Auf andere Weise gilt dies für den Ers- ten Weltkrieg, in so vielem die Kulmination militärischer Entwicklungen, die schon im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 getestet worden waren, und militäri- schen Denkens, das seitdem auf ihn zusteuerte. Andere, wie Raymond Aron, sa- hen im Ersten Weltkrieg den Anfang eines neuen Dreißigjährigen Krieges.

Dieses Buch, ein wenig »mit der heißen Nadel genäht«, enthält eine Fülle von Denkanstößen. Es ist nicht Jeremy Blacks bestes Werk, aber die wirklich frischen Überlegungen sind von solcher Vielfalt und von solchem Potenzial, dass daraus höchst wichtige Forschungsprogramme erwachsen könnten und etliche militär- historische Institute aufs Beste beraten wären, sich einige dieser aufgezeigten Neuan- sätze zu eigen zu machen. Der, der glaubt, die einzige für die Gegenwart relevan- te Militärgeschichte sei die der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wird mit die- sem Buch schnell eines Besseren belehrt.

Beatrice Heuser

Urs Graf, Die Zeichnungen im Kupferstichkabinett Basel, Bearb. von Chri- stian Müller. Mit Beitr. von Ulrich Barth und Anita Haldemann, Basel:

Schwabe 2001, 414 S. (= Beschreibender Katalog der Zeichnungen, Bd III:

Die Zeichnungen des 15. und 16. Jahrhunderts, Teil 2B), EUR 57,50 [ISBN 3- 7965-0750-6]

Mit immer größerer Selbstverständlichkeit nutzen die Historiker mittlerweile Bild- quellen. Der viel zitierte »visual turn« hat neue, teilweise überraschende Sicht- weisen eröffnet und vor allem die Alltags- und Kulturgeschichte bereichert. Bilder können auf Mentalitäten und geistige Strömungen verweisen, Kommunikations- prozesse aufzeigen und nicht zuletzt vom unspektakulären Leben des Alltags in ei- ner Form berichten, die sich über schriftliche Quellen oft nur mühsam und manch- mal überhaupt nicht mitteilen. Die Suche nach verlässlichen und praktikablen Me- thoden hat vor allem in jüngster Zeit eine anregende Diskussion in Gang gesetzt, sichtbar in einer Fülle von Tagungen und Publikationen zu Bildern als historischer Quelle. Während das Bild beim Historiker langsam angekommen zu sein scheint, tun sich die Kunsthistoriker etwas schwerer, auf die Geschichtswissenschaft zu- zugehen. In gewisser Hinsicht ist der zu besprechende Band ein gutes Beispiel für diesen Prozess.

Die Figur des Künstlers, der im vorliegenden Katalog im Mittelpunkt steht, ist sowohl in kunsthistorischer als auch in allgemeinhistorischer Perspektive außer- ordentlich interessant. Der Grafiker, Goldschmied, Maler und schweizerische Söld- ner Urs Graf (um 1485-1527/28) hat ein umfangreiches, vor allem grafisches Erbe hinterlassen, dessen Hauptbestand sich im Kupferstichkabinett Basel befindet. Um- so verdienstvoller ist die vorliegende ambitionierte Veröffentlichung, die nach Hans Holbein dem Alteren, Jörg Schweiger, Hans Holbein dem Jüngeren und Ambrosius Holbein nunmehr den Zeichnungen von Urs Graf einen eigenen Band widmet. Be- gleitet von einer ästhetisch ansprechenden Sonderausstellung des Basier Kunst- museums (2001 /02) zeigt der Katalog neben der Druckgrafik den größten Teil des knapp 180 Blatt umfassenden zeichnerischen CEvres - ein Bildbestand, der für die frühneuzeitliche Kunst- und Militärgeschichte von ganz besonderem Interesse ist.

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Wie die meisten Künstler an der Schwelle zum 16. Jahrhundert teilt sich das Leben von Graf vor allem über sein Werk, aber nur sporadisch über andere Quel- len mit. Selbst über den Anfang und das Ende seines bewegten Lebens wissen wir nur wenig. Geboren in Solothurn um 1485 begann er zuerst eine Goldschmiedelehre, ging auf Wanderschaft und war ab 1509 in Basel tätig, wo er 1512 das Bürgerrecht erwarb. In den Akten taucht Graf vor allem in zwei Zusammenhängen auf, wegen Raufhändeln, liederlichem Lebenswandel und Ehebruch auf der einen und.der mehrfachen Teilnahme an Kriegszügen auf der anderen Seite: 1510 (Rom und Chiasso), 1512 (vermutlich Mailand), 1513 (Dijon), 1515 (Marignano) und 1521 (Mailand). Nach 1526 verwischt sich seine Spur; alles deutet auf einen Tod zwi- schen 1527 und 1528 hin.

Der gelegentliche Tausch von Feder und Grabstichel mit Spieß und Degen war in jener Zeit keine Seltenheit doch nur wenige Künstler scheinen so häufig wie Urs Graf davon Gebrauch gemacht zu haben. Über seine Motive, wiederholt an Kriegszügen teilzunehmen, ist viel gemutmaßt worden. Dass die Erlebnisse aus Lager und Kampf ihre Spuren hinterließen, beweist das nun in großen Teilen er- schlossene grafische Werk. Vor allem in den intimen Handzeichnungen, hinter de- nen kein Auftraggeber und nur selten ein Adressat stand, vermittelt sich ein sehr widersprüchliches Bild der altschweizerischen Kriegergesellschaft. Fast jeder Künst- ler in der Zeit Dürers, einschließlich des Namenspatrons der altdeutschen Kunst, hat sich mehr oder weniger intensiv mit den Söldnern, den oberdeutschen Lands- knechten oder dem schweizerischen Pendant der Reisläufer beschäftigt. Doch kei- ner hat dies mit einem so scharfen, ironischen und zuweilen bitterbösen Blick ge- tan, wie Urs Graf. In seinen Bildern spiegelt sich die ganze Selbstgefälligkeit der Kriegsleute, ihr stolzes, geckenhaftes und zuweilen zwanghaft anmutendes Auf- treten, aber auch ihre Zweifel und die Fragilität des wechselhaften Kriegsglücks.

In diesem Zusammenhang spielen Frauen eine bedeutende Rolle, deren künstle- rische Darstellung von der Liebes- und Lebensgefährtin, über die Glücksgöttin bis zur Lagerhure reicht. Die Chronologie der Zeichnungen verrät, dass sich der älte- re Graf zunehmend kritischer mit dem Stand der Kriegsleute auseinandersetzte.

Die wachsende Dominanz des Geldes auf den Söldnermärkten und die zeitglei- chen herben Niederlagen der eidgenössischen Heere bei Marignano (1515) und Bicocca (1522) haben Graf offensichtlich nachdenklich gestimmt. In seiner wohl berühmtesten Grafik, einem 1524 datierten Holzschnitt (Kat. Nr. 15, S. 291), zeigt Graf die einstmals unversöhnlichen Widersacher auf dem Schlachtfeld, einen ober- deutschen Landsknecht und einen schweizerischen Reisläufer, friedlich unter einem Baum stehend. Die Szene wird eingerahmt von einer Prostituierten und dem in der Baumkrone lauernden Tod - ein klarer Hinweis auf die dauerhafte Gefährdung soldatischer Existenz.

Für die Alltags- und Sozialgeschichte und mehr noch für die Militärgeschich-

te sind Grafs Arbeiten eine Quelle erster Güte, die nun in bisher nicht möglicher

Breite erschlossen werden kann. Die vorzügliche Qualität der 250 Abbildungen,

45 davon in Farbe, macht das Studium auch zu einem ästhetischen Genuss. Jedes

Blatt ist exakt und mit hoher Kennerschaft beschrieben, kommentiert und mit Li-

teraturhinweisen versehen. Die Brisanz der witzigen, bissigen und zuweilen obszö-

nen Bilder wird in den Kommentaren allerdings kaum aufgegriffen und allenfalls

nüchtern angemerkt. Das ist schade, weil nur wenige Künstler der Dürerzeit so

derb zu Werke gingen wie Urs Graf. Um den historischen Kontext der einzelnen

Blätter herzustellen, wird vor allem auf die grundlegenden Studien von Christiane

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Andersson und des leider viel zu früh verstorbenen Franz Bächtiger zurückge- griffen. Sieht man einmal von John R. Haies fulminanter Monographie »Artists and Warfare in the Renaissance« (1990) ab, dann fällt leider ein Mangel an jünge- ren Veröffentlichungen zur Alltags- und Sozialgeschichte auf. Hier hätten Hin- weise auf die Arbeiten von Reinhard Baumann, Peter Burschel und Hermann Romer gut getan. Unabhängig von dieser Kritik bleibt der Band allen zu empfehlen, die tiefer in die Alltags- und Mentalitätsgeschichte frühneuzeitlicher Söldnergesell- schaften eintauchen möchten.

Matthias Rogg

Die Herrscher Sachsens. Markgrafen, Kurfürsten, Könige 1089-1918. Hrsg.

von Frank-Lothar Kroll, München: Beck 2004, 377 S., EUR 24,90 [ISBN 3- 406-52206-8]

Die Doppelschlacht von Jena und Auerstedt sowie die Völkerschlacht bei Leipzig sind wohl zwei der bekanntesten und für den weiteren Verlauf der europäischen Geschichte bedeutendsten militärgeschichtlichen Marksteine des 19. Jahrhunderts.

An den Kämpfen dort waren - zuerst auf der Seite der napoleonischen Gegner, dann auf derjenigen des Kaisers der Franzosen, aber jedesmal im Lager der Verlierer - maßgeblich sächsische Truppen beteiligt.

Der sächsische Kurfürst und spätere König Friedrich August I. hatte sich mög- lichst aus dem Krieg heraushalten und sein Land vor den kommenden Verheerun- gen bewahren wollen, erreichte aber schließlich das Gegenteil: Sachsen wurde zwei- mal Kriegsschauplatz, von napoleonischen Truppen besetzt und nahm zwangswei- se an französischer Seite am Feldzug in Russland teil. Am Ende geriet der sächsi- sche König in preußische Gefangenschaft und musste ohnmächtig erleben, wie die Sieger 1814/15 auf dem Wiener Kongress - wo Sachsen als einziger Staat des Ancien Regime nicht vertreten war - die Halbierung seines Königreiches beschlossen. Ein gängiges pauschales Urteil über den glücklosen Landesherrn lautet, er sei politisch zögerlich und militärisch nicht interessiert und damit letztlich erfolglos gewesen.

Der sächsische König Friedrich August III. (ein Urenkel des Bruders von König Friedrich August I.), der das Land am Vorabend des Ersten Weltkriegs regierte, war im Gegensatz zu seinem Urahn an militärischen Dingen durchaus interessiert, was immerhin die Grundlage für eine ehrliche Freundschaft zum preußischen Kö- nig und deutschen Kaiser Wilhelm II. war. Doch obwohl Friedrich August III. sei- ne Soldaten, deren Uniformen und Paraden liebte und sogar 1912 vom Kaiser zum Generalfeldmarschall des Deutschen Reiches ernannt worden war (die höchste militärische Würde, die seinerzeit überhaupt zu vergeben war), übernahm er als einziger der vier deutschen Könige 1914 nicht den formellen Oberbefehl über sei- ne (3. sächsische) Armee, sondern übertrug diesen dem ehemaligen sächsischen Kriegsminister Max Freiherr von Hausen. Nachdem die sächsische Armee fünf Wochen nach Kriegsbeginn im September 1914 in der Marne-Schlacht mehr als 12 000 Mann (d.h. fast ein Drittel ihres Truppenbestandes!) verloren hatte, wurde von Hausen durch einen anderen ehemaligen Kriegsminister, den Preußen Karl von Einem, ersetzt.

Die beiden beschriebenen Beispiele werfen die Frage nach dem Wesen, der poli- tischen (und militärischen) Kompetenz, dem Willen zur Macht und den Möglich-

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keiten der sächsischen Herrscher auf. Waren die Wettiner politisch und militärisch unbegabt oder schlicht glücklos? Während für vergleichbare deutsche (Hohenzol- lem, Wittelsbacher) oder europäische (Bourbonen, Romanows) Dynastien eine Viel- zahl biographischer Arbeiten vorliegt, fehlte bisher eine modernen historiogra- phischen Standards genügende Darstellung der wettinischen Herrscher. Die zahl- reichen Arbeiten über herausragende sächsische Herrscherpersönlichkeiten, wie etwa über August den Starken (1694-1733), bilden eine Ausnahme und entspre- chen wiederum bei weitem nicht der Fülle an Büchern, die etwa zu dem Preußenkö- nig Friedrich II. (dem Erzfeind der Wettiner) erschienen sind.

Der Münchner Verlag C.H. Beck entspricht bereits seit längerer Zeit dem Be- dürfnis eines breiten Publikums nach Sammelbiographien, insbesondere von mo- narchischen Herrschern, und stellt den zu besprechenden Band über die sächsi- schen Markgrafen, Kurfürsten und Könige neben entsprechende Kompendien über die preußischen und bayerischen oder die englischen und russischen Dynastien.

Damit wird implizit auch die Stellung Sachsens im deutschen und europäischen Kontext erkennbar; von den regierenden deutschen Häusern, die an der Schwelle zum 18. Jahrhundert eine Rangerhöhung ihrer monarchischen Herrschaft durch- setzen konnten, waren die Wettiner 1697 mit der Wahl des Kurfürsten Friedrich August I. zum König von Polen (»August der Starke«) als erste noch vor den Ho- henzollern, den Wittelsbachern, den Weifen und Hessen-Kassel erfolgreich und sind somit in ihrer Bedeutung in einer Reihe mit diesen zu betrachten.

Frank-Lothar Kroll, Inhaber des Lehrstuhls für europäische Geschichte an der Technischen Universität Chemnitz und bereits Herausgeber einer ähnlichen Sam- melbiographie über die Herrscher Preußens, vereint in dem vorliegenden Band Kurzbiographien der wettinischen Herrscher der 829 Jahre zwischen dem Jahr 1089 (dem Jahr, als Heinrich von Eilenburg mit der Mark Meißen belehnt wurde) und dem 13. November 1918, als König Friedrich August III. für sich, nicht jedoch für das Haus Wettin, auf den Thron verzichtete.

Das Autoren Verzeichnis des Bandes liest sich wie ein Who's who der sächsischen Landesgeschichtsschreibung: Außer dem Herausgeber finden sich dort u.a. Beiträ- ge von Karlheinz Blaschke, der grauen Eminenz der sächsischen Landeshistoriker;

Enno Bünz, Lehrstuhlinhaber für sächsische Landesgeschichte in Leipzig sowie Reiner Groß, vormals in Chemnitz Professor für sächsische Regionalgeschichte.

Beim ersten Zugriff auf den Band besticht dieser bereits durch seine anspre- chende handwerkliche Gestaltung sowie die klare und überzeugende Gliederung:

In zwanzig chronologisch geordneten Beiträgen werden die wettinischen Herr- scher Sachsens beschrieben; etwa die Hälfte des Textteils, d.h. 150 von insgesamt 380 Seiten, widmet sich den zehn wettinischen Königen der Neuzeit, beginnend also mit August dem Starken. Die früheren wettinischen Markgrafen, Herzöge und Kurfürsten werden zusammenfassend nach einzelnen Linien (Ernestiner und Al- bertiner) oder Epochen abgehandelt, lediglich die beiden Brüder Moritz (1521-1553) und August (1526-1586) sind mit gesonderten Beiträgen berücksichtigt. Den Bio- graphien folgt eine kommentierte Bibliographie zu den behandelten Herrscher- persönlichkeiten, eine Zeittafel zur sächsischen Landesgeschichte und eine Stamm- tafel der Wettiner, die dem in sächsischer Geschichte weniger versierten Leser hilft, angesichts der verwirrenden Variationen von Herrschernamen und deren Titeln trotzdem die Ubersicht zu behalten.

Wenngleich das Militärische nicht im Mittelpunkt der Betrachtungen steht, so gerät es doch nie aus dem Blick, sondern fügt sich ein in insgesamt wohltuend aus-

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gewogene Beschreibungen, welche die zeitgenössischen politischen, kulturellen, religiösen, wirtschaftlichen und eben auch militärisch-geostrategischen Rahmen- bedingungen beschreiben. So werden - entlang der Biographien der Wettiner - fast eintausend Jahre sächsische Geschichte erzählt. Dabei bleiben die Beiträge nie auf den landesgeschichtlichen Rahmen beschränkt, sondern verstehen es, die euro- päische bzw. später deutsche Dimension der sächsischen Geschichte gebührend zu berücksichtigen. Während die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Wettiner sich vor allem dem Erwerb, Ausbau und Erhalt ihrer landesherrlichen Macht wid- meten, welche mit dem Erwerb der polnischen Krone den Zenit erreicht und über- schritten hatte, ist die folgende sächsische Geschichte doch wesentlich vom Kon- flikt der Wettiner mit den benachbarten aufstrebenden Hohenzollern bestimmt.

Nach mehreren politisch-militärischen Niederlagen (Siebenjähriger Krieg, Kampf gegen bzw. an der Seite von Napoleon, Krieg auf der Seite des Reiches gegen Preußen), die in der Rückschau wie eine Abfolge von Niederlagen erscheinen, stand schließlich formal 1871, tatsächlich aber bereits 1806 der weitgehende Verlust äußerer und zunehmend auch innenpolitischer Macht. Am Ende waren die Wetti- ner zwar sächsische Könige innerhalb des preußisch-deutschen Reiches, jenseits der protokollarischen Bedeutung hatte ihr Land aber staatsrechtlich keinen ande- ren Status als z.B. die Stadt Hamburg. Am erneuten Aufstieg Sachsens, nämlich dem zur führenden Industrieregion in Deutschland, hatten die Wettiner keinen Anteil und sie haben auch keinen Einfluss mehr auf diese Entwicklung genom- men. Ihre Herrschaft in der Neuzeit war spätestens seit 1831, nach dem Übergang Sachsens zur konstitutionellen Monarchie, von zunehmend symbolischer Bedeu- tung, obwohl im Königreich Sachsen ein ähnlich restriktives Wahlrecht wie in Preußen galt. Eben wegen dieser politisch und verfassungsrechtlichen Rückstän- digkeit auf der einen und der wirtschaftlich-technologischen Entwicklung auf der anderen Seite erscheint kaum ein anderer Gliedstaat des Deutschen Reiches in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts derart ungleichzeitig.

Dem Leser der einzelnen Beiträge werden die wettinischen Markgrafen, Kur- fürsten und Könige sprachlich gelungen, argumentativ überzeugend und - anders als so manche populäre Publikation oder neuaufgelegte Ausgabe älterer, durch- aus renommierter landesgeschichtlicher Arbeiten - ohne eine naiv-sächsische Per- spektive kenntnisreich beschrieben. So manches gängige Urteil wird dabei revi- diert; Jens Brüning bezeichnet Kurfürst August gar als »überragenden Vertreter der Fürstengeneration seiner Zeit« und August der Starke schließlich war allen- falls im Verbiegen von Hufeisen kraftvoll, militärisch war er - wie alle Wettiner nach Kurfürst Moritz - weniger erfolgreich. Politisch bedeutende Ideen oder Im- pulse gingen von den Wettinern - abgesehen vom erfolgreichen Retablissement nach dem Siebenjährigen Krieg oder der in Sachsen geglückten Ablösung der Bau- ern aus ihrer grundherrlichen Abhängigkeit - kaum aus. Allerdings entwickelten die Wettiner gelegentlich einen Expansionsdrang, der ihrem Land keinen Vorteil er- brachte, wie z.B. das polnische Abenteuer August des Starken oder die »bizarren«

Pläne (Frank-Lothar Kroll), nach einem siegreichen Weltkrieg eine sächsisch-litau- ische Union zu installieren. Diese Erkenntnis mag mit dem vielzitierten Bild vom

»Glanz Sachsens« kollidieren, weswegen am Ende eine Zusammenfassung oder kritische Einordnung wünschenswert gewesen wäre. Doch schmälert dieser Man- gel keinesfalls den Wert des Bandes, der vorbildlich ist für eine neue, moderne Landesgeschichtsschreibung.

Clemens Heitmann

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Gerhard Kunze, »Die Saxen sind Besien«. Die Erschießung von sieben säch- sischen Grenadieren bei Lüttich am 6. Mai 1815, Berlin: BWV, Berliner Wiss.- Verl. 2004,192 S., EUR 27,50 [ISBN 3-8305-0595-7]

»Die Saxen sind Besien«. So lautet der Titel des von Gerhard Kunze verfassten Buches über die Lütticher Affäre. Blücher hatte von seinem König am 22. April 1815 Befehl erhalten, die vorsichtshalber schon außerhalb des Landes stationierte Armee der Sachsen in »Neu Preußen« und »Restsachsen« zu teilen, ein völker- rechtlich bedenklicher Vorgang. Erst am 18. Mai 1815 beschloss der Wiener Kon- gress die Teilung Sachsens. Die desinformierten Soldaten verstanden die Welt nicht mehr. Ihre Einheit sollte auseinander gerissen werden? Verunsichert inszenierten sie einen im Grunde harmlosen Tumult vor dem Hauptquartier Blüchers. Mar- schall Vorwärts ließ sieben sächsische Soldaten am 6. Mai 1815 erschießen.

Dieses Geschehen untersucht Gerhard Kunze, und sein Büchlein sei jedem an Sachsens Geschichte Interessierten sowie den heute leider nur zögerlich einkau- fenden öffentlichen Bibliotheken empfohlen.

Kunze, ein gebürtiger Sachse aus Freital, wurde 1973 »Besuchsbeauftragter«

des Westberliner Senats und blieb es, bis die deutsche Einheit sein Amt 1990 über- flüssig machte. Mit seinem 1999 veröffentlichten Buch »Grenzerfahrungen« (502 Seiten) wies er sich bereits als aussagefähiger Publizist aus. Zur Lütticher Affäre spürte er auf, was Sächsisches Hauptstaatsarchiv und Geheimes Staatsarchiv Preußi- scher Kulturbesitz an einschlägigem Material im Magazin für die Nachwelt ver- wahren, wertete alte Zeitungen sowie ca. 150 Werke der Sekundärliteratur aus.

Man kann ihm eine souveräne Sachkenntnis bescheinigen, und dass er sein Wis- sen, was durchaus nicht zwangsläufig der Fall sein muss, auch umzusetzen vermag.

An Aussagefähigkeit übertrifft sein Buch mit Abstand alles bislang zu diesem The- ma Veröffentlichte.

Gerhard Kunze zitiert zwar recht häufig, doch geschickt und mit System, der Authentizität zu Nutz und Frommen. Den Zugang erleichtert ein Personenregi- ster. Als erfahrener Jurist geht er vielen Spuren nach, untersucht akribisch das Für und Wider, wägt ab, urteilt unaufdringlich, ohne bei dieser politisch, militärisch, juristisch und eben auch psychologisch vielschichtigen Problematik anzudeuten, er habe den Stein der Weisen gefunden. So ist nicht nur ein faktenreiches, sondern auch ein lesbares Buch entstanden.

Auf 22 Seiten verfolgt Kunze u.a. denn auch, was Autoren so in drei verschie- denen Perioden (1817 bis 1851; 1852 bis 1914 und 1915 bis 2003) über die Lütticher Affäre geschrieben haben. Die Proportionen sind zwar durchaus korrekt, doch man würde trotzdem ganz gern noch einige Seiten mehr darüber lesen. Natürlich hat die Lütticher Affäre die ohnehin belasteten sächsisch-preußischen Beziehungen zusätzlich vergiftet, und je nach politischer Großwetterlage ist viel oder wenig Öl ins Feuer gegossen worden. So sucht man Julius Mosens berühmtes »Lied vom sächsischen Tambour« im 1863 erschienenen Gesamtwerk des Autors vergebens.

Mosen wollte die sich abzeichnende Reichseinigung unter preußischer Führung nicht belasten und schwieg. Kaemmel/Donadin meinten 1889 in ihrer »Festschrift zur 800-Jahrfeier des Hauses Wettin«, dass die Meuterei »eine harte Bestrafung fin- den mußte«! Das nach dem 1866 verlorenen Krieg verpreußte Sachsen redete jetzt mit preußischer Zunge.

Dass nach Kunzes Buch noch viel Neues zum Thema zutage gefördert werden könnte, ist wenig wahrscheinlich, was nicht heißen soll, die Lütticher Affäre wür-

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de keinen Gesprächsstoff mehr liefern. Die auf Disziplin fixierten Militärs sehen natürlich manches anders als der Völkerrechtler oder Psychologe. Nur ist eben gröblichst das Prinzip der Verhältnismäßigkeit verletzt worden. Blücher ist nie ernsthaft in Gefahr gewesen. Trotzdem riss er mit seinem Stabschef Gneisenau aus und kam weit hinter Lüttich erst zum Stehen. Marschall Vorwärts bewegte sich diesmal rückwärts! Mehr auf sein Ansehen bedacht als aufs Recht, stilisierte er den Lütticher Tumult hoch zur Meuterei. Selbst für einen Blücher gilt denn: »die weißen Flügel des Ruhms sind an ihren Rändern schwarz«.

Wenn etwas an diesem Buch missfällt, dann ist es der Titel, dieses aus dem Zu- sammenhang gerissene unklare Blücher-Zitat, das im Untertitel erst erklärt werden muss.

Walter Fellmann

Das Militär und der Aufbruch in die Moderne 1860 bis 1890. Armeen, Marinen und der Wandel von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft in Europa, den USA sowie Japan. Im Auftr. des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes und der Otto-von-Bismarck-Stiftung hrsg. von Michael Epkenhans und Ger- hard P. Groß, München: Oldenbourg 2003, XXIX, 351 S. (= Beiträge zur Mi- litärgeschichte, 60), EUR 34,80 [ISBN 3-486-56760-8]

Der vorliegende Sammelband ging aus der 44. Internationalen Tagung für Mi- litärgeschichte hervor, die das MGFA und die Otto-von-Bismarck-Stiftung im Jahr 2002 veranstalteten. Er behandelt die überaus interessante Phase vom Amerikani- schen Bürgerkrieg bis zum Beginn des Hochimperialismus, in der sich gesell- schaftliche, wirtschaftliche und technologische Umwälzungen anbahnten, die das Militär und den Krieg grundlegend veränderten: Der Wandel vom Kabinetts- zum industrialisierten Volkskrieg, die veränderte gesellschaftliche Stellung des Militärs, ihres inneren sozialen Gefüges sowie des Kriegsbildes sind hier zu nennen. Die Forschung hat sich mit diesen Prozessen bislang vor allem im Hinblick auf die un- mittelbare Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges beschäftigt, weshalb es sehr zu begrüßen ist, dass nunmehr auch diese früheren Jahrzehnte in den Blick genom- men werden.

Der Band wird eingeleitet von Hans-Ulrich Wehler, der die großen Linien des Themas prägnant und konzise zusammenfasst. In den Abschnitten »Militär und Politik«, »Militär und gesellschaftlicher Wandel« sowie »Militär und technologi- scher Wandel« werden in insgesamt 15 Beiträgen die Entwicklungen in den Großmächten abgehandelt. Besonders lobenswert ist es, dass die Perspektive da- bei nicht auf Europa beschränkt bleibt, sondern die Vereinigten Staaten und Japan in die Untersuchung mit einbezogen werden. Die einzelnen Beiträge sind nicht komparatistisch angelegt, sodass es den einführenden Bemerkungen der Sektions- leiter vorbehalten bleibt, Unterschiede und Gemeinsamkeiten der nationalen Ent- wicklungen herauszustellen.

Im ersten Abschnitt wird das Verhältnis zwischen politischer und militärischer Führung untersucht. Dabei verdeutlicht Konrad Canis das Machtspiel zwischen Bis- marck und Moltke sowie dessen designiertem Nachfolger Waldersee. Wenngleich Bismarck den Primat der Politik stets zu wahren vermochte, war doch unver- kennbar, dass die Stellung der führenden Militärs in Deutschland nach 1870 un-

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gleich stärker war als etwa in Großbritannien oder Frankreich. William Philpott und Frederic Guelton zeigen, dass das Verhältnis von Politik und Militär in diesen Län- dern im Wesentlichen spannungsfrei war. Dirk Bönker erarbeitet einen ähnlichen Befund für die USA, wo ebenfalls die Verfassung Einfluss und Macht der Militärs deutlich einschränkte. Nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg spannte die Poli- tik dann vor allem die Marine für ihre Zwecke ein und machte sie dem Handels- imperialismus dienstbar.

Im Zarenreich lagen die Dinge anders: Der verlorene Krimkrieg führte hier zu Reformen, deren Wirkung in der Armee aber begrenzt blieben, wie Nikolaus Katzer ausführt. Kriegsminister Miljutin verstand es freilich über geschickt positionierte Vertrauensmänner Einfluss auf eine expansive Außenpolitik zu nehmen, die sich dann in Zentralasien gegen militärisch weit unterlegene Völker entfalten konnte.

In Österreich-Ungarn ergab sich aufgrund der besonderen innenpolitischen und geographischen Lage des Vielvölkerstaates eine ganz eigentümliche Lage, die Lothar Höbelt wie folgt zusammenfasst: »Der russische Krieg wäre zeitweise vielleicht po- pulär gewesen, war aber nie wirklich erfolgversprechend; der >relativ angenehme<

italienische Krieg war ein politisches Minderheitenprogramm, das nur bei religiö- sen Eiferern Anklang fand. Den deutschen Krieg wollten nach 1870/71 weder die einen noch die anderen.« (S. 92) Die Militärs wurden daher aufgrund der Ge- samtkonstellation zu »Tauben«, die gelegentlich zwar aggressive Töne anschlagen mochten, aber nie die Chance besaßen, ihre offensiven Pläne auch in die Tat um- zusetzen.

Welche Rolle das Militär beim gesellschaftlichen Wandel ab 1860 einnahm wird im zweiten Abschnitt untersucht. Die Autoren kommen in ihren Untersuchungen zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen: Aufgrund der Siege in den Einigungs- kriegen spielte das Militär in Deutschland eine zentrale Rolle für das Zusammen- wachsen des neu geschaffenen Reiches. Im »synthetischen Militarismus«, so Frank Becker, wurden alte innenpolitische Fronten aus der Zeit des Verfassungskonflik- tes überwunden, verbanden sich bürgerliche Ideen einer Wehrpflichtarmee und traditionelle Führungsstrukturen mit der Vorrangstellung des Adels im Offizier- korps zu einem weithin akzeptierten Idealbild. Das Militär errang im Deutschen Reich damit eine herausgehobene gesellschaftliche Stellung, die es im weiteren Verlauf zu einem immer schwerer zu kontrollierenden Machtfaktor werden ließ. In Japan bildete sich nach Überwindung innenpolitischer Schwierigkeiten eine ver- gleichbare Position heraus, die sich freilich erst nach dem Russisch-Japanischen Krieg 1904/05 so weit festigte, daß der Primat der Politik unterhöhlt wurde. An- ders als in Deutschland oder Japan, wiesen die Armeen in Russland und Öster- reich-Ungarn keine Innovationskraft für die gesellschaftliche Modernisierung auf.

Im Zarenreich trug sie lediglich zur Alphabetisierung der Bevölkerung bei, war al- lenfalls ein Ort der »teilweisen Modernisierung«, so Jan Kusber. Ein ähnlicher Be- fund lässt sich für Österreich-Ungarn feststellen. Die Vereinigten Staaten ver- zeichneten aufgrund ihrer ganz eigenen Traditionen und ihrer besonderen geo- graphischen Lage eine vollkommen andere Entwicklung: Nach dem Bürgerkrieg stagnierte die gesellschaftliche Bedeutung von Armee und Marine, die dennoch zukunftsweisende Modernisierungsansätze - etwa in der Professionalisierung des Offizierkorps oder dem Aufbau eines militärisch-industriellen Komplexes - ent- wickelten. Stig Förster sieht in dem gelungenen Wechselspiel von Militär- und Zi- vilgesellschaft, das sich in der Zeit von 1860 bis 1890 bereits herausbildete, einen wesentlichen Faktor dafür, dass die Vereinigten Staaten in der Lage waren, die mi-

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litärischen und politischen Herausforderungen in der ersten Hälfte des 20. Jahr- hunderts so souverän zu meistern.

Der dritte Abschnitt des Buches geht dem Krieg der Nationen und dem rüs- tungspolitischen Umbruch nach. Die einschneidenden Folgen der Revolution der Waffentechnik wie auch von Kommunikations- und Verkehrstechnik, wie sie in diesem Sammelband zur Darstellung kommen, sind zweifellos ein wichtiges The- ma, das die Militärgeschichte in ihrer zunehmend sozialgeschichtlichen Ausrich- tung oftmals vernachlässigt. Mit Betrachtungen zu Preußen, Österreich-Ungarn, Großbritannien und den USA spüren die Autoren den zentralen waffentechnischen Umwälzungen und ihrem rüstungspolitischen Umfeld nach und behandeln die Frage, wie lern- und anpassungsfähig die militärischen Eliten neuen technischen Herausforderungen begegneten.

Abschließend wird anhand von drei Beispielen die Darstellung von Militärge- schichte in musealer Form präsentiert: Nigel Rigby stellt die Neukonzeption des National Maritime Museums in London vor, Ernst Aichner das Bayerische Armee- museum in Ingolstadt und A. Wilson Greene das Schlachtenmuseum von Peters- burg. Dabei offenbart sich, wie sehr auch im Bereich der Militärmuseen neue di- daktische Ansätze Einzug gehalten haben, die über die reine Darbietung von Mi- litärgerät hinausgehen und vielfältige Bereiche des Krieges erschließen. Die Beiträ- ge offenbaren die enormen Unterschiede zwischen der deutschen Form, Krieg und Militär in musealer Form zu präsentieren und etwa dem Weg, der in Großbritan- nien oder - hier besonders anschaulich dargestellt - in den Vereinigten Staaten be- schritten wird, wo das Nachspielen von Schlachtenszenen ganz selbstverständlich zum lebendigen Museumsbesuch gehört.

Die beiden Herausgeber haben einen rundum gelungenen Band vorgelegt, der die relevanten Fragestellungen zum Thema mit vorbildlicher methodischer Viel- falt abhandelt, und sich dabei vor allem immer am konkreten Fall und an den Quel- len orientiert und nicht in inhaltsloses Theoretisieren abgleitet.

Sänke Neitzel

Germany and the Middle East 1871-1945. Ed. by Wolfgang G. Schwanitz, Madrid: Iberoamericana; Frankfurt a.M.: Vervuert 2004, X, 276 S., EUR 75,00 [ISBN 84-8489-169-0; 3-86527-157-X]

Eine Antwort auf die Vermutung, der Nahe Osten werde sich als die weltpoliti- sche Schlüsselregion des 21. Jahrhunderts erweisen, liegt nicht in der Kompetenz des Historikers. Eine vorausschauende Politik tut gleichwohl gut daran, davon auszugehen, dass es so kommen könnte, und stattet sich für diesen Fall mit histo- rischem Basiswissen aus. Über die Bedeutung, die dem Orient als Ableitung bin- neneuropäischer Politik seit Gründung des Deutschen Reichs bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs zukam, informiert der vorliegende Sammelband.

Die so genannte orientalische Frage war eine wesentliche diplomatische Kon- stante des 19. Jahrhunderts. In den 1830er Jahren machten die europäischen Mäch- te den Nahen Osten zum Bestandteil des Gleichgewichts untereinander. Sie inter- nationalisierten die orientalische Frage im Pariser Frieden 1856. Seitdem bedurften alle Modifikationen am Zustand des maroden Osmanischen Reichs der Billigung aller Großmächte. Innerhalb dieses Rahmens sah Reichskanzler von Bismarck die

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deutschen Interessen in der Konservierung der Spannungen: nicht das junge Deut- sche Reich, wohl aber die anderen Mächte sollten ihre Kräfte am Rande Europas und darüber hinaus binden.

In einer kurzen Einleitung schildert Wolfgang Schwanitz die Entwicklung und Wandlungen der deutschen Orientpolitik bis 1945. Er erinnert an die in den »orien- talischen Gründerjahren« geknüpften kulturellen Beziehungen, die Entsendung deutscher Militärs in die Türkei und das wirtschaftliche Engagement (Stichwort Bagdadbahn). Die deutschen Versuche während des Ersten Weltkriegs, im kolo- nialen Rückraum der Gegner Aufstände zu entfachen, charakterisiert er nicht zum ersten Mal als »Dschihad made in Germany«. Hier bedarf es noch weiterer For- schungen und größerer sprachlicher Vorsicht. Mit der Niederlage verlor Deutsch- land seinen Einfluss im Nahen Osten und bekam auch bis zum Zweiten Weltkrieg

»keinen Fuß in die nahöstliche Tür«. Für Hitler hatte der Nahe Osten nur als mög- liches Schlachtfeld Bedeutung. Der Versuch arabischer Nationalisten die italienisch- deutsche Karte gegen die britische und französische Kolonialherrschaft auszu- spielen, änderte daran nichts. Unter den Bedingungen der amerikanisch-sowjeti- schen Systemkonkurrenz gewann die Nahostpolitik in Deutschland niemals ihre ursprüngliche Priorität zurück. Für die Zukunft empfiehlt Schwanitz der deut- schen Politik eine eigenständige Nahost-Friedenspolitik zu entwickeln.

In sieben Studien werden einzelne Aspekte der deutschen Orientpolitik und die sie mitgestaltenden Personen dargestellt. Thomas L. Hughes' Beitrag über die deutsche Afghanistanmission 1915/16 fasst Bekanntes zusammen. Die Arbeit von Renate Vogel (1976) wurde nicht berücksichtigt und die Niedermayer-Biographie von Hans-Ulrich Seidt (2002) offenbar nachträglich in die Anmerkungen aufge- nommen. Seidts Beitrag schildert die bekannten deutschen Versuche, die instabile nahöstliche Lage nach dem Ersten Weltkrieg auszunutzen. Hierfür kooperierte die Reichswehr insgeheim mit den Jungtürken um Enver Pascha und der kommuni- stischen Führung in Moskau. Die interessante Biographie des Diplomaten Fritz Grobba kann Wolfgang Schwanitz nur anreißen. Er wünscht sich mit Recht eine längere Darstellung dieses wirkungsvollen Orientexperten, der zuerst in Diensten Ribbentrops, dann beratend für die Amerikaner tätig war. Noch in den 1950er Jah- ren galt er im Auswärtigen Amt als Nahostexperte.

Nach dem Ersten Weltkrieg fand Deutschland nicht mehr zu einer aktiven und wirkungsvollen Orientpolitik zurück. Am Beispiel Saudi-Arabiens zeigt Uwe Pfull- mann, wie die Rücksicht auf Großbritannien das deutsche Handeln bestimmte, das sich ganz auf die wirtschaftlichen Interessen konzentrierte. In einer Studie über die Wechselwirkungen zwischen Politik und Altertumskunde seit dem Kaiserreich kommt Stefan R. Hauser zu dem Ergebnis, dass es sich hierbei um ein spezifisch deutsches Phänomen handelte. Die Antikenforschung und Orientarchäologie konn- ten nur durch das Interesse, das ihnen aus der Politik entgegen kam, und durch die öffentliche Finanzierung überleben. Umgekehrt nutzten die Nationalsozialis- ten diese Nähe der Forschung zur Macht für ihre rassistische Propaganda aus. Hau- ser konstatiert, dass die Altertumswissenschaft heute keinerlei Nähe zur Macht mehr habe. Zu optimistisch erscheint seine Annahme, die Öffentlichkeit reagiere sensibel auf Ideologeme »über den Orient«, beispielsweise das Konzept vom »clash of civilizations«. Mit Franz von Papen beschäftigt sich die Studie von Karl Heinz Roth. Seine Tätigkeit als Botschafter in Ankara von 1939 bis 1944 ist bisher nicht untersucht. Der Autor zeigt ihn als Hitlers diplomatisches Werkzeug im Orient.

Das ist nicht immer überzeugend, weil Roth Papens Ehrgeiz und Fähigkeiten über-

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schätzt. Im abschließenden Beitrag erinnert Gerhard Höpp an arabische Insassen in deutschen Konzentrationslagern. Er fordert dazu auf, neben der breiten Forschung über die Kollaboration arabischer Politiker mit Deutschland, die Araber als Opfer des Nazi-Genozids nicht zu vergessen.

In der Summe legt Wolfgang Schwanitz mit diesem Sammelband einen kom- petenten Überblick der deutschen Nahostpolitik seit dem Kaiserreich vor, der zu weiteren Forschungen anregen will. Diesem Anspruch wird das Buch gerecht.

Martin Kröger

G.R. Searle, A New England? Peace and War 1886-1918, Oxford: Oxford Uni- versity Press 2004, XXII, 951 S„ £ 30.00 [ISBN 0-19-820714-X]

Es stimmt: Die Jahre bis 1918 haben Historiker in außergewöhnlicher Weise ange- zogen. Viktorianismus, Imperialismus, Jahrhundertwende, Weltkrieg und Konse- quenzen warfen viele Fragen auf, die noch heute kontrovers diskutiert werden.

Damit sind viele innenpolitische Sprengsätze, die das Empire erschütterten, noch nicht einmal angesprochen. Sich an eine historische Synthese diesen Umfangs zu wagen, verlangt Mut, Ausdauer und eine stupende Kenntnis der Details. All das darf man schon vorab dem Verfasser bescheinigen, der in guter englischer Tradi- tion den »unfailing support« seiner Kollegen rühmt.

Wer sich mit der Geschichte Englands bzw. Großbritanniens beschäftigt, muss zunächst eine Hürde überspringen, die noch von keinem Englandhistoriker nie- dergerissen worden ist. Was bedeutet England, was ist britische Geschichte, wie definiert sich »Britishness« oder »Englishness«? Schon die Geschichte dieser Fra- ge wäre Stoff genug für eine umfassende Monographie. Sie würde Wissenschafts- geschichte beleuchten und das Selbstverständnis bzw. die Sicht des Außenstehen- den erheblich erweitern. Searle geht einen traditionellen Weg, der an Gedanken A.J.P. Taylors anknüpft: Wo Waliser, Schotten, Iren oder Briten dieselbe Geschich- te wie die Engländer teilen, ist ihre Vergangenheit Gegenstand dieser Seiten. Es mag sein, dass die Epoche von 1886 bis 1918 diese Definition - wenn auch mit Be- denken - zulässt, in der langen Geschichte der Insel gibt es indes eine Fülle an Bei- spielen, die sich diesem Zugriff entziehen. In diesem spezifischen Kontext wird Searle für seine pragmatische Lösung Zustimmung finden, allerdings lässt sie ei- ne tiefschürfende Revision des britischen Geschichtsbildes nicht erwarten. Gleich- wohl räumt der Verfasser mit hartnäckigen Klischees auf und bringt - unabhängig von individuellen Interpretationen - durch eine außergewöhnlich fakten- und fa- cettenreiche Darstellung den Leser immer wieder zum Staunen.

Richtig ist, dass die Jahre von 1886 bis 1918 eine Zeit der Extreme waren. Das gilt freilich nicht nur für die englische Geschichte. Die Gründe für die zeitlichen Ecksteine sind unabweisbar, aber sie lassen sich mit geringfügiger Variation auch auf andere Staaten anwenden. Sicher waren die Dekaden eine Zeit des »imperial pomp«, der Zurschaustellung, des »ornamentalism« und der feierlichen Zeremo- nie. Das Empire liefert dafür unzählige Beispiele. Lord Curzon, der Vizekönig von Indien, war einer von vielen hervorragenden Repräsentanten, die regelmäßig ge- nannt werden. Doch die Geschichte dieser Jahre erschöpft sich nicht in der Kon- frontation mit fremden oder außereuropäischen Kulturen, die politische Kultur

»glänzte« neben dem Imperialismus durch eine fortschreitende Entwicklung zur

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Demokratie, die im 19. Jahrhundert verschiedene Höhepunkte aufwies, u.a. die Reformbill von 1832, die wesentliche Impulse aussandte. Die Labour Party for- mierte sich um die Jahrhundertwende und mit ihr ein Geschichtsbewusstsein, das nach weiterer politischer Repräsentation rief. Sozialistisches Gedankengut griff de- zent um sich, in den Anfängen bedrohte es nicht das Bestehende, aber es setzte Zä- suren und stellte zunehmend Fragen, die das politische Selbstverständnis provo- zierten. Die >gender stereotypes< veränderten ihr Gesicht. Viktoria gab der Epoche zwar ihren Namen, als Monarchin war sie akzeptiert, von Familien, Kindern und der Frauenbewegung hielt sie wenig, wie ihre Biographen seit langem mitteilen.

Doch von ihr abgesehen gab es kaum weibliche Repräsentanten des Empire; eine große Studie über »Gender and Empire« ist von Philippa Levine angekündigt, ein Forschungsfeld, das noch manche Überraschungen bereithalten dürfte.

All diesen Komplexen und Strömungen möchte Searle Gerechtigkeit wider- fahren lassen, eine anspruchsvolle Aufgabe, die nur von einem intimen Kenner der Zeit zu leisten ist. Die Schnelllebigkeit der Epoche tat ein Übriges, um die Sicht zu erschweren. Searle erhebt sie zum Thema. Es lassen sich viele Zeitzeugen zitie- ren, die einen allgemeinen Geschwindigkeitsrausch bestätigen, aber wo liegen sei- ne Ursprünge? Sicher vor 1886. Viele Experten verweisen auf die Industrielle Re- volution, die in den Augen vieler keine war, aber dennoch einen Quantensprung in der Entwicklung der Menschheit bedeutete. Wir sind ein neues Volk geworden, schrieb der Ökonomon Sidney Webb sinngemäß. Natürlich lag das frühe vikto- rianische England Generationen zurück, so sahen es die Menschen, doch bleibt zu fragen, ob der »Geschwindigkeitsrausch« zur Jahrhundertwende nicht weit zurück- liegende Ursachen hatte. Der Tod Queen Victorias bildete im allgemeinen Bewusst- sein eine Zäsur, man stand an einer Schwelle, doch die »remarkable speed« liefer- te noch keinen spezifischen Hinweis auf die Lebenswirklichkeit der Zukunft. Po- litische und soziale Änderungen ließen sich in vagen Konturen absehen, wie sie mit dem allgemeinen Bewusstsein zusammenhängen würden, blieb offen. Webbs Feststellung - »We have become a new people« - ging sicher noch weiter und be- schränkte sich nicht auf materielle Auswirkungen und schnellere Produktions- weisen im Gefolge der Industriellen Revolution. Folgt man seinen Beobachtungen, dann fühlten sich die Menschen nicht mehr als Individuen, sondern als Mitglie- der einer Gemeinschaft, als >citizens of the world<. Der alte Glaube an die Kraft und Wirkung des Individualismus trat in den Hintergrund. Hätte Gladstone, der große Liberale, noch in diese Zeit gepasst? Das Politikverständnis änderte sich, es nahm einen >class-based character an. Der Wohlfahrtsstaat steckte in den Kinder- schuhen, gemeinsame Projekte gewannen an Bedeutung.

Schon Goethe befürchtete, dass die Eisenbahn die jungen Leute in einen Zeit- strudel reißen würde, doch das Tempo ließ sich im 19. Jahrhundert nicht mehr bremsen. Im Übrigen war früh eine Zivilisations- und Kulturkritik zu erkennen, die die schädlichen Konsequenzen des Tempowahns begleitete. Die neuen Möglich- keiten des Transports gaben den Straßen ein anderes Aussehen und den sozialen Beziehungen eine neue Qualität. Die Elektrizität revolutionierte das Leben. Die

> Eroberung der Luft< und die Erfindung der Unterseeboote weckten Gefühle un-

begrenzter Kreativität. Die Entwicklung der Atomphysik zeitige bahnbrechende

Ergebnisse, die Bewusstwerdung des Unbewussten forderte alte Lebensweisen in

ungeahnter Weise heraus. In der Kunst machte die >Moderne< von sich reden und

löste den >Schock des Neuen< aus. All diese gewaltigen, aber nicht nur für die eng-

lische Geschichte typischen Erscheinungen und Erfindungen gingen dem Ersten

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