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Katrin Gillwald

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Academic year: 2022

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Hof&iungsträger Ost - Entwicklungsdynamik und Entwicklungsperspektiven im Berliner

Umland aus der Sicht von neuen Führungskräften

K atrin G illw a ld

AG Sozialberichterstattung Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB)

Berlin, November 1992

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1. Einführung 1

2. Umbruch 8

2.1 Die neuen Führungskräfte 8

2.2 Der totale W andel 14

2.3 Probleme, gewollte und unvermutete Effekte 20

2.4 Zusammenfassung und Kommentare 26

3. Situation 29

3.1 Hürden des Transformationsmanagements 30

3.2 Informations- und Anpassungsbarrieren 38

3.3 Learning by Doing 50

3.4 Zusammenfassung und Kommentare 53

4. Perspektiven 56

4.1 Erste Erfolge 56

4.2 Kurzfristige Aufgaben 57

4.3 Mittel- und langfristige Vorstellungen 59

4.4 Zusammenfassung und Kommentare 66

5. Hoffnungsträger Ost als Transformationselite 68 Literaturhinweise 74

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In der vorliegenden Studie wird der ostdeutsche Transformationsprozeß aus der Sicht von Führungskräften im Berliner Umland beschrieben. Grundlage des Textes sind 35 mit Angehörigen der mittleren bis höheren Ebene in Verwaltungen, Parteien und Be­

trieben durchgeführte Intensivinterviews. Die Gespräche fanden gegen Ende 1991 statt.

Dabei geht es um Veränderungen im persönlichen Tätigkeitsbereich und im Ar­

beitsumfeld, um strukturelle und organisatorische Probleme des Transformationsma­

nagements, erste Erfolge, weitere Aufgaben und Vorstellungen über die künftige Entwicklung. Die Untersuchung ist an Theorien des sozialen W andels und an Elitentheorien orientiert. In diesem Rahmen werden die befragten Führungskräfte als Repräsentanten einer Sonderform von Elite, einer Transformationselite, charakterisiert.

Abstract

In the present paper, the East German transformation process is described from the point o f view o f decision makers in the environs o f the city o f Berlin. The text is based on in-depth interviews with 35 medium and higher level administration, business and political party officials. The survey was carried out by the end o f the year 1991. The issues raised were changes in professional tasks and work environment, structural and organizational problems of the transformation management, first achievements, tasks ahead and images o f the future. The conceptual guidelines o f the study where theories o f social change and elite theories. Following them, the group o f decisions makers interviewed is characterized as a special type of elite, a "transformation elite".

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1. Einführung

Die auf die ehemalige DDR bezogene Literatur ist bisher nahezu ausschließlich der Aufarbeitung von Vergangenheit und der Begleitung des Transformationsprozesses - auch über die Erhebung großer Datensätze - gewidmet. Die Gründe dafür sind na­

heliegend. D er Nachholbedarf an authentischer Rückbesinnung zumal unter den O st­

deutschen und das allseitige Interesse an repräsentativer Information über die Lage in den neuen Bundesländern sind hoch. Dabei geraten die akute Entwicklungsdynamik wie auch Zukunftsperspektiven nahezu zwangsläufig aus dem Blick. Von Bedeutung sind sie dennoch. Erfolgreiche Entwicklung setzt nicht nur historische und Kenntnisse der akuten Problemlage voraus. Sie hängt auch an individuellen Vorstellungen über die Zu­

kunft und an der Einschätzung von Entwicklungschancen und -restriktionen als zusätz­

licher Kriterien des Entscheidens und Handelns. Eine zentrale Rolle spielen dabei, auf­

grund von deren vergleichsweise gutem Zugang zu einschlägigem Wissen und der rela­

tiven Breitenwirkung ihrer Tätigkeit, Vorstellungen und Einschätzungen von Führungs­

kräften. Hierüber ist aus Ostdeutschland noch wenig bekannt. Dies ist das Thema der vorliegenden Studie.

Gegenstand und Ziel der Studie

Diese Studie handelt von Entwicklungsdynamik und -Perspektiven der ostdeutschen Transformation aus der Sicht von Führungskräften. Die Fragestellung unterscheidet sich weniger der Sache als vielmehr der Optik nach von den eingangs erwähnten Retrospek­

tiven und Umfragen.

D er Untersuchung liegen drei Ziele zugrunde:

Erstens geht es darum, eine Vorstellung zu vermitteln von Dynamik und Perspektiven der ostdeutschen Transformation nach Wahrnehmungen einer entwicklungsstrategisch bedeutsamen Elite. Nicht irgendeine theoretisch objektive Version von W andel und Perspektiven in Ostdeutschland soll darge­

stellt werden. Was in diesem Zusammenhang interessiert, ist eindeutig nur die Version - oder, Mehrzahl, sind die Versionen - der Zielgruppe.

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Zweitens ist Gegenstand der Untersuchungen die Zielgruppe selbst. Es wird sich zeigen, daß sowohl ihre biographischen Angaben als auch ihre Beschreibungen und Beurteilungen von Entwicklungsproblemen und -Perspektiven zum Bild die­

ser Gruppe beitragen.

Drittens soll die Studie einen Beitrag leisten zur bislang unterentwickelten Dis­

kussion um Zukunftsperspektiven für die neuen Bundesländer und ihre Bevölke­

rung. Dieses letzte Anliegen besteht trotz und jenseits unstrittig m assiver gegen­

wärtiger Existenz- und Übergangsprobleme.

Theoretische Einbindung der Studie

Die im Rahmen der Studie durchgeführten Untersuchungen sind an Theorien des sozialen W andels, speziell der Modemisierungsforschung, und an Elitentheorien orien­

tiert.

D er Transformationsbegriff der Modemisierungsforschung trifft auf Vorgänge im M a­

kro- und im Mikrobereich der betrachteten Entwicklungen in Ostdeutschland zu. Für die Makroebene ist er definiert als zielgerichtete "nachholende Modernisierung" (Habermas 1990) durch "Übernahme, Errichtung, Inkorporation von modernen demokratischen, marktwirtschaftlichen, rechtsstaatlichen Institutionen" (Zapf 1992:12). Für die M i­

kroebene ist er anwendbar auf Probleme einer nachholenden Institutionalisierung. Dabei geht es um Verzögerungen gegenüber einem Ideal nahtloser Überleitung vom Ausgangszustand in den Zielzustand. Das sind strukturelle und organisatorische Vollzugsdefizite aufgrund von Unvereinbarkeiten zwischen sozialistischem und kapitalistischem System, aufgrund des beispiellosen Experimentalcharakters system­

überschreitender Transformation, anfänglicher allseitiger Infomationslücken und Be­

harrungstendenzen von Einstellungen und Bewußtsein. Insoweit bezieht sich die Frage nach Entwicklungsdynamik in Ostdeutschland im folgenden sowohl auf treibende Kräfte als auch insbesondere auf Entwicklungsprobleme.

Eliten werden unabhängig von Besonderheiten einer Transformation typische und für aktive Rollen in Entwicklungsprozessen günstige Eigenschaften, Fähigkeiten und W ertvorstellungen zugeschrieben (Felber 1986:16 ff.). Hierauf spielt der Titel dieses Berichtes, "Hoffnungsträger Ost", an. Ergebnisse von Repräsentativumfragen jüngeren

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Datums in Ostdeutschland deuten auf einen Stimmungseinbruch unter den Bürgern der neuen Bundesländer hin. Er wird mit "enttäuschten Erwartungen und .. der wachsenden Bedeutung subjektiver Beeinträchtigungen durch verbreitete Zukunftsängste und Ori­

entierungsprobleme" erklärt (Landua 1992:1). Ob und inwieweit diese Befunde auch auf ostdeutsche Führungskräfte zutreffen, ist anhand bevölkerungsweiter Befragungen nicht zu klären; Führungskräfte sind darin eine für Sonderauswertungen zahlenmäßig zu begrenzte Teilgruppe. Die auf sie und ihre Stellungnahmen konzentrierte, hiermit vor­

gelegte Studie basiert auf der Annahme, daß deren Situation und Haltungen andere sind als die der ostdeutschen Bevölkerung insgesamt. Die Annahme besteht konkret darin, daß sie von vergleichsweise größerem Optimismus für die Zukunft geprägt sind.

Die in den folgenden Textteilen illustrierte und daran entwickelte These dieses Be­

richtes ist, daß es sich bei seiner Zielgruppe um Vertreter eines außergewöhnlichen Elitentypus handelt. Ihre Selbstdarstellung und ihre Anschauungen von Entwicklungs­

dynamik und Entwicklungsperspektiven reflektieren Umstände und Erschei­

nungsformen einer Transformation, die sie selbst mitbetreiben.

Methodische und technische Details der Studie

D er vorliegende Bericht basiert auf Intensivinterviews mit 35 Führungskräften der mittleren bis höheren Ebene aus Verwaltung, Politik und - laut Einschätzung durch Ex­

perten der Berliner Treuhandanstalt überlebensfähiger Betriebe - der W irtschaft im Berliner Umland. Die meisten Gespräche fanden zwischen Mitte Oktober und Mitte Dezem ber 1991, mit einigen wenigen Nacherhebungen Anfang 1992, statt.

Die W ahl dieses Erhebungsinstruments war nach Thema und Protagonisten der Studie naheliegend. W eder über die Zielgruppe selbst noch über den konkreten Ablauf des Transformationsprozesses oder gar zu Vorstellungen über die weitere Entwicklung in den neuen Bundesländern bestanden bislang für einen Einsatz formalisierterer Erhe­

bungsverfahren hinreichende Kenntnisse. Die Studie ist mithin explorativer Natur. Ihre Ergebnisse sind deswegen allein als die Gesprächspartner und ihren W irkungsbereich betreffende Aussagen, Vorstellungen und Einschätzungen zu werten. Jenseits dessen haben sie - dies bleibt bei Lektüre der Befunde zu berücksichtigen - den methodologi­

schen Status plausibler Annahmen.

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Die Gesprächspartner wurden nach systematischen Gesichtspunkten ausgewählt. Unge­

fähr die Hälfte von ihnen sind Führungskräfte der Verwaltung, vornehmlich auf kom­

munaler Ebene und einige wenige auf Landesebene (Land Brandenburg). Je zu einem Drittel leiten sie verwaltungsinterne Ressorts, Ressorts m it direkten Aufgaben gegen­

über dem Bürger und Ressorts mit beiderlei Funktionen. Die andere Hälfte der Ge­

sprächspartner besteht im Verhältnis 1:2 aus Managern und Politikern. Das sind Geschäftsführer von Treuhand- oder ehemaligen Treuhandbetrieben, Funktionsträger der im brandenburgischen Landtag vertretenen Parteien und kommunale Funkti­

onsträger politischer Parteien mit personell geringer oder ohne Repräsentanz in der je ­ weiligen Verwaltungsspitze. Durch diese Streuung soll Einseitigkeit vermieden werden.

Die zahlenmäßige Dominanz von Spitzen aus der Kommunalverwaltung ist Absicht. Sie sind hauptberuflich für Entwicklung und Zukunft der Region zuständig und erleben Probleme wie Fortschritte tagtäglich vor Ort.

Die Fragenkomplexe in den Interviews erstreckten sich im wesentlichen auf drei Berei­

che:

1. Nach der W ende stattgefundene Veränderungen im persönlichen Tätigkeitsbereich und Arbeitsalltag, im Aufgabenbereich von Amt, Partei oder Betrieb insgesamt und im jeweiligen Arbeitsumfeld;

2. Probleme und erste Erfolge des Transformationsmanagements;

3. kurzfristig anstehende Aufgaben, mittel- und langfristige Zielvorstellungen, unter be­

sonderer Berücksichtigung der von Berlin ausgehenden Entwicklungseffekte, günstigste und ungünstigste Vorstellungen von Entwicklungen bis zum Jahr 2000.

Die Fragen wurden in einem ähnlichen Allgmeinheitsgrad gestellt, wie sie oben beschrieben sind.

Zur Auswertung der Interviews

Der Berichtstext wird davon bestimmt, wie die Gesprächspartner die beschriebenen Fragenkomplexe von sich aus anhand welcher einzelnen Gesichtspunkte aufgegriffen und ausgeführt haben. Anders ausgedrückt, die generelle Themenvorgabe erfolgte forschungsseitig, eine weitere Untergliederung und Gewichtung durch die befragte

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Zielgruppe. Der Nachteil solchen Verfahrens besteht darin, daß nicht allen im Bericht behandelten Einzelfragen zielgruppenweite Stellungnahmen zugrundeliegen. D er Vor­

teil ist, daß er ein anschauliches zielgruppenspezifisches Bild von Problem lagen und Entwicklungsperspektiven ergibt. Praktisch relevant ist es je nach vorauszusetzender Stärke des Zusammenhangs zwischen Wahrnehmungen, Einstellungen und Handeln bei den Befragten sowie ihrer Darstellungen in den Interviews.

Spezielle Beachtung ist bei der Auswertung der Interviews eventuellen systematischen Unterschieden zwischen Stellungnahmen der drei Teilgruppen von Befragten aus den Bereichen Wirtschaft, Politik und Verwaltung geschenkt worden. Dasselbe gilt für die Aussagen weiterer Untergruppen, wie etwa nach kommunaler oder Landesebene bzw.

regionaler Herkunft der Gesprächspartner. Das Ergebnis diesbezüglicher Analysen ist m ager und gerade insofern einer der zentralen Befunde der Studie. Die wenigen nach Teil- und Untergruppen unterscheidbaren Standpunkte sind im Bericht besonders her­

ausgestellt. Die - häufigeren - gruppenübergreifenden Übereinstimmungen und grup- penintem en Divergenzen dominieren jedoch die gesamte Darstellung und sind Gegen­

stand abschließender elitentheoretischer Betrachtungen.

Darstellungsweise

Die Darstellung der Gesprächsinhalte folgt den oben beschriebenen Besonderheiten in den Äußerungen der Zielgruppe. Sie ist, in den zentralen Textabschnitten n .l bis n.3, eine thematisch geordnete und in vielen Passagen mosaikartig zusammengestellte Nacherzählung der Interviews. Kommentare und literarische Referenzen sind auf die jeweiligen Textabschnitte n.4 und den abschließenden Berichtsteil 5 beschränkt.

Bei der Wiedergabe der Interviews nehmen Zitate aus den einzelnen Gesprächen breiten Raum ein. So wird eine der wesentlichen Stärken qualitativer Forschung mittels des In­

struments einer Intensivbefragung genutzt: W enige Autoren können Sachverhalte pla­

stischer beschreiben als die unmittelbaren Akteure selbst. Textabschnitte, in denen per­

sönliche Einschätzungen eine zentrale Rolle spielen, sind reich an Zitaten und dement­

sprechend lang. Wo ihre Zuordnung zu einer der Teilgruppen von Befragten nicht ein­

deutig aus dem umstehenden Text geschlossen werden kann, gibt es Extrahinweise. Die dabei verwendete Bezeichnung "... beamter" für Führungskräfte in Verwaltungen ist nur

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in einigen Fällen vollständig korrekt, für die anderen aber hinreichend nahe an der Re­

alität; die m eisten dieser Befragten sind (noch) nicht verbeamtet.

Die wörtlichen Zitate sind von einer Sprach- in eine Leseform übertragen worden. Ein­

griffe blieben dabei minimal - nicht nur um den individuellen Duktus und, natürlich vor allem, den gemeinten Sinn zu erhalten. Sondern dies gehört zu den Eigenheiten der Zielgruppe: Diese Führungskräfte sprechen so gut wie druckreif.

Im Text kenntlich gemacht wurden gruppenübergreifende Mehrheits- und ausgespro­

chene Einzelmeinungen. Sonstige Aussagen wurden mit vageren qualitativen Angaben über ihre mengenmäßige Basis in den Interviews versehen. So unterbleiben - wegen Auswahl- und Befragungsmodus ungerechtfertigte - Suggestionen einer Quanti- fizierbarkeit der Ergebnisse. Nur einige wenige durchgängig ermittelte Informationen zur Person sind zahlenmäßig dargestellt worden.

D er engbegrenzte geographische Untersuchungsraum wie auch der Auswahlmodus und die geringe Anzahl der Interviews stellen besonders hohe Ansprüche an datenrechtliche Rücksichten gegenüber den Gesprächspartnern. Dem ist im Text neben der selbstver­

ständlichen Auslassung von Personen- und Ortsnamen dadurch Rechnung getragen wor­

den, daß leicht individuell zurechenbare konkrete Beispiele sinngemäß abgewandelt wurden.

Aufbau der Studie

D er folgende Text besteht aus drei Hauptteilen, deren Untergliederung an gängigen D i­

mensionen zur Analyse sozialen Wandels orientiert ist. Teil 2, "Umbruch", reflektiert Ausmaß und Tiefgang der ostdeutschen Transformation aus der Sicht der Gespräch­

spartner in personeller und institutioneller Hinsicht. In diesem Zusammenhang werden sowohl die gewollten Effekte als auch die unvermuteten Probleme des Wandels thema­

tisiert. In Teil 3, "Situation", werden Wahrnehmungen der Gesprächspartner von Aus­

maß und Tiefgang der Transformation in struktureller und organisatorischer Hinsicht geschildert, sowie Maßnahmen zur Erhöhung der Problemlösungskapazität. Sie vermit­

teln einen Eindruck davon, welche Hindernisse einem raschen und reibungslosen Voll­

zug im W ege stehen und damit auch vom möglichen Tempo der Transformation. Dem

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Teil 4, "Perspektiven", sind Aussagen über die eingeschlagene und auf weiteres ange­

strebte Richtung des W andels zugeordnet.

D er letzte Teil dieses Berichtes ist seiner Zielgruppe und ihrer Rolle im ostdeutschen Transformationsprozeß gewidmet. Sie fungiert darin als Beispiel zur Konkretisierung eines Konzeptes von Transformationseliten.

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2. Umbruch

In diesem Teil werden in Verwaltungen, Betrieben und Parteien des Berliner Umlandes nach der W ende bereits gelaufene Veränderungen geschildert. Die Berichte der Füh­

rungskräfte illustrieren Ausmaß und Tiefgang der ostdeutschen Transformation in per­

soneller und institutioneller Hinsicht.

D er erste Abschnitt enthält eine kurze Charakterisierung dieser Zielgruppe anhand eines Minimums erfragter Daten. M it einigen Ausnahmen sind sie seit der W ende nicht nur neu in ihrem Amt, sondern auch in ihrem Metier.

Im zweiten Abschnitt geht es um neue Arbeits- und Umfeldbedingungen aus der Sicht der Zielgruppe. Sie beruhen, kurz, auf einer Dezentralisierung ehemals höheren Orts gebündelter gesellschaftlicher Entscheidungs-be-fugnisse und Verantwortlichkeiten.

Stichworte: kommunale Selbstverantwortung, betriebliche Eigenplanung, Demokratie von unten.

D er letzte Abschnitt handelt von geplanten und unvermuteten Effekten des Wandels und deren Beurteilung durch die Zielgruppe. Trotz aller gegenwärtig bestehenden Pro­

bleme dominieren dabei positive Einschätzungen der deutschen Vereinigung und damit in den neuen Bundesländern angestoßener Veränderungen.

2.1 Die neuen Führungskräfte

Sechs der 35 Gesprächspartner sind keine ehemaligen DDR-Bürger, die meisten davon Westdeutsche. Vier von den 35 sind Frauen. Sie werden im Text wie ihre 31 Kollegen als Gesprächspartner, ohne weibliches Suffix, bezeichnet. Zum Befragungszeitpunkt war der jüngste Gesprächspartner 25, der älteste 58 Jahre alt. Stark vertreten sind Al­

tersgruppen Anfang bis Mitte 30 und Mitte bis Ende 40, schwach vertreten Gruppen um das Alter von 40 Jahren herum.

Die Antworten auf eine der ersten Fragen in den Interviews erscheinen im nachhinein paradigmatisch für die gesamte gegenwärtige Situation der Zielgruppe und ihr Umfeld.

Das war die Frage danach, ob und gegebenenfalls inwiefern sich im persönlichen

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Tätigkeitsbereich und Arbeitsalltag in jüngerer Zeit Veränderungen ergeben hätten. Die meisten Gesprächspartner begannen ihre Antworten dazu mit Charakterisierungen wie

"alles", "eminent viel", "ganz gravierend", "unwahrscheinlich viel", "grundlegend",

"erheblich", "enorm", "gewaltig viel, ganz sicher", "es hat sich im Grunde genommen alles umgekrempelt", "ja, bei uns allen eigentlich". Kommentare wie "nicht so sehr"

oder "im Prinzip gegenüber frü h er nicht so unterschiedlich" blieben selten.

Fachliche und politische Herkunft

Bis auf eine Ausnahme sind alle Gesprächspartner seit der Wende in der DDR neu in ihren beruflichen Funktionen. Durchweg haben sie ihre neue Tätigkeit im Laufe des Jahres 1990 aufgenommen. Manche haben dabei den Tätigkeitsbereich praktisch nicht gewechselt. Eine diesbezüglich typische Gruppe sind die befragten Führungskräfte der Wirtschaft. Von ihnen sind die meisten im Zuge der W ende innerhalb ihres Betriebes aus der Leitungsebene an die Spitze gerückt. Eine andere typische Gruppe sind Spitzen­

kräfte der Verwaltung aus den alten Bundesländern, die sich befristet oder auf un­

bestimmte Zeit zur Aufbauarbeit in den neuen Bundesländern haben abordnen lassen.

Die ostdeutschen Führungskräfte in den Kommunalverwaltungen waren ursprünglich in aller Regel berufsfremd. Sie hatten jedoch durchweg auch zuvor verantwortliche bzw.

leitende Positionen inne. Viele von ihnen sind zudem aufgrund anderweitiger Beruf­

spraxis in ihrem jetzigen Sachgebiet oder verwandten Gebieten versiert. Konkret sind das etwa jetzige Verantwortliche für kommunale Finanzen mit Erfahrung in betriebli­

chem Rechnungwesen und Datenverarbeitung. Andere Beispiele sind jetzige Führungs­

kräfte im Gesundheits- und Sozialwesen mit fachlich entsprechender Berufspraxis;

manche haben einschlägige Kenntnisse auch durch privates Engagement, etwa im kirch­

lichen Bereich, gesammelt. Die befragten Politiker auf Landes- und kommunaler Ebene waren zumeist nicht Mitglieder in der DDR ehemals zugelassener Parteien und jeden­

falls nicht im vorgesehen Rahmen politisch aktiv. Viele von ihnen haben politische Er­

fahrungen während der Wendezeit erworben - in Bürgerforen, Bürgerbewegungen, Untersuchungskommissionen oder als M itglieder Runder Tische.

Gut ein Drittel der Gesprächspartner sind ihren Berichten nach schon längere Zeit vor der W ende parteilos bzw. aktive Kirchenmitglieder gewesen oder in anderer W eise ge­

genüber dem ehemaligen DDR-Regime auf Abstand gegangen. Von öffentlicher Sy­

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stemkritik war dabei nicht die Rede; es sind aber Schilderungen von innerer Immi­

gration und dem Bemühen, Grundsätzen humanen Daseins treu zu bleiben, wie im fol­

genden Fall:

"Mein Leitspruch war immer 'Fürchte Gott und scheue niemand, sage das, was D u verantworten kannst'. Man muß das sagen, was man denkt, das geht einfach nicht anders. Man muß irgendwie ganz bleiben. Also hab ich schon immer gesagt, was ich fü r richtig hielt, aber natürlich war ich vorsichtig g e n u g ... ".

Manche der Befragten haben aus solchen Gründen Karriereknicks erlebt oder ange­

strebte Ausbildungswege nicht antreten können. Generell ist das Bildungsniveau unter den Befragten jedoch hoch. Rund drei Viertel von ihnen haben zumindest ein H och­

schulstudium abgeschlossen, vorwiegend im mathematisch-naturwissenschaftlichen, medizinischen oder technischen Bereich. Einige waren Pädagogen; eine Selbsteinschät­

zung zugeschriebener Qualifikation zum (Kommunal-)Politiker: "Können angeblich stehend freihändig was zu einem Problem sagen."

Rekrutierungsmuster

Am Beispiel der Zielgruppe gemessen, war das Rekrutierungsmuster für Führungskräfte mittlerer bis höherer Ebene in den neuen Bundesländern ein Optimum zwischen poli­

tischer Tragfähigkeit nach jetzigen Maßstäben, hohem Bildungsniveau und Sachkom­

petenz. Die meisten ostdeutschen Befragten beschreiben den W eg in ihre neuen Positio­

nen als Ergebnis politischer Aktivität während der Wende, früherer parteiinterner Op­

position, oder m it vorheriger einschlägiger Berufspraxis. Die Berufspraxis hat offen­

sichtlich speziell bei der Auswahl von neuen Führungskräften der W irtschaft eine ent­

scheidende Rolle gespielt. Für die Besetzung von Spitzenpositionen der Verwaltung wurde, umgekehrt, politischen Kriterien deutliches Gewicht verliehen.

Es seien nach der Wende, heißt es einmal wörtlich, "unbescholtene" Amtsinhaber ge­

sucht worden. Es wurde, wie von weiterer Seite beschrieben, die kommunale Führungs­

spitze total ausgewechselt, "... alles neue Leute". Über eine konkrete Verfahrensregel wird anderenorts berichtet - man habe die Posten bis hinunter zur Dezementenebene neu besetzt und ab Amtsleiter ausgeschrieben. Dabei waren also Stellen vom Amtsleiter an abwärts prinzipiell auch für Bewerber aus ehemals systemnahen Kreisen offen und positive Entscheidungen im Einzelfall möglich.

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Ein auch schon in der DDR mit offiziellen Funktionen betraut gewesener Landespoliti­

ker vermutet Gründe für seine neuerliche Berufung unter anderem hierin:

"Parteiveranstaltungen in den 70er und 80er Jahren, an denen ich teilge­

nommen habe, waren immer sehr offen und kritisch; ich habe nie zensiert oder gemahnt, den Finger gehoben 'also, je tzt haben wir den sozialistischen Pfad verlassen, je tzt wollen wir mal wieder die Fahne hochziehen'

Ein jetziger Verwaltungsbeamter rekapituliert die Überlegungen, die seine Anstellung begleiteten:

"Nachdem die Wende kam, hab ich mich erstmal gefreut, dachte, je tzt kann ein neues Leben beginnen; aber ich hatte auch begriffen, daß es nicht geht ohne persönliche Veränderungen.... D aß man m ir das Vertrauen gegeben hat, das fa n d ich gut, weil das auch fü r mich eben so ein Vertrauensbeweis ist der Leute, die hier im Ort regieren ... D aß die eben das in K a u f nehmen und sagen 'bitteschön, das können wir tragen, politisch gesehen'. D as ist fü r mich eine gute Bestätigung gewesen, daß ich nicht so eine Rote Socke

war, wie es manche denken von mir."

Viele der Befragten berichten, ihr jetziger Posten sei ihnen direkt angeboten bzw. sie seien aufgefordert worden, sich darauf zu bewerben. Nicht alle haben spontan zugegrif­

fen. Einzelne unter den neuen Verwaltungsbeamten erwogen noch berufliche Alternati­

ven; für andere, insbesondere für Wahlbeamte, dürften zunächst ungeklärte mit den an­

getragenen Posten verbundene Perspektiven eine Rolle gespielt haben.

Arbeitsplatzsicherheit und Berufsperspektiven

Zu Fragen von Arbeitsplatzsicherheit und Berufsperspektiven äußern die befragten Füh­

rungskräfte sich recht unterschiedlich, wobei teils objektive Bedingungen, teils persön­

liche Einschätzungen im Vordergrund stehen. Daraus ergibt sich folgendes Bild:

Unter den Verwaltungsbeamten ist Arbeitsplatzsicherheit kein Thema. Eine Minderheit, speziell jüngere von ihnen, will sich die Möglichkeit späterer Rückkehr in den ehemali­

gen Beruf oder überhaupt einen Postenwechsel offenhalten. Eine andere Minderheit schließt diese Möglichkeit aus, entweder aus Altersgründen und im Hinblick auf die be­

vorstehende Pensionsgrenze oder aus prinzipiellen Gründen:

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"Ich mache a u f alle Fälle hier in der Verwaltung weiter. Ich möchte dabei sein, wenn es mal funktioniert. D a möchte ich einfach nicht je tzt nur alle K raft meiner Jugend reinstecken, sondern ich denke, daß ich dann auch noch ein bißchen sehen möchte, wo läuft es weiter hin."

Ein klar absehbares Ende ihrer derzeitigen Funktion besteht für die auf begrenzte Zeit aus dem W esten Deutschlands abgeordneten Verwaltungsangehörigen:

"Ich mach, so wie es von der Bundes- und den Landesregierungen vorgese­

hen war, echte Aufbauarbeit, und wenn das abgeschlossen ist, dann gehe ich wieder zurück."

Unsicherheiten über weitere Beschäftigung auf ihren jetzigen Posten erklären ty­

pischerweise Geschäftsführer noch nicht privatisierter Treuhandbetriebe, Politiker und W ahlbeamte (Dezernenten). Die künftige Position der W irtschaftsführer hängt m it dem Schicksal ihres Betriebes bzw., nach erfolgter Privatisierung, von einer Übereinkunft m it den neuen Inhabern zusammen. Die Position der Politiker ist natürlich nicht zu trennen vom Ausgang der nächsten Wahlen. Da die Kommunalpolitiker ihre Mandate nebenberuflich wahmehmen, ist das für sie keine existenzielle Frage; Landespolitiker haben bereits jetzt Mehrfachfunktionen inne bzw. beginnen, sich anderweitig ab- zusichem:

"Wir wissen, wir sind fü r eine Legislaturperiode gewählt, und man m uß sich je tzt schon Voraussetzungen schaffen, um wiedergewählt zu werden oder

sich neue Tätigkeitsbereiche zu erschließen."

Eine Variante:

"Ich kann m it dem Landtagsmandat ja ein ruhendes Arbeitsverhältnis m it meinem ehemaligen Betrieb eingehen und m ir die Rückkehrberechtigung si­

chern. Ich habe das aber ausgeschlagen, einfach aus der Überlegung her­

aus, daß man auch von der Psychologie her sich einer Aufgabe intensiv ver­

schreiben sollte und sich nicht jedesm al nur irgendwelche Türchen noch offenlassen sollte fü r Eventualitäten, die durchaus eintreten können ... aber m it denen ich eigentlich nicht rechnen möchte."

Bezeichnend für die Einschätzung der Position von Wahlbeamten ist folgender Kom­

mentar:

"Was ich mache, ist lediglich eine Übergangstätigkeit - das wissen wir Wahlbeamte alle, wir wissen, daß wir eines Tages exzellenten Fachleuten Platz machen müssen."

Diese Situation löst fallweise Unbehagen aus:

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"Die kommunalen Wahlbeamten sind nach vier Jahren ja erstmal nicht mehr gewählt. Sie können sich dann der Wahl wieder stellen oder n ic h t...

Nach diesen vier Jahren steht dieser Dezernent vor dem Nichts, hat keine Versorgung, und derjenige, der sich nicht aus eigener Initiative irgendwo noch eine Tür offengehalten hat in seinem alten Betrieb, der steht wirklich vor dem Nichts, und das ist in meinen Augen haarsträubend."

Von dritter Seite wird in diesem Zusammenhang, als weiterer beruflicher Unsicherheits­

faktor und ausdrücklich heikles Thema, die individuelle Belastbarkeit genannt:

"... die Spitzenleute, die politischen Beamten, die durch die Stadtverord­

netenversammlung gewählt sind, sind gewissermaßen durch ihre Redlichkeit und weil sie sich in der Ersten Stunde zur Verfügung hielten, oftmals auch in diese Äm ter gekommen. Und ein großer Teil davon macht die

erstaunliche und höchstwahrscheinlich auch zum Teil sehr schmerzliche Erfahrung, daß zwischen dem guten Willen, m it dem man eigentlich auch sich diesem A m t zur Verfügung gestellt hat, und der Möglichkeit, den A n­

forderungen gewachsen zu sein, doch ein Graben klafft, ein tieferer Graben als man dachte. D as geht bis dahin, daß diese Äm ter die Gesundheit derma­

ß e n beanspruchen, daß allein da schon die Kandidaten oftmals nicht mitzie­

hen können ..." (Kommunalbeamter)

Belastung und Motivation

Namentlich ostdeutsche Führungskräfte sprechen über neuartige berufliche Belastun­

gen:

"Ich würde behaupten, daß manch einer von uns, wenn er sich hätte vor­

stellen können, was an Aufgaben a u f ihn zukommt und welche B e­

schwernisse und welche Streßsituationen auch ... manch einer wäre wahr­

scheinlich davor zurückgeschreckt und hätte es nicht gemacht."

(Kommunalbeamter)

Das ist kein Einzelfall:

"Ich m uß sagen, daß ich vorher nicht wußte, a u f was ich mich einlasse, als ich gesagt habe, ich kandidiere mal - ich hätte einfach nicht gedacht, daß da so viel dranhängt." (Kommunalpolitiker)

Über die Hälfte der Gesprächspartner sind, wie sie sagen, im Zusammenhang mit Veränderungen in persönlichem Tätigkeitsbereich und Arbeitsalltag erhebliche zeitliche Mehrbelastungen eingegangen. In Zahlen war verschiedentlich von Arbeitstagen zwi­

schen zehn und 18 Stunden und fallweise noch mehr die Rede, gleich nach der Wende eher an der Ober- und inzwischen mehr an der Untergrenze. Qualitativ wurde über Fei­

erabend- und W ochenendarbeit, massiven Freizeitverlust und Mangel an Zeit für die

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Familie berichtet. Umgekehrt haben ostdeutsche W irtschaftsführer auf nach wie vor na­

hezu gleichbleibend hohe bzw. zu hohe Arbeitsbelastung hingewiesen:

"Der Zeitfonds ist gleich geblieben - weit überzogen fü r eine Tätigkeit."

Häufiger als über zeitliche Belastungen haben Gesprächspartner sich allerdings über starke Motivationen zur M itwirkung an der Aufarbeit geäußert. Wichtigste Argumente sind, in dieser Reihenfolge (1) die Möglichkeit, jetzt für bestimmte Ziele legal eintreten zu können, (2) die persönliche Herausforderung und (3) die W ende nicht "verschlafen"

zu haben. Einige der westdeutschen Gesprächspartner erwähnten auch traditionelle ost­

deutsche Familienbindungen als Motiv.

2.2 Der totale Wandel

Die Veränderungen in Verwaltungen, Betrieben und Parteien haben institutioneile Ei­

genheiten. Da sie aus demselben gesellschaftlichen Umfeld hervorgegangen sind und jetzt unter denselben gesellschaftlichen Rahmenbedingungen weiterentwickelt werden, bestehen Parallelen aber nicht zufällig.

Wandel für Kommunalverwaltungen

Die Verwaltung in den neuen Bundesländern wird seit 1990 nach westdeutschem Mu­

ster reorganisiert. D er dadurch angestoßene Wandel in den Kommunalverwaltungen wird von den Gesprächspartnern mit vier Begriffen beschrieben. Sie haben gegenüber der Vorwendezeit erheblich m ehr Aufgaben bekommen. Sie führen diese, im Gegensatz zur Vorwendezeit, in eigener Verantwortung durch. Der damit verbundene und für O st­

deutschland neue Leitgedanke ist der einer Serviceleistung gegenüber den Bürgern auf der Grundlage bestehender Rechtsansprüche. Und sie sind als Institutionen trans­

parenter geworden.

Viele der neuen Aufgaben der Kommunen wurden früher in Regie der politisch überge­

ordneten Kreisverwaltungen erledigt, wie zum Beispiel das Meldewesen oder die Ju­

gendarbeit. Die Stadtverwaltungen in der DDR waren nur ausführende Organe der Kreisverwaltungen und an deren Weisungen gebunden, "ohne daß hier große Entschei­

dungen getroffen wurden." Die Kreise bestehen zur Zeit noch in den alten Grenzen -

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eine Kreisreform soll bis Ende 1992 durchgeführt sein - und haben fallweise einzelne frühere Sachaufgaben jedenfalls bislang behalten. Ihre wesentliche Funktion gegenüber den Kommunen ist jetzt aber generell die Rechtsaufsicht und, in bestimmten Bereichen, eine Fachaufsicht. Eine Novität ist auch die finanzielle Selbstverantwortung der Kom­

munen.

Zu DDR-Zeiten wurden ihnen die Gelder " ...ja alle zugewiesen; es w ar ja nur ein ganz verschwindend geringer Teil, der in der Stadt eigenständig er­

wirtschaftet und verbraucht wurde."

Die Kommunalverwaltungen sind neuerdings in erster Linie den politischen M andats­

trägem vor Ort verantwortlich; es hat eine Kontrollverschiebung stattgefunden.

Früher kontrollierte "... die Verwaltung eigentlich die politischen M an­

datsträger über die Partei, logischerweise, und jetzt ist es genau umgekehrt

Andere neue Aufgaben der Kommunen sind entweder überhaupt oder im jetzigen Um ­ fang unbekannt in Ostdeutschland gewesen, prototypisch Leistungen der Sozialämter:

"Die Sozialproblematik war nicht so gravierend" in der alten DDR, allein schon dank des verfassungsmäßig garantierten Rechts auf Arbeit und der damit gekoppelten Pflicht, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen (Verfassung der DDR, Art. 24, vgl. Schiwy/Wetzke 1990). Darüber hinaus sollte eine patemalistische Sozialpolitik bevölkerungsweit eine umfassende Grundversorgung sicherstellen; viele Leistungen erreichten die Bürger au­

tomatisch. Heute dagegen werden die Ämter wie vorher schon in den Altbundesländem in aller Regel erst aufgrund individuell zu stellender Anträge tätig. Allerdings haben die Bürger gegenüber der Verwaltung bestimmte einklagbare Rechte und können nicht mehr, wie früher, als Bittsteller betrachtet werden. Dies wurde einmal wörtlich als

"hauptsächlicher Unterschied" deklariert. Verwaltung als Dienstleistungsbetrieb war ein ungewohntes Konzept in der DDR.

Die jetzt geltenden, aus der Altbundesrepublik transferierten, rechtlichen Grundlagen sind nicht nur inhaltlich für die ostdeutschen Verwaltungskräfte neu, sondern auch in ihrer M enge und Regelungstiefe:

"Verwaltung in der DDR war eigentlich Organisation von verschiedenen Dingen. D as ist es jetzt natürlich auch. Aber daß jemand, der einen Ange- stellten-Lehrgang mitmacht, wie einige je tzt aus der Verwaltung, im Grunde genommen nichts anderes macht, als sich m it verschiedenen Rechts gebieten zu befassen, das ist sicher eine neue Erkenntnis."

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D em entspricht, daß es in der DDR keine Verwaltungsstrukturen gab, wie wir sie aus dem Bundesgebiet kennen.

"Es gab auch eine Verwaltung, aber alles sehr viel einfacher gehalten, manches auch unkomplizierter als heute, aber sicher auch m it viel mehr Mängeln und Fehlern behaftet als zur heutigen Zeit."

Aus einem Bericht über Verwaltungsgänge in der Vorwendezeit:

"Wenn einer zur Verwaltung kam, dann kam er erstmal vor 'ne große Mauer, da konnte er versuchen, eine Tür zu fin d e n ,... und dann kam schon die nächste M auer m it der nächsten T ü r ..."

Jetzt sei das anders; wenn jem and mit einem Problem ins Amt kommt, dann muß man das auch lösen. Von anderer Seite heißt es über doch auch empfundene Vorteile des al­

ten Systems:

"Ich sag immer, der Sozialismus war ja nicht durchschaubar und sehr un­

durchsichtig - aber er war ü b e r schaubar; es gab also ganz bestimmte Strukturen, die man ansteuern konnte; inwieweit dann jem and in diese Strukturen gucken konnte, war ein ganz anderes Thema, eigentlich keins;

aber er wußte, wenn er in N ot geraten war ...e s waren ganz überschaubare, klare und auch abgrenzbare Strukturen."

Wandel für Unternehmen

"Wir haben sehr, sehr kritisch schon in den 80er Jahren eins verfolgt: daß der H err M ittag die Wirtschaft führen wollte wie einen Großkonzern ... Das heißt, was er gesagt hat, das mußte gemacht werden. Wenn H err Mittag eben geschnupft hatte, dann wurde ein Generaldirektor am nächsten Tag abgelöst, wenn nicht in der gleichen Veranstaltung."

Diese Anspielung auf die Logistik des langjährig für W irtschaftsfragen der DDR zu­

ständigen Politbüro-Mitglieds gibt ein treffendes Bild von zwei für Unternehmen ent­

scheidenden Veränderungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart: Sie wurden er­

stens politisch zentral gesteuert, und zwar obigem Zitat zufolge auch willkürlich. Jetzt operieren sie, soweit privatisiert und also nicht mehr im Besitz der Berliner Treuhand­

anstalt, selbständig. Hierzu gehört, natürlich auch, die finanzielle Eigenverantwortung, wohingegen einst Gewinne abgeschöpft und Investitionen ausgereicht wurden. Man stellt zweitens beifällig fest, daß die Parteien nichts m ehr zu suchen hätten in den Betrieben, und auch "das Rathaus" nicht. Aus den Rathäusern hört man, Unternehmen würden, zumal als potentielle Investoren am Ort, inzwischen geradezu hofiert.

(20)

Die dritte entscheidende Veränderung für Unternehmen besteht in einer gänzlichen Umorientierung der unternehmerischen Tätigkeit. In der DDR bestand ein relativ festumrissener Versorgungsauftrag; jetzt tritt man gegen Konkurrenz am Markt an. Das heißt auch:

"Heute müssen wir uns den Kunden suchen, früher haben wir zu 90 Prozent den Kunden zugewiesen bekommen".

In dieser Situation erhalten Produktinnovation und Marketing, technologische und öko­

nomische Modernisierung wie auch Kostendenken und strategische Untemehmenspla- nung eine bislang unübliche Bedeutung. Gleichwohl habe, wird betont, die Umstellung auf Bedingungen der Marktwirtschaft nicht komplettes Umdenken erfordert. Die Be­

triebsleitungen seien auch vor der Wende gehalten gewesen und durch ein Prä­

miensystem dazu motiviert worden, Wirtschaftlichkeit zu gewährleisten im Rahmen des staatlichen Planes:

"Vom Grunde war das a u f Erfolg angelegt und wer einigermaßen ge- ~ wirtschaftet h a t .... der hatte eigentlich m it dem rein wirtschaftlichen Über­

gang überhaupt keine Problem e."

Wandel für politische Parteien

Die wesentlichen Veränderungen für die politischen Parteien in Ostdeutschland sind dreierlei. Erstens ist das frühere Blockparteiensystem unter Leitung der SED zu einem Mehrparteiensystem nach westlichem M uster umgewandelt worden. Zweitens sind die einzelnen Parteien nicht mehr wie früher auf die Bürger zugreifende Integra­

tionsparteien, sondern sie sind jetzt angewiesen auf freiwillige Unterstützung durch M itglieder und Zuspruch bei anderen Wählern. Drittens soll die politische Arbeit jetzt von der Basis her organisiert werden anstatt daß sie zentral, und das hieß früher von der SED, gesteuert wird.

Die weitestgehende Beschreibung von Veränderungen im parlamentarisch-demokrati­

schen System lautete:

"Es hat sich nicht verändert. Es ist neu eingeführt worden."

(Kommunalbeamter).

Die gesamte Organisation des politischen Lebens ist jetzt anders,

(21)

"... die ist aber mehr über uns gekommen, als daß sie aus uns gewachsen wäre." (Landespolitiker)

In Kommunen wird über weitere Novitäten berichtet:

D ie Stadtverordnetenversammlung "war ein Akklamationsorgan, a u f das man auch hätte verzichten können."

Jetzt dagegen werde viel diskutiert und auch gestritten im Parlament. Eine Beobachtung aus Westsicht:

"Fraktionsdisziplin in dem Sinne ist eigentlich gar nicht so bekannt hier.

D ie Meinungen gehen quer durch die Fraktionen, das wird auch so öffent­

lich ausgetragen, das fin d et man im Westen eigentlich überhaupt nicht - ganz selten, und dann ist es was Besonderes - was hier an der Tagesord­

nung ist." (Kommunalbeamter)

Diese Beobachtung wird auch von Ostkollegen geteilt und einmal direkt als wohltuende Errungenschaft hervorgehoben, daß es Blockabstimmungen nicht mehr gibt. Ein Kom­

munalpolitiker bezweifelt, daß solcherart urdemokratische Verhältnisse auf Dauer in den neuen Bundesländern Bestand haben werden:

"... in diesem Jahr hat sich natürlich jetzt auch alles strukturiert und eta­

bliert und die Bahnen werden wieder eingefahren ..."

Ein anderer Kommunalpolitiker erläutert, wie man sich jetzt schon gelegentlich fraktionsübergreifend vorweg abstimme,

"...um nun nicht eine Riesenpolemik in der Stadtverordnetenversammlung erst anzufachen..."

M anche Verwaltungsbeamte bezeichnen ihre eigene Arbeit als kompliziert, da Vorha­

ben nicht nur mit verschiedenen Fraktionen sondern fallweise mit Einzelpersonen abge­

stimmt werden müßten. Es gäbe auch die Arbeit erschwerende "gezielte politische A t­

tacken", die aber dem Eindruck nach nur von Einzelnen forciert würden.

Umgekehrt ist mehrfach auch die Rede von "recht ordentlichem Ton" in den Stadtverordnetenversammlungen, von akzeptabler Streitkultur und parteiübergreifender Sachlichkeit und Solidarität. Man ziehe letztlich an einem Strang, die Aufgabe des Auf­

baus im Osten sei nicht mit Spitzfindigkeiten auf Bundesebene herauskristallisierter

(22)

Unterschiede zu lösen; kommunale Regierungsschwierigkeiten hätte auch die jetzige Opposition; alles in allem:

"... die Sorgen sind eben so elementar, daß die Parteien sich je tzt noch, in dieser ersten Wahlperiode" zusammenraufen (Kommunalpolitiker).

Die herrschende politische Kultur aus der Sicht eines Landespolitikers:

"Alle Parteien sind sich vom Grunde her einig, daß sie angetreten sind, eine Demokratie aufzubauen und die demokratischen Spielregeln hier zu achten und weiterzuentwickeln ... Das ist ein Konsens, a u f den man sich in jedem Falle wieder zurückziehen kann. Es fä llt manchen vielleicht noch schwer, eine demokratische Entscheidung zu akzeptieren, die den Mehrheits­

verhältnissen geschuldet i s t ..."

Als grundlegende Veränderung der Parteiarbeit gegenüber der Basis beschreibt ein an­

derer Landespolitiker:

"Also sicherlich charakteristisch fü r die Parteien im damaligen Sozialismus war, daß sie letztendlich allesamt Ideologieverkäufer waren. Das trifft in hohem M aße auch a u f die sogenannten Blockparteien zu. Und diesen Über­

gang, also von einer Ideologiepartei zu einer Partei, die aktive Politik be­

treibt und politikgestaltend sein muß, das ist wahrscheinlich der gravie­

rendste Unterschied und auch der Übergang, der heute sicherlich bei weitem noch nicht erreicht i s t ..."

Das wird illustriert durch ein Beispiel von einem weiteren Landespolitiker:

"Egal, wohin man frü h er kam, ob zu verschiedenen damals auch exi­

stierenden Organisationen oder Verbänden, man hatte ja das Gefühl, immer in der gleichen Veranstaltung zu sitzen, weil es sozusagen immer um die gleichen ideologischen Probleme im wesentlichen ging."

Die Anzahl der hauptamtlichen Mitarbeiter in den traditionellen DDR-Parteien ist dra­

stisch verringert worden. Aufgabe der Verbliebenen ist, die noch vorhandene jetzt eh­

renamtlich tätige Basis zu motivieren. Dazu ein Kommunalpolitiker:

"Wichtig in der politischen Arbeit ist hauptsächlich, daß man den Partei­

mitgliedern klarmacht, daß es keinen Zentralismus m ehr g i b t ... Sondern was man nicht selber macht, macht eben niemand."

(23)

2.3 Probleme, gewollte und unvermutete Effekte

Die hauptsächlichen Probleme, m it denen die Menschen in Ostdeutschland gegenwärtig konfrontiert und dementsprechend Verwaltung, W irtschaft und Politik im Rahmen ihrer Obliegenheiten vorwiegend befaßt werden, sind öffentlich bekannt: Die hohe und ver­

mutlich noch steigende Arbeitslosigkeit, Wohnungsmangel und Mietsteigerungen. Ge­

läufig sind auch die damit einhergehenden Unsicherheiten und die dadurch verursachten sozialen Spannungen. Verbreitete Aufmerksamkeit erregte ein sich gegen Ende ver­

gangenen Jahres akut entladender Fremdenhaß, dem inzwischen weitere W ellen von Gewalt gefolgt sind. Fazit eines Kommunalpolitikers:

"... daß es gravierende Einschnitte geben wird bei uns, das ist jedem normal denkenden Menschen klar; daß es so hart und so gravierend teileise ge­

kommen ist, hat man sich nicht vor stellen können."

Positive und negative Effekte der Vereinigung

Aus der Sicht der Gesprächspartner ist trotz aller akuten Existenzprobleme die deutsche Vereinigung ein Schritt in die richtige Richtung gewesen. Niemand, auch niemand sonst in der Bevölkerung, so wird verschiedentlich erklärt, wünsche sich ernstlich die alten DDR-Verhältnisse zurück.

Als Vorteile gelten unter den Führungskräften: Die Einführung demokratischer Ver­

hältnisse westlichen Zuschnitts mit Offenheit gegenüber individuellen Argumenten, Möglichkeiten zur Entwicklung von Pluralität und der W ahrnehmung bürgerlicher Rechte wie Freiheit der Meinungsäußerung und Reisefreiheit; die Transparenz des Sy­

stems, effektive Veränderungs- und Gestaltungsmöglichkeiten und den Individuen zu­

gebilligte Verantwortungsfähigkeit; das deutlich erweiterte Konsumangebot. Insbeson­

dere in Wirtschafts- und in traditionell wirtschaftsnahen politischen Kreisen wird dar­

über hinaus auch der Einzug von Prinzipien der Leistungsgesellschaft begrüßt. Beispiel:

"Ich habe meinem Direktor mal gesagt, die zehn Prozent, die nie einen Fin­

ger gerührt haben, die würde ich gern mal rausschmeißen."

An diesem Beispiel zeigt sich, daß manche Entwicklungen durchaus auch ambivalent beurteilt werden - der zitierte Manager hat nämlich noch hinzugefügt:

"Fünfzig Prozent, daran habe ich nie gedacht."

(24)

Als Nachteile der Veränderungen in Ostdeutschland nach der W ende werden oft die ar- beits- und wohnungsmarktpolitischen Probleme und deren soziale Begleiterscheinungen genannt, noch häufiger aber die psychischen und soziopsychischen Folgewirkungen:

Ängste, Unsicherheit und Mißtrauen.

Ein M anager erklärt:

"Bei uns ist zur Zeit eben noch ganz stark das Mißtrauen ausgebildet - ist ja auch klar, wie wir rationalisieren. Wir strukturieren m it einer Geschwin­

digkeit, wozu wir früher Jahre gebraucht haben. Wir h a b e n s ja auch ge­

macht, aber nicht so ra d ika l... Es spielt sicherlich auch 'ne Rolle - wie ge­

sagt, unsere Leitung ist recht stabil, obwohl sie zu 50 Prozent in diesem einen Jahr ausgewechselt w u rd e ..." (Anspielung a u f alte Parteikader, d.

Verf.)

Zumal schon jahrzehntelang in ihren Betrieben leitende Positionen innehabende Füh­

rungskräfte berichten, wie sie selbst darunter leiden,

"... Mitarbeiter zu verabschieden in eins wirtschaftlich schwierige Lage":

"... also, wenn da noch einer 'n Gewissen hat - der kommt sich ganz schön schäbig vor."

Ü ber M ißtrauen in der Kommunalpolitik:

"Diese Urdemokratie, wie sie 1989 entstanden war im Herbst, ist noch sehr ausgeprägt hier bei den Parlamentariern. Sie mißtrauen noch fa s t jedem, und sie mißtrauen sich selbst auch, gegenseitig." (Kommunalbeamter)

Unsicherheit aus der Sicht eines Managers: "Das gesamte zusammenbrechende Umfeld ist das, was jeden b e trifft...", eine Schreckensmeldung folge der anderen, die Landwirt­

schaft liege darnieder, in der Industrie gehe nichts vorwärts ...

"... diese gesamte Unsicherheit, die strahlt a u f das Arbeiten un­

wahrscheinlich aus - die ständige Sorge, ob man noch liquide ist und bleibt

Beobachtungen eines Westkollegen zur Angst vor westdeutschen Investoren:

(25)

"Mit der Wirtschaft, das ist auch ein sehr gestörtes Verhältnis, weil man hier in den neuen Bundesländern mittlerweile ja so Angst hat vor den bösen Westlern - zum großen Teil natürlich auch berechtigt, weil ja auch viel M ist hier gebaut worden ist von den Westlern, also daß die Leute ausgenommen wurden ... D as ist die Angst des Ausverkaufs. So pauschal, wie man das im­

mer liest, so ist das auch." (Kommunalbeamter)

Überraschungen mit der Bürokratie

Eine der im W esten gängigen Assoziationen mit sozialistischen Systemen war deren hochgradige Bürokratisierung. Das wurde im Osten dem folgenden Kommentar nach ähnlich gesehen und m ehr Bürokratie für unvorstellbar gehalten:

"Die Bürokratie hat mehr zugenommen, als es denkbar w a r ... Wer 40 Jahre hier gelebt hat, der hat eigentlich gedacht, das ist die Bürokratie gewesen, aber die ist nur ein Bruchteil von dem gewesen, was je tzt an Bürokratie da noch a u f uns zukommt.” (Kommunalpolitiker)

Bürokratie ist kein Thema, das alle Befragten erklärtermaßen beschäftigt, aber alle Teilgruppen und teilweise mit grappenübergreifendem Argument.

Ein Kommunalbeamter stellt fest:

"Die Bürokratie hat doch Einzug gehalten, mehr als wir alle gedacht hatten und als wir fä h ig sind zu bewältigen im Moment."

Das heißt:

"Viele Gelder werden gar nicht abgerufen, weil wir es nicht wissen oder weil wir keine Zeit haben, die Anträge ordentlich auszuarbeiten."

Aus der Sicht eines Managers stellt sich der Wandel so dar:

"Die Bürokratie ist nicht geringer geworden, sondern anders."

Was ist anders geworden:

"Das Recht faßten wir bisher als ziemlich feststehend auf, es wurde durch entsprechende Durchführungsverordnungen nochmal präzisiert, aber dann war auch eigentlich schon Schluß. Diese tausenden von Entscheidungen der Gerichte, die haben uns eigentlich bisher kaum berührt."

Und die Berater aus dem Westen?

(26)

"... sehen meines Erachtens zuviel in den Ausnahmen, die versuchen immer ... alles nach allen Seiten abzusichern und sagen, 'also, da müssen wir auf- passen, das dürfen wir nicht machen' aber in der Endkonsequenz kommt raus, daß wir gar nichts machen ..."

Eine komplementäre Feststellung eines Westkollegen zu ursprünglicher Struktur und Organisation des inzwischen privatisierten Unternehmens:

"Als wir die Firma durchleuchtet und versucht haben, die Konturen zu se­

hen - das war sehr problematisch."

Von kommunaler Seite wird der jetzt höhere Aufwand im Formularwesen beschrieben;

es sei ein Vielfaches an auszufüllenden Anträgen, Belegen, an "Schriftkram" insgesamt hinzugekommen. Ein Landespolitiker erläutert dazu:

"Solche langen Formulare haben die noch nie vorher gesehen in der DDR, die waren alle Format A6, aus Papierknappheit, und je tzt sind sie alle drei Seiten, m it Durchschlagen und so blödsinnig und kompliziert, daß sie kein Mensch mehr versteh t..."

Zur Erklärung, derselbe:

"... - notwendig fü r diese komplizierte Verteilungsordnung des Westens, man versucht immer, den Ausgleich zu schaffen; und da man nicht despotisch be­

stimmen kann, muß man ihn eben über Gesetze, Verordnungen usw. schaf­

fe n , und das verlangt eben viel Papier."

Ähnlich:

"... wenn man Gerechtigkeit gegen Jedermann walten lassen w ill,... muß ein hohes Maß an Mißbrauchssicherung eingebaut werden - und genau diese Mißbrauchssicherung scheint m ir durch diese sogenannte Verbürokratisie-

rung erkauft zu werden ... D aß da einiges sicherlich auch ein bißchen p a ­ thologisch läuft - naja g u t ..." (Kommunalbeamter)

Das Verwaltungshandeln und seine Ausbildungsvoraussetzungen werden als jetzt straf­

fer organisiert und reglementiert beschrieben. Geschäfts- und Verfahrensordnungen so­

wie Fachausbildungen für die Kommunalverwaltung als Regelfall waren bisher eben­

falls fremd oder "gehobener Politunterricht, befürchte ich." Die Arbeit wurde weithin mit Hilfe des gesunden Menschenverstandes erledigt,

"...jeder hat es so gemacht wie es ankam, nach Verfügung meistens des Bürgermeisters, und das hat gereicht."

(27)

Dennoch ist ein nachträgliches Empfinden über die Arbeit der kommunalen Verwaltun­

gen der DDR bei jetzigen ostdeutschen Führungskräften, daß auch damals alles geregelt war. Es war aber eben nicht wie in den alten Bundesländern über verbindliche inhaltli­

che und formale Vorschriften einschließlich einzelner vorhandener Ermessens- und Ent­

scheidungsspielräume bis zur Ebene des individuellen Sachbearbeiters geregelt. Son­

dern die Weisungen vom Bürgermeister, nicht ohne den "Segen der Kreisverwaltung", waren ihrerseits wiederum an Vorgaben übergeordneter politisch-administrativer Ebe­

nen gebunden. Heute dagegen müsse man "viel mitdenken", wird der Verwaltungsstil auch, landesseitiger Kommentar, als "unkonventioneller, weg von der Hierarchie, sehr ergebnisorientiert" beschrieben.

Weitergehend:

"Jetzt, wo ich es von innen sehe, da sehe ich auch, daß wirklich eine freie Gesellschaft viel schwerer zu verwalten ist, weil ja auch die Verwaltung nicht überall die Möglichkeit hat, einfach das zu machen, was sie fü r richtig hält, sondern sie m uß ja auch Rechtswege beschreiten, sie muß andere Leute bemühen, sie muß zentralistisch nicht geplante Entscheidungen vor­

aussehen, die ... relativ ungeordnet ablaufen und in die viele Faktoren rein­

wirken, viele Interessenkonflikte ..." (Kommunalbeamter)

Die vorherrschenden Eindrücke westlicher Führungskräfte in diesem Punkt sind andere, aber auch nicht unisono. In den Kommunalverwaltungen werde noch viel improvisiert (was die Arbeit interessant mache) und noch großer Aufwand um Kleinigkeiten betrie­

ben, teils unter massivem Personaleinsatz (was auf Dauer nicht haltbar sei). Kommentar aus der Wirtschaft: "Die Bearbeitungszeiten sind zu lang.”

Eindrücke von der Medienberichterstattung

U nter den Beobachtungen im Arbeitsumfeld der Gesprächspartner ist die Haltung der Massenmedien - gemeint war damit fast immer die Presse, also die gedruckten M as­

senmedien - das am häufigsten aufgegriffene Thema. Die Bandbreite der Äußerungen reicht vom ungewohnten Umgang mit einer ausschließlich der jeweiligen Verlagspolitik rechenschaftspflichtigen Berichterstattung über schulterzukkende Hinnahme ihrer of­

fensichtlichen Unvermeidlichkeit bis zu Erfolgen eigener aktiver Presse- und Öffent­

lichkeitsarbeit. Kritischere Töne fallen über teils unseriöse Recherche oder Veröffent­

lichungen wider besseres journalistisches W issen und tendenziöse Presse ("die alten roten Schreiberlinge" - Kommunalpolitiker), über Zeit- und Energiemangel für eigenen

(28)

proaktiveren Umgang mit der Presse, nicht zuletzt über verkürzte, verzerrte Konstruk­

tion von Realität durch Medien:

"Man kann Namen verkaufen, man kann facts verkaufen, die sich in zwei Zeilen unterbringen lassen, aber die Argumentationsketten ... das ist ein Problem - wer liest das schon. Und dann so komplizierte Sachverhalte, die halt in einer so komplexen und komplizierten Welt, in der wir leben, nicht mehr rüberzubringen sind, sind dann schlechterdings nicht vorhanden in den Medien. Und was nicht in den Medien vorkommt, gibt's scheinbar nicht.

Und damit wird dem, was man eigentlich fü r 'ne wirkliche Demokratie braucht, nämlich die Bildung der Bürger, nicht gerade Vorschub geleistet."

(Landespolitker)

U nter den Teilgruppen von Befragten lassen sich unterschiedliche Interessen in bezug auf die Medienberichterstattung erkennen: Repräsentanten von Oppositionsparteien sprechen, unterschiedlich zufrieden, über ihre eigene Medienpräsenz im Vergleich zur Regierung. W irtschaftsführer verfolgen die Darstellungen betrieblicher Angelegenhei­

ten von überbetrieblichem Interesse in den Medien, wie etwa Personalentscheidungen größeren Stils. In Verwaltungen wird ausbleibende konstruktive Begleitung der Auf­

bauarbeit in Ostdeutschland durch die Medien bedauert; ein Beispiel:

"Das ist ein echtes Problemfeld, weil ich eigentlich immer gedacht habe, daß es sich einfacher arbeiten würde, gerade in dieser Anfangsphase, wenn die Massenmedien ... nicht immer wieder tagtäglich in die Kerbe hauen würden, wo es den Leuten sowieso schon schlecht geht, also immer Schlag­

zeilen über Arbeitslosigkeit und immer wieder Schlagzeilen über soziale Notstände. Sondern ich hatte eigentlich so 'n bißchen die Illusion, daß die Presse hier doch auch politisch wirksam wird und auch ein bißchen Optimismus verbreitet. Und das machen sie überhaupt gar n ic h t..."

(Kommunalbeamter)

Das wird nicht zuletzt als Problem gesehen aus folgendem Grund:

"Es ist eine mediengläubige Grundtendenz in der Ostbevölkerung da, und hier kann jed er etwas aufschreiben - zunächst w ird's geglaubt. D as ist an­

ders als im Westen ..." (Landespolitiker)

Einziger West-Kommentar:

"... in den neuen Bundesländern wurde gedacht, m it Demokratie, Freiheit, freier Presse kommen nur Fakten a u f den Tisch ..." (Kommunalbeamter)

(29)

W estmedien werden nicht gelobt:

"Die DDR-Medien sind zu unseren Verbündeten geworden. D ie West-Me­

dienberichte sind ja bereinigt. Kleine Bürger kommen wenig zu Wort, man bekommt wenig Einblick in reale Lebensverhältnisse, da ist viel Lack dabei.

D as haben wir später am eigenen Beispiel gemerkt, daß die nichts begreifen von dem, was hier passiert." (Kommunalbeamter)

Weitergehend, ein Landespolitiker über eine der ostdeutschen Entwicklung abträgliche Sogwirkung der westdeutschen Medienpolitik:

"... sind plötzlich Medien da, die die Geschäfte des Ostens betreiben, ohne vom Osten selbst oder von den Leuten hier selbst so definiert zu werden oder so bestimmt zu werden ... Und es gibt ja auch die Scheu, überhaupt das zu schreiben und zu artikulieren, was man selber empfindet. Denn man muß ja auch um den Arbeitsplatz fürchten. Insofern ist das auch keine echte Arti­

kulation mehr, sondern die Anpassung an total veränderte Medienverhält­

nisse. Und deshalb geht vieles verloren von dem, was Leute in einen vernünftigen Prozeß von Gestaltung des eigenen Lebens hätten einbringen können. Dazu hätten auch eigene Medien g e h ö rt.... Jetzt sehe ich mehr, daß die Medien, im Gegensatz zu den medienpolitischen Hoffnungen des H erb­

stes 89, uns nicht mehr versammeln, sondern uns im buchstäblichen Sinne des Wortes zerstreuen, als vereinzelte Einzelwesen ..."

2.4 Zusammenfassung und Kommentare

Die in den vorangegangenen drei Abschnitten dargestellten Beispiele zeigen, daß die Transformation in Ostdeutschland so gut wie nichts und niemanden unberührt gelassen hat. Führungskräfte, die die deutsche Vereinigung auf ihrem Posten überdauert haben oder Auffassungen, wonach etwa der Arbeitsalltag oder das W irtschaftlichkeitspostulat im Prinzip gleichgeblieben wären, sind bemerkenswerte Ausnahmen. Das vorherr­

schende Bild ist das einschneidender Veränderungen von (beruflichen) Biographien - seien es auch nur Beförderungen in der W irtschaft oder Ortswechsel von Westkollegen - in einer Umwelt, deren Institutionen um 180 Grad gewendet und deren Körperschaften von Grund auf umgekrempelt werden.

Parallelen zwischen den administrativen, wirtschaftlichen und politischen Veränderun­

gen bestehen bis in Details. Ein Beispiel ist die Rücknahme oder Verschiebung von po­

litischer Steuerung und Kontrolle, ein anderes das Zügeln von politischer W illkür durch Dezentralisierung von Entscheidungskompetenzen, ein drittes der anhand der Ziel­

gruppe demonstrierte breitangelegte Wechsel in der Führungsschicht.

(30)

Die in den drei Abschnitten dargestellten Beispiele zeigen auch, wie viele ungeplante Effekte und Überraschungen eine vorbildlose systemübergreifende Transformation be­

gleiten. W ährend der institutioneile Umbau und eine Reorganisation der Körperschaften offenkundig entsprechend den vorgegebenen Zielen abläuft, sind die hohe Arbeitslosig­

keit und eine Beunruhigung auf dem Wohnungsmarkt wie auch die psychischen Bela­

stungen und die sozialen Spannungen unter der Bevölkerung nicht nur ungeplante son­

dern höchst unerwünschte Effekte der Transformation. Verschiedentliche Irritationen über Bürokratisierung und freie Presse kann man als Folgen einer jahrzehntelangen hermetischen Abschottung zwischen DDR und Bundesrepublik mit der Konsequenz beiderseitiger Informationsdefizite betrachten. Das läßt sich besonders plastisch am Beispiel unterschiedlicher Vorstellungen von Bürokratie darstellen.

Offensichtlich haben bis zur W ende im Osten wie im Westen Unklarheiten über den Typ von Bürokratie im jeweils anderen Staat bestanden. Was den Eindruck hochgradi­

ger Bürokratisierung sozialistischer Länder, auch für ihre eigenen Bürger, ausgemacht hat, war die Doppelung von Verwaltungs- und Parteiapparat - hierarchisch organisiert m it dem Politüro an der Spitze und dem Bürger als Bittsteller, undurchschaubar, perso­

nalstark und ineffizient. Was in Ostdeutschland jetzt den Eindruck hochgradiger Büro­

kratisierung erweckt, ist vor allem das aus der Altbundesrepublik transferierte, stark ausdifferenzierte rechtliche und prozedurale Regelungswerk, wofür es Vergleichbares in der DDR nicht gab.

U nter ostdeutschen Verwaltungsbeamten selbstentwickeltes Verständnis für solcherart Bürokratie kann sich auf den Transformationsprozeß nur positiv auswirken: Nach Brodtrick (1990:112) ist eine wesentliche Voraussetzung erfolgreicher Etablierung und Entwicklung von Organisationen, nicht "lediglich die Leistungsmerkmale anderer zu imitieren". M ehr noch, das anfängliche Erstaunen könnte die im Westen traditionsreiche Debatte über ausufemde Bürokratisierung neu beleben.

Es ist plausibel, daß aus der Sicht der Führungskräfte Unsicherheit, M ißtrauen und Angst in der Bevölkerung noch häufiger als Nachteil der deutschen Vereinigung ge­

nannt werden als deren wirtschaftliche bzw. soziale Ursachen, und zwar aus folgendem Grund: Den Führungskräften stehen von Berufs wegen mehr Informationen als der All­

gemeinheit über anlaufende Vorhaben zur Beseitigung vorhandener Existenzprobleme, etwa zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Linderung der W ohnungsnot, zur Ver­

(31)

fügung. Sie können jetzt akute Probleme damit als künftig lösbar betrachten und außer­

dem aktiv an ihrer Lösung mitwirken. Unter diesen Umständen erhält die Sorge Priori­

tät, die Bevölkerung könnte bis zu einem Greifen der Maßnahmen noch depressivere Stimmungslagen entwickeln.

Es ist eine offene Frage, ob die von den Führungskräften genannten Vorteile der Verei­

nigung von einem Durchschnitt der Bevölkerung genauso beschrieben werden würden.

Verhältnisse, die unter anderem Individualität, Veränderungs- und Gestaltungsmöglich­

keiten und eine Übernahme von Verantwortung erlauben - und erforderlich machen - sind nach westlichem Verständnis jedenfalls elitentypisch.

Hinsichtlich der in den vorangegangenen drei Abschnitten behandelten Themen gibt es nur vereinzelte und eher triviale Positionsunterschiede zwischen Teil- und Untergrup­

pen der befragten Führungskräfte. Einer davon ist, daß der Einzug von Prinzipien der Leistungsgesellschaft insbesondere von Managern und in traditionell wirtschaftsnahen politischen Kreisen begrüßt wird. Ein anderer besteht darin, daß die mit den nach Ost­

deutschland transferierten Institutionen lange vertrauten W estkollegen sich zu Bürokratisierung und Medienaktivitäten wenig äußern. Drittens lassen sich ver- waltungs-, wirtschafts- und politikspezifische Interessen gegenüber der Medien­

berichterstattung erkennen.

(32)

3. Situation

W ie rasch die ostdeutsche Transformation vonstatten gehen kann, hängt zu einem we­

sentlichen Teil ab von den damit verbundenen strukturellen und organisatorischen Pro­

blemen und der Entwicklung entsprechender Problemlösungskapazität. Ü ber Darstel­

lungen der Führungskräfte von Ausmaß und Tiefgang des Wandels in dieser Hinsicht wird im folgenden berichtet.

D er erste Abschnitt handelt von strukturellen Barrieren des Entwicklungsprozesses. Die Erledigung der eigentlichen administrativen, politischen und unternehmerischen Aufga­

ben wird behindert durch noch andauernde Rekonstruktionen von Verwaltungen, Par­

teien und Betrieben unter teilweise schwierigen technischen, finanziellen und personel­

len Bedingungen.

Im zweiten Abschnitt geht es um organisatorische Barrieren des Entwicklungsprozes­

ses. Ihnen liegt ein allgemeiner Nachholbedarf an Regelungs- und Verfahrenskenntnis­

sen und eine vielfach noch zu leistende Umstellung in Bewußtsein und Verhalten auf die neuen Verhältnisse zugrunde.

Abschnitt drei enthält Informationen über die Wege, auf denen die Gesprächspartner sich selbst oder ihren Mitarbeitern die für das Management des Transformationsprozes­

ses erforderlichen Kenntnisse verschaffen. Nicht zuletzt besteht der Streß für die Betei­

ligten darin, daß Learning by Doing keine freie Entscheidung sondern momentan un­

umgänglich ist.

Dieser Berichtsteil wird in besonderer Weise dominiert von Stellungnahmen der Spit­

zenkräfte aus Kommunalverwaltungen. Der Grund dafür ist, daß bei ihnen Transforma­

tionsprobleme horizontaler und vertikaler Art zusammenlaufen. Die Aufbaudefizite übergeordneter Verwaltungsebenen wirken sich auf ihre Handlungsmöglichkeiten un­

mittelbar aus. Zudem sind sie Ansprechpartner für die ebenfalls noch im Aufbau be­

findlichen Parteien und Betriebe wie auch für rat- und hilfesuchende Bürger.

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