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Bosnien-Herzegowina und Österreich-Ungarn,

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Academic year: 2022

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Annäherungen an eine Kolonie

KULTUR – HERRSCHAFT – DIFFERENZ 24

Clemens Ruthner / Tamara Scheer (Hrsg.)

Bosnien-Herzegowina

und Österreich-Ungarn,

1878–1918

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Bosnien-Herzegowina und Österreich-Ungarn, 1878–1918

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KULTUR - HERRSCHAFT - DIFFERENZ

Herausgegeben von

Milka Car, Moritz Csáky, Wolfgang Müller-Funk, Klaus R. Scherpe und Andrea Seidler

Band 24 • 2018

Kultur – Herrschaft – Differenz ist eine peer-reviewed Reihe (double-blind).

Kultur – Herrschaft – Differenz is a double-blind peer-reviewed series.

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Clemens Ruthner/Tamara Scheer (Hrsg.)

Bosnien-Herzegowina und

Österreich-Ungarn, 1878–1918

Annäherungen an eine Kolonie

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Umschlagabbildung: Kaiserbesuch, Brücke von Mostar (© Österreichische Nationalbibliothek)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Gedruckt mit Unterstützung von:

© 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 1862-2518 ISBN 978-3-7720-8604-5

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Inhalt 5

Inhalt

Vorwort der Herausgeber ... 9

INTRO

Clemens Ruthner

Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie. Eine Einführung ...15 Tamara Scheer

„Kolonie“ – „Neu-Österreich“ – „Reichsland(e)“. Zu begrifflichen Zuschreibungen Bosnien-Herzegowinas im österreichisch-ungarischen Staatsverband, 1878–1918 ...45

VORGESCHICHTEN

Martin Gabriel

Bosnien-Herzegowina als Begegnungs- und Konfliktzone zwischen Habsburg und Hoher Pforte, 1688–1869 ... 61 Raymond Detrez

Zurückhaltung und Entschlossenheit. Zur Vorgeschichte der k. u. k.

Okkupation Bosnien-Herzegowinas 1878 ...77 Imre Ress

„Der Türke ist ein Freund, […] wird nicht angefochten“. Die Haltung Ungarns zu Bosnien-Herzegowina bis zur Ära Kállay ... 99

ÜBERNAHMEN

Clemens Ruthner

Besetzungen (1). Die Invasoren und Insurgenten des

Okkupationsfeldzugs 1878 im kulturellen Gedächtnis ...123 Robert J. Donia

„Proximate Colony“. Bosnien-Herzegowina unter österreichisch-

ungarischer Herrschaft ...147 Aydın Babuna

Österreich-Ungarn, die bosnisch-herzegowinischen Muslime und ihr Nationalismus ...163

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6 Inhalt

Valeria Heuberger

Die Pilgerfahrt nach Mekka von Muslimen aus Bosnien-Herzegowina unter österreichisch-ungarischer Herrschaft (1878–1914) ...193 Dennis Dierks

Der Savindan. Zur Konstruktion eines nationalen Gedenktages im imperialen Kontext des habsburgischen Bosnien-Herzegowina ... 211 Carl Bethke

Einwanderung und Kolonisten im k. u. k. Bosnien-Herzegowina.

Überblick mit ‘bosniakischen’ Perspektiven ...237 Maximilian Hartmuth

Amtssprache Maurisch? Zum Problem der Interpretation des

orientalisierenden Baustils im habsburgischen Bosnien-Herzegowina ..251

ABBILDER

Clemens Ruthner

Besetzungen (2). Anverwandlung der Orte, Neuformatierung der Fremde(n) ...269 František Šístek

Der slawische Halbmond

Tschechische Darstellungen bosnisch-herzegowinischer Muslime in Literatur, Reiseberichten und Memoiren (1878–1918) ...279 Johannes Feichtinger

Nach Said. Der k. u. k. Orientalismus, seine Akteure, Praktiken und Diskurse ...307 Reinhard Johler

Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und die Institutionalisierung der österreichischen Volkskunde als Wissenschaft...325 Nedad Memić

„Diese Worte sind […] bereits gang und gäbe“. Zur

Internationalisierung des bosnischen Wortschatzes nach der k. u. k.

Okkupation ...359 Vahidin Preljević

„Zauberhafte Mischung“ und „reine Volksseele“. Literatur, Kultur und Widersprüche der imperialen Konstellation im habsburgischen

Bosnien-Herzegowina um 1900 ...373

(8)

Inhalt 7

Stijn Vervaet

Serbischer Okzidentalismus? Anti-westliche Rhetorik in Bosnien- Herzegowina während der österreichisch-ungarischen Besatzung ...391 Anna Babka

„Das war ein Stück Orient“. (Post-)koloniale Ambivalenzen und

Fantasien in Robert Michels Die Verhüllte ...407 Riccardo Concetti

Robert Michel, oder: Wie die literarische Entdeckung Bosniens- Herzegowinas weder zu Ruhm noch zu politischer Hellsicht führen kann ...423

NACHWIRKUNGEN

Franziska Zaugg

„Ruhe, Sicherheit und Gerechtigkeit“. Erinnerungen bosnischer Waffen–SS–Soldaten an die österreichisch-ungarische Herrschaft im Ersten Weltkrieg ...441 Wolfgang Müller-Funk

Auf der Drinabrücke. Die Geschichte eines Chronotopos ...449 Boris Previšić

Das „Topografische“ als Ausgangspunkt historischer Reflexion.

Ingeborg Bachmanns Aufarbeitung des (post)imperialen

südslawischen Erbes in Drei Wege zum See ...459 Ana Mijić

Das ‘Wir’ im ‘Ich’. Zum Problem der Identitätskonstruktion im

Bosnien-Herzegowina der Gegenwart ...475 Vedran Džihić

Ethnonationalismus in der longue durée? Vermessungen der

historischen und aktuellen Widersprüche Bosnien-Herzegowinas ...495

EPILOG

Martin A. Hainz

„Schau‘n gut aus“. Skizze zur Begriffslogik von Kolonie und Provinz ...531 Forschungsliteratur zu Bosnien-Herzegowina 1878–1918 ...539

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Vorwort der Herausgeber 9

Vorwort der Herausgeber

2018 jähren sich neben anderen Eckdaten der europäischen Geschichte wie 1918, 1938 oder 1968 auch drei einschneidende Ereignisse für Bosnien-Herze- gowina: Nachdem der sog. Berliner Kongress der kontinentalen Großmächte im Juli 1878 das Mandat dazu erteilt hatte, wurde die damals osmanische Pro- vinz (Vilâyet-i Bosna) noch im selben Sommer und Herbst von österreichisch- ungarischen Truppen besetzt. 1908 annektierte dann die Habsburger Monarchie Bosnien und die Herzegowina und löste damit eine schwerwiegende internati- onale Krise aus. Im Herbst 1918 endete schließlich die k. u. k. Herrschaft in der Region mit dem Zerfall Österreich-Ungarns am Ende des Ersten Weltkriegs und der Gründung des SHS-Staates: das spätere (erste) Jugoslawien.

Es mag symptomatisch erscheinen, dass diese Jahrestage schon 2008 in Öster- reich und Ungarn, aber auch international kaum beachtet worden sind.1 2018 zierten zwar grüne Plakate mit der Jahreszahl 1878 etliche Bus-Haltestellen in Graz; sie erinnern aber nicht etwa an den Okkupationfeldzug (dem noch ein historisches Denkmal in der Radetzkystraße gewidmet ist), sondern an die ers- ten Straßenbahnen der Stadt: Signifikant für das größere Vergessen, dem sich das heute zumindest auf dem Papier unabhängige Bosnien-Herzegowina aufs Neue ausgesetzt sieht, nachdem das zerfallende zweite Jugoslawien durch sei- ne blutigen Bürgerkriege der 1990er Jahre kurz und jäh ins sen sationalistische Rampenlicht der Medien-Weltöffentlichkeit gerückt war.

Das darauf folgende Stillschweigen zu durchbrechen und die habsburgische Vorgeschichte zum kurzen 20. Jahrhundert in der Region wieder historio grafisch und kulturwissenschaftlich ans Licht zu bringen, hat sich der vorl iegen de Sam- melband vorgenommen. Unter Rekurs auf Ansätze der kritischen Kolonial- geschichtsschreibung und der Post/Colonial Studies soll transdisziplinär nach der österreichisch-ungarischen Involvierung in die Zeitläufte der bosnischen- herzegowinischen Geschichte gefragt und speziell die Folgen dieser Interven- tion als kleine und große Paradigmenwechsel auf beiden Seiten aufgezeigt wer- den: WechselWirkungen2 in politischer, ökonomischer, sozialer, kultureller und religiöser Hinsicht, aber auch als Interaktion zwischen dem Gestern und Heute.

1 Abgesehen von zwei Tagungen in Wien (ÖAW, Dez. 2008) und Sarajevo (Filozofski Fakultät, April 2009), die von Autoren des vorliegenden Sammelbandes mit initiiert wor- den sind und so gewissermßen die Keimzelle für die vorliegende Publikation darstellen.

2 Dies ist auch der Titel eines in den USA veröffentlichten Sammelbands, als dessen deutschsprachige Fortsetzung sich der vorliegende versteht: Ruthner, Clemens / Reynolds

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10 Vorwort der Herausgeber

Hervorgegangen ist jener ‘post/koloniale’ Zugang zur späten Habsburger Monarchie seit rund zwanzig Jahren aus der Forschungsarbeit und Interaktion zweier Teams,3 des ehem. SFB Moderne an der Universität Graz4 rund um den Historiker Moritz Csáky und des losen internationalen Netzwerks Kakanien revisited, das sich rund um die gleichnamige Internet-Platform5 an der Univer- sität Wien und Wissenschaftler/innen wie Wolfgang Müller-Funk, Waltraud Heindl und anderen formierte, von denen auch etliche im vorliegenden Band vertreten sind. Mit ihnen hat sich eine Sichtweise konstituiert und verfeinert, die sich ebenso als Alternative zur Multikulti-Nostalgie des „Habsburgischen Mythos“ (Claudio Magris) wie zu den Opfer-Narrativen nationalistischer Ge- schichtsschreibung versteht: gleichsam als dritter Weg, der diese Denkfallen überspringt.

Ganz in diesem Sinne geht auch unser Buch vor. Hier werden zunächst die

„Vorgeschichten“ der Besetzung rekonstruiert, ebenso wie der Okkupationsfeld- zug von 1878 selbst, der den größten k. u. k. Militäreinsatz zwischen der Schlacht von Königgrätz (1866) und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs (1914) darstellt.

Gefragt wurde bereits im „Intro“ betitelten Anfang des Sammelbandes nach der Anschlussfähigkeit des Paradigmas der Kolonie, des Kolonialismus bzw. des Ori- entalismus für die besetzten Gebiete. Die historische wie theoretische Auseinan- dersetzung mit diesen Begriffen soll die Leser(innen) in die Lage versetzen, die Aussagekräftigkeit der folgenden Fallstudien zu beurteilen, die sich in drei Ab- schnitte gliedern: Darin werden die Auswirkungen der Okkupation sowohl im politischen bzw. sozialen Feld („Übernahmen“ wie etwa in der Administration, der Siedlungs- und Religionspolitik etc.) als auch im symbolisch-ästhetischen Raum („Abbilder“) beschrieben – wobei der kolonialen Formatierung des Frem- den in kulturellen Repräsentationen (Literatur, Volkskunde, Architektur und anderen Medien), wie insgesamt der k. u. k. Identitätspolitik und den einheimi-

Cordileone, Diana / Reber, Ursula / Detrez, Raymond (Hg.): WechselWirkungen. Aust- ria-Hungary, Bosnia-Herzegovina, and the Western Balkans, 1878–1918. New York: P.

Lang 2015 (= Austrian Culture Series 24). In diesem Rahmen erschienen auch die hier wiedergegebenen Beiträge von Raymond Detrez und Robert Donia zum ersten Mal (auf Englisch); wir danken dem Verlag für die freundliche Gewährung der Übersetzungs- und Wiederabdrucksrechte.

3 Vgl. etwa die beiden initialen Publikationen: Müller-Funk, Wolfgang / Plener, Peter / Ruthner, Clemens (Hg.): Kakanien revisited. Das Fremde und das Eigene (in) der österrei- chisch-ungarischen Monarchie. Tübingen, Basel: Francke 2002 (= Kultur – Herrschaft – Differenz 1); Feichtinger, Johannes / Prutsch, Ursula / Csáky, Moritz (Hg.): Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis. Innsbruck: StudienVerlag 2003.

4 Später aufgegangen im Institut für Kulturwissenschaft und Theatergeschichte der Öster- reichischen Akademie der Wissenschaften in Wien.

5 Siehe online unter www.kakanien.ac.at.

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Vorwort der Herausgeber 11

schen Reaktionen darauf besondere Aufmerksamkeit zukommt. Im letzten Teil unseres Sammelbands schließlich wird nach den „Nachwirkungen“ des vierzig Jahre langen österreichisch-ungarischen Intermezzos in Bosnien-Herzegowina bis zum heutigen Tag gefragt – also der longue durée in Denkformen und Prakti- ken im ehemaligen „Reichsland“, das sich nach dem traumatischen Krieg von 1992–95 aufs Neue in der Situation eines (EU-)Schutzgebiets wiedergefunden hat: Habsburgs ‘Dark Continent’?6

Wir freuen uns jedenfalls, dass wir für die Bearbeitung dieser Themen in- ternationale Expert(inn)en – aus den sog. Nachfolgestaaten der Habsburger Monarchie, aber auch weit darüber hinaus – gewinnen konnten; ihnen allen möchten wir an dieser Stelle unseren herzlichen Dank sowohl für ihren wert- vollen Beiträge als auch für ihre Geduld aussprechen. Weiters möchten wir Mag.

Martin Pammer, dem österreichischen Botschafter in Sarajevo, für sein großes Engagement danken,7 wie generell dem Außenamt (BMEiA) in Wien und der ÖKV Sarajevo für die Subvention und den Vertrauensvorschuss in Hinblick auf die Relevanz unseres Unterfangens. Komplementär dazu sei allen Leser(inne)n eine anregende Lektüre gewünscht und der Hoffnung auf Feedback, ja auf Fort- setzung dieser Diskussionen Aus druck verliehen: Viele der hier vorgebrachten Gedanken und Fallbeispiele verstehen sich als erste Skizzen und Denkanstöße, in denen vermutlich noch das Potenzial für etliche Detailstudien (Forschungs- projekte, Monografien, Dissertationen o. ä.) steckt.

Wien/Graz, im Sommer 2018

6 Vgl. Ruthner, Clemens: Habsburgs ‘Dark Continent’. Postkoloniale Lektüren zur impe- rialen österreichischen Literatur und Kultur im langen 19. Jh. Tübingen: Francke 2018 (= Herrschaft – Kultur – Differenz 23).- Dieser Monografie sind auch die (überarbeiteten) Beiträge von Clemens Ruthner zu diesem Sammelband entnommen.

7 Der von ihm initiierten und mitorganisierten Tagung Naša Bosna – Bečka škola vom 21. April 2016 an der Philosophischen Fakultät der Universität Sarajevo verdanken wir mehrere Beiträge zum vorliegenden Sammelband.

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INTRO

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(16)

Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie 15

Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie

Eine Einführung

Clemens Ruthner (Dublin/Ljubljana)

Riesige, undurchdringliche Wälder, Flüsse in breiten Tälern, Almen mit eckigen, strohbedeckten Bauernhäusern, leise plätschernde Springbrunnen in den Vorhöfen der Moscheen mit ihren schlanken Minaretten, kühn projektierte Brücken in gewalti- gen Bögen über grünklare Flüsse, trotzige Burgen und Klöster mit dem mattgoldenen Glanz ihrer Heiligenbilder – ein Stückchen Orient im Gebirge und in der Nachbar- schaft des Mittelmeers – das ist Bosnien-Herzegowina, kaum eine Halbtagsreise von Mitteleuropa entfernt!

Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts waren dies unwahrscheinlich rückständige und verwahrloste Provinzen, selbst dem Türkischen Reiche entfremdet und irgendwie unheimlich. Trotzdem wurden die Österreicher, als sie 1878 als Okkupanten kamen, keineswegs gut, sondern mit Mißtrauen empfangen. Dieses Mißtrauen wurde jedoch im Laufe der nächsten 40 Jahre abgebaut. Der Monarchie gelang es, durch eine vor- bildliche Administration[,] korrektes und gerechtes Verhalten und viel Geduld sowie durch technische Leistungen das Vertrauen der Bosnier immer mehr zu gewinnen.

Es war ein weiter Weg, der von den ehemaligen Insurgenten zu den treuesten Regi- mentern der k. u. k. Armee führte – er dauerte nur 40 Jahre, aber er war in seiner Art wunderbar. Als es 1918 zum endgültigen Zusammenbruch kam, der zur chaotischen Nachkriegslage führte, wurde von den Bosniern oftmals der österreichischen Ver- waltung mit leiser Wehmut gedacht, weil sie Recht und Ordnung garantiert hatte.1 Gleichsam in nuce fasst der Klappentext zu Ernests Bauers faktenreichem Buch Zwischen Halbmond und Doppeladler (1971) das gängige österreichische Populär- narrativ von der habsburgischen Besetzung (1878), Verwaltung und Annexion (1908) sowie dem Verlust Bosnien-Herzegowinas (1918) zusammen. Bauer listet hier nicht nur die gängigen topografischen, architektonischen und kulturellen Stereotypen auf, sondern führt in Folge noch andere narrative Operationen aus:

Nicht nur werden die Herzegowiner/innen aus dem Bild herausredigiert – es passiert ihnen nur allzu häufig, dass sie unter den Bosnier/inne/n subsumiert

1 Bauer, Ernest: Zwischen Halbmond und Doppeladler. 40 Jahre österreichische Verwal- tung in Bosnien-Herzegowina. Wien: Herold 1971, Umschlag.

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16 Clemens Ruthner

werden –, sondern auch die Ungarn als imperiale Partner der österreichischen Besatzung sind verschwunden. Vergessen wird ebenso, dass viele Soldaten, die Bosnien-Herzegowina 1878 besetzten, selber Südslawen waren. Dafür wird die Erfolgsgeschichte erzählt, wie aus rückständiger Wildnis ‘Zivilisation’ wird – so sehr, dass die neuen bosnischen Untertanen förmlich betrübt sind, als ihre Besatzer sie wieder verlassen.

Hier wird offenkundig die postimperiale Trauerarbeit jener, die der Herr- schaft verlustig gegangen sind, auf die Beherrschten rückprojiziert, ganz im Sinne von Svetlana Boyms Definition, wonach Nostalgie „a longing for a home that no longer exists or has never existed“ sei, „yet the moment we try to repair

‘longing’ with a particular ‘belonging’.“2 Heute ist dieses Narrativ freilich auch in Bosnien-Herzegowina durchaus anschlussfähig, gibt es doch dort die Flos- kel der Großeltern-Generation vom Švabo babo, dem netten „schwäbischen“ (=

‘deutschen’) Väterchen – Kaiser Franz Joseph? –, dem all die schönen k. u. k.

Gebäude, Bahnlinien, Straßen usw. im Land zu verdanken seien.

Bei dieser Familienaufstellung sei aber daran erinnert, was die früh ver- storbene amerikanische Germanistin Susanne Zantop in ihrer stimulierenden Arbeit zu Conquest, Family and Nation in Precolonial Germany, 1770–1880 über die Konstruktion von Liebes- und Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Zen- trum und Peripherie in den Narrativen der europäischen Imperien formuliert hat: jene „Kolonialfantasien“ seien häufig „stories of sexual conquest and sur- render, love and blissful domestic relations between colonizer and colonized, set in colonial territory, stories that made the strange familiar, and the familiar

‘familial’.“3 Ähnlich meint Sara Suleri in ihrem Buch The Rhetoric of English India (1997), koloniales Schreiben dekodiere „the colonized territory through the con- ventions of romance, reorganizing the materiality of colonialism into a narrative of perpetual longing and perpetual loss.“4 Damit erschließt sich einer kritischen Lektüre letztlich wohl auch die Nähe von Bauers naivem Narrativ zu kolonia- len Denkmustern und Diskursen; die Frage ist, ob diese aus der untersuchten Epoche von 1878–1918 stammen oder nachträglich hinzugefügt worden sind.

Als Konsequenz der sog. Postcolonial Studies ist nun in den Geschichts- und Kulturwissenschaften der letzten Jahrzehnte oft diskutiert worden, ob jener moderne europäische Kolonialismus als globales Phänomen des 19. und 20. Jahr- hunderts besser als Herrschaftskultur oder in Begriffen einer politischen Öko-

2 Boym, Svetlana: The Future of Nostalgia. New York: Basic Books 2001, p. 13.

3 Zantop, Susanne: Colonial Fantasies. Conquest, Family, and Nation in Precolonial Ger- many, 1770–1870. Durham, London: Duke University Press 1997, p. 4, vgl. auch p. 2.

4 Suleri, Sara: The Rhetoric of English India. Chicago: University of Chicago Press 1992, p. 10.

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Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie 17

nomie zu beschreiben sei.5 Mit den Worten der prominenten Kolonialhistoriker Laura Ann Stoler und Frederick Cooper:

To some, colonies were a domain of exploitation where European powers could extract land, labor, and produce in ways that were becoming economically less feasible and politically impossible at home. […] To others, colonies have marked a place beyond the inhibitions of the increasingly bourgeois cultures of Europe. […] Still other analyses have looked at colonies as laboratories of modernity, where missionaries, educators, and doctors could carry out experiments in social engineering without confronting the popular resistances and bourgeois rigidities of European society at home […].

Finally, a flood of recent scholars has located in the colonies the Other against whom the very idea of Europeanness was expressed […].6

Für welche Herangehensweise man sich auch entscheiden mag, handelt es sich beim historischen Kolonialismus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg um eine der sichtbarsten Auswirkungen eines zeitgenössischen Imperialismus kapita- listischer Prägung, der der Welt bis heute zwei Gesichter zeigt(e):7 Zum einen steht er für militärische Eroberung und Fremdherrschaft über Menschen ande- rer Ethnien bzw. Hautfarben, für Ungleichheit, Ausbeutung und paternalistische Identitätspolitiken im Zeichen der „Zivilisation“, aufoktroyiert auf der Basis la- tent oder manifest rassistischer Diskurse, die einen ‘faulen’, zurückgebliebenen Eingeborenen8 beschwören, den es zu zähmen und erziehen gilt. Zum anderen brachte der Kolonialismus aber auch moderne Infrastruktur und Öffentlichkeit,

5 Vgl. etwa Stoler, Ann Laura / Cooper, Frederick: Between Metropole and Colony. Ret- hinking a Research Agenda. In: diess. (Hg.): Tensions of Empire. Colonial Cultures in a Bourgeois World. Berkeley: U of California Pr. 1997, pp. 1–56, hier p. 4 u. 16.

6 Ibid., p. 5.

7 Zur Kolonialismus-Definition in Hinblick auf eine Abgrenzung von bzw. Kontextuali- sierung mit dem Imperialismus-Begriff vgl. Balandier, Georges: The Colonial Situation.

A Theoretical Approach [1951]. In: Wallerstein, Immanuel (Hg.): Social Change. The Co- lonial Situation. New York: Wiley 1966, pp. 34–81, hier p. 39 u.ff.; Arendt, Hannah: Ele- mente und Ursprünge totalitärer Herrschaft. Frankfurt/M.: EVA 1955, z. B. p. 309ff.; Said, Edward: Culture and Imperialism. New York: Knopf 1993. London et al.: Vintage/ Ran- dom House 1994; Osterhammel, Jürgen: Kolonialismus. Geschichte – Formen – Folgen.

München: C.H. Beck 1995, 32001 (= Wissen in der BR 2002), p. 26ff.; Reinhard, Wolfgang:

Kleine Geschichte des Kolonialismus. Stuttgart: Kröner 1996, 22008 (= KTG 475), p. 1;

Hodder-Williams, Richard: Colonialism. Political Aspects. In: Smelser, Neil J. / Baltes, Paul B. (Hg.): International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences. Vol. 4.

Amsterdam et al.: Elsevier 2001, pp. 2237–2240, hier p. 2237; Young, Robert J.C.: Empire, Colony, Postcolony. Chichester: Wiley Blackwell 2015, p. 59ff.

8 Vgl. etwa Alatas, Syed Hussein: The Myth of the Lazy Native. A Study of the Malays, Filipinos and Javanese from the 16th to the 20th century and its function in the ideology of colonial capitalism. London: F. Cass 1977.

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18 Clemens Ruthner

neue Produkte und Lebensstile ebenso wie Pressewesen,9 Bildungs- und Rechts- systeme, was für viele Kolonien den ersten Schritt in eine Zivilgesellschaft dar- stellte und es jenen „Verdammten dieser Erde“ (Frantz Fanon10) paradoxerweise ermöglichte, schlussendlich die Kolonialherrschaft gewaltsam oder auch fried- lich abzuschütteln.

Man könnte hier in Anlehnung an die Begrifflichkeit Horkheimers und Ador- nos11 von einer doppelten ‘Dialektik des Kolonialismus’ sprechen,12 in der einer- seits das vorgebliche Aufklärungs- und Reformprojekt der mission cilvilatrice13 (Rudyard Kiplings „White Man’s Burden“14) in Unterdrückung und langwierige Verwüstung der späteren Dritten Welt ausgeartet ist, dies aber andererseits nicht nur eine Selbstentfremdung dieser Regionen nach sich zieht, sondern auch einen wichtigen Schritt in Richtung Modernisierung und Dekolonialisierung darstellt.

Wie im Folgenden behauptet werden soll, zeigte die Habsburger Monarchie 1878–1918 Bosnien-Herzegowina beide Seiten dieses kolonialistischen15 Janus-

9 Zur gesellschaftlichen Dynamik, die mit der Einführung bzw. Duldung ‘eingeborener’

Massenmedien – der Schaffung von „bürgerlicher Öffentlichkeit (Habermas) – ausgelöst wird und letztendlich zur Dekolonisation beiträgt, vgl. etwa Kalpagam, Uma: Colonial Governmentality and the Public Sphere in India. In: Journal of Historical Sociology 15 (2002), nr. 1, pp. 35–58.

10 Vgl. Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde [1961]. Vorwort von Jean-Paul Sartre.

Übers. von Traugott König. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981, 142014 (= st 668).

11 Vgl. Horkheimer, Max/ Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente [1947]. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verl. 1988 (= FW 7404).

12 Dies geschieht freilich unter einem anderen Vorzeichen als bei Fieldhouse, D.K.: Colonia- lism 1870–1945. An Introduction. London: Weidenfeld & Nicolson 1981. Dieser schreibt:

„Ultimately the twin forces of imperial disillusionism and moral concern and colonial resentment and ambition fused to generate decolonization. This was the dialectic of co- lonialism as an historical phenomenon. In its beginnings was its end.“ (ibid., p. 49) 13 Zur „civilizing mission“ als zentraler Ideologie zur diskursiven Legitimierung des Ko-

lonialismus vgl. etwa Barth, Boris / Osterhammel, Jürgen (Hg.): Zivilisierungsmissio- nen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jh. Konstanz: UVK 2005; Mann, Michael:

„Torchbearers Upon the Path of Progress“. Britain’s Ideology of a „Moral and Material progress“ in India. In: Fischer-Tiné, Harald / Mann, Michael: Colonialism as Civilizing Mission. Cultural Ideology in British India. London, New York, Neu-Delhi: Anthem 2004, pp. 1–26. Conklin, Alice V.L.: A Mission to Civilize. The Republican Idea of Empire in France and West Africa, 1895–1930. Stanford: Standford Univ. Pr. 1997.- In Bezug auf Österreich-Ungarn vgl. Telesko, Werner: Colonialism without Colonies. The Civilizing Missions in the Habsburg Empire. In: Falser, Michael (Hg.): Cultural Heritage as Civili- zing Mission. From Decay to Recovery. New York, Wien: Springer 2015, pp. 35–48.

14 Eine online-Fassung von Kiplings gleichnamigem Gedicht von 1899 findet sich in eng- lischer und deutscher Sprache etwa unter www.loske.org/html/school/history/c19/

burden_full.pdf

15 Vgl. dazu auch Ruthner, Clemens: ‘K.u.k.Kolonialismus’ als Befund, Befindlichkeit und Metapher. Versuch einer weiteren Klärung. In: Feichtinger, Johannes et al. (Hg.): Habs-

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Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie 19

kopfes (gleichsam das „österreichische Antlitz in allen Formen“ ,16 um mit Karl Kraus zu sprechen). Dies soll nun in Form eines historischen Abrisses näher ausgeführt werden, an den analytische Überlegungen anschließen.

1. Zur Vorgeschichte der Okkupation Bosnien-Herzegowinas 1878 Die Motive, warum genau Österreich-Ungarn den halbherzigen Anschluss Bos- niens und der Herzegowina ans eigene Staatsgefüge plante und durchführte, werden bis heute disktiert und sind wohl zwischen den Zeilen der mantrahaft wiederholten k. u. k. „Friedens- und Kulturmission auf dem Balkan“ zu finden – dies umso mehr, als sich einem historischen Rückblick beide Optionen – ‘take it or leave it (to the Serbs)’ – als potenziell gleich katastrophal darbieten. Man tut wohl gut daran, auch hier mit Eric Hobsbawm das „Age of Empire“ in Europa als signifikante politische Handlungsfolie anzusehen, wie dies zum Beispiel die Historiker Arnold Suppan, Evelyn Kolb oder Robin Okey getan haben.17 Auch sonst weicht in der kanonisierten Geschichtsschreibung des späten 20. und frü- hen 21. Jahrhunderts das Narrativ von der Vorgeschichte der Okkupation 1878 nicht wesentlich von den Leitlinien ab, die die renommierte Balkanhistorikerin Barbara Jelavich und andere Forscher/innen vorgezeichnet haben:18

1875 brach auf dem Gebiet der „Europäischen Türkei“ – wie der Balkan da- mals häufig genannt wurde – eine Revolte gegen die osmanische Herrschaft aus; sie begann als Protest von unzufriedenen herzegowinischen Landpächtern

burg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis. Innsbruck: Studienver- lag 2003, pp. 111–128; online in: Kakanien revisited, www.kakanien.ac.at/beitr/theorie/

CRuthner3.pdf[2003]; bzw. Ders.: Habsburgs ‘Dark Continent ’. Postkoloniale Lektüren zur imperialen österreichischen Literatur und Kultur im langen 19. Jh. Tübingen: Francke 2018 (= Kultur – Herrschaft – Differenz 23), Kap. A1.

16 Kraus, Karl: Nachruf. In: Die Fackel, Nr. 501–507 v. 25.01.1919, pp. 1–120, hier p. 116 u.ff.

17 Vgl. Sup pan, Arnold: Zur Frage eines öster reichisch-ungarischen Imperialis mus in Südost euro pa. In: Wan druszka, Adam et al. (Hg.): Die Donaumonarchie und die süd- slawische Frage von 1848 bis 1918. Texte des ersten öster reichisch-jugoslawischen His- torikertreffens Gösing 1976. Wien: Verl. der ÖAW 1978, pp. 103–131; Kolm, Evelyn: Die Am bi tio nen Österreich-Ungarns im Zeital ter des Hochimperialismus. Frankfurt/M. et al.:

P. Lang 2001 (= EHHS 3: 900); Okey, Robin: Taming Balkan Nationalism. The Habsburg

‘Civili zing Mission’ in Bosnia, 1878–1914. Oxford: Oxford Univ. Pr. 2007, p. 220.

18 Vgl. Jelavich, Barbara: The Habsburg Empire in European Affairs, 1814–1918. Chica- go: McNally 1969 (European History Series), pp. 115 ff.; Dedijer, Vladimir/ Bozić, Ivan/

Ćirković, Sima/ Ekmečić, Milorad: History of Yugoslavia. Hg. v. Marie Long year, übers.

v. Kordija Kveder. New York et al.: McGraw-Hill 1974, pp. 393 ff.; Bérenger, Jean: L’Au- triche-Hongrie 1815–1918. Paris: A. Colin 1994; pp. 115 ff.; Hösch, Edgar: Geschichte der Balkanländer von der Frühzeit bis zur Gegenwart. Munich: C.H. Beck 2002, pp. 129 ff.;

u. a. Vgl. auch die Beiträge von Raymond Detrez und Martin Gabriel zum vorliegenden Sammelband.

(21)

20 Clemens Ruthner

gegen ihre muslimischen Grundherren, der rasch eskalierte, eine große Zahl von Opfern forderte und eine Flüchtlingswelle auslöste. Bald unterstützten Serbien und Montenegro den Aufstand, der sich bis 1876 bis Bulgarien ausbrei- tete. Ungeachtet der Tatsache, dass osmanische Truppen in den entbrennen- den Kämpfen schlußendlich siegreich blieben, ging der Konflikt auch mit einer innenpolitischen Krise der Hohen Pforte selbst einher, die einen mehrfachen Führungswechsel – sogar in Form eines Staatsstreichs – bewirkte.19

In Anbetracht der zunehmenden Instabilität des „kranken Manns am Bospo- rus“ und ehrgeizig imperialistischer russischer Pläne gab die Habsburger Mo- narchie die Tradition ihrer Balkanpolitik seit den Staatskanzlern Kaunitz und Metternich auf, die sich mit den Worten Mark Pinsons wie folgt beschreiben lässt: „(1) to keep Russian presence and influence to a minimum and (2) to maintain the status quo with the Ottoman adminis tration“.20 Es gibt Anzeichen für eine expansionistische Neuorientierung der österreichisch-ungarischen

„Orientpolitik“, die scheinbar nicht nur in Wiener Militär- und Hofkreisen um sich griff, sondern auch mit der Person eines key player verbunden ist, nämlich dem gemeinsamen Außenminister, Graf Gyula (Julius) Andrássy (1823–1890).21

1877, während des Russisch-Türkischen Kriegs, der eine weitere Folge des Konflikts von 1875/76 war, erklärte Österreich-Ungarn seine Bereitschaft zu einer wohlwollenden Neutralität gegenüber dem Zarenreich; als Gegenleistung boten die Russen Bosnien-Herzegowina der Habsburger Monarchie an.22 Diese Vereinbarung fand freilich nicht am 3. März 1878 Eingang in den Friedensver- trag von San Stefano. Da jedoch die dort getroffenen Abmachungen zur territo- rialen Neuorganisation der Region (z. B. das Entstehen eines großbulgarischen Staates) die europäischen Großmächte nicht wirklich befriedigten, wurde für 13. Juni des selben Jahres der Kongress von Berlin einberufen, der die Frage der Balkan-Grenzziehungen aufs Neue diskutieren sollte. Eines der bedeutendsten Resultate dieser Verhandlungen war, dass das Osmanische Reich die Verwaltung

19 Vgl. Jelavich 1969, pp. 115–120.

20 Pinson, Mark: The Mus lims of Bosnia-Herzegovina. Their Historic Deve lop ment from the Middle Ages to the Dissolution of Yugoslavia. Cambridge MA: Harvard Univ. Pr. 1994, p. 86.

21 Vgl. etwa Kos, Franz-Josef: Ein Plan österreichischer Militärs zur Erwerbung Bosniens und der Herzegowina (1869). In: Österreichische Osthefte 34 (1992), pp. 36–53; Haselstei- ner, Horst: Bosnien-Herzegowina: Orientkrise und die südslawische Frage. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1996 (= IDM Book Series 3), pp. 9–30; Kolm 2001, p. 105f.; außerdem Wert heimer, Eduard von: Graf Julius Andrássy. Sein Leben und seine Zeit. Vol. III. Stutt- gart: DVA 1913.

22 Dedijer et al. 1974, p. 396; Hösch 2002, pp. 132 ff.; Haselsteiner 1996, pp. 15 ff.; Jelavich, Barbara: History of the Balkans. 2 vol. Cambridge: Cambridge Univ. Pr. 1983, p. 59; Do- nia, Robert J.: Islam under the Double Eagle. The Muslims of Bosnia and Hercegovina, 1878–1918. New York: Columbia Univ. Pr. 1981, pp. 8 ff.

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Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie 21

Bosniens und der Herzegowina auf Antrag des britischen Unterhändler Lord Salisbury an Österreich-Ungarn abtreten musste. Artikel 25 des Berliner Ver- trags formulierte am 13. Juli 1878:

The Provinces of Bosnia and Herzegovina shall be occupied and administered by Austria-Hungary. The Government of Austria-Hungary, not desiring to under take the administration of the Sandjak of Novi-Pazar, which extends between Servia and Monte negro in a south-easterly direction to the other side of Mitro vit za, accepts the Ottoman Ad mi nistration will continue to exercise its functions there. Never the less, in order to assure the maintenance of the new political state of affairs, as well as free- dom and se curity of communications, Austria-Hungary re serves the right of keeping garrisons and having military and commercial roads in the whole of this part of the ancient Vilayet of Bosnia. To this end the Govern ments of Austria-Hungary and Tur- key reserve to themselves to come to an under standing on the details.23

Dies ist das vage und vorläufige Verhandlungsergebnis von Berlin, das sich vor allem konkreter Zeitvorgaben über die Dauer der Fremdadministration Bosnien-Herzegowinas, aber auch jeder Angabe über künftige Konsequenzen enthält. Im charakteristisch launigen Stil des britischen Habsburg-Historikers A.J.P. Taylor liest sich diese für den österreichisch-ungarischen Außenminister aporetische no-win situation wie folgt:

Russia had constantly pressed them on Austria-Hungary, to tempt her into setting the example of partition. For this reason Andrássy had tried to avoid the offer; on the other hand, he [= Andrássy, CR] could still less afford their union with the Slav state of Serbia. At the Congress of Berlin he squared the circle.24

Richard Georg Plaschka beschreibt das diplomatische Tauziehen als prélude der gewaltsamen militärischen Besetzung Bosnien-Herzegowinas als Strategiespiel der beteiligten Länder:

Bismarck konnte für Deutschland mit Distanz agieren, hat die Rolle des proponierten

‘ehrlichen Maklers’ zu erfüllen versucht, seine Neigung zu Rußland und dessen Zaren nicht unterdrückt, sein Verständnis in bezug auf Bosnien und Hercegovina deutlich gemacht. Großbritannien, bemüht um Wahrung und Steigerung seiner Position im 23 Zit. n. Israel, Fred L. (Hg.): Major Peace Treaties of Modern History, 1648–1967. New York: Chelsea House 1967, p. 985.- Zur österr.-ungar. Präsenz im Sandschak von No- vipazar vgl. Scheer, Tamara: „Minimale Kosten, absolut kein Blut“. Österreich-Ungarns Präsenz im Sandschak von Novipazar (1879–1908). Frankfurt/M. et al.: P. Lang 2013 (=

Neue Forschungen zur ostmittel- und südosteuropäischen Geschichte 5).

24 Taylor, A.J.P.: The Habsburg Monarchy 1809–1918. A History of the Austrian Empire and Austria-Hungary [1948]. Harmondsworth: Penguin 1990, p. 166; vgl. Sugar, Peter F.: Industriali zation of Bosnia-Herzegovina, 1878–1918. Seattle: Univ. of Washington Pr.

1963, p. 20ff.

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22 Clemens Ruthner östlichen Mittelmeer, geriet zum härtesten Gegenspieler Rußlands, erwog ein bri- tisch-türkisches Bündnis, zog geschickt wie heimlich – schon vor dem Kongreß – Fäden in Richtung seines Zugriffs auf Zypern, unterstützte aber ebenfalls und voran- gehend die Intentionen Österreich-Ungarns. Frankreich, zurückhaltend operierend, nahm in Anspruch, die Rechte der Christen im Orient als Schutzmacht zu vertreten, wahr, hatte noch die offene Fragen seiner Aspirationen auf Tunis mit zu berücksich- tigen. Italien erwies sich, um seine Machtsphären-Absichten in Richtung Albanien zu realisieren, als zu wenig vorarbeitend und durchsetzungsfähig. Österreich-Ungarn machte seine Wünsche in Richtung Bosnien-Hercegovina ebenso umsichtig wie nach- drücklich deutlich.25

Barbara Jelavich indes fokussiert in ihrem Narrrativ ganz auf Andrássys wenig triumphale Rückkehr aus Berlin:

Despite these great gains Andrássy did not receive a triumphant welcome home.

Francis Joseph among others did not like the terms of the occupation of Bosnia and Hercegovina. He would have preferred a direct annexation. In contrast, the Magyar leaders were displeased with the acquisition of more Slavic peoples in the Em pire.26 Der französische Historiker Jean Bérenger schließlich detailliert noch mehr die Konsequenzen von An d rássys ‘Erfolg’, den er eher als Pyrrhus-Sieg ansieht:

Elle [= l’occupation, CR] provoqua des manifestations en Hongrie. L’opinion suiv- ait avec méfiance la politique russo phile d’Andrássy, qui n’était justifiée que par le maintien du status quo dans les Balkans; le renforcement des petits États bal ka niques et l’occupation de la Bosnie rompaient cet équilibre. Elles heurtaient les senti ments turcophiles des Hongrois et surtout l’occupation de la Bosnie accroissait le nombre de Slaves à l’intérieur de la monarchie, tandis que la gauche manifestait son hosti- lité à une guerre de conquête, qui coûta de nombreuses vies humaines. Les libér aux autri chiens manifestèrent également leur désaccord à l’égard d’une opéra tion jugée ruineuse et inutile. Elle contribua à la chute du cabinet libéral Alfred Auersperg car François-Joseph n’aimait pas que l’on empiétât sur son domaine ré servé.27

Diese anzitierten Textbeispiele könnten in einer von Hayden White28 beeinfluss- ten Meta-Optik illustrieren, wie das historiografische Narrativ zur Vorgeschich-

25 Plaschka, Richard Georg: Avantgarde des Widerstands. Modellfälle militärischer Aufleh- nung im 19. und 20. Jahrhundert. 2 Bde. Wien, Köln, Graz: Böhlau 2000 (= Studien zu Politik und Verwaltung 60/I+II), vol 1, p. 88.

26 Jelavich 1969, p. 122.- Zur Haltung Ungarns vgl. auch den Beitrag von Imre Ress zum vorl. Sammelband.

27 Bérenger 1994, p. 117.

28 Vgl. White, Hayden: Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth Century Eu- rope. Baltimore et al.: Johns Hopkins University Press 1973 [dt.: Metahistory: Die histo- rische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt/M.: Fischer 1991]; Ders.:

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Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie 23

te der Okkupation Bosniens und Herzegowina 1878 zwischen Personifikation (Andrássy als glo bal player) und Metonymie (die Staaten bzw. die politischen

‘Kräfte’) oszilliert. In seinen grundlegenden Zügen ist das Narrativ freilich ent- weder identisch bei den meisten konsultierten Historiker/inne/n oder zumin- dest kompatibel mit den existierenden anderen Versionen.29

2. Gründe, Bosnien-Herzegowina (nicht) zu besetzen, und die Entwicklung des Gebiets von 1878–1914

[…] ein fruchtbares, geordnetes Land, ein Absatzgebiet für unsere Industrie, ein Gebiet für den Schaffensgeist unserer Unternehmer; die Sicherung eines strategisch unent- behrlichen Gebietes für die Sicherheit unserer Monarchie gegen Süden vom Meere und vom Lande her.30

Während sich die Vorgeschichte der k. u. k. Okkupation Bosniens und der Her- zegowina 1878 bei den konsultierten Forscher/inne/n ziemlich konsistent aus- nimmt, sind die unmittelbaren Beweggründe für diese letzte – und letztlich fatale – territoriale Expansion der Habsburger Monarchie vor dem Ersten Welt- krieg weniger eindeutig; üblicherweise werden in der Geschichtsschreibung drei Motive genannt, hinter denen allesamt ein imperialistischer Bezugsrahmen sichtbar wird:

1. Strategische Gründe. Hier wird angenommen, dass Österreich-Ungarn den Bedarf verspürte, sein gefährdetes Kronland Dalmatien durch die militäri- sche und infrastrukturelle Besetzung des bosnisch-herzegowinischen Hin- terlands zunächst gegen das Osmanische Reich und später gegen den Pan- slawismus bzw. serbische Expansionsgelüste abzusichern31 – wozu schon

Tropics of Discourse. Essays in Cultural Criticism. Baltimore: Johns Hopkins University Press 1978 [dt.: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Stuttgart: Klett Cotta 1991].

29 Vgl. auch den Beitrag von Raymond Detrez zum vorl. Sammelband.

30 Spaits, Alexander: Der Weg zum Berliner Kongress. Historische Entwicklung Bosniens und der Herzegowina bis zur Okkupation 1878. Illustriert von Otto Gstöttnek. Wien, Leipzig: C.W. Stern 1907 (= Unsere Truppen in Bosnien und der Herzegowina 1878. Ein- zeldarstellungen I), p. 94.

31 Vgl. Sugar 1963, pp. 20 ff.; Jelavich 1983, p. 59; Haselsteiner 1996, pp. 16 ff. Malcolm, Noel:

Bosnia. A Short History. New York: NYU Pr. 1994; Pan Macmillan 1996, 2002, p. 136; De- trez, Raymond: Reluctance and Determination. The Prelude to the Austro-Hungarian Oc- cupation of Bosnia-Herzegovina in 1878. In: Ruthner, Clemens et al. (Hg.):WechselWir- kungen. Austria-Hungary, Bosnia-Herzegovina, and the Western Balkans, 1878–1918.

New York et al.: P. Lang 2015 (= Austrian Culture Series 41), pp. 21–40, hier p. 22.

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24 Clemens Ruthner

Feldmarschall Radetzky 1856 und Admiral Tegetthoff 1869 geraten hatten.32 Diese Motivation erwies sich jedoch durch die bereits damals absehbare Tat- sache geschwächt, dass ein slawischer Bevölkerungszuwachs von mehr als einer Million Menschen die bereits existierenden ethnischen Spannungen im Habsburger Reich nur verstärken würde.33 (Überliefert sind hier etwa die geflügelten Worte des ungarischen Ministerpräsidenten Kálmán Tisza, man müsse „zwischen den beiden Übeln das kleinere wählen“.34)

2. Wirtschaftliche Gründe. Bosnien-Herzegowina beherbergt(e) große Lager- stätten an Kohle, Eisenerz und anderen Metallen (deren Ausbeutung erst in Titos zweitem Jugoslawien in Angriff genommen werden sollte). Dieser Reichtum an Bodenschätzen brachte Historiker wie Bérenger35 dazu, gewisse ökonomische Interessen hinter Österreich-Ungarns Invasionsplänen anzu- nehmen. In Anbetracht der zur Verfügung stehenden Quellen ist es jedoch generell schwierig festzustellen, inwiefern dieses Motiv – zusammen mit der Gewinnung eines neuen Absatzmarktes – 1878 tatsächlich eine große Rolle spielte.36 Andererseits werden die „Naturschätze“ des Landes in den Schlussbemerkungen zum Operationsbericht des Okkupationsfeldzugs ex- plizit erwähnt.37

32 Vgl. Spaits 1907, p. 83; Fournier, August: Wie wir zu Bosnien kamen. Eine historische Studie. Wien: Reisser 1909, p. 5.

33 Vgl. Sugar 1963, p. 26; Pinson 1994, p. 119; Malcolm 1996, p. 136.

34 Wertheimer 1913, p. 144.

35 Bérenger 1997, p. 255; vgl. Malcolm 1996, p. 136; Kolm 2001, pp. 18 f., 105 f., 244 ff.

36 Dies wird etwa von Robin Okey 2007, p. 17, bestritten.- Die Behörden Österreich-Un- garns waren später äußerst zurückhaltend mit Subventionen und verfügten einerseits, dass die besetzten Gebiete sich von ihrem eigenen Einkünften zu finanzieren hätten (vgl.

dazu etwa Džaja, Srećko M.: Bosnien-Herzegowina in der österr.-ungarischen Epoche (1878–1918). Die Intelligentsia zwischen Tradition und Ideologie. München: Oldenbourg 1994 (= Südosteurop. Arbeiten 93, p. 235); auf diese Weise kamen keine großen Staats- investitionen für die Wirtschaftsentwicklung zustande – außer für den Eisenbahnbau.

Zum Anderen waren weder die neu geschaffene k. u. k. Bergwerksbehörde noch die Bos- na-Bergbaugesellschaft selbst in der Lage, die örtlichen Bodenschätze konsequent und umfassend zu erschließen; auch der Informationsfluss mit privaten Investoren funkti- onierte nicht wirklich. Details bei Sugar 1963, pp. 105 ff., 159 ff.; vgl. weiters Malcolm 1996, p. 141; Wessely, Kurt: Die wirtschaftliche Entwicklung von Bosnien-Herzegowina.

In: Wandruszka, Adam / Urbanitsch, Peter (Hg.): Die Habs burger monarchie 1848–1918.

Wien: ÖAW 1973–1989, vol. 1, pp. 528–566; Lampe, John / Jackson, Marvin: Balkan Eco- nomic History 1550–1950. From imperial borderlands to developing nation. Blooming- ton: Indiana Univ. Pr. 1982, pp. 264–322.

37 Abtheilung für Kriegsgeschichte des k. k. Kriegsarchivs: Die Occupation Bosniens und der Hercegovina durch k. k. Truppen im Jahre 1878. Nach authentischen Quellen darge- stellt. Wien: Verlag des k. k. Generalstabes/ W. Seidel 1879, p. 908. Ebenso finden sie auch in einer Denkschrift von Graf Burián, einem der ehem. k. u. k. Gouverneure des Gebiets,

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Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie 25

3. Territoriale Expansion. Diese Argumentation geht davon aus, dass nach den erlittenen Niederlagen und Gebietseinbußen von 1859 bzw. 1866 und der Gründung des deutschen Kaiserreichs 1871 die einzig verbleibende Mög- lichkeit zu einem (kompensatorischen?) Gebietszuwachs für die Habsburger Monarchie im Südosten des Kontinents lag, d. h. in den Rückzugsgebieten des niedergehenden Osmanischen Reichs.38 Andere Großmächte nahmen eine ähnliche Haltung gegenüber dem „kranken Mann Europas“ ein, was von den meisten Historiker/inne/n gemeinhin mit dem Etikett des Kolonialismus versehen wird: so etwa die Usurpation von Tunis durch Frankreich 1881 und von Ägypten durch Großbritannien 1882.39

Allerdings standen auch mögliche finanzielle Nachteile auf der Kostenseite den geopolitischen Vorteilen einer Okkupation gegenüber. Der austro-amerikani- sche Historiker Robert A. Kann schreibt dazu:

In financial sense the acquisition was considered not only no gain but a definite loss […]. Occupation was considered the lesser of two evils. It would mean bad busi ness economically but it might offer some relief against the threat of Balkan nationalism and Russian-inspired Panslavism.40

Neben einer Zunahme der Ausgaben des k. u. k. Reiches sowie seiner südsla- wischen Bevölkerung (aus letzterer sollten kroatische Herrschaftsansprüche im Sinne eines angestrebten „Trialismus“ ebenso erwachsen wie großserbi- scher Nationalismus41), darf der Faktor nicht unterschätzt werden, dass mit der Okkupation Bosnien und der Herzegowinas zum ersten Mal in der habs- burgischen Geschichte eine signifikante muslimische Gemeinschaft Teil der österreichisch-ungarischen Gesellschaft und Kultur wurde.42 Diese neue Be- völkerungsgruppe bestand keineswegs aus einigen Konvertiten, sondern um- fasste die regionalen Eliten: Landbesitzer, osmanische Funktionäre, Kleriker und die Intelligenzija sowie etliche Kaufleute.43 Durch dieses Setting waren die in Bosnien-Herzegowina zunehmend ethnisierten religiösen Differenzen eng

Erwähnung; vgl. Burián, Stephan Graf: Drei Jahre aus der Zeit meiner Amtsführung im Kriege. Berlin: Ullstein 1923, p. 223.

38 Vgl. Pinson 1994, p. 87; Sugar 1963, p. 20; Plaschka 2000, vol I, p. 89.

39 Vgl. Hösch 2002, p. 137.

40 Kann, Robert A.: Trends To wards Colonialism in the Habsburg Empire, 1878–1918. The Case of Bosnia-Herze govina, 1878–1914. In: Rowney, D.K./ Orchard, G.E. (Hg.): Russian and Slavonic Hi story. Columbus OH: Sla vica Pub l. 1977, pp. 164–180, hier p. 168.

41 Vgl. Jelavich 1983, p. 60.

42 Vgl. Pinson 1994, p. 9.

43 Vgl. Donia 1981; Pinson 1994; Neweklowsky, Gerhard: Die bosnisch-herzegowinischen Mus li me. Geschichte, Bräuche, Alltagskultur. Unter Mitarbeit v. Besim Ibišević and Žarko Bebić. Klagenfurt, Salzburg: Wieser 1996 (= Austrian-Bosnian Relations 1).

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26 Clemens Ruthner

mit sozialer Hierarchie verflochten, zumal die Mehrheit der freien Bauern und abhängigen Landpächter (kmetovi) christlichen Glaubens war, also entweder der orthodoxen oder der katholischen Kirche angehörten.44 Auf diese Weise waren alle Eingriffe der österreichisch-ungarischen Behörden in dieses problematisch spätfeudale Netzwerk religiöser, kultureller und sozialer Differenzen von vorn- herein heikel.

Auf der anderen Seite war die militärische Invasion Bosnien-Herzegowinas im Sommer und Herbst 1878 keineswegs jener friedliche „Parademarsch“, den Außenminister Andrássy der k. u. k. Armee vorausgesagt hatte;45 vielmehr han- delte es sich um einen blutigen Eroberungsfeldzug, der von osmanischen Trup- penresten und eilig aufgestellten lokalen Milizen der Bevölkerung heftig be- kämpft wurde und so eine viel größere Truppenmobilisierung als ursprünglich geplant nötig machte.46 Erst nach drei Monaten kriegerischen Konflikts, mehre- ren tausend Toten und zigtausenden Flüchtlingen war die Okkupation zu Ende (von ihr wird im Folgenden noch im Detail die Rede sein47).

Nach dem Schweigen der Waffen sollte jedenfalls die k. u. k. „Friedens- und Kulturmission“, von der am Berliner Kongress die Rede war, in Angriff genom- men werden. Der Kommandant der Invasionstruppen, Feldzeugmeister Phi- lippovich von Philippsberg, wurde Ende Oktober 1878 (wegen seiner großen Feindseligkeit den bosnischen Muslimen gegenüber) abgesetzt und durch einen seiner Unterführer, den Herzog von Württemberg, ersetzt.48 Nachdem 1881 die Besatzungsmacht noch einmal durch Aufstände in der Herzegowina in Bedräng- nis gekommen war,49 wurde 1882 anstelle der Militärverwaltung eine Ziviladmi- nistration via das k. u. k. Gemeinsame Finanzministerium eingesetzt,50 die sich in

44 Vgl. Pinson 1994, p. 117f.

45 Vgl. Wertheimer 1913, p. 153.- „Nicht unerwähnt mag hierbei bleiben“, schreibt einer der Veteranen im Rückblick, „daß die Besitzergreifung der Herzegowina, bei uns offiziell euphemistisch Okkupation genannt, keineswegs ein bewaffneter Spaziergang war, son- dern einen harten Kampf darstellte“; es sei wohl wegen der erlittenen Verluste adäquater,

„von einer Eroberung […] zu sprechen“ (Woinovich, Emil v.: In der Herzegowina 1878.

Skizzen, zusammengestellt von FML E. v. W. Wien, Leipzig: C.W. Stern 1908, p. 2).

46 Pavlowitch, Stevan K.: A History of the Balkans, 1904–1945. London, New York: Long- man 1999, p. 116.- Militärische Details dazu finden sich u. a. in Militaria Austriaca 12 (1993), dem militärhistorischen Periodikum des österreichischen Bundesheeres.

47 Vgl. meinen Beitrag Besetzungen (1) zum vorl. Sammelband, der eben diesen Okkupa- tionsfeldzug zum Gegenstand hat.

48 Vgl. Wertheimer 1913, p. 101f.

49 Vgl. dazu z. B. Jelavich, Charles: The Revolt in Bosnia-Hercegovina, 1881–82. In: Slavonic and East European Review [London] 31 (1953), pp. 420–436; Kapidžić, Hamdija: Der Auf- stand in der Hercegovina im Jahre 1882. Graz: Historisches Inst. der Univ. 1972 (= Zur Kunde Südosteuropas, Bd. 1/2).

50 Vgl. Juzbašić, Dževad: Die österreichische Okkupationsverwaltung in Bosnien-Herze- gowina. Einige Aspeket der Beziehungen zwischen den Militär- und Zivilbehörden. In:

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Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie 27

weiterer Folge eine grundlegende Modernisierung des Landes auf ihre Fahnen schrieb. Federführend, einschneidend und prägend für Bosnien-Herzegowina war hier vor allem der ungarische Reichsfinanzminister Benjamin von Kállay (eigentlich Béni Kállay de Nagy-Kálló ), der erste Gouverneur der besetzten Ge- biete von 1882 bis zu seinem Tod 1903.51 Rückblickend schreibt sein – ebenso ungarischer – Nachfolger Stephan (István) Graf Burián, 1923:

Die ersten Jahre der Okkupation galten der Erschließung des Landes sowie der Her- stellung geordneter materieller Verhältnisse und des konfessionellen Friedens. Dann folgte die Schaffung eines verläßlichen Verwaltungsapparates, eines Straßen- und Eisenbahnnetzes, geordneter Finanzen, eines geeigneten Schulwesens, Regelung der komplizierten Grundbesitzverhältnisse auf Grund der bestehenden Rechtsverhält- nisse, Ausarbeitung eines Katasters, Beginn der rationellen Ausnützung der reichen Bodenschätze des Landes durch Einrichtung moderner Industriebetriebe.52

Als eine von vielen Stimmen zum Thema schreibt Burián weiter, die k. u. k.

Verwaltung habe „sich durch ihre Leistungen im Lande zu Ansehen gebracht, wenngleich sie in den Augen der Bevölkerung immerfort als Fremdherrschaft galt“.53 Allerdings sei sie nichts anderes als das „Weiterschleppen eines Über- gangsregimes“ gewesen.54

Das staats- und völkerrechtliche Provisorium der Okkupationszeit ging erst 1908 zuende, als Bosnien und die Herzegowina schließlich von der Habsburger Monarchie annektiert wurden, was aufgrund der dadurch provozierten interna- tionalen Spannungen und Proteste55 beinahe dazu führte, dass der große Krieg

Priloga [Sarajevo] 34 (2005), pp. 81–112.

51 Zu Kállays Regime bzw. zur österr.-ungar. Herrschaft im Allgemeinen vgl. etwa Donia, Robert J.: The Proximate Colony. Bosnia-Herzegovina under Austro-Hungarian Rule.

In: Kakanien revisited, http://www.kakanien-revisited.at/beitr/fallstudie/ RDonia1.pdf (2007). Reprint in: In: Ruthner, Clemens et al., 2015 pp. 67–82; Babuna, Aydin: The Story of Bošnjaštvo. In: ibid., pp. 123–128; Sethre, Ian: The Emergence and Influence of Natio- nal Identities in the Era of Moderni zation. Nation-Building in Bosnia and Herzegovi- na, 1878–1914. In: Kakanien revisited, www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/ISethre1.pdf (2004). Reprint in Ruthner et al. 2015, pp. 41–66; Kraljačić, Tomislav: Kalajev režim u Bosni i Hercegovini, 1882–1903. Sarajevo: Veselin Masleša 1987 ‒ Donias Beitrag ist auch im vorl. Sammelband abgedruckt.

52 Burián 1923, p. 219.

53 Ibid., p. 220.

54 Ibid., p. 221.

55 Leo Tolstoi etwa klagt den Imperialismus der Annexion mit folgenden Worten an: „Die österreichische Regierung hat beschlossen, die Völker Bosniens und der Herzegowina, die bis zur letzten Zeit Österreichs Oberherrschaft noch nicht in vollem Maße anerkann- ten, als ihre Untertanen zu erklären, mit anderen Worten, sie nahm sich das Recht, ohne die Einwilligung dieser Völker, über die Erzeugnisse und über das Leben von einigen hunderttausend Menschen zu verfügen.“ (Tolstoi, Leo [Lev] N.: Die Annexion Bosniens

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28 Clemens Ruthner

von 1914 vorzeitig ausgebrochen wäre. Zugleich nehmen sich die Resultate je- ner „Friedens- und Kulturmission“ in Bosnien-Herzegowina, die sich die Dop- pelmonarchie bei der Okkupation 1878 auf ihre Fahnen geschrieben hatte, auch in dieser Spätphase wenig überzeugend aus. Die politischen Spannungen in den annektierten Gebieten nahmen als Folge (zivil)gesellschaftlicher Modernisie- rung eher zu als ab, 1906 kam es etwa zu einem Generalstreik, 1910 zu einer Bau- ernrevolte, und die Zustände wurden generell mehr und mehr „unhaltbar“.56 So sind denn auch – ironischerweise, trotz und wegen aller k. u. k. ‘ Kulturarbeit’ – am 28. Juni 1914 jene beiden Pistolenschüsse auf den österreichischen Thronfol- ger Franz-Ferdinand und seine Frau Sophie, die später zum Auftakt des Ersten Weltkrieg stilisiert werden sollten, nicht zufällig in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo abgefeuert worden.57

Nach einem Intermezzo von Ausnahmezustand, Kriegsrecht und Krieg brach- te der Zusammenbruch der Monarchie im Herbst 1918 schließlich auch das Ende der habsburgischen Herrschaft über Bosnien-Herzegowina mit sich; dieses wurde in den neu gegründeten südslawischen Staates der Serben, Kroaten und Slowenen („SHS“) eingegliedert, der sich später Jugoslawien nennen sollte, und – nach einem zweiten Anlauf 1945–1991 – selbst zu den untergegangenen Vielvölkerstaaten Europas zählt.

3. ‘K. u. k. colonial’: zeitgenössische und heutige Zuschreibungen Das habsburgische Intermezzo in Bosnien-Herzegowina 1878–1918 hat in der imperial-österreichischen Literatur jener Zeit erstaunlich wenig Niederschlag gefunden – ungeachtet der großen Exotik der neuen Gebiete, die die Reisebe- richte immer wieder hervorheben.58 Dennoch ist auch in den wenigen Texten literarischer Autoren, in denen Bosnien-Herzegowina überhaupt vorkommt, ein gewisser kolonialer Ton nicht überhörbar. So schreibt etwa Franz Kafka in

und der Herzegowina. Übers. v. Edmund Rot. Berlin: H. Walther 1909, p. 6) Die Habsbur- ger Monarchie sei damit „eins von diesen Räubernestern, das immer mehr und mehr die Herrschaft über hunderttausende ihm völlig fremder Menschen slavischen Stammes an sich reißt […]“ (ibid., p. 7).

56 Calic, Marie-Janine: Geschichte Jugoslawiens im 20. Jh. München: C.H.Beck 2010, p. 48.- Einen gut brauchbaren, detaillierten Gesamtüberblick über die 40 Jahre der österr.-ungar.

Herrschaft gibt Okey 2007.

57 Hier gibt es Kommentatoren, die das Entstehen einer radikalen Schüler- und Studenten- schaft durch das Bildungssystem des Besatzers auch als kolonialen Zug der Geschichte Bosniens verstehen, vgl. etwa Okey 2007, p. 136.- Zum Sarajevoer Attentat vgl. auch Preljević, Vahidin / Ruthner, Clemens (Hg.): The ‘Long Shots’ of Sarajevo 1914. Ereignis – Narrativ – Gedächtnis. Tübingen: Francke 2016 (= Kultur Herrschaft Differenz 22).

58 Vgl. dazu Sirbubalo 2012 und Ruthner 2018, insbes. Teil C.3.

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Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie 29

einem Brief an Felice Bauer vom 27. Oktober 1912, in dem er sich angesichts der bevorstehenden Niederlage des Osmanischen Reiches in den Balkankriegen nachdenklich gibt: „[…] die Türken verlieren, was mich dazu bringen könnte, als ein falscher Prophet nicht nur für Soldaten, sondern für alles den Rückzug zu predigen (es ist auch ein schwerer Schlag für unsere Kolonien) […]“.59

Auch a posteriori ist immer wieder die Frage gestellt worden, inwieweit sich die 40 Jahre österreichisch-ungarischer Präsenz in Bosnien-Herzegowina, die sich im Selbstbild gerne als Erfolgsgeschichte einer selbst auferlegten „Zivili- sierungs-“ und „Europäisierungs“ mission präsentiert, innerhalb des Paradig- mas – und Erbes – des europäischen Kolonialismus um 1900 zu sehen ist. In den letzten 15 Jahren haben nun verschiedene Forscher/innen – nicht nur jene des Kakanien-revisited-Netzwerks60 – die Übertragbarkeit eines ‘post/koloni- alen’ Zugangs auf das habsburgische Zentraleuropa diskutiert, gleichsam als dritten Weg, um den diskursiven Fallen des „Habsburgischen Mythos“61 bzw.

der mit ihm einhergehenden Multikulti-Nostalgie („Viribus unitis“) und dem na- tionalistischen Opfer-Narrativ („Völkerkerker“) gleichermaßen auszuweichen.

Dabei dürfte auch, wie dies verschiedentlich bereits in früheren Publikationen angedacht wurde,62 Bosnien-Herzegowina unter allen Territorien des k. u. k. Im- periums ein Gebiet sein, das sich einfach als Kolonie im engeren Sinne ansehen ließe – wobei es bei Behauptungen dieser Art zwischen einer polemischen, einer kritischen und einer affirmativen Variante zu unterscheiden gilt.

Der Kolonialismus-Vorwurf in Bezug auf die Habsburger Monarchie wurde bereits im ersten jugoslawischen Staat etwa vom Historiker Vladimir Čorović, einem bosnisch-serbischen Zeitzeugen der k. u. k. Zustände, erhoben.63 Dieser auch später wiederholten Kritik wurde jedoch immer wieder – meist wegen

59 Kafka, Franz: Briefe 1900–1912. Hg. von Hans-Gerd Koch. Frankfurt/M.: S. Fischer 1999 (= Schriften Tagebücher Briefe. Krit. Ausg. hg. von Gerhard Neumann u. a.), p. 192.- Mit seiner Strafkolonie ist Kafka im Übrigen auch einer der wichtigsten post/kolonialen der deutschsprachigen Literatur; vgl. Ruthner 2018, Kap. A.0.

60 Vgl. die diversen einschlägigen Beiträge im Webjournal www.kakanien.ac.at.

61 Vgl. Magris, Claudio: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur [1966].

Übers. von Madeleine v. Pastory. Wien: Zsolnay 32000; Cole, Laurence: Der Habsbur- ger-Mythos. In: Brix, Emil et al. (Hg.): Memoria Austriae I. Menschen, Mythen, Zeiten.

Wien: Böhlau 2004, pp. 473–504.

62 Vgl. etwa Müller-Funk, Wolfgang / Plener, Peter / Ruthner, Clemens (Hg.): Kakanien revisited. Das Fremde und das Eigene (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie.

Tübingen, Basel: Francke 2002 (= Kultur – Herrschaft – Differenz 1); Hárs, Endre / Reber, Ursula / Ruthner, Clemens (Hg.): Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Ös- terreich-Ungarn, 1867–1918. Tübingen: Francke 2006 (= Kultur – Herrschaft – Differenz 9); Donia 2015; Ruthner et al. 2015.- Für eine eingehendere Diskussion vgl. Ruthner 2003 bzw. Ruthner 2018, Kap. A.1.

63 Vgl. Čorović, Vladimir: Bosna i Hercegovina. Belgrad: Grafički zavod ‘Makarije’ 1925.

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