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Der Friedensprozess in Bosnien und Herzegowina unter Internationaler Aufsicht (1995 bis heute)

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Der Friedensprozess in Bosnien und Herzegowina unter internationaler Aufsicht

(1995 bis heute)

Von Sonja Grimm

I. Einleitung

Seit 1995 befindet sich Bosnien und Herzegowina unter der Aufsicht der internationalen Staatengemeinschaft. Diese entsendete nach der Unterzeich- nung des Friedensabkommens von Dayton einen Hohen Repräsentanten (HR), um den Friedensprozess zu überwachen, die Konfliktparteien bei der Neuordnung des politischen Systems zu unterstützen und die Hilfsmaßnah- men unterschiedlicher internationaler Organisationen (NATO, EU, OSZE und andere) zu koordinieren. De jure sollte es sich nicht um eine Zwangs- verwaltung (im Sinne der in diesem Band verwendeten Definition) handeln, da die exekutiven, legislativen und judikativen Entscheidungskompetenzen bei den nationalen Parteien verbleiben sollten. Faktisch jedoch wandelte sich die internationale Aufsicht mit eingeschränkten Kompetenzen in ein Semi- Protektorat mit weiterreichenden legislativen und exekutiven Kompetenzen.

Zur Zeit der Abfassung dieses Beitrags steht Bosnien und Herzegowina, des- sen Existenzberechtigung nach wie vor von den verschiedenen Konfliktpar- teien in Frage gestellt wird, immer noch unter der Aufsicht des HR.

Der vorliegende Beitrag zeichnet den Weg hin zu dieser völkerrechtlich einmaligen Konstruktion eines von einem HR beaufsichtigten Friedens-, Staatsaufbau- und Demokratisierungsprozesses nach. Er informiert zunächst über den Hintergrund des Konflikts, der mit dem Zerfall Jugoslawiens auf- brach (Abschnitt II.), sowie über das Friedensabkommen von Dayton und die darin vereinbarten konkordanzdemokratischen Institutionen, die das friedliche Miteinander der drei Ethnien - Bosniaken, Kroaten und Serben - in einem Gesamtstaat Bosnien und Herzegowina regeln sollten (Abschnitt III.). Anschließend werden der mühsame Prozess der Vertragsimplementie- rung und die Rolle, die die internationale Staatengemeinschaft dabei spielte und immer noch spielt, dargestellt (Abschnitt IV.). Eine kritische Bewertung der internationalen Aufsicht offenbart abschließend die mit die- ser besonderen Form des Semiprotektorats einhergehenden Dilemmata (Ab- schnitt V.).

Konstanzer Online-Publikations-System (KOPS) URL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:352-0-267736

Fabian (Hrsg.). - Berlin : Duncker & Humblot, 2014. - (Historische Forschungen ; 100). - S. 247-280. - ISBN 978-3-428-14229-3

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II. Der Krieg und seine Folgen 1. Der gewaltsame Zerfall Jugoslawiens

Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs im Jahr 1990 geriet auch die Sozia- listische Bundesrepublik Jugoslawien unter Druck (ab 12. Mai 1992 "Föde- rale Republik Jugoslawien", FRJ). Die Teilrepubliken Kroatien, Mazedo- nien, Slowenien, die serbische Provinz Kosovo sowie im weiteren Verlauf auch die Teilrepublik Bosnien und Herzegowina drängten auf Unabhängig- keit. Die bundesstaatliche Führung war jedoch nicht bereit, ihnen auch nur Autonomierechte zuzugestehen; vielmehr hielt das Regime um Slobodan Milosevic an der Idee eines großserbischen Reiches fest. 1 Das von der in- ternationalen Staatengemeinschaft verlangte Unabhängigkeitsreferendum für Bosnien und Herzegowina vom 29. Februar und 1. März 1992 verlief ein- deutig. Bei einer Wahlbeteiligung von 63,4% entschieden sich 99,4% der Wähler für die Unabhängigkeit. Die von Serbenführer Radovan Karadzic kontrollierten Gebiete im Süden und Osten des Landes, die "Serbischen Au- tonomen Regionen" Bosnische Krajina, Herzegowina und Romanija, hatten die Wahl boykottiert. In diesen Gebieten hatten sich die Bürger bereits am 9. und 10. November 1991 in einem Referendum mehrheitlich für den An- schluss an Serbien ausgesprochen.2

Am 7. April 1992 erfolgte gegen den Willen der FRJ-Führung die inter- nationale Anerkennung von Bosnien und Herzegowina als souveränem Staat, der am 22. Mai 1992 in die Vereinten Nationen (UN) aufgenommen wurde. FRJ-Truppen besetzten unterdessen große Teile Bosnien und Herze- gowinas? Karadzic verfolgte das Ziel, die fünf voneinander getrennt liegen- den serbisch kontrollierten Gebiete miteinander und mit Serbien und Mon- tenegro zu verbinden.4 Der Stadt Brcko kam für die serbische Strategie be- sondere Bedeutung zu: Hier sollte der "ethnisch gesäuberte Korridor"

entstehen, der zu den serbisch besiedelten Gebieten um Banja Luka und in die Region Krajina in Kroatien führen sollte. Gegen die Zivilbevölkerung gingen die paramilitärischen Truppen um Radovan Karadzic, Ratko Mladic und andere mit brutaler Gewalt vor. Mit systematischen "ethnischen Säube- rungen" wurden Bosniaken und Kroaten aus ihrer Heimat vertrieben. Dazu brandschatzten reguläre FRJ-Truppen zunächst die Dörfer; danach errichte- ten die paramilitärischen Truppen Konzentrationslager, deportierten und tö- teten die waffenfähigen Männer und vergewaltigten deren Ehefrauen und

1 Bennett, S. ll4-116, 137-143; Mahmutcehajic, S. 134-137; Rüb, S. 330-334.

2 Rathjelde1~ S. 352.

3 Divjak, S. 154-156; Oeter, S. 490.

4 Rathfelder, S. 352.

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Töchter.5 Die Armee der Republik Bosnien und Herzegowina war zunächst mangels Waffen kaum in der Lage, den serbischen Ansturm aufzuhalten, da das Waffenembargo gegen die FRJ auch Bosnien und Herzegowina betraf. 6

2. Internationale Friedensbemühungen und NATO-Intervention

Verschiedene internationale Friedensinitiativen während des Bürgerkriegs scheiterten.7 Auch das UN-Waffenembargo (S/RES/713) gegen alle Kon- fliktparteien sowie das UN-Wirtschaftsembargo (S/RES/757; S/RES/787;

S/RES/820) gegen die FRJ zeigten trotz deutlicher Auswirkungen auf die Verteidigungskapazitäten der Konfliktparteien und auf die Wirtschaftskraft Jugoslawiens nicht die gewünschte politische und militärische Wirkung, den Krieg zu beenden. 8

Mit der Resolution 743 installierte der UN-Sicherheitsrat im September 1992 die "United Nations Protection Force" (UNPROFOR), um die huma- nitäre Not der Zivilbevölkerung zu lindern. UNPROFOR wurde als Blau- helm-Mission in ein Kriegsgebiet entsandt. Der für eine solche Friedensmis- sion nötige Frieden, den die Blauhelme garantieren sollten, bestand jedoch nicht. Entsprechend war die Mission überfordert, die "safe areas" von Bi- hac, Gorazde, Srebrenica, Sarajevo, Tuzla und Zepa (S/RES/819; SIRES/

824) effektiv zu schützen. Der Fall von Srebrenica wurde zum Symbol des Versagens der internationalen Staatengemeinschaft auf dem Balkan. Im Juli 1995 wurden bis zu 42.000 Muslime vertrieben und schätzungsweise 8.000 Jungen und Männer durch die einrückenden serbischen Kampfverbände massakriert. 9

Zwischen Februar 1994 und August 1995 forderte der UN-Sicherheitsrat das Verteidigungsbündnis der "North Atlantic Treaty Organisation" (NATO) insgesamt elfmal auf, UNPROFOR durch Luftschläge zu unterstützen.

Diese sollten aus Sicht der NATO allerdings nicht als militärische Interven- tion gewertet werden. to Erst als der Druck der internationalen Öffentlichkeit angesichts der schweren Kämpfe, der Dauer des Krieges, des Leids der Zi- vilbevölkerung und der Vorgänge in Srebrenica zu groß wurde und nach- dem die Entscheidung für den Abzug der UN-Blauhelme gefallen war (S/1995/444), entschlossen sich die NATO-Staaten im Spätsommer 1995

5 Rathfelder, S. 350-354; Semelin, S. 210-214, 299, 318.

6 Zu den Einzelheiten des Kriegsverlaufs vgl. Blitz; Calic; MelCic.

7 Calic, S. 186-201.

8 Die Angaben in Klammern beziehen sich auf die jeweiligen Resolutionen des UN-Sicherheitsrats. Siehe auch Bennett, S. 223; Calic, S. 174.

9 Commission on Human Rights, S. 3, 9-10; Nuhanovic.

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Calic, S. 176.

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endgültig zur Aufgabe ihrer Position als neutraler Dritter und zu den für die eigenen Soldaten ungefährlichen militärischen Luftangriffen. 11

Dank der NATO-Unterstützung und einiger illegaler Waffenlieferungen gelang es bosnischen und kroatischen Truppen, mehr als die Hälfte des Ter- ritoriums zurückzuerobern. 12 Am 10. Oktober 1995 wurde ein Waffenstill- stand vereinbart. Am 21. November 1995 stimmten die Konfliktparteien nach dreiwöchigen Verhandlungen dem Friedensvertrag von Dayton zu, der am 14. Dezember 1995 in Paris unterzeichnet wurde. Mit dem Abkommen wurde der Gesamtstaat Bosnien und Herzegowina geschaffen, der aus zwei Entitäten, der "Föderation von Bosnien und Herzegowina" (Föderation BiH) und der "Republika Srpska" (RS), bestand. Die Bildung der Födera- tion rekurrierte auf das Washingtoner Abkommen, mit dem Kroaten und Bosniaken ihren "Krieg im Kriege" bereits 1994 beigelegt hatten. Die Re- publika Srpska umfasste die durch Serben parallel verwalteten Gebiete Bos- nien und Herzegowinas sowie einige weitere Landstriche, die sie durch den im Daytoner Abkommen vereinbarten Gebietstausch erhielten. 13

3. Die politische und sozioökonomische Lage im Jahr 1995

Die Voraussetzungen für eine rasche Befriedung und Demokratisierung des Territoriums nach dem Friedensschluss waren alles andere als günstig.

Die Sicherheitslage in Bosnien und Herzegowina war angespannt. Ohne eine starke externe Präsenz schien es angesichts starker separatistischer Ten- denzen und großem Misstrauen zwischen den Volksgruppen nicht möglich, den Waffenstillstand zu garantieren.14 Angehörige einer ethnischen Minder- heit mussten ständig mit Übergriffen durch Angehörige der Mehrheit in ei- nem Bezirk rechnen. 15 Bestehende Polizeiverbände waren abhängig von der jeweils vorherrschenden Partei und wurden von dieser entsprechend instru- mentalisiert. 16 Die militärischen und paramilitärischen Kampfverbände aller drei Fraktionen waren hochgradig mobilisiert. Mit dem Friedensschluss mussten sie demobilisiert und entwaffnet werden, um die Zusammenführung der Streitkräfte zu einer gesamtstaatlichen Armee zu bewältigen. 17

11 North Atlantic Treaty Organization, Joint Statement; dies., Statement by the Secretary General, 30. August 1995; dies., Statement by the Secretary General, 5. September 1995.

12 Cigar, S. 222-227.

13 Cohen; Rathfelder, S. 358.

14 International Crisis Group, A Peace, S. 8.

15 International Crisis Group, Why the Bosnian Elections, S. 6-8.

16 Grames, S. 180.

17 Dobbins/McGinn/Crane/Jones/Lal/Rathmell/Swanger!Timilsina, S. 89.

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Trotz Friedensschluss bestand zwischen Bosniaken, Serben und Kroaten kein Konsens über den Aufbau einer einheitlichen staatlichen Verwaltung für ganz Bosnien und Herzegowina.18 Die territoriale Integrität stand ebenso zur Debatte. Es existierten ausschließlich parastaatliche Struktu- ren, die von den Konfliktparteien dazu errichtet worden waren, das jewei- lige Gebiet zu verteidigen: auf serbischer Seite die souveräne Republika Srpska mit fünf serbischen autonomen Regionen (SAOs), auf kroatischer Seite die kroatische Gemeinschaft Herzeg-Bosna sowie der Rumpfstaat Bosnien und Herzegowina, der von bosniakischen Militärs kontrolliert wurde.19

Die Parteienlandschaft war stark ethnisch segregiert: Die Bosniaken wur- den vorrangig durch die "Partei der Demokratischen Aktion" (SDA), die Kroaten durch die "Kroatische Demokratische Union" (HDZ) und die Ser- ben durch die "Serbische Demokratische Partei" (SDS) vertreten.20 Durch die parastaatlichen Strukturen der Bürgerkriegszeit erlangten die drei gro- ßen Parteien einen erheblichen autoritären Machtzugewinn. Sie füllten das durch den Zusammenbruch der kommunistischen Partei entstandene Va- kuum aus, hatten in ihrem jeweiligen Machtbereich das Gewaltmonopol inne und kontrollierten zugleich die illegalen wirtschaftlichen Aktivitäten.21 Über demokratische Erfahrungen verfügten die drei Parteien kaum. Ebenso wenig bestand ein demokratischer Grundkonsens zwischen den eher natio- nal und separatistisch gesinnten Eliten von HDZ, SDS und SDA.22 Andere Minderheiten, die sich nicht den drei Volksgruppen zuordnen ließen, erhiel- ten keine Möglichkeit, ihre Präferenzen in die Friedensverhandlungen ein- zubringen. Entsprechend verfügten sie auch danach nicht über eine schlag- kräftige politische Repräsentation.23

Die enge Verzahnung von Politik und Wirtschaft und damit die Abhän- gigkeit der wirtschaftlichen Entwicklung von parteigebundener Planungs- autorität setzten sich in Bosnien und Herzegowina auch nach Dayton fort.24 Die Mehrzahl der Medien war parteipolitisch gefärbt und unterstützte die Führungspersönlichkeiten der jeweiligen Partei. Eine unabhängige, liberale Presse gab es praktisch nicht. 25

18 Calic, S. 230.

l9 Hoare, S. 198-199; Mahmutcehajic, S. 171.

2o Vgl. Richter!Gavric.

21 European Stability Initiative, Reshaping International Priorities, S. 2.

22 Grames, S. 173.

23 Bertelsmann Stiftung, Transformationsindex 2008, S. 5; International Commis- sion on the Balkans, S. 17, 42.

24 European Stability Initiative, Reshaping International Priorities, S. 4.

25 Grames, S. 183.

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Von der Existenz einer intakten politischen Gemeinschaft nach dem Krieg kann nicht gesprochen werden. Die gesamte Bevölkerung war auf- grund der durch den Zerfall des kommunistischen Einparteienregimes be- dingten Radikalisierung ethno-nationaler Strömungen und des Bürgerkriegs gezwungen worden, sich zu einer Ethnie zu bekennen. Nach Ethnizität und Religion unterschieden sich muslimische Bosniaken, katholische Kroaten und orthodoxe Serben sowie als weitere Minderheiten Jugoslawen, Juden und Roma. Während die meisten Bosniaken für einen eigenständigen Staat Bosnien und Herzegowina eintraten, plädierte die Mehrheit der Kroaten für einen Anschluss an Kroatien. Die Mehrheit der Serben bevorzugte die Un- abhängigkeit oder zumindest eine enge Anhindung an Serbien. Zudem war- fen sich alle gegenseitig vor, an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen zu sein?6 Die sozioökonomische Lage Ende 1995 verhieß ebenso wenig Gutes.

Nach unabhängigen Analysen waren knapp 96.000 Personen über die Kriegsjahre hinweg getötet worden, 16.600 galten als vermisst. Mehr als 50% der Bevölkerung waren vertrieben worden, also rund 2,2 Mio. Men- schen. Davon waren nach Angaben der "Humanitarian Issues Working Group" des "Peace Implementation Council" (PIC) 1,2 Mio. ins Ausland geflüchtet, 1 Mio. war im Land vertrieben worden.27 Vor allem junge, ge- bildete und geschulte Arbeitskräfte flohen vor dem Krieg. 80% der Bevöl- kerung hingen zumindest teilweise von humanitärer Hilfe ab. Das Büro des Hohen Repräsentanten (OHR) schätzte, dass das jährliche Einkommen ge- messen am Bruttoinlandprodukt von 1900 US-Dollar pro Kopf im Jahr 1990 auf 500 US-Dollar im Jahr 1996 geschrumpft war.28 Die wirtschaft- liche Produktion war auf unter 20% des Vorkriegsniveaus gesunken?9 Die Weltbank bezifferte den materiellen Gesamtschaden auf 10 bis 20 Mrd. US- Dollar. 30 Der Neuanfang musste also auf der Basis einer zerrütteten Volks- wirtschaft und auf niedrigstem sozioökonomischen Niveau beginnen.

111. Politische Neuordnung unter internationaler Aufsicht 1. Das Abkommen von Dayton

Gespräche über die Zukunft Bosnien und Herzegowinas wurden seit 1994 parallel zu den laufenden Kampfhandlungen von der internationalen Kontaktgruppe, bestehend aus Vertretern der USA, Deutschlands, Frank-

26 Bertelsmann Stiftung, Transformationsindex 2006, S. 8.

27 International Crisis Group, Going Nowhere Fast, S. 9; ·Stieger.

28 Office of the High Representative, 1st Report, paragraph 34.

29 World Bank, Bosnia and Herzegovina, S. 2.

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reichs, Großbritanniens und Russlands, geführt. Angesichts der durch die NATO-Intervention deutlich signalisierten Sanktionsbereitschaft der west- lichen Staaten und der militärischen Niederlage der Serben in Kroatien zeigten sich die Konfliktparteien im Laufe des Jahres 1995 verhandlungs- bereit.31 Schließlich stimmten die Konfliktparteien Ende 1995 der Annahme der bereits früher ausgearbeiteten und in den Verhandlungen von Dayton modifizierten Friedenspläne zu. Maßgeblich auf Betreiben der US-Unter- händler unterzeichneten der Präsident Bosnien und Herzegowinas, Alija Izetbegovic, sowie die Präsidenten Kroatiens, Franjo Tudman, und Ser- biens, Slobodan Milosevic, für die beiden Entitäten "Föderation BiH" und

"Republika Srpska" das "General Framework Agreement for Bosnia and Herzegowina",32 das die Grundlage für Frieden, Sicherheit und den Aufbau funktionierender staatlicher Institutionen bilden sollte.

Die Friedensvereinbarungen von Dayton beinhalteten die Kompromiss- lösung eines international abgesicherten Friedensprozesses und strikte Vor- gaben für die Institutionalisierung der Demokratie.33 Alle wichtigen Verein- barungen des internationalen Rahmenvertrags von Dayton, nach dem Ver- handlungsart kurz "Dayton Peace Agreement" oder auch "Dayton Accord"

genannt, befanden sich in seinen zwölf Anhängen. Sie enthielten Bestim- mungen über militärische, politische und verfassungsrechtliche Fragen so- wie über Maßnahmen zum Aufbau einer demokratischen Gesellschaftsstruk- tur. Eine internationale Treuhandverwaltung wurde damit nicht installiert, wohl aber eine internationale Aufsichtsbehörde in Form des "Büros des Ho- hen Repräsentanten" der internationalen Staatengemeinschaft, die sich auf den Beitrag verschiedener internationaler Organisationen und bilateraler Ge- ber stützte.

Mit dem Annex 1-A wurde die "Implementation Force" (IFOR) als mili- tärische Präsenz der NATO eingesetzt. Unter NATO-Kommando sollte IFOR mit einer 60.000 Mann starken Truppe die öffentliche Ordnung auf- rechterhalten und die Demobilisierung der gegnerischen Kampfverbände si- cherstellen. Das IFOR-Mandat erlaubte den Einsatz militärischer Gewalt zur Durchsetzung dieser Ziele.34 Mit dem Annex 1-B wurde die Organisa-

31 Calic, S. 247.

32 Dayton Accord.

33 Cohen, S. 122-124.

34 Dayton Accord, Annex 1-A, Art. VI. Nach dem ersten Einsatzjahr reduzierte die NATO ihre Präsenz und gab ihr den neuen Namen SFOR, änderte jedoch nichts am in Annex 1-A niedergelegten Auftrag. Im Jahr 2004 übernahm die EU das Kom- mando über die internationale Sicherheitspräsenz. SFOR wurde in EUFOR umbe- nannt und die Truppenstärke weiter reduziert, vgl. dazu International Crisis Group, EUFOR-IA, S. I.

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tion für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) mit vertrauens- und sicherheitsbildenden Maßnahmen im Militärbereich beauftragt.

Annex 3 "Agreement on Elections" bestimmte den Ablauf der demokrati- schen Wahlen der Parlamente und der Präsidenten auf Bundesstaats- und Entitäten-Ebene unter OSZE-Monitoring. Die OSZE erhielt damit die Kom- petenzen, für die Wählerregistrierung zu sorgen, den Wahlkampf zu über- wachen und demokratiegefährdendes Verhalten zu sanktionieren, die Kan- didaten auf ihre Wählbarkeit zu prüfen und gegebenenfalls auszuschließen sowie Wahlbeobachter zu bestellen. Annex 4 enthielt die "Constitution of Bosnia and Herzegovina". Mit dem Annex 6 wurden ein Ombudsmann für Menschenrechte und eine Menschenrechtskammer unter dem Vorsitz des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) eingesetzt.

Zudem sollte die OSZE für den Schutz der Menschenrechte sorgen. Annex 7 sicherte die Zustimmung der Vertragsparteien zur Rückkehr von Flüchtlin- gen und Vertriebenen. Annex 10, das "Agreement on Civilian Implementa- tion", betraute den Hohen Repräsentanten (HR) mit der Aufgabe, die Ein- haltung des Friedensvertrags zu überwachen und zivile Organisationen beim Aufbau des Staates zu koordinieren. Er wurde als "the final authority in theatre regarding the interpretation of this Agreement on the civilian im- plementation of the peace settlement" eingesetzt. 35

Die in Annex 4 des Abkommens niedergelegte Verfassung schuf für die drei Volksgruppen (muslirnische Bosniaken, katholische Kroaten und ortho- doxe Serben) zwei weitgehend autonome "Entitäten", die "bosnisch-kroati- sche Föderation" (auch "Föderation Bosnien und Herzegowina") auf 51%

des Territoriums und die "Republika Srpska" auf 49% des Territoriums, so- wie eine schwache Bundesebene "Bosnien und Herzegowina".36 Die Auftei- lung in zwei Entitäten entsprach dem durch den Bürgerkrieg und die vor- herigen Vermittlungsversuche erreichten Status quo.

Die Ausgestaltung der Institutionen im Sinne einer ausgeprägten Konkor- danzdemokratie ging auf die internationalen Vermittler zurück. In einer Konkordanzdemokratie werden Konflikte vorrangig unter Anwendung insti- tutionalisierter Kompromisstechniken bearbeitet, also durch Aushandeln oder gütliches Einvernehmen. Minderheiten werden durch die Bildung von Großen Koalitionen oder Allparteienregierungen, aufschiebenden oder abso- luten Vetorechten, das Einstimrnigkeitsprinzip, die Rotation auf politischen Ämtern, reservierte Sitze in Parlamenten und formelle Proporzregeln bei der Besetzung von öffentlichen Ämtern (Ministerien, Wirtschaft, Rundfunk) an der Entscheidungsfindung beteiligt. Elementare Voraussetzung für das

35 Dayton Accord, Annex 10, Art. V.

36 Dayton Accord, Annex 4, Art. I.

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Funktionieren einer Konkordanzdemokratie ist der Willen aller Konfliktpar- teien zum Konsens und zur Kooperation. 37

Die Vermittler des Daytoner Abkommens sahen in Annex 4 die folgen- den konkordanzdemokratischen Regelungen vor: Das Präsidium auf Bun- desebene setzt sich aus drei direkt gewählten Personen zusammen, je einem Bosniaken und einem Kroaten aus der Föderation sowie einem Serben aus der Republika Srpska, wobei der mit den meisten Stimmen gewählte als erster den Vorsitz führen soll. Danach soll der Vorsitz rotieren.38 Entschei- dungen werden einstimmig getroffen, andernfalls wird die Möglichkeit ei- nes absoluten Vetos eingeräumt. Falls ein Mitglied der Entscheidung nicht zustimmt, kann es diese den Delegierten im entsprechenden Entitätenpar- lament vorlegen. Sofern die Delegierten mit Zweidrittelmehrheit gegen die Entscheidung votieren, ist sie null und nichtig?9 Zuständig ist die Kollek- tivpräsidentschaft für die Vertretung des Landes nach außen und die Imple- mentierung der durch das Parlament verabschiedeten Gesetze. Außerdem ist jeder Vertreter zugleich der zivile Oberbefehlshaber der getrennten Streit- kräfte.40 Unterstützt wird die Präsidentschaft durch den Ministerrat, wobei maximal zwei Drittel der Minister aus der Föderation stammen sollen.41 Damit kann jede Gruppe de facto ein Drittel der Posten besetzen. Der Vor- sitzende des Ministerrats wird auf Vorschlag des Präsidiums durch das Re- präsentantenhaus gewählt. Auf Vorschlag des neuen Vorsitzenden wählt das Repräsentantenhaus auch die Minister.

Das Bundesparlament besteht aus zwei Kammern, dem Völkerhaus und dem Repräsentantenhaus. In das Völkerhaus entsendet die Föderation fünf Kroaten und fünf Bosniaken, die Republika Srpska fünf Serben. Um ent- scheidungsfähig zu sein, müssen hier mindestens drei Vertreter jeder Ethnie anwesend sein.42 Die 42 Mitglieder des Repräsentantenhauses werden direkt vom Volk gewählt, zwei Drittel in der Föderation, ein Drittel in der Repu- blika Srpska. Ist die Mehrheit der Gewählten anwesend, ist das Gremium beschlussfähig.43 Alle Gesetze müssen mit einfacher Mehrheit in beiden Kammern verabschiedet werden. Allerdings sieht die Verfassung vor, dass die Zustimmung jeweils mindestens ein Drittel der Delegierten jeder Entität umfassen muss. Andernfalls gilt folgende Vetoregel: "If a majority vote

37 Lehmbruch, Proporzdemokratie; Lehmbruch, Consociational Democracy;

Lijphart, Consociational Democracy; Lijphart, Patterns.

38 Dayton Accord, Annex 4, Art. V.

39 Dayton Accord, Annex 4, Art. V.2d.

40 Dayton Accord, Annex 4, Art. V.5a.

41 Dayton Accord, Annex 4, Art. V.4b.

42 Dayton Accord, Annex 4, Art. IV.l.

43 Dayton Accord, Annex 4, Art. IV.2.

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does not include one-third of the vote of Delegates or Members from the territory of each Entity, the Chair and Deputy Chairs shall meet as a com- mission and attempt to obtain approval within three days of the vote. If those efforts fail, decisions shall be taken by a majority of those present and voting, provided that the dissenting votes do not include two-thirds or more of the Delegates or Members elected from either Entity."44 Damit verfügt eine Ethnie im ersten Schritt über ein aufschiebendes Veto, wenn weniger als ein Drittel ihrer Delegierten einer Parlamentsentscheidung zu- stimmen, und im zweiten Schritt über ein absolutes Veto, wenn mehr als zwei Drittel ihrer Delegierten die Entscheidung der Vermittlungskommis- sion ablehnen. Zudem kann die Mehrheit einer Ethnie im Völkerhaus jede Entscheidung des Parlaments als "destruktiv für ihre vitalen Interessen" er- klären.45 In diesem Fall muss eine dreiköpfige Vermittlungskommission (ein Bosniake, ein Kroate, ein Serbe) innerhalb von fünf Tagen einen Aus- gleich erzielen. Gelingt dies nicht, wird die Entscheidung dem Verfassungs- gericht zur Prüfung überantwortet.46 Letzteres soll den Missbrauch des Ve- torechts verhindern, könnte aber auch bedeuten, dass letztlich alle Streitig- keiten vor das Oberste Gericht getragen werden.

Für die Judikative sehen die Regelungen von Dayton vor, dass das Ver- fassungsgericht Streitigkeiten zwischen den Entitäten und dem Bundesstaat schlichtet, alle Entscheidungen der Parlamente auf ihre Verfassungskonfor- mität hin prüft sowie als höchste Gerichtsinstanz für alle bosnisch-herzego- winischen Gerichte fungiert.47 Die Zusammensetzung des Gerichts ist zu- dem ein Novum: Neben vier aus der Föderation und zwei aus der Republik entsandten Richtern sollen auch drei Juristen zum Verfassungsgericht gehö- ren, die vom Präsidenten des Europäischen Gerichtshofs für Menschen- rechte benannt werden.48

Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Verfassung gemäß einem strikten Proporz nach dem Modell "drei Völker, zwei Entitäten, ein Staat" konstru- iert wurde.49 Die konsequente Umsetzung des konkordanzdemokratischen Modells führte jedoch dazu, dass die ethnische Spaltung auf der Basis der durch den Bürgerkrieg erreichten Homogenisierung festgeschrieben wurde.

Jeder Kandidat musste sich von nun an vor der Wahl zu einer der Ethnien bekennen, um als deren Repräsentant wählbar zu sein. Außerdem verhinder- ten die Regelungen zur Bestimmung der Delegierten im Völkerhaus, dass

44 Dayton Accord, Annex 4, Art. IV .3d.

45 Dayton Accord, Annex 4, Art. IV.3e.

46 Dayton Accord, Annex 4, Art. IV .3f.

47 Dayton Accord, Annex 4, Art. Vl.3.

48 Dayton Accord, Annex 4, Art. Vl.l.

49 Almond/Melcic, S. 442; Schneckener, S. 292.

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aus der Föderation auch Serben und aus der Republika Srpska auch Bosnia- ken und Kroaten entsendet werden können. Darüber hinaus wurden für Flüchtlinge kaum Anreize zur Rückkehr in ein durch eine andere Ethnie dominiertes Gebiet gesetzt. Die Festlegung eines umfangreichen Menschen- rechtskanons50 konnte daran (zunächst) wenig ändern. Rückkehrende Ange- hörige einer Minderheit liefen Gefahr, von ihren individuellen Rechten nicht in vollem Umfang Gebrauch machen zu können. Nicht zuletzt war die Repräsentation der Interessen anderer Minderheiten, die nicht zu einer der drei großen Ethnien gehörten, formell nicht verankert.

Da den beiden Entitäten im Sinne einer Zwei-Staaten-Union weitgehende Eigenständigkeit zugestanden wurde, war es der Bundesebene kaum mög- lich, die Differenzen zu überbrücken. Die Vielzahl von Verwaltungsebenen unterhalb der bundesstaatliehen Ebene, in der Föderation Bosnien und Her- zegowina drei (Kommune, Kanton, Entität) und in der Republika Srpska zwei (Kommune, Entität), machte Bosnien und Herzegowina zum Staat

"with the highest number of presidents, prime ministers and ministers in the entire world".51 Einer mutwilligen Blockade von Entscheidungen durch die komplexe Verschränkung der Ebenen und einer aufschiebenden oder de- struktiven Wirkung der Vetorechte waren mit der Verfassung von Dayton Tür und Tor geöffnet.

2. Internationale Aufsicht ja, Treuhandverwaltung nein

Die Einigung auf die Errichtung eines Gesamtstaates mit zwei starken re- gionalen Regierungsapparaten ließ eine internationale Präsenz in Form einer Treuhandverwaltung oder gar eine Besatzung nicht nötig erscheinen. Der nach Annex 10 des Dayton Abkommens eingesetzte HR sollte im Sinne ei- nes geordneten, von den lokalen Akteuren selbst gesteuerten Friedenspro- zesses lediglich die Einhaltung des Friedensvertrages überwachen, die Kon- fliktparteien zur Kooperation anhalten und die zivilen Organisationen beim Aufbau des Staates koordinierend unterstützen.52 Kompetenzen eines Treu- handverwalters wurden dem HR nicht übereignet. Außerdem sollte das in- ternationale Engagement zeitlich begrenzt sein, wobei in Annex 10 keine Angaben über die Dauer des HR-Mandats aufgenommen wurden. Bereits für September 1996 waren demokratische Wahlen geplant, mit deren Hilfe sich eine neue gesamtstaatliche Regierung konstituieren sollte. Dies sollte den internationalen Akteuren erlauben, sich möglichst bald aus Bosnien und Herzegowina zurückzuziehen.

50 Dayton Accord, Annex 4, Art. II.

51 Belloni, State Building, S. 44.

52 Dayton Accord, Annex 10, Art. I.

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Obwohl die internationale Staatengemeinschaft offensichtlich keine treu- händerische Verantwortung übernehmen wollte, hatte diese von Beginn an in verschiedenen Bereichen der Transformation wichtige Funktionen: Im Bereich Sicherheit sorgte sie mit der Militärpräsenz IFOR und der Polizei- präsenz IPTF für die Einhaltung des Daytoner Abkommens. Im Bereich De- mokratie organisierte und überwachte sie durch die OSZE die Wahlen. Im Bereich Rechtsstaatlichkeit entschied sie durch drei neutrale Richter im obersten Gericht. Im Bereich Wohlfahrt steuerte sie mittels des durch den Internationalen Währungsfonds (IWF) nominierten Zentralbankgouverneurs die Geldpolitik. Und im Bereich politische Gemeinschaft untersuchte sie in der durch den UNHCR geleiteten Menschenrechtskommission alle gemelde- ten Menschenrechtsverletzungen. Dabei sollte in allen Bereichen zugleich sichergestellt werden, dass die lokalen Regierungsinstitutionen auch auto- nom agierten.

3. Innenpolitische Blockaden und Ausweitung des HR-Mandats

Mit den ersten beiden Nachkriegsjahren zeigte sich, dass die Daytoner Konstruktion der lokalen Autonomie unter internationaler Aufsicht die ihr zugedachten Aufgaben nicht erfüllte. Die lokalen Parteien wiesen nicht das Maß an Kooperationsbereitschaft auf, das von ihnen im Rahmen des Dayto- ner Abkommens erwartet wurde. Sie waren nicht willens, selbst einen dau- erhaften Frieden zu garantieren sowie einen funktionierenden Rechtsstaat aufzubauen und die mit dem Daytoner Abkommen implizierte Demokrati- sierung voranzutreiben.53 Die in der Daytoner Verfassung eingebauten Kon- sensregeln bei striktem ethnischem Proporz provozierten in der Folge viele Entscheidungsblockaden.

Das Daytoner Abkommen verpflichtete die drei Parteien, selbst die Ver- antwortung für den Transformationsprozess zu übernehmen. In allen Teil- bereichen waren internationale Akteure jedoch stets präsent und bereit, Hilfe zu leisten und für den Wiederaufbau zu bezahlen. Dies produzierte in der Folge ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis. Die internationale Staatengemeinschaft musste unter allen Umständen ein Scheitern des Frie- densprozesses verhindern und sah sich gezwungen, die Kompetenzen des HR während der Implementierung des Daytoner Abkommens zu stärken.

Dies bedeutete zugleich eine erhebliche Einschränkung der lokalen Auto- nomie.

Der Hohe Repräsentant griff in der Folge immer öfter in Entscheidungs- prozesse ein: Er annullierte vom Parlament verabschiedete Gesetze, erließ

53 International Crisis Group, ls Dayton Failing?.

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Zusätze zu den Entitäten-Verfassungen und entließ gewählte Amts träger, um sie beispielsweise dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag überstellen zu können. Er entwickelte sich Schritt für Schritt zum wichtigsten Akteur in der Regierungsarbeit Bosnien und Herzegowinas.54 Diese schleichende Übernahme von Regierungsverantwortung wurde vom PIC, der aus Vertre- tern von mehr als fünfzig Regierungen und internationalen Organisationen bestand und den Friedensprozess überwachte, 1997 auf seiner Konferenz in Bonn gebilligt und durch den ON-Sicherheitsrat kurz darauf bestätigt. 55

Mit den seither als "Bonn Powers" titulierten Kompetenzen konnte der HR nach 1997 jederzeit von den bosnisch-herzegowinischen Parlamenten verabschiedete Gesetze außer Kraft setzen, selbst Gesetze erlassen, Verwal- tungsentscheidungen revidieren und Amtsträger entlassen, die sich offen ge- gen den Friedensprozess stellten.56 Damit stand den lokalen Akteuren nicht, wie ursprünglich geplant, eine einfache internationale Monitaringmission zur Seite, die die Hauptverantwortung auf lokaler Seite beließ;57 vielmehr wurde ihre Politik weitgehend von der Billigung des HR abhängig, der fak- tisch die Funktion eines Treuhandverwalters mit exekutiven und legislativen Kompetenzen erfüllte.58 Mit dem Daytoner Abkommen wurde die Souverä- nität Bosnien und Herzegowinas zwar de jure wieder hergestellt, de facto aber ein Protektorat mit einer starken internationalen zivilen und militäri- schen Präsenz angelegt. Beobachter bezeichneten Bosnien und Herzegowina daher als ein internationales "Semi-Protektorat".59 Diese politische Konstel- lation verstärkte die Kompromisslosigkeit der lokalen Akteure, die sich da-

54 Caplan; European Stability Initiative, Turning Point; International Crisis Group, Ensuring Bosnia's Future, S. 4-6.

55 Peace Implementation Council, Bonn Conclusions, Art. XI.2; United Nations, S/RES/1144; dies., S/RES/1256.

56 Peace Implementation Council, Bonn Conclusions, Art. XI.2b-c. Im Zeitraum 1998 bis 2007 hat der Hohe Repräsentant in 185 Fällen gewählte Personen aus ihren Ämtern entlassen, suspendiert oder ihre Wahl nicht anerkannt. Von 2005 bis 2007 wurden diese Entlassungen bzw. Suspendierungen in 53 Fällen wieder aufgehoben.

2005 und 2006 erließ der Hohe Repräsentant zwei Entscheidungen, nach denen es Personen, die von öffentlichen Wahlämtern suspendiert worden waren, erlaubt wurde, sich um einen Arbeitsplatz in der öffentlichen Verwaltung zu bewerben (Ent- scheidung vom 28. November 2005 und vom 4. April 2006). Ebenso stark griff der Hohe Repräsentant in die Gesetzgebung ein. Im Bereich der Rückkehr der Flücht- linge und Vertriebenen beispielsweise erließ er im Zeitraum 1998 bis 2007 45 Ge- setze und revidierte in 70 Fällen Gesetze, die vom bundesstaatliehen Parlament bzw. den Entitäten-Parlamenten erlassen worden waren. Quelle: Eigene Zusammen- stellung nach den offiziellen Verlautbarungen des OHR (http:/ /www.ohr.int/deci sions/archive.asp, letzter Zugang 31.12.2012).

57 Dayton Accord, Annex 10, Art. II, 1a.

58 Vgl. auch Oellers-Frahm, S. 208-210.

59 Almond/Melcic, S. 443; Grames, S. 220.

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rauf verlassen konnten, dass der HR letztlich alle unliebsamen Entscheidun- gen treffen und die Verantwortung dafür übernehmen würde.

4. Charakter der internationalen Präsenz seit 1995

Die internationale Staatengemeinschaft hatte sich bereits durch das Ab- kommen von Dayton bereit erklärt, einen Beitrag zur Stabilisierung der po- litischen Lage, zur Garantie der Sicherheit der Zivilbevölkerung, zur Rück- führung von Flüchtlingen, zur Wiederherstellung einer funktionierenden In- frastruktur, zur Vorbereitung von Wahlen und zum Aufbau politischer Institutionen zu leisten. Entsprechend des sich wandelnden Anforderungs- profils kam es zu einer beständigen Anpassung der bestehenden Mandate und zur Ausweitung der externen finanziellen und personellen Unterstüt- zung. Dies zeigte sich besonders deutlich 2002, als der Rat der Europäi- schen Union (EU) die Aufgabe übernahm, den HR zu bestellen. Zwischen 2002 und 2011 erfüllte dieser die Doppelfunktion eines HR und eines Son- dergesandten der Europäischen Union ("EU Special Representative" oder kurz EUSR) und war dem Rat direkt rechenschaftspflichtig. Zusätzlich wurde der HR/EUSR ab diesem Zeitpunkt vom "Board of Principals" bera- tend unterstützt. Darin waren neben dem OHR auch die EUFOR, das NATO-HQ Sarajevo, die OSZE, das UNHCR, die European Police Mission in Bosnia and Herzegovina (EUPM), die Europäische Kommission, die Weltbank, der IWF und das United Nations Development Program (UNDP) vertreten.

In der Folge war der HR/EUSR einer praktisch unlösbaren Doppelbelas- tung ausgesetzt: als HR musste er als Aufseher fungieren und immer wieder in lokale Entscheidungsprozesse eingreifen, womit er die Souveränität Bos- nien und Herzegowinas unterminierte; als EUSR sollte er als unabhängiger Berater den Annäherungsprozess des Landes an die EU organisieren, was einen souveränen, voll funktionstüchtigen und kooperationswilligen Ge- samtstaat Bosnien und Herzegowina erfordert hätte. Dies und die interne Neuorganisation der EU nach dem Vertrag von Lissabon führte schließlich 2011 dazu, dass HR und EUSR getrennt voneinander berufen wurden und nunmehr zwei Vertreter der internationalen Staatengemeinschaft das Land beaufsichtigen: Der vom PIC eingesetzte HR beaufsichtigt den Friedenspro- zess und der vom Rat der EU eingesetzte EUSR überwacht die Erfüllung der EU-Stabilisierungs- und Assoziierungskriterien.60

Der Charakter der internationalen Präsenz wurde und wird maßgeblich durch das Auftreten und den Interventionsstil des jeweiligen HR geprägt.

60 Vgl. Europäischer Rat.

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Bis 2013 übten sieben Abgesandte die Funktion des HR aus. Der erste Amtsinhaber, HR Carl Bildt (1996-1997), erkannte rasch, dass bosnische Politiker mit Dayton im Rücken kaum bereit sein würden, von der eth- nischen Obstruktion abzulassen. Er plädierte daher für die Ausweitung sei- ner Kompetenzen, was auf dem Treffen des PIC in Bonn 1997 bestätigt wurde.61 Seine Nachfolger machten von den "Bonn Powers" massiv Ge- brauch. HR Carlos Westendorp ( 1997 -1999) schuf den Präzedenzfall für die Anerkennung der "Bonn Powers" durch die internen Akteure. Er entließ den damaligen Präsidenten der Republika Srpska, Nikola Poplasen, offiziell aus dem Amt. Poplasen weigerte sich zunächst, die Entscheidung zu akzep- tieren. Nach einigen Monaten war er jedoch sowohl von der internationalen Staatengemeinschaft als auch von den bosnisch-herzegowinischen Politikern soweit marginalisiert, dass er sein Amt schließlich aufgeben musste. Da- nach wurden alle Entscheidungen des HR als bindend angesehen.62 Sie be- trafen Amtsentlassungen, Verfassungszusätze und Gesetzesänderungen.

Westendorp machte noch 75 weitere Male von diesen Interventionsrechten Gebrauch. HR Wolfgang Petritsch (1999-2002) traf 250 solcher Entschei- dungen, sein Nachfolger HR/EUSR Paddy Ashdown (2002-2006) sogar 44 7. 63 Insgesamt wurden zwischen 1995 und 2007 185 Politiker aus dem Amt entfernt, weil sie ihr Amt missbraucht, die Rückkehr von Flüchtlingen hintertrieben oder gegen die Daytoner Verfassung agitiert haben sollen.64

Der durch den HR (und später HR/EUSR) in seinen Berichten an den UN-Generalsekretär regelmäßig konstatierte "mangelnde Fortschritt"65 führte dazu, dass die mehrfach vorgesehene Schließung des Büros des HR immer wieder verschoben wurde.66 Ashdown und noch mehr sein Nachfol- ger, HR/EUSR Christian Schwarz-Schilling (2006-2007), bemühten sich zwar darum, die internationale Mission ihrem Ende näher zu bringen und die Zahl externer Eingriffe zu begrenzen. Der scharfe Kontrast zwischen dem dennoch starken Eingreifen Ashdowns und der absoluten Zurückhal- tung Schwarz-Schillings beschädigte das Ansehen der internationalen Staa- tengemeinschaft jedoch mehr, als er der bosnischen-herzegowinischen Transformation nützte.67 Mit dem Slowaken Miroslav Lajcak führte 2007- 2009 erstmals ein osteuropäischer Diplomat die Amtsgeschäfte des HR/

61 Peace Implementation Council, Bonn Conclusions.

62 International Crisis Group, Ensuring Bosnia's Future, S. 4.

63 International Crisis Group, Ensuring Bosnia's Future, S. 5.

64 International Crisis Group, Ensuring Bosnia's Future, S. 8.

65 V gl. Office of the High Representative, 15111 Report; dass., 171h Report; dass., 191h Report.

66 Zuletzt und immer noch gültig: Peace lmplementation Council, Declaration und ders., Communique.

67 International Crisis Group, Ensuring Bosnia's Future, S. 6.

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EUSR, der über Arbeitserfahrung in der Region verfügte. Damit verbanden sich bosnisch-herzegowinische Hoffnungen auf eine baldige Eigenständig- keit, eine notwendige Voraussetzung für einen Beitritt zur EU und zur NAT0.68 Nachdem Lajcak 2009 das Angebot erhielt, Außenminister seines Landes zu werden, übernahm der Österreicher V alentin Inzko die Führung des OHR. 2011 wurde ihm als EUSR Peter Sprensen (berufen bis 30. Juni 2015) zur Seite gestellt.69

Neben der direkten Kontrolle durch den HR nahm die internationale Staatengemeinschaft nach 2002 verstärkt durch die positive oder negative Konditionierung von wirtschaftlichen, technischen und personellen Hilfe- leistungen Einfluss auf die Entwicklung Bosnien und Herzegowinas.70 Mit- tel zur Entwicklungshilfe und Demokratieförderung wurden unter der Voraussetzung gewährt, dass bestimmte Entwicklungsziele wie die Verbes- serung von Rechtsstaatlichkeit und die Bekämpfung von Korruption erreicht würden.71

Als treibende Kraft im Hinblick auf eine . Demokratisierung fungieren mittlerweile die weiteren Verhandlungen über die Annäherung des Landes an die EU und der Beitritt zur NATO. Bereits im Jahr 2000 trug die Euro- päische Kommission der bosnisch-herzegowinischen Regierung in einer

"Road Map" 18 notwendige Reformen auf. 2003 veröffentlichte die Euro- päische Kommission eine "Feasibility-Studie",72 mit der 16 weitere Refor- men definiert wurden, die vor der Eröffnung von Gesprächen über ein As- soziierungs- und Stabilisierungsabkommen (SAA) erfüllt sein mussten. Wei- tere Fortschrittsberichte folgten, bis die Unterzeichnung des SAA schließlich 2008 vollzogen wurde.73 Mit der Interventionspolitik des HR/ EUSR und der durch die Europäische Kommission forcierten Konditionali- tätspolitik betreibt die EU in Fortführung des extern induzierten Friedens- prozesses seit 2002 "member-state building".74 Sie nahm und nimmt auf diese Weise erheblichen Einfluss auf das Voranschreiten der Demokratisie- rung in Bosnien und Herzegowina, fordert aber auch, dass die lokalen Eli- ten endlich die Verantwortung für die weiteren, für einen Beitritt nötigen Reformen übernehmen.

68 Martens; Woker.

69 Vgl. Europäischer Rat.

70 Recchia, S. 28-32.

71 Boyce; Santiso.

72 Europäische Kommission, Cornmunication on the Preparedness.

73 Europäische Kommission, Communication on the Progress; dies., Council De- cision.

74 International Commission on the Balkans, S. 28.

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IV. Der mühsame Prozess der Demokratisierung- und kein Ende in Sicht

I. "Drei Völker, zwei Entitäten, EIN Staat"?

Mit der Umsetzung des Daytoner Abkommens wurde unmittelbar nach Unterzeichnung des Vertrags in Paris begonnen. Einige wichtige Änderun- gen, die zur Stabilisierung der in Dayton vereinbarten Institutionen erheb- lich beitrugen, erfolgten erst in den folgenden Jahren. Die Zahl der beste- henden Ministerien auf bundesstaatlicher Ebene wurde nur sehr langsam ausgeweitet. Zu den in Dayton vereinbarten drei Ministerien, Außenpolitik, Außenhandel und Wirtschaftsbeziehungen sowie zivile Angelegenheiten und Kommunikation, kamen im Jahr 2000 die drei Ministerien für Europäi- sche Integration, für Menschenrechte und Flüchtlingsfragen sowie für Fi- nanzen, im Jahr 2002 die beiden Ministerien für Justiz und für Sicherheit sowie im Jahr 2004 das Ministerium für Verteidigung hinzu.75

Die zentrale Erfordernis, die Vetfassung von Dayton so zu reformieren, dass die institutionell verankerten Blockademöglichkeiten reduziert werden und sich Bosnien und Herzegowina langfristig ohne internationale Präsenz als funktionierender, stabiler Staat erhalten kann, blieb jedoch zwischen Bosniaken, Kroaten und Serben umstritten. Der Anfang 2001 durch das kroatische Präsidentschaftsmitglied Ante Jelavic (HDZ) unternommene Ver- such, eine autonome kroatische Entität zu gründen, wurde zwar durch die Intervention des HR verhindert.76 Die Episode zeigte jedoch, dass der Ge- samtstaat Bosnien und Herzegowina auch sechs Jahre nach Dayton nicht gefestigt war. Verfassungsreformen, die die zentrale Formel "drei Völker, zwei Entitäten, ein Staat" antasteten, erwiesen sich dementsprechend als be- sonders heikel.77 Eine von Bosniern selbst getragene Verfassungsreform ist bisher nicht in Gang gekommen. Beobachter fordern eine Reform, die die zentralstaatlichen Institutionen der Daytoner Verfassung stärken und die Kompetenzen der Entitäten beschneiden sollte. Dafür müssten Vetorechte eingeschränkt und stattdessen Ethnien übergreifende Kooperationen ange- regt, die rotierende Präsidentschaft auf eine Person begrenzt oder der Pre- mier mit tatsächlichen Kompetenzen ausgestattet werden.78

75 Office of the High Representative, Decision Enacting the Law. Mit der Regie- rungsbildung im Jahr 2002 wurden die Ministerien neu zugeschnitten. Die neun Mi- nisterien sind nun zuständig für (1) Außenpolitik, (2) Außenhandel und Wirtschafts- beziehungen, (3) Finanzen, (4) Kommunikation und Verkehr, (5) zivile Angelegen- heiten, (6) Menschenrechte und Flüchtlinge, (7) Justiz, (8) Sicherheit und (9) Verteidigung, vgl. Richter/Gavric, S. 21.

76 Office of the High Representative, Decision Removing Ante Jelavic.

77 Belloni, State Building, S. 53.

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Eine richtungsweisende Entscheidung traf das bosnisch-herzegowinische Verfassungsgericht im Jahr 2000. Es erklärte die bisher gültigen Formulie- rungen über die "konstituierenden Völker" in den Verfassungen der beiden Entitäten als nicht konform mit der Verfassung der Republik Bosnien und Herzegowina. Letztere definierte alle drei Völker, Bosniaken, Kroaten und Serben, als konstituierend. In den Entitäten-Verfassungen wurden hingegen für die Föderation Bosnien und Herzegowina lediglich Bosniaken und Kroaten und für die Republika Srpska nur Serben als konstituierende Völ- ker anerkannt. Damit waren in der Föderation Serben, in der Republik Bos- niaken und Kroaten sowie in beiden Entitäten andere Minderheiten von zentralen politischen Rechten wie dem passiven Wahlrecht und der Aus- übung von Vetorechten ausgeschlossen. Dieser Diskriminierung setzte das Verfassungsgericht mit seiner Entscheidung ein Ende und trug den Entitä- tenregierungen auf, für die entsprechenden Änderungen in den Verfassungen zu sorgen.79 Damit würden Serben in der Föderation, Bosniaken und Kroa- ten in der Republik sowie andere Minderheiten in beiden Entitäten das pas- sive Wahlrecht zum Haus der Völker und zur Präsidentschaft und die Mög- lichkeit zur Ausübung von Vetorechten erhalten. Erst mit sechsmonatiger Verzögerung und nach der Entscheidung des HR, entsprechende Verfas- sungskommissionen einzusetzen, 80 kam ein Diskussionsprozess in Gang. An dessen Ende standen weitreichende Änderungen, auf die sich die drei gro- ßen Parteien in der Mrakovica-Sarajevo-Übereinkunft vom 27. März 2002 einigten. Deren Implementation scheiterte jedoch in der Föderation am Wi- derstand von HDZ und SDA im Repräsentantenhaus und in der serbischen Republik an der Ablehnung der Serben in der nationalen Versammlung.81 Daraufhin erließ der HR kurzerhand selbst die nötigen Verfassungsänderun- gen, zwar unter weitgehender Berücksichtigung der erzielten Übereinkunft, jedoch eindeutig gegen den Willen der Parteien in den Entitäten.82 Beob- achter kritisierten den Eingriff als unnötig und die Erzwingung von Verfas- sungsreformen als kontraproduktiv für die Entwicklung und Stabilisierung der Demokratie in Bosnien und Herzegowina. Zudem erhöhte sich mit der Reform die Anzahl möglicher Vetospieler in den Entitäten.83

78 International Crisis Group, Ensuring Bosnia's Future, S. 9-10.

79 Vgl. ßelloni, State Building, S. 58-61.

80 Office of the High Representative, Decision Establishing Interim Procedures.

8t Vgl. Belloni, State Building, S. 63-65.

82 Office of the High Representative, Decision Amending the Constitution of the Federation of Bosnia and Herzegovina, 7. Oktober 2002; dass., Decision Amending the Constitution of the Republica Srpska; dass., Decision Amending the Constitu- tion of the Federation of Bosnia and Herzegovina, 19. April 2002; dass., Decision on Constitutional Amendments in Republika Srpska.

83 European Stability Initiative, Imposing Constitutional Reform?; Richter, Part- ner,S.ll9.

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Die erlassenen Änderungen betrafen die Zusammensetzung der beiden Entitätenregierungen, die Anerkennung offizieller Sprachen und die Defini- tion des "vitalen nationalen Interesses" bei Vetoverfahren. Die Entitäten- regierungen sollten ab sofort jeweils aus 16 Ministern bestehen, in der Re- publika Srpska aus acht Serben, fünf Bosniaken und drei Kroaten, in der Föderation Bosnien und Herzegowina aus acht Bosniaken, fünf Kroaten und drei Serben. Alle drei Ethnien sowie "andere" Minderheiten sollten proportional in der Regierung und in der öffentlichen Verwaltung vertreten sein. 84 In beiden Entitäten wurden die Sprachen von Serben, Kroaten und Bosniaken als Amtssprachen anerkannt. 85

Die Klausel, ein Vetorecht entstünde bei der "Verletzung des vitalen Inte- resses" einer Ethnie, wurde in die Verfassung der Republika Srpska einge- führt.86

Die Verfassungsänderungen verbesserten die Repräsentativität in den bei- den Entitäten, änderten jedoch nichts daran, dass ethnische Zugehörigkeit nach wie vor das entscheidende Merkmal blieb, um politische Ämter be- kleiden und politische Rechte ausüben zu können. Zudem verstärkte sich der Eindruck, dass Institutionen auf Bundes- und auf Entitäten-Ebene re- dundant sind: Alle drei Exekutiven waren nun angehalten, die vitalen Inte- ressen von Bosniaken, Serben und Kroaten zu schützen. 87 Das Risiko von Blockaden wurde nicht ausgeräumt, sondern durch die Erweiterung der Ve- torechte eher noch verstärkt. Daran hat sich bis dato nichts geändert. 88

2. Das Problem der ethnisch segregierten Wahlen

Das Gerichtsurteil zu den "konstituierenden Völkern" von 2000 steckte auch den Rahmen für das definitive Wahlgesetz ab. Mit seiner Verabschie- dung im Jahr 2001 wurden die lokalen Akteure 2002 an der Organisation und Durchführung von Wahlen auf allen Verwaltungsebenen beteiligt, ab 2006 waren sie allei~ dafür zuständig. Zuvor hatte die OSZE gemäß den

84 Office of the High Representative, Decision Amending the Constitution of the Federation of Bosnia and Herzegovina, 7. Oktober 2002; dass., Decision on Consti- tutional Amendments in Republika Srpska.

85 Office of the High Representative, Decision Amending the Constitution of the Federation of Bosnia and Herzegovina, 19. April 2002; dass., Decision on Constitu- tional Amendments in Republika Srpska.

86 Office of the High Representative, Decision Amending the Constitution of the Federation of Bosnia and Herzegovina, 7. Oktober 2002; dass., Decision Amending the Constitution of the Federation of Bosnia and Herzegovina, 19. April 2002; dass., Decision on Constitutional Amendments in Republika Srpska.

87 Belloni, State Building, S. 71.

88 Berg/Solvak, S. 465; Domm, S. 54--55.

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Vereinbarungen von Dayton die Kommunal-, Kantonal-, Entitäten- sowie bundesstaatliehen Parlaments- und Präsidentenwahlen organisiert und über- wacht.89 Die Proporzregeln von Dayton hatten den Parteien bei der Beset- zung der Ämter zunächst keine Anreize zu Ethnien übergreifenden Abspra- chen gesetzt. Die Chance, zur Überbrückung des bestehenden Misstrauens und der Vorurteile gegenüber den Angehörigen der anderen Ethnien bei- zutragen, wurde vergeben. Vielmehr boten die häufigen Wahlen gerade in den ersten Jahren - bis 2001 im Zweijahresrhythmus National-, Kantonal- und Entitätenwahlen, dazwischen Kommunalwahlen - den monoethnischen Parteien viele Gelegenheiten, durch nationalistisch gefärbte Hetzreden Ängste zu schüren und die Wähler entlang ethnischer Konfliktlinien zu mo- bilisieren.90 Die ersten Wahlen nach Dayton legten die Richtung dieser Ent- wicklung unwiderruflich fest. Sie beförderten die Entstehung eines seg- regierten Parteiensystems, das von den drei großen monoethnischen Par- teien mit weitgehend monoethnischem Elektorat dominiert wurde und sich über die Folgewahlen 1998 und 2000 weiter festigte. Für die moderaten Parteien kamen die Wahlen von 1996 zu früh, um sich als gefestigte demo- kratische Alternative zu den Bürgerkriegsparteien anzubieten. Bei den Fol- gewahlen standen die moderaten Oppositionsparteien stets unter dem Ver- dacht, erheblich von externer Unterstützung abhängig und damit Marionet- ten der externen Akteure zu sein.91

Das zunächst verwendete Wahlsystem der proportionalen Repräsentation mit geschlossenen Parteilisten, bei denen die Wähler nur für eine Partei, nicht für einzelne Kandidaten votieren konnten, stärkte die Position der na- tionalistischen Parteien SDA, HDZ und SDS zusätzlich. Legitimiert durch ihre Wahlsiege zeigten diese wenig Interesse am Fortschreiten der Demo- kratisierung. Der HR suspendierte in der Folge mehrere gewählte Amtsträ- ger, weil sie in den Augen der internationalen Gemeinschaft den nötigen Demokratisierungswillen missen ließen oder gar gewählt worden waren, ob- wohl sie sich Kriegsverbrechen schuldig gemacht hatten.92 Die Hauptfunk- tion demokratischer Wahlen, Amtsträger auszuwählen und sie für ihre Ent- scheidungen verantwortlich zu machen, wurde so über die Intervention des HR außer Kraft gesetzt. Bei den Wahlen von 1998 und 2000 griffen die OSZE und der HR in die Zusammenstellung der Kandidatenlisten restriktiv ein und suspendierten Kandidaten, die der Kriegsverbrechen und der Ob- struktion gegen Dayton verdächtigt wurden. Ebenso wurden Hetzkam-

89 Dayton Accord, Annex 4.

90 Manning, S. 68. Nach 2001 wurde der Turnus der National-, Kantonal- und Entitätenwahlen auf vier Jahre festgelegt.

91 Bose, S. 209; Caspersen, S. 577-579; Cohen, S. 134; Manning, S. 68-69.

92 Belloni, Peacebuilding, S. 337-338.

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pagnen nationalistisch gesinnter Kandidaten zensiert. Vielen Wählern er- schien es jedoch wenig glaubwürdig, über in ihren Augen derart "undemo- kratische Mittel" den Demokratiegehalt der Wahlen zu erhöhen und wählten nichtsdestoweniger die nationalistisch orientierten Parteien.93

Ein weiteres Problem bei allen Wahlen stellte die Ausübung des passiven und aktiven Wahlrechts durch Flüchtlinge und Vertriebene dar. Alle Par- teien versuchten zu verhindern, dass sich die durch den Krieg veränderte ethnische Zusammensetzung eines Wahlkreises wieder zu ihren Ungunsten verschob. Während die SDA dafür plädierte, dass Vertriebene in ihrem alten Wahlkreis wählen sollten, sprachen sich serbische und kroatische Parteien dafür aus, dass sie am aktuellen Wohnort wählten. Die OSZE erlaubte für die ersten Wahlen im Jahr 1996 schließlich beide Optionen. In der Praxis begünstigte dies die Politik der Parteien, die versuchten, die Registrierung der Wähler durch Einschüchterung zu manipulieren und sie zur Registrie- rung in jenen Wahlkreisen zu bewegen, in denen die Parteien ihre Macht- basis konsolidieren wollten.94 Im Jahr 2000 zeitigte der Wahlsieg der gemä- ßigten "Allianz des Wandels" einen Teilerfolg für die OSZE-Bemühungen um die Mäßigung des politischen Wettbewerbs. Allerdings konnte das mo- derate Bündnis die Wähler auf Dauer nicht überzeugen. Für grundlegende Reformen fehlten ihr die nötigen Mehrheiten. 2002 gewannen wiederum na- tionalistisch gesinnte Parteien die Wahlen. 95

Die Strategie der externen Akteure, mit regelmäßigen Wahlen die Domi- nanz der Nationalisten einzuhegen, moderate Parteien zu unterstützen und damit die Demokratisierung voranzutreiben sowie die Wahlen darüber hi- naus als eine Exitstrategie zur raschen Reduzierung der internationalen Ver- antwortung zu nutzen, erwies sich als insgesamt wenig erfolgreich.96 Aller- dings war auch kaum zu erwarten gewesen, dass gegen den Willen starker nationalistischer und separatistischer Interessen über Wahlen moderate Ak- teure ins Amt gelangen würden, die den Demokratisierungsprozess gegen eben diese Interessen vorantreiben könnten. Immerhin konnten die OSZE mit der Prüfung von Kandidatenlisten und der Nichtzulassung von Kandida- ten sowie der HR durch Entlassungen gewählter Amtsträger den Parteien deutlich signalisieren, dass die Umsetzung des Daytoner Abkommens vor- rangiges Ziel des internationalen Engagements sein würde. Die dadurch zu- gleich produzierten Abhängigkeiten blieben bestehen, ebenso das Problem, mit undemokratischen Mitteln wie der autoritativ angeordneten Absetzung demokratisch legitimierter Volksvertreter Demokratie erzwingen zu wollen.

93 International Crisis Group, Bosnia's November Elections, S. 3-6.

94 Belloni, Peacebuilding, S. 347-348; Grames, S. 214, 229; Manning, S. 65.

95 Richter/Gavric, S. 6.

96 Vgl. Dzihic/Segert, S. 248; Manning.

(22)

3. Externes Eingreifen zugunsten freier Medien, unabhängiger Gerichte und der Rückkehr

der Flüchtlinge

Wichtig für den demokratischen Verlauf der Wahlen war nach externer Ansicht auch die Etablierung eines multiethnischen, freien und pluralen Mediensystems in Bosnien und Herzegowina, das den Wählern jenseits na- tionalistisch gefärbter Propaganda unabhängige Informationen über die Ent- wicklungen im Land präsentieren würde. Internationale Akteure, allen vo- ran die OSZE, wurden aktiv, weil auch im Mediensektor die drei großen Parteien dominierten und direkten Einfluss auf einzelne Fernsehstationen und Zeitungen ausübten. Erst die Einrichtung einer unabhängigen Medien- kommission durch den HR dämmte den Parteieneinfluss auf die Medien ein und ermöglichte es unter anderem den Oppositionsparteien, vor Wahlen über das öffentliche Fernsehen Wahlkampf zu betreiben. Das mit großem internationalem Aufwand betriebene Projekt eines unabhängigen Fernseh- und Radiosenders scheiterte jedoch an der mangelnden Bereitschaft der Be- völkerung, die Ethnien übergreifende, unparteiische Informationsquelle zu nutzen.97

Die direkte externe Intervention in die politische Neuordnung zeigte sich schließlich auch bei der Reform des Justizwesens. Zunächst schenkte die internationale Gemeinschaft dieser Frage praktisch keine Aufmerksamkeit. 98 Nachdem die Wichtigkeit einer unabhängigen Justiz für die Demokratisie- rung erkannt worden war, sollten die nötigen Reformen im Sinne der loka- len Verantwortlichkeit zunächst in alleiniger Verantwortung durch ad hoc gebildete lokale Kommissionen vonstattengehen. Unparteiische und qualifi- zierte bosnische Juristen sollten die amtierenden Richter und Staatsanwälte prüfen und gegebenenfalls ungeeignete Amtsträger zur Entlassung vorschla- gen. Bis 2001 wurden auf diese Weise jedoch nur drei Personen ihres Am- tes enthoben, zu wenige, um den Aufbau eines überparteilichen, professio- nalisierten und korruptionsfreien Justizwesens voranzutreiben. Auch der

"Independent Judicial Comrnission" (IJC), die daraufbin 2001 von HR Pe- tritsch eingesetzt wurde, gelang es bis 2002 nicht, die lokalen Kommissio- nen zu stärken und die vorliegenden Gerichts- und Prozessordnungen einer vollständigen Revision zu unterziehen. Schließlich entschied Petritsch, so gut wie alle Richter und Staatsanwälte zu entlassen, ihnen aber zumindest die Möglichkeit einer erneuten Bewerbung einzuräumen. Im Jahr 2004 er- teilte er dem "High Judicial and Prosecutorial Council" (HJPC), einem aus 13 lokalen und drei internationalen Juristen bestehenden Gremium, den

97 Hasibovic; Kumar; Manning, S. 65.

98 International Crisis Group, Courting Disaster, S. 1.

(23)

Auftrag, ab sofort landesweit Richter und Staatsanwälte zur Berufung aus- zuwählen und ein einheitliches Justizwesen für ganz Bosnien und Herzego- wina zu schaffen. 99 Die auf diese Weise gewählten Kandidaten wurden ab 2004 vom HR offiziell ernannt. Zugleich erließ er zwischen 2004 und 2007 33 für die Reform nötige Entscheidungen im Straf- und Prozessrecht ein- schließlich eines neuen Besoldungssystems für das JustizpersonaL 100 Beob- achter kritisierten den Oktroi der Justizreform, erkannten jedoch zugleich an, dass ohne ein massives externes Eingreifen keine vergleichbare Reform mit langfristig positiver Wirkung zustande gekommen wäre.101

Die Erfüllung einer weiteren zentralen Forderung von Dayton, nämlich für die sichere Rückkehr von Flüchtlingen und Vertriebenen zu sorgen, kam angesichts der tiefen gesellschaftlichen Spaltung und der nationalistischen Politik der Parteien nur sehr langsam voran. Wie oben beschrieben, nutzen die Konfliktparteien die Flüchtlingspolitik einerseits aus wahltaktischen Gründen zur Sicherung ihrer Dominanz in den einzelnen Kommunen. An- dererseits erwiesen sich die Anreize für Flüchtlinge und Vertriebene zur Rückkehr als äußerst gering, trotz internationaler Bemühungen um die Ge- währleistung von Sicherheit und den wirtschaftlichen Wiederaufbau. 102 Flüchtlinge sollten ihr Eigentum, vor allem Wohnungen, Häuser und Grund- stücke mit dem entsprechenden Inventar, laut den Vereinbarungen von Day- ton zurückerhalten oder angemessen für ihren Verlust entschädigt wer- den.103 Dafür war eine entsprechende Gesetzesgrundlage notwendig, da die bestehenden Gesetze von der Menschenrechtskammer noch im ersten Nach- kriegsjahr als nicht vereinbar mit der Daytoner Verfassung erklärt worden waren.104 Die Konfliktparteien verschleppten die Verabschiedung entspre- chender Gesetze. Um den Vorgang zu beschleunigen, ließ der HR schließ- lich am 29. Mai 1997, eineinhalb Jahre nach Dayton, den Parlamenten der beiden Entitäten einen Gesetzesentwurf zustellen. Die daraufhin begonne- nen Verhandlungen der zuständigen Ministerien der beiden Entitäten mit dem HR zogen sich im Falle der Föderation bis Anfang 1998, im Falle der serbischen Republik sogar bis Ende 1998 hin. Mittlerweile mit den "Bonn Powers" ausgestattet, konnte der HR so viel Druck ausüben, dass beide En- titäten die nötigen Eigentumsgesetze erließen, die Föderation zum 4. April 1998 und die serbische Republik zum 19. Dezember 1998. Dies änderte je-

99 Bergling, S. 366-367; International Crisis Group, Courting Disaster, S. 9.

IOO Eigene Berechnung nach http:/ /www.ohr.int/decisions/judicialrdec/archive.asp (letzter Zugang 31.12.2012).

101 Bergling, S. 369.

102 International Crisis Group, Going Nowhere Fast, S. 9-12, 29-33.

I03 Dayton Accord, Annex 7.

104 Dayton Accord, Annex 4; Hastings, S. 221.

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