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Reihe Germanistische Linguistik. 3 Kollegbuch. Herausgegeben von Hans Peter Althaus, Helmut Henne, Roland Ris, Horst Sitta und Herbert Ernst Wiegand

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Academic year: 2022

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Reihe

Germanistische

Linguistik 3 Kollegbuch

Herausgegeben von Hans Peter Althaus, Helmut Henne, Roland Ris, Horst Sitta und Herbert Ernst Wiegand

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Helmut Henne

Sprachpragmatik

Nachschrift einer Vorlesung

Max Niemeyer Verlag

Tübingen 1975

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ISBN 3-484-10241-1

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1975

Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany

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Inhalt

Vorwort VII 1. Sprachliche Kommunikation und Aspekte ihrer Typologi-

sierung 1 2. Zur zeichentheoretischen Begründung der Sprachpragmatik 16

3. Wie man mit Sprache handelt oder: Sprachspiele am

Anfang 32 4. Sprechen und Schreiben, Hörverstehen und Lesen 47

5. Aspekte der Sprechakttheorie nach Austin und Searle —

Darstellung und Kritik 55 6. „Existenzweisen von Sprache" als pragmatische Kategorien 82

7. Neue Sprachpragmatik und altes Trivium 92

8. Nachtrag: Ein Neubeginn? L. Jonathan Cohen: Speech Acts (1974) 103 9. Literaturverzeichnis 111

Sachregister 118

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Vorwort

Die nachfolgende Vorlesung habe ich im Sommersemester 1974 an der Techni- schen Universität Braunschweig gehalten. Fachschrift' im Untertitel soll darauf verweisen, daß das Manuskript überarbeitet wurde.

Die Vorlesung wandte sich an Studenten aller Semester, war jedoch in erster Linie konzipiert als Einfiihrungsvorlesung. Der Schwierigkeitsgrad der einzelnen Kapitel ist sicherlich ungleichmäßig. Dies auszugleichen, ist in einer Vorlesung — u.a. durch direkte Rückfragen und variierende Paraphrasen — leichter möglich als in einer schriftlichen Fassung. Auch das, was man Didaktisierung eines Stof- fes nennt, ist sicherlich nicht gleichmäßig gelungen. Es ist üblich und notwendig, für solche Defekte um Verständnis zu werben.

Ich habe in Kapitel 1 den (sehr weiten) Gegenstandsbereich einer Sprachprag- matik zu beschreiben versucht und in Kapitel 2 und 3 einflußreiche Konzepte, die u.a. eine Pragmatisierung sprachwissenschaftlicher Fragestellungen begründet haben. Kapitel 4 versucht, den Gegenstandsbereich einer Sprachpragmatik wei- ter zu präzisieren und mögliche Verkürzungen neuerer sprachwissenschaftlicher Traditionen aufzudecken. Auf diesem Hintergrund habe ich in Kapitel 5 die im Zentrum aktueller Diskussionen stehende Sprechakttheorie dargestellt und mich bemüht, Hinweise für eine Weiterentwicklung zu geben. In Kapitel 6 wird die Frage gestellt (und die Antwort gesucht), inwiefern vieldiskutierte Dichotomien neuerer Linguistik (langue und parole, competence und performance) anzuschlie- ßen sind an eine pragmatisch orientierte Sprachforschung. Kapitel 7 schließlich versucht, das Bewußtsein zu schärfen dafür, daß auch neuere Fragestellungen und Ergebnisse im historischen Kontext zu sehen sind; dies nicht in dem Sinne, daß alles schon einmal dagewesen ist, sondern daß der Fortschritt der Wissenschaft, wenn er einer ist, eine relative Kategorie ist.

Hinsichtlich der Darstellung wurde zweierlei angestrebt: (1) eine Vermittlung praktischer Fragestellungen und theoretischer Konzepte; (2) die Einführung zu verbinden mit einer problematisierenden Darstellung, die Wissenschaft nicht als endgültigen, sondern ständig der Kritik unterworfenen und damit fortschreiten- den Prozeß begreift. In diesem Sinne soll auch die vorliegende schriftliche Fas- sung verstanden werden. Für die Überarbeitung habe ich darüber hinaus den Ka- piteln 1—7 eine „Anmerkung zur Literatur" hinzugefügt. Daß die Liste der dort genannten und zum Teil diskutierten Sekundärliteratur selektiv ist, soll hier, wenn das auch selbstverständlich ist, vermerkt werden. Diese Auswahl ist zudem ge- steuert durch den „einführenden" Anspruch der Kapitel. So habe ich mich z.B.

in Kapitel S darauf konzentriert, die Sprechakttheorie in der Version Austins und Searles einführend darzustellen. Das bedingte, darauf aufbauende Konzepte,

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wie z.B. das von S.J. Schmidt, zurückzustellen. Im Literaturverzeichnis sind so- mit nur Titel notiert, die im Text genannt sind. Nichtnennung bedeutet also nicht notwendigerweise Unkenntnis dieser Titel.

Dafi eine gesprochene Vermittlung von Wissenschaft einerseits und eine ge- schriebene Vermittlung von Wissenschaft andererseits sehr unterschiedlichen prag- matischen Voraussetzungen unterliegen, wird u.a. im nachfolgenden Text thema- tisiert. Da ein Sommersemester relativ kurz ist, konnte ich Kapitel 6 und 7 nur fragmentarisch behandeln. Der Begriff Überarbeitung wäre hier besser durch Aus- arbeitung zu ersetzen.

In diese Vorlesung sind Erfahrungen eingegangen, die ich im Rahmen von Hauptseminaren und linguistischen Kolloquien sammeln konnte. Für Kommen- tar und Kritik zu Teilen des Manuskripts danke ich Herbert Blume, Dieler Cherubim, Georg Objartel, Helmut Rehbock und Wilhelm Vesper in Braun- schweig. Letzterem wie Horst Audritz danke ich für das Lesen einer Fahnen- korrektur. Herbert Ernst Wiegand (Düsseldorf) hat hilfreiche kritische Anmer- kungen gegeben, Horst Sitta (Aachen) und Hans Peter Althaus (Trier) bin ich für briefliche Mitteilungen dankbar.

Der Text von L.J. Cohen, der Kapitel 8 („Nachtrag") zugrundeliegt, wurde im Sommersemester 1975 im „Linguistischen Kolloquium" in Braunschweig disku- tiert. Den Teilnehmern des Kolloquiums gilt mein Dank, stellvertretend für alle, die auch in anderen Veranstaltungen mitdiskutiert haben.

Braunschweig, im August 1975 H.H.

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1. Sprachliche Kommunikation und Aspekte ihrer Typologisierung

Was tut man, wenn man einen Brief schreibt? Oben steht: „Braunschweig, den 17. April 1974". Anrede: „Sehr geehrter Herr Müller, vielen Dank für Ihre freund- liche Einladung vom 10. April", usw. Abrede: „Mit freundlichen Grüßen Ihr Wal- ther Meier". Was hat derjenige getan, der diesen Brief schreibt, nämlich Walther Meier, der zuvor einen Brief von Martin Müller empfangen und gelesen hat? Herr Meier hat offensichtlich einen Leseakt vollzogen und als Konsequenz daraus einen Schreibakt. Sind Leseakte, Vollzüge also des Lesens, und Schreibakte, Vollzüge des Schreibens, Gegenstand der Beschreibung und Erklärung der Linguistik? Wie muß ich den „Gegenstand" Sprache verstehen, damit Schreib- und Leseakte zum Objektbereich der Linguistik gehören?

Hilfestellung suchend könnte ich auf die Idee kommen, mich bei Klassikern der Sprachwissenschaft zu vergewissern, ob die Beschreibung von Schreib- und Le- seakten der Linguistik obliegt. Ich greife - sicher nicht ganz willkürlich - zu Fer- dinand de Saussure, Cours de linguistique générale von 1916, u. a. auch deshalb, weil dieser den Gegenstand moderner Sprachwissenschaft entscheidend geprägt hat. Das negative Resultat läßt mich zu einem mindestens zeitlich benachbarten Buch greifen: Richard M. Meyer, Deutsche Stilistik. 2. Aufl. 1913 (in der Reihe

„Handbuch des deutschen Unterrichts an höheren Schulen"). Hier lese ich: „§ 186.

Brief. Als eine Zwischenstufe in der Entwicklung des Berichts hatten wir bereits den Β r i e f zu erwähnen, indem er ursprünglich einfach ein Mittel der Meldung ist, eine bestimmte Form der Übermittlung von Nachrichten. Solang er dies bleibt, entwickelt er keinen eigenen Stil; vielmehr wird der Brief zu einer literarischen Gattung erst, wenn eine Reihe von Mitteilungen im Zusammenhang einem be- stimmten Adressaten übermittelt werden. [ . . . ] Es gibt Epochen, in denen der individuelle Ausdruck sich noch nicht hervorwagt oder einem offiziellen Briefstil (wie in Gellerts Zeit) weichen muß. Schließlich gibt es, wie es scheint, jetzt wieder eine Epoche, in der der Brief auf die Stufe summarischer Benachrichtigung zurück- geht; Postkarte (und gar Ansichtspostkarte!) und Telegramm können treffliche Meldungen, Berichte, Epigramme, aber nur selten Proben des rechten Briefstils liefern." Die Beschreibung einer bestimmten Art von Schreib- und Leseakten, näm- lich Briefschreibakten und Briefleseakten, fiele also nach diesem Mißerfolg bei F.

de Saussure und dem nur relativen Erfolg bei R. M. Meyer der Stilistik zu. Ist dann Stilistik ein Teil der Linguistik? Angenommen, Walther Meier schreibt — aus ver- schiedenen Gründen — nach dem Erhalt eines Briefes von Martin Müller keinen Brief, sondern ein Telegramm: „Ankomme morgen. W. Meier." Warum fehlt hier die An- und Abrede? Warum fehlt das Personalpronomen ich, und warum diver-

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giert die syntaktische Stuktur der Telegrammäußerung von der üblichen Form schriftlicher Äußerungen? Liegt hier gleichfalls ein Schreibakt vor, und was un- terscheidet diesen Telegramm-Schreibakt von dem Brief-Schreibakt? Kann ich über Telegramme etwas bei R. M. Meyer nachlesen? Oder gar bei F. de Saussure?

Angenommen, Waither Meier schreibt weder einen Brief noch sendet er ein Te- legramm — Telegramme kann man nur senden bzw. schicken, nicht schreiben! —, sondern er greift zum Telefon. Sagt er dann auch: „Braunschweig, den 17. April

1974. Sehr geehrter Herr Müller!" ? Warum beginnt man einen Brief mit dem Na- men des Adressaten, also des potentiellen Lesers, ein Telefongespräch aber mit dem eigenen Namen: „Hier ist Meier", nachdem zuvor Herr Müller sich gemeldet hat: „Hier ist Müller". Warum sagt man am Ende nicht: „Mit freundlichen Grös- sen", sondern „Aufwiederhören" oder manchmal auch „Aufwiedersehen"? Wenn Anfang und Ende eines Briefes und eines Telefongesprächs so verschieden sind, divergiert dann auch die sprachkommunikative (textuelle) Struktur überhaupt?

Beim Telefongespräch liegt offensichtlich ein Sprechakt einerseits und ein Hör- Verstehensakt andererseits, vor. Gehören auch sie zum Gegenstandsbereich der Linguistik? Was tut jemand, wenn er einen Sprechakt und ein anderer, wenn er einen Hör-Verstehensakt ausführt? Anders als beim Schreibakt und beim Leseakt liegen hier offenbar d i r e k t e Sequenzen vor : Auf einen Sprechakt des Kommu- nikanten A (Herr Meier) folgt direkt ein Hör-Verstehensakt des Kommunikanten Β (Herr Müller), der wiederum direkt einen Sprechakt des Kommunikaten Β zur Folge hat und so weiter, während beim Schreib- und Leseakt nur von i n d i r e k - t e n , zeitlich und räumlich phasenverschobenen Sequenzen gesprochen werden kann. Im einen Fall also, dem der Sprech- und Hörverstehensakte, „face-to-face- Kommunikation" oder „leibnahe Kommunikation", im anderen Falle Fernkommu- nikation oder „leibferne" Kommunikation. Aber das Telefongespräch dürfte sich dieser Dichotomie nicht fügen, insofern einerseits direkte Sequenzen vorliegen, in- dem ein unmittelbares zeitliches Nacheinander der Akte garantiert ist, andererseits aber räumliche Ferne vorliegt.

Angenommen, Herr Meier s c h r e i b t weder einen Brief, noch s c h i c k t er ein Telegramm, noch f ü h r t er ein Telefongespräch, sondern er sucht Herrn Müller zu einem direkten Gespräch auf, um sich für die Einladung zu bedanken und sie an- zunehmen. Wie unterscheidet sich eine solche wirkliche face-to-face-Kommunika- tion, eine leibnahe Kommunikation, von anderen Kommunikationstypen? Herr Meier ist zu Anfang verlegen, was sich in fahrigen Gesten äußert; deshalb spricht er zu schnell und verhaspelt sich bisweilen; Herr Müller muß deshalb öfter nach- fragen. (Wenn nicht einsichtig ist, warum Herr Meier vor Herrn Müller verlegene Gesten zeigt, sich verhaspelt usw., setze man an Stelle von Herrn Müller Fräulein Müller oder auch Frau Müller.) Damit ist aufgewiesen, daß es neben der „eigent- lichen" Sprechkommunikation, den Teilen der Äußerung also, die — grob gespro- chen — in Laute und Wörter segmentierbar sind, zumindest noch zwei Teilbereiche gibt: Dazu zählen (1) diejenigen Faktoren, die als prosodisch bezeichnet werden

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und deren wichtigste Akzent und Intonation sind. Eine Antwort auf die Frage Herrn Müllers an Herrn Meier, ob er seine (Herrn Müllers) Frau gesehen habe, kann je nach unterschiedlicher situationeller Voraussetzung (Präsupposition) lauten:

„Ich habe sie nicht gesehen!" (aber gehört), oder: "ichhabe sie nicht gesehen!"

(aber mein Kollege). Es liegen in diesem Falle (auch unter semantischem Aspekt) zwei unterschiedliche Äußerungen vor, die allein durch den unterschiedlichen Ak- zent differenziert sind. Zu den prosodischen Faktoren im weiteren Sinne zählen auch solche wie Tonhöhe, Sprechtempo, Sprechrhythmus, Lautstärke, die u. a.

Aufschluß über die innere Disposition des Sprechers geben können. Darüber hin- aus sind (2) Gestik (bezogen auf Hände und Arme) und Gesichts- und Körpermi- mik, also insgesamt: „leibgebundene Expressionen" (Habermas) als zweiter Teilbe- reich zu benennen. Diese, die verbale (=wortbezogene) Kommunikation begleiten- den Faktoren unterstützen die Sprechkommunikation, können sie manchmal aber auch desavouieren. Ich habe Gestik und Mimik deshalb sprachbegleitend genannt, weil sie prinzipiell unabhängig von verbaler Kommunikation sind, manchmal so- gar deren Funktionen übernehmen können (ζ. B. Kopfnicken statt einer Äußerung wie: „Ich werde es tun.").

Haben die prosodischen Faktoren und die leibgebundenen Expressionen ein Pendant auf der Seite des Schreibakts? Da es möglich ist, verschieden akzentuierte Äußerungen in den Druck zu übersetzen (s.o. S. 3), ist damit zu rechnen, daß es den prosodischen Faktoren (sicher nur partiell) äquivalente Mittel in der Schreib- kommunikation gibt. Dazu zählen u. a.: ( Γ ) das Interpunktionssystem, Heraushe- bung im Manuskript, Typoskript und Druck (je unterschiedlich durch ζ. B. Unter- streichung, Kursive, Initialen etc.), die Anordnung der Schrift-, Schreibmaschinen- und Druckblöcke, evtl. auch die Beschaffenheit der Handschrift (bei Manuskript) und die Typenwahl (bei Typoskript und Druck). Diese Faktoren kommen, wie die prosodischen, nur zusammen mit graphischer bzw. typographischer verbaler (also wortbezogener) Kommunikation vor, können aber gleichfalls den inten- tionalen Kontext der Kommunikation spezifizieren. Daß allerdings auch Fehlin- terpretationen (durch den Schreiber selbst) möglich sind, demonstrierte jener Liebhaber, der, weil er wußte, daß seine Geliebte nur mühevoll und langsam lesen konnte, nicht nur besonders deutlich, sondern auch besonders langsam schrieb.

Als Pendant zu den leibgebundenen Expressionen gesprochener Kommunika- tion sind in schriftlicher Kommunikation anzusehen: (2') Wahl und Beschaffen- heit des Papiers; Entscheidung für Manuskript oder Typoskript; für Bleistift, Ku- gelschreiber, Tinte oder Filzstift. Diese Faktoren liegen außerhalb der eigentlichen Schreibkommunikation, sind aber geeignet, den intentionalen Kontext der Kom- munikation zu bestimmen. Eine Bewerbung um eine hohe Beamtenstelle auf rosa oder lila Papier mit Büttenrand im Querformat würde durch eben die Wahl dieser

„Unterlage" die mögliche Erfolglosigkeit bewußt provozieren. Dennoch kann man insgesamt konstatieren, daß die Pendants zu den prosodischen, gestischen und mi- mischen Mitteln in der Schreibkommunikation viel schwächer ausgebildet sind; von

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hier aus ergibt sich eine Erklärung für die stärkere Verbalisierung schriftsprach- licher Kommunikation, für das, was man gemeinhin den höheren Grad an Refle- xion und Differenziertheit „geschriebener Sprache" nennt.

Bis hierher habe ich gesprochene, geschriebene und gemischte (denken Sie an das Telegramm) Kommunikation angesprochen. Ich habe also differenziert hin- sichtlich Fernkommunikation (geschriebene Kommunikation) und Nahkommu- nikation (gesprochene Kommunikation), also nach räumlichen und zeitlichen Kri- terien. Gleichzeitig habe ich jeweils nur von zwei Kommunikationspartnern ge- sprochen oder die Zahl der Kommunikationspartner unberücksichtigt gelassen.

Wird nun die Zahl der Kommunikationspartner in die Überlegung einbezogen, ist zu differenzieren zwischen einer einfach adressierten Form der Kommunikation:

Zwei Partner führen die Kommunikation, u n d einer mehrfach adressierten Form der Kommunikation: mindestens drei und mehr Kommunikationspartner sind be- teiligt. Am Beispiel: Herr Meier schreibt statt eines Briefes an Herrn Müller einen offenen Brief, den er in irgendeinem Publikationsorgan veröffentlicht: „Liebe Mitbürger" (oder auch: „liebe Genossen"). Ein solcher öffentlicher Brief kann nun sicher nicht mehr eine Danksagung für eine Einladung beinhalten, sondern er muß ein Thema haben, von dem zumindest Herr Meier meint, daß es von öffent- lichem Interesse ist: D.h. spezifischen Kommunikationsformen sind jeweüs be- stimmte Themenkomplexe zugewiesen. Man kann im Rahmen unterschiedlicher Kommunikationsformen nicht beliebige Inhalte verhandeln. Oder Herr Meier schreibt nicht einen offenen Brief, sondern er stellt sich auf einen größeren Platz und versucht, mit oder ohne Megaphon, interessierte Zuhörer, Passanten usw. an- zusprechen. Demnach wäre nicht nur zwischen gesprochener Nahkommunikation und geschriebener Fernkommunikation, sondern, diese Kommunikationsformen überlagernd, zwischen einfach adressierter Kommunikation und mehrfach adres- sierter Kommunikation zu differenzieren.

Schon bei der Differenzierung zwischen Fernkommunikation und Nahkommu- nikation erwies sich, daß hier bestenfalls Endpunkte einer Skala markiert sind. Ist eine schriftlich hinterlassene Notiz und deren Kenntnisnahme wirklich zu verglei- chen mit der Lektüre von Flugblättern ζ. B. der Reformationszeit? Außerdem ist das Ineinander von Nah- und Fernkommunikation zu beachten: Fernkommu- nikation wird häufig eingeleitet durch gesprochene Nahkommunikation, gespro- chene Kommunikation geht vielfach geschriebener (graphischer oder typographi- scher) Kommunikation voraus und folgt ihr. In gleicher Weise sind einfach adres- sierte Kommunikation und mehrfach adressierte Kommunikation nur Endpunkte einer Skala. Hier ist nun zum notwendigen Verständnis eine weitere Unterschei- dung einzuführen: Mehrfach adressierte Kommunikation ist zu unterteilen in Gruppenkommunikation und Massenkommunikation. Denn es macht einen Un- terschied, ob Herr W. Meier sein Anliegen in einer Gruppe von Bekannten disku- tiert oder ob er sich über einen spezifischen Kommunikationskanal an eine (Teil-) Öffentlichkeit wendet. Die Relevanz dieser Unterscheidung ist zu beobachten am

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Beispiel von Bundestagsdebatten: Ob diese nämlich einerseits im Rahmen der Gruppenspezifik des Bundestages geführt werden oder ob sie durch eine Fernseh- übertragung zur mehrfach adressierten Massenkommunikation führen. Diese fin- det statt in Zeitungen, Zeitschriften, Büchern, über Funk und Fernsehen.

Exkurs: Massenkommunikation, Frühneuhochdeutsch und das Problem der Entstehung einer überregionalen, zur Fernkommunikation tauglichen deutschen Standardsprache.

Historisch werden Formen der Massenkommunikation relevant in einer Periode, die man im Rahmen der deutschen Sprachgeschichtsforschung als Frühneuhoch- deutsch bezeichnet, einer Periode, die von 1350 bis ca. 1700 rechnet. In diese Zeit (ca. 1440-60) fällt die Erfindung des Buchdrucks, also die Herstellung von Druckerzeugnissen mit beweglichen Lettern. Deshalb erscheint es konsequent, daß in dieser Zeit die Bedingungen geschaffen werden für die Bildung (Entstehung) ei- ner überregionalen, zur Fern- und Massenkommunikation tauglichen deutschen Standardsprache (Schrift- und Hochsprache). In dieser Zeit wird auch der Grund gelegt für Sprachbarrierenprobleme, wie sie innerhalb der modernen Soziolinguistik diskutiert werden; Einerseits wurden durch den (allmählichen) Abbau des Latei- nischen als Gelehrten- und Verwaltungssprache Sozialbarrieren niedergerissen, an- dererseits durch die Etablierung einer deutschen Standardsprache neue errichtet.

Nur durch Partizipation waren die (neuen) Sozialbarrieren zu überwinden, die Mög- lichkeiten dazu sicherlich ungleich verteilt. (Deutsche) Standardsprache als Basis der Wissenschaftssprache, der Fernkommunikation, als spezifisches Vehikel zur Ausbildung einer Literatursprache, als Instrument zur Sprachreflexion und Sprach- kritik: Ein sprachlicher „Mehrwert" war (und ist) damit im Vergleich zu anderen Regional- und Sozialdialekten verbunden. Damit geht einher, daß die Standard- sprache auch zur Ausübung von Herrschaft tauglich wurde und damit das mittel- alterliche und spätmittelalterliche Latein ablöste. Ende des Exkurses.

Die bisher vorgenommene Typologisierung sprachlicher Kommunikation ist noch weiterzuführen. Stellen Sie sich vor, Herr Meier trägt seine Ansichten zu ei- ner politischen Frage in einem kleineren Kreis vor, steht abrupt nach seinem in- formellen Vortrag auf und geht nach Hause. Damit läge eine Kommunikation vor, die ich monologisch nennen möchte: Einer spricht und alle anderen hören zu. Ver- ändern sich hingegen die Rollen ζ. B. der Sprechenden bzw. des Sprechenden und der Zuhörenden bzw. des Zuhörenden beständig, so liegt eine dialogische Kom- munikation vor. Monologische Formen der Kommunikation sind ζ. B. Befehle, Vorträge, die Lektüre einer Arbeitsanweisung am Arbeitsplatz. Dialogische For- men der Kommunikation sind Gespräche (ζ. B. „über den Gartenzaun"), Diskus- sionen, ein Briefwechsel.

In diesem Rahmen sind weitere Kriterien einzuführen, die sich mit den vorher- gehenden nicht decken: die von „komplementärer oder asymmetrischer" Kom- munikation und von „symmetrischer" Kommunikation. Asymmetrische Kommu- nikation ergibt sich dort, wo der Wissensstand oder die sozial bedingten Anwei-

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sungsbefugnisse ungleich verteilt sind, wo aufgrund gesellschaftlicher Verhältnisse legitimierte oder nicht legitimierte Macht- oder Herrschaftspositionen ausgeübt werden. Solche Asymmetrien sind anthropologisch u n d soziokulturell bedingt und realisieren sich in Konstellationen wie Mutter und Kind, Lehrer und Schüler, Vorgesetzter und Untergebener, Arzt und Patient. Symmetrische Kommunikation hingegen realisiert sich dort, wo sich die Kommunikationspartner als gleichberech- tigt betrachten oder vorhandene partielle Unterschiede abzugleichen trachten.

Noch eine letzte Kriteriengruppe möchte ich anfuhren, die in eine Systematik sprachlicher Kommunikation einzubringen ist: die von Kommunikation und Meta- kommunikation.

Man kann einerseits beobachten und feststellen den Typus des (relativ zur je- weiligen Kommunikation) unreflektierten k o m m u n i k a t i v e n Handelns. Ein Verkaufsgepräch in einem Lebensmittelgeschäft hat normalerweise diese Qualität.

Daneben ist ein kommunikatives Handeln zu stellen, das die Bedingungen fak- tischer Kommunikation, in denen es selbst steht, zum Gegenstand des Gesprächs und damit der Reflexion und Argumentation macht und somit als m e t a k o m- m u n i k a t i v - r e f l e x i v e s Handeln einzustufen ist. Wenn man (als potentieller Käufer) während eines Verkaufsgesprächs an der Wohnungstür dem Verkäufer ent- gegenhält, der aufdringliche, ja aggressive „Ton" des Verkäufers passe einem nicht, so ist das eine metakommunikativ-reflexive Äußerung (seitens des potentiellen Käufers), in der dieser seine Interessen artikuliert. Die Tätigkeit des Wissenschaft- lers hingegen, der z. B. die sprachlichen Strategien der Werbesprache darstellt, ist als m e t a k o m m u n i k a t i v - d e s k r i p t i v e s Handeln zu bestimmen: Der Wis- senschaftler steht im Rahmen des wissenschaftlichen Prozesses von Beobachtung, Beschreibung und Erklärung außerhalb des kommunikativen (und metakommuni- kativ-reflexiven) Handelns, das er selbst beschreibt. (Das heißt natürlich nicht, daß der Wissenschaftler nicht eigene kommunikative und metakommunikativ-reflexive Erfahrungen in die metakommunikativ-deskriptive Tätigkeit einbringt; vielmehr begründen solche Erfahrungen erst die Möglichkeit wissenschaftlicher Analyse.) Um metakommunikatives Handeln in seinem Doppelcharakter deutlich zu ma- chen, kann man auch die Prädikate 'interkommunikativ' und 'extrakommunika- tiv' benutzen: Einerseits wird i n n e r h a l b der Kommunikation über ('meta') diese selbst verhandelt, andererseits wird a u ß e r h a l b der Kommunikation über diese im Rahmen wissenschaftlicher Beschreibung berichtet. Dabei kann der Zu- sammenhang zwischen diesen beiden metakommunikativen Handlungsspielarten so bestimmt werden, daß - allgemein formuliert - metakommunikativ-deskrip- tives Handeln (als extrakommunikatives) den Versuch darstellt, metakommunika- tiv-reflexives Handeln (als interkommunikatives) zu präzisieren und zu systema- tisieren mithilfe zusätzlicher wissenschaftlicher Annahmen und Interessen.

Diese Ausführungen zur Typologisierung sprachlicher Kommunikation können nun ihrerseits insofern systematisiert werden, als die jeweils aufgestellten Kriterien zur Unterscheidung sprachlicher Kommunikation zu beziehen sind auf konstitutive

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Faktoren eines sprachlichen Kommunikationsmodells. Dabei sollen die Kriterien bezogen werden auf den Faktor Kommunikationspartner (Kriterienbildung 1, 2), auf den Faktor gesellschaftlicher Kontext (Kriterienbildung 3,4), auf den Faktor situationeller Kontext (Kriterienbildung 5) und auf den Faktor Kanal- bzw. Me- dienspezifik (Kriterienbildung 6). Danach ergeben sich folgende Kategorien mit entsprechenden Subkategorien (weitere Erläuterungen werden anschließend gege- ben):

1. Kommunikationspartner-Konstellation

1.1. interpersonale Kommunikation (face-to-face) : einfach adressiert

1.2. Gruppenkommunikation: mehrfach adressiert 1.2.1. Großgruppenkommunikation

1.2.2. Kleingruppenkommunikation 1.2.3. Kategoriale Kommunikation

1.3. Massenkommunikation: mehrfach adressiert

2. Form der Kommunikation (bezogen auf die Kommunikationspartner) 2.1. monologische Kommunikation

2.2. dialogische Kommunikation 3. Gesellschaftlicher Kontext

3.1. asymmetrische Kommunikation 3.2. symmetrische Kommunikation

4. Reflexions- und Anweisungsgrad der Kommunikation 4.1. kommunikatives Handeln

4.1.1. ausdrückliche Handlungsorientierung 4.1.2. verdeckte Handlungsorientierung 4.2. metakommunikativ-reflexives Handeln 4.3. metakommunikativ-deskriptives Handeln 5. Situationeller Kontext

5.1. Nahkommunikation

zeitlich und räumlich nah (gesprochen) 5.2. Fernkommunikation

5.2.1. zeitlich fern und räumlich fern (geschrieben) 5.2.2. zeitlich simultan und räumlich fern (gesprochen)

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6. Medienspezifik 6.1. direkt

6.2. indirekt (durch technisches Medium vermittelt)

Diese Systematik vermittelt nur eine grobe Übersicht. Die angegebenen Subkate- gorien können jeweils verfeinert werden (s. dazu „Anmerkung zur Literatur" S. 10).

Zu Kategorie 1 gehörte eine präzise Definition und Diskussion des Begriffs Grup- pe. Diese Definition kann hier, entsprechend dem propädeutischen Charakter die- ses Kapitels, nicht gegeben werden. Gruppe wird hier in dem Sinn verstanden, daß soziale Kollektive gemeint sind, die in spezifischen sozialstrukturellen Bezie- hungen und entsprechenden Rollenbeziehungen stehen und demgemäß in Kom- munikation treten. Da der Begriff der Gruppe nach oben nicht exakt abzugrenzen ist, wurde eine grobe Sortierung in Großgruppe und Kleingruppe vorgenommen.

Kategoriale Kommunikation findet innerhalb einer sozialen Kategorie statt, die dadurch ausgezeichnet ist (und sich insofern vom Begriff der Gruppe unterschei- det), daß die Mitglieder dieser Gruppe ein oder mehrere soziale Merkmale gemein- sam haben, o h n e daß sie in einen direkten sozialen Kontakt treten. Kategoriale Kommunikation ist ζ. B. diejenige des Taxenfunks oder solche von Amateurfun- kern. Massenkommunikation ist dadurch ausgezeichnet, daß sie sich an ein breit gefachertes (disperses) Publikum wendet, dessen Zahl nicht exakt anzugeben ist.

Die Kategorie „Reflexions- und Anweisungsgrad der Kommunikation" erhält über die oben erläuterten Subkategorien eine weitere Spezifizierung: Bei kommunika- tivem Handeln ist zwischen den in 4.1.1. und 4.1.2. genannten Subkategorien zu differenzieren. Aesthetische (literarische) Kommunikation ist im wesentlichen nur unter den Aspekten einer verdeckten Handlungsorientierung zu begreifen.

Ein spezieller sprachlicher Kommunikationsprozeß zwischen Kommunikanten in einer Kommunikationssituation zeichnet sich nun dadurch aus, daß er jeweils durch eine Subkategorie (oder zumindest deren Dominanz) der sechs Kategorien zu belegen und d a m i t einem spezifischen Kommunikationstyp zuzuweisen ist.

Eine akademische Vorlesung wäre ζ. B. einzuordnen, indem ihr die Subkategorien 1.2.2; 2.1.; 3.1.; 4.3.; 5.1.; 6.1. zugeteilt werden. Die Tagesschau des Fernseh- programms erhielte die Subkategorien: 1.3.; 2.1.; 3.1.; 4.1.2.; 5.2.2.; 6.2. Ein

„Gespräch über den Gartenzaun" erhielte die Subkategorien: 1.1.; 2.2.; 3.2.; 4.1.2.;

5.1.; 6.1. Übereinstimmende Zuweisung entsprechender Subkategorien macht somit einen spezifischen Kommunikationstyp aus.

Wie man sieht, wird durch das etablierte Kategorieninventar und die daraus re- sultierende Möglichkeit der Typologisierung sprachlicher Kommunikation nur eine erste (und unvollständige) Systematisierung faktischer Kommunikationsprozesse geleistet. Dabei habe ich bis jetzt nicht gesagt, was sprachliche Kommunikation eigentlich sei (und somit auf ein Vorverständnis gesetzt); mit welchen anderen Tä- tigkeiten — außer leibgebundenen Expressionen — sie verwoben ist; welche Rolle

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sie im gesellschaftlichen Leben von Menschen spielt; wer sich welcher Kommuni- kationstypen warum, wann und wo, mit wem und mit welchem Erfolg oder Miß- erfolg bedient. Hätte ich nicht nur Ansätze zu einer Kommunikationstypologie ge- liefert, sondern das auch schon gesagt, bliebe immer noch zu fragen, welche fun- dierenden sprachtheoretischen Einsichten die Linguistik zu leiten haben, die sol- che Probleme ihrem Objektbereich (in Kooperation mit anderen wissenschaft- lichen Disziplinen) zurechnet. Wenn es u. a. Aufgabe der Linguistik sein soll, die Voraussetzungen, Bedingungen und Ergebnisse sprachlicher Kommunikation zu beschreiben und zu erklären, dann gehört dazu, daß man mit einem eingeschränk- ten Verständnis von Sprache sich nicht zufrieden gibt. Dies kann ζ. B. darin beste- hen, daß man die Sprache (einer definierten Sprachgruppe) bestimmt als die Men- ge aller Sätze dieser Sprache, die durch die Grammatik, zusammen mit einer Struk- turbeschreibung, aufgezählt werden - und diese Bestimmung für hinreichend hält, so daß daraus folgt, daß Sprachwissenschaft mit einer so bestimmten Grammatik- theorie und -beschreibung gleichgesetzt wird. Ein solches eingeschränktes Sprach- verständnis kann auch darin bestehen, daß man eine Einzelsprache auf ihre Dar- stellungsfunktion (nach Bühler), also auf ihre Eigenschaft, außersprachliche Sach- verhalte abzubilden bzw. widerzuspiegeln, reduziert und dies im Rahmen einer se- mantischen Theorie zu beschreiben und erklären versucht. Eine Linguistik, die sich die Aufgabe stellt, sprachliche Kommunikation im gesellschaftlichen Kontext zu beschreiben und zu erklären, wird solche Sprachauffassungen als reduziertes bzw. eingeschränktes Verständnis von Sprache zurückweisen. Reduziertes Verständ- nis von Sprache wirft Wittgenstein einer spezifischen sprachphilosophischen Rich- tung vor, indem er deren eingeschränktes Verständnis von (und natürlich Interesse an) Sprache kritisiert: „Es ist interessant, die Mannigfaltigkeit der Werkzeuge der Sprache und ihrer Verwendungsweisen, die Mannigfaltigkeit der Wort- und Satz- arten, mit dem zu vergleichen, was Logiker über den Bau der Sprache gesagt haben.

(Und auch der Verfasser der Logisch-Philosophischen Abhandlung;)" (Philoso- phische Untersuchungen, abgekürzt: PU § 23). Zuvor spricht Wittgenstein von der Mannigfaltigkeit der „Sprachspiele": „Führe dir die Mannigfaltigkeit der Sprach- spiele an diesen Beispielen, und anderen, vor Augen: Befehlen, und nach Befeh- len handeln — Beschreiben eines Gegenstands nach dem Ansehen, oder nach Mes- sungen — Herstellen eines Gegenstands nach einer Beschreibung (Zeichnung) — Berichten eines Hergangs - Über den Hergang Vermutungen anstellen — Eine Hy- pothese aufstellen und prüfen — Darstellen der Ergebnisse eines Experiments durch Tabellen und Diagramme - Eine Geschichte erfinden; und lesen — Theater spielen

— Reigen singen — Rätsel raten — Einen Witz machen; erzählen — Ein angewandtes Rechenexempel lösen - Aus einer Sprache in die andere Übersetzen - Bitten, Dan- ken, Fluchen, Grüßen, Beten." (PU § 23). Eine Linguistik, die sich v o r n i m m t , solche Sprachspiele, zumindest ausgewählte, ihrem Gegenstandsbereich einzuglie- dern, ist seit einiger Zeit unter dem Terminus Pragmalinguistik bzw. linguistische Pragmatik bekannt. Analog zu der Wortbildung Sprach-Wissenschaft und in

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(terminologischer) Übereinstimmung mit K.-0. Apel (u.a. 1974) kann man auch von einer Sprachpragmatik sprechen. Deren sprachtheoretische (zeichentheore- tische) Begründung soll im folgenden Kapitel nachgezeichnet werden.

Anmerkung zur Literatur: Die begriffliche Differenzierung von komplementärer und symmetrischer Kommunikation geht auf Watzlawick, Beavin, Jackson (1972) 68-70 zurück; zu Kommunikation und Metakommunikation vgl. „Anmerkung zur Literatur" von Kap. 4 (S. 53).- Nicht eine Bestandsaufnahme zum Thema sprach- liche Kommunikation ist hier beabsichtigt (die an dieser Stelle funktionslos und zudem nicht zu leisten wäre), sondern ein Bezug auf solche Arbeiten, die eine Ty- pologie sprachlicher Kommunikation zu erarbeiten versuchen. B. Badura und K.

Gloy (1972,18 - 20) haben dem Begriff der „Massenkommunikation" den der

„dialogischen (personalen/direkten) Kommunikation" gegenübergestellt, wobei sie deren Verhältnis zueinander als,.komplementär" bezeichnen (S. 18): „Den kennzeichenden Unterschied beider Arten von Kommunikationsprozessen sehen wir [ . . . . ] in bestimmten strukturellen Zügen [ . . . ] " (S. 19), die sie anschließend zu vier Oppositionen zusammenfassen. Ihr Ergebnis:

A1, B1, C1, D1: A 1 Β 1 C 1 D 1

dialogische / direkt / gegenseitig / privat Präsenz-

face-to-face- personal symmetrisch publikum

Kommunikation

A2, B2, C2, D2: A 2 Β 2 C 2 D 2

Massen- indirekt / einseitig / öffent- disperses

kommunikation durch techn. asymme- lich Publikum

Medium ver- trisch mittelt

Skizze 1 : Oppositive Merkmale dialogischer face-to-face-Kommunikation und Massen- k o m m u n i k a t i o n

Ihr Kommentar: „Jedes dieser Merkmale taucht wenigstens in einer Kommuni- kationssituation auf. Um aber von dialogischer bzw. Massenkommunikation zu sprechen, bedarf es einer Kombination aller vier oberen bzw. unteren Merkmale im Schema. Nach den Kombinationsregeln lassen sich weitere Konstellationen (und damit andere Kommunikationssituationen) erstellen; diese treffen z. T. reale Situationen (z. B. A 1, Β 2, C 1, D 1 : Standpauke eines autoritären Vorgesetzten), ζ. T. nicht denkbare Merkmalkonstellationen" (S. 20). Das hier vorgestellte Mo- dell ist — auch im Sinne einer Grobstrukturierung - unvollständig insofern, als ζ. B.

Situationelle Subkategorien, solche der Form und des Reflexionsgrades der Kom- munikation fehlen. Zudem wird einseitig auf die Dichotomie dialogische Kommu- nikation versus Massenkommunikation abgestellt, und „Zwischenformen" der

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Kommunikation werden erklärt als eine Kombination von Merkmalen, die Massen- kommunikation und dialogische Kommunikation charakterisieren, was sicher un- befriedigend ist.

Badura und Gloy verweisen bei ihren Ausführungen auf W. Schulz (1971, 92 f.), der gleichfalls „zu dieser Bestimmung von Massenkommunikation gelangt" und der in gleicher Weise der Massenkommunikation die der „personalen (face-to-face-) Kommunikation" gegenüberstellt unter Zuteilung nahezu identischer Merkmale fur beide Arten von Kommunikation, wie sie Badura und Gloy in ihrem Beitrag aufführen.

K. Koszyk und K.H. Pruys (1969, 190 - 197) kommen zu einer detaillierten Beschreibung von „Kommunikationssystemen". Sie unterscheiden: „(a) Das intrapersonale Kommunikationssystem", bei dem Kommunikator und Re- zipient identisch sind; (b) das „interpersonale Kommunikationssystem", bei dem

„wechselndes Rollenverhältnis zwischen Kommunikator und Rezipient" vorliegt;

(c) das „Gruppenkommunikationssystem. Als Gruppen gelten soziale Kollektive, deren Mitglieder aufgrund gemeinsamer Werte und sanktionierter Verhaltenserwar- tungen in einem sich positioneil stabilisierenden Rollenverhältnis zueinander ste- hen"; (d) Categoriale Kommunikationssysteme. Als soziale Kategorien werden in der soziologischen Literatur häufig solche Gruppierungen von Personen bezeich- net, die zwar ein Merkmal oder eine bestimmte Merkmalskombination gemein ha- ben, ohne daß jedoch die Mehrzahl miteinander direkten sozialen Kontakt hat.

Ihre gemeinsamen Merkmale prädisponieren sie allerdings für die Aufnahme spe- zifischer Informationsangebote"; (e) Categoriale Massenkommunikationssysteme.

Die kategorialen Massenkommunikationssysteme sind spezialisierte Massenkom- munikationssysteme, insofern als das jeweilige kategorial definierbare Publikum eine deutliche Spezialisierung des Informationsangebotes erlaubt oder fordert. Da- rin unterscheiden sie sich von den eigentlichen Massenkommunikationssystemen".

(Als Beispiele kategorialer Massenkommunikation werden u. a. Parteiorgane, Fach- zeitschriften, Landfunk, dritte Programme genannt); (f) „Massenkommunikations- system." Dieses „ist charakterisiert durch eine polarisierte Verteilung der kom- munikativen Rollen: auf der einen Seite findet sich der Kommunikator bzw. eine aufgabenorientierte Gruppe von Kommunikatoren und auf der anderen Seite eine große Anzahl von Rezipienten [ . . . ]". Dieser Versuch einer Subkategorisierung von „Kommunikationssystemen" orientiert sich an dem, was ich oben die Kon- stellation der Kommunikationspartner genannt habe. Die Subkategorie Catego- riale Kommunikation" ist dieser Systematisierung entnommen. Ob das „intraper- sonale Kommunikationssystem" sprachkommunikativen Prozessen zuzuordnen ist, hängt von der näheren Bestimmung von Kommunikation als sozialem Handeln ab.

(S. dazu Kap. 3). Indem nun die Konstellation der Kommunikationspartner zum alleinigen Kriterium der Systematisierung gemacht wird, werden andere spezifische Merkmale von Kommunikationsprozessen diesen in der Beschreibung mehr intuitiv und weniger systematisch zugeordnet.

Die übliche Gegenüberstellung von dialogischer Kommunikation und Massen- kommunikation unterwirft H. Buddemeier (1973, 51) einer Kritik. Er selbst ver- sucht die „Kommunikationsvorgänge" zu ordnen nach den Kriterien der „Situa-

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tion": Einerseits „faktisch-dialogische Kommunikation", für die folgende Merk- male als kennzeichnend angegeben werden: „1) das Geben und Verstehen von Zeichen geschieht gleichzeitig; 2) es ist nicht festgelegt, wer die Zeichen gibt und wer die Zeichen versteht; 3) die sich aus der Kommunikation ergebende Hand- lungsorientierung entsteht aufgrund des Dialogs der Beteiligten" (S. 44 f.) (als Beispiele werden angeführt eine „Beratungsrunde" - für die alle Merkmale zutref- fen — und eine soldatische Befehlssituation bzw. der Bericht eines soldatischen Untergebenen, für die nicht alle Merkmale zutreffen); andererseits „fingiert-dia- logische Kommunikation": „Für sie ist kennzeichnend, daß Zeichen gegeben wer- den, ohne daß die Möglichkeit besteht, während des Zeichengebens zu prüfen, ob die Zeichen verstanden werden und wie der Adressat reagiert" (S. 47). (Als Bei- spiele werden u. a. „Schreiben oder Lesen eines Briefes, eines Buches; das Halten oder Hören einer Rede" usw. angeführt.) Außerdem unterscheidet Buddemeier

„Kommunikationsvorgänge" u. a. noch „nach der Art und Weise der Vermittlung"

(S. 55 ff.): Einerseits „ausdrückliche Handlungsorientierung", für die als Beispiel ein Hilferuf angegeben wird, andererseits „verdeckte Handlungsorientierung", die weiter differenziert ist in „ästhetisch vermittelte Handlungsorientierung" (z. B.

im Rahmen fiktiver Texte) und sog. „Kontaktgespräche", bei denen es „um das Verhältnis der Dialogpartner zueinander" gehe. Die Einfuhrung dieser Kriterien (innerhalb der Kategorie „Reflexions- und Anweisungsgrad der Kommunikation")

in die oben (S. 7 f.) dargestellte Systematisierung geht auf Buddemeier zurück.

Insgesamt ist auch bei Buddemeier festzustellen, daß die zu etablierende Kriterien- bildung nicht systematisch auf wesentliche Faktoren der Kommunikation bezo- gen ist.

Der oben dargestellte Versuch, dies zu tun, kann im weiteren Sinne verglichen werden mit dem Bemühen der Freiburger Forschungsstelle um H. Steger, eine Theorie gesprochener Kommunikation im Rahmen der Kategorien Redekonstel- lation und Redekonstellationstyp zu erstellen (vgl. z. B. H. Steger und E. Schütz (1973) 194 ff.); K.-H. Deutlich und G. Schänk (1973) 242 ff.). In einer neueren Publikation im Rahmen der Freiburger Forschungen: „Vorschlag zu einer Typik der Kommunikationssituationen in der gesprochenen deutschen Standardsprache"

(1973, 76 ff.) skizziert K.-H. Bausch „Vorschläge zur Erweiterung des Modells"

(sc. der Faktoren der Redekonstellation): 1. Partnerkonstellation; 2. Mitteilungs- aspekt; 3. Modalität der Themenbehandlung; 4. Situationsabgrenzung; 5. Grad der Vorbereitetheit; 6. Verschränkung Text - Situation; 7. Einzelsprecher - Hörer- Verhältnis; 8. Sprecherzahl; [ . . . ] ; er möchte das Modell der Redekonstellation als „Modell der Kommunikationssituationen" einbringen in ein „Gesamtmodell zur heuristischen Beschreibung von Kommunikationssituationen" (S. 97): „Ein solches Modell könnte in fünf einander überlagernden Stufen aufgebaut sein. Aus methodischen Überlegungen heraus erscheint es jedoch sinnvoll, daß die einzel- nen Stufen wie selbständige Teilmodelle erscheinen, die, um das Gesamtmodell zu erhalten, aufeinandergelegt werden müßten" (S. 97 f.). „Die fünf Stufen wären:

1. Raumfaktoren; 2. situative Merkmale; 3. Sprecherdaten; 4. Rollenbeschrei- bungen; 5. Thematik" (S. 98). Sicher sind, verglichen mit dem oben vorgelegten Entwurf, auch diese Stufen eines Gesamtmodells gesprochener Kommunikation noch ergänzungsbedürftig. Aber der Entwurf zeigt, daß jede Typologisierung sprach-

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licher Kommunikation auszurichten ist an Faktoren, die im Rahmen einer Theorie zu benennen und zu relationieren wären und die je nach Zielsetzung grob oder dif- ferenziert zu strukturieren wären. So schlägt K.-H. Deutlich (1973,121) im Rah- men eines detaillierten und innerhalb eines spezifischen Forschungsprojekts stehen- den Erkenntnisinteresses vor, die jeweilige S ρ r e chsituation auf der Basis folgen- der Merkmale einzuordnen: „1. Information zum gesamten Kommunikationsakt:

a. Zur Kommunikation benutztes Medium; b. Handlungsbegleitende Kommunika- tion oder nicht? ; c. Ort/Raum, an dem der Kommunikationsakt stattgefunden hat;

d. Geschlecht und Alter der Partner; e. Gruppenzugehörigkeit der Partner; f. So- ziale Beziehungen der Partner, d.h. Indikatoren für soziale Rollen, Beruf; g. Thema oder Themen des Kommunikationsaktes. 2. Daten über den Informanten während eines bestimmten Kommunikationsaktes: a. soziale Rolle; b. situative Rolle des In- formanten; c. sprachlich aktives oder rezeptives Verhalten; d. Interesse am Kom- munikationsgegenstand; e. Intention im Kommunikationsakt; f. Vorbereitung auf den Kommunikationsakt; g. Häufigkeit der Kommunikation mit einem bestimmten Partner für den Informanten. 3. Technische Zusatzinformationen: a. Länge des Kommunikationsaktes; b. Zahl der Beteiligten; c. Tageszeit, Wochentag und Monat des Kommunikationsaktes."

Da in diesen Kapiteln Typisierungsaspekte sprachlicher Kommunikation ange- sprochen sind, sei an dieser Stelle auf Lyons (1972) verwiesen, der bei dem Ver- such, die Beziehungen zwischen verbaler und nonverbaler Kommunikation aufzu- zeigen, zunächst zwischen den Komponenten „vocal" ('stimmlich') und „non-vo- cal" differenziert (S. 50 ff.). Drei Komponenten der „vocal" Kommunikation wer- den unterschieden: „verbal, prosodie und paralinguistic" ('verbal', 'prosodisch' und 'parasprachlich'). Innerhalb dieser Komponenten etabliert Lyons zwei Dicho- tomien: einerseits „verbal [das sind segmentierbare sprachliche Einheiten] and pro- sodie", andererseits „prosodie and paralinguistic". Die erste Dichotomie wird un- ter dem Begriff „linguistic" ('sprachlich'), die zweite unter „non-segmental" zu- sammengefaßt. „Linguistic " und „non-segmental"werden unter den Oberbegriff

„locutional" gestellt: „My reason for wishing to establish these two different dichotomies is that, from one point of view, the verbal and the prosodie compo- nents go together; they would definitely be regarded as part of language by all linguists, whereas the situation with respect to paralinguistic features is far less clear. From another point of view, however, prosodie and paralinguistic features go together: they are 'superimposed', as it were, upon the segments (phonemes, syllables, words, etc.) which constitute the verbal component of the utterance"

(S. 52). Innerhalb dieses Systems 'stimmlicher' („vocal") Kommunikation subsu- miert Lyons unter 'parasprachlichen' Faktoren lediglich Solche, die oben (S. 3) als 'leibgebundene Expressionen' benannt wurden. Auf die kontroverse Bestim- mung von parasprachlich und Paralinguistik innerhalb der Forschung macht er aufmerksam (S. 53). Darüber hinaus rechnet er der stimmlichen Komponente ei- nerseits „vocal reflexes" ('stimmliche Reflexe' wie Nießen, Gähnen, Husten) zu, andererseits „voice quality" (Stimmqualität). Stimmliche Reflexe sind lediglich Signale, die von den Hörern interpretiert werden können; die Stimmqualität hin- gegen als eine physiologische und kulturelle Komponente dient der Selbstpräsen- tation sowohl in individueller wie gruppenspezifischer Hinsicht und hat, indem

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sie die Identität des Sprechers signalisiert, eine „indexical" ('indexikalische', d.h.

Merkmale anzeigende) Funktion.

Der Herausgeber des Sammelbandes (R. A. Hinde) faßt Lyons' Ordnung in fol- gender Skizze zusammen (S. 91):

Skizze 2: Beziehungen zwischen verbaler und nicht-verbaler Kommunikation

Auf der Basis dieser Systematisierung kann Lyons Aussagen über den Grad der 'Versprachlichung' („linguisticness") innerhalb dessen machen, was er die „locu- tional" Komponente (s. o.) nennt, „such that the verbal component is the 'most linguistic', prosodie features are more 'linguistic' than paralinguistic features, and within the set of prosodie features some, like stress ['Akzent'] and intonation, are more 'linguistic' than others; and paralinguistic features are more 'linguistic' than the non-linguistic components, voice quality and vocal reflexes. By 'more linguistic', in this sense, we mean 'taken as more central by the linguist'. The in- teresting question is why the linguist should evaluate 'centrality' in the way that he does. And the answer would seem to be that the more 'central' a particular component is the more specific it is to human language by contrast with the sig- nalling systems of other species and human singnalling systems other than language"

(S. 54).

Wie kontrovers die Bestimmung des Begriffs „paralinguistisch" ist, geht aus Scherer (1974) 119 - 131 hervor, der unter dem Begriff „paralinguistische [korrek- ter: parasprachliche] Komponenten" einerseits „Stimmqualität" (S. 119 -124),

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andererseits „Sprechweise" („Intonation, Rhythmus und Sprechtempo") begreift.

—Lyons Kategorien „paralinguistic" und „non vocal communication" fassen Watz- lawick, Beavin, Jackson (1972) 61 - 6 8 unter dem Begriff „analogische Kommu- nikation", die sie der „digitalen" (verbalen) gegenüberstellen; hier auch ein be- wertender Vergleich der Funktionsfähigkeit beider Typen; vgl. auch Maas/

Wunderlich (1972, 85 f.); vgl. insgesamt Ruesch, Kees (1972).

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2. Zur zeichentheoretischen Begründung der Sprachpragmatik

In den fünfziger und sechziger Jahren wurde auch in der Bundesrepublik der lin- guistische Strukturalismus und die generative Sprachtheorie Chomskys rezipiert.

Der durch Krieg und Nachkriegszeit bedingte Ausschluß aus der internationalen Diskussion hatte ein Theoriedefizit bewirkt. Dies aufzuholen, hat sich die Germa- nistik, soweit ich sehe, redlich bemüht. Die konstitutiven Elemente eines lingu- istischen Strukturalismus: System, Struktur, beschreibungsmethodische Explizit- heit sowie die generative Erweiterung dieser Konzepte im Rahmen der Sprach- kompetenztheorie N. Chomskys wurden in die germanistische Linguistik über- nommen. Dabei hatte der linguistische Strukturalismus in seinen verschiedenen Varianten den Gegenstandsbereich Sprache im wesentlichen auf innersprachliche Systematizität und Strukturiertheit eingeschränkt. Zwar hieß es z.B. bei Saussure pauschal, daß die „langue", das Sprachsystem, ein „fait social", ein sozialer, also gesellschaftlicher Tatbestand sei (vgl. Saussure (1967) 91: „Ihre soziale Natur ge- hört zu ihrem inneren Wesen"); aber auf der Basis der Forderung nach beschrei- bungsmethodischer Explizitheit wurden kommunikativ-pragmatische und soziolo- gische Aspekte im wesentlichen ausgeblendet: Die strukturalistische Theorie und auch ihre generative Erweiterung immunisierten sich gegenüber solchen Fragestel- lungen — die einen sagen: aus heuristischen Gründen, die anderen sagen: aus dog- matisch ideologischen Gründen. Welches die Motivation für die Ausblendung sol- cher konstitutiven Funktionen der Sprache auch gewesen sein mag: Im Verlauf der 60er Jahre entwickelte sich eine zweite Rezeptionsdiskussion, in der einer- seits gefordert wurde, pragmatisch-kommunikative und gesellschaftliche Funktio- nen von Sprache in eine Sprachtheorie zu i n t e g r i e r e n , andererseits von diesen Funktionen aus eine Sprachtheorie allererst zu b e g r ü n d e n .

Bei der Begründung einer pragmatisch orientierten Sprachforschung pflegt man sich auf Charles William Morris und seinen Aufsatz „Foundations of the Theory of Signs" (1938, dt. „Grundlagen der Zeichentheorie" (1972)) zu berufen. Bei dem Versuch der Etablierung einer a l l g e m e i n e n Zeichentheorie unterscheidet Morris zunächst die „Faktoren" (bzw. „Komponenten") Z e i c h e n t r ä g e r (bzw.

Zeichen), D e s i g n a t (und als dessen Teil: Denotat) und I n t e r p r é t a n t (eines Interpreten). Diese Faktoren sind definiert innerhalb eines Zeichenprozesses, ge- nannt Semiose, die Eigenschaften der Faktoren sind also relational: Es gibt einen Zeichenträger, der auf etwas, nämlich das Designat, referiert, wodurch eine Notiz- nahme (Interprétant) eines Interpreten erfolgt. Innerhalb des Zeichenprozesses nimmt also ein Interprétant (eines Interpreten) über einen Zeichenträger (also mit- telbar) von etwas (dem Designat) Notiz (vgl. 1972, 20 f.). Diese Bestimmung des

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Zeichenprozesses und seiner Faktoren durch Morris ist durch Charles Sanders Peirce vorbereitet, der das Zeichen als triadische (dreifache) Relation bestimmt:

Die Bezüge (Relate) sind: der Mittelbezug („Zeichen als solches", bei Morris „Zei- chenträger"), der Objektbezug (Morris: „Designat") und der Interpretantenbezug (Morris: „Interprétant" (eines Interpreten) (vgl. zu Peirce z. B. U. Eco (1972); E.

Walther (1974); M. Bense (1973)). Im Anschluß an seine Bestimmung des Zeichen- prozesses und der innerhalb dieses Zeichenprozesses in einer dreistelligen Relation stehenden Faktoren Zeichenträger, Designat und Interprétant (eines Interpreten) fuhrt Morris aus, daß man methodologisch („für eine genauere Untersuchung") je- weils zweistellige Relationen abstrahieren könne: Einerseits seien die Beziehungen zwischen Zeichen (oder: Zeichenträgern, s. dazu unten) und den Gegenständen, auf die jene sich beziehen (Designate), zu untersuchen: „Diese Relation nennen wir die semantische Dimension des Zeichenprozesses und symbolisieren sie durch das Zeichen » Ds e m « . Die Untersuchung dieser Dimension nennen wir Semantik".

Andererseits seien die Beziehungen zwischen Zeichen und Interpret zu untersu- chen: „Diese Relation nennen wir die pragmatische Dimension des Zeichenprozes- ses und symbolisieren sie durch » Dp « ; die Untersuchung dieser Dimension heißt Pragmatik". Zum dritten sei, was nicht unmittelbar aus der dreistelligen Zeichenre- lation folge, die offenlasse, ob ein Zeichen sich auf ein Zeichensystem beziehe oder nicht, die formale Beziehung der Zeichen zueinander zu untersuchen: „Diese drit- te Dimension nennen wir die syntaktische Dimension des Zeichenprozesses, sym- bolisiert durch » DSyn « ; und die Untersuchung dieser Dimension nennen wir Syntaktik" (1972, 23 f.).

Zur Festigung der Begriffe entwirft Morris in seinem Aufsatz „Esthetics and the Theory of Signs" (1939, dt. „Ästhetik und Zeichentheorie" (1972) 94) eine Skizze, die die relationale Struktur der triadischen Zeichenrelation (Zeichenträger;

Designat bzw. Denotat; Interprétant eines Interpreten) und die abstrahierenden dyadischen (zweifachen) Relationen der Semiose abbildet und in der deutschen Version (94) folgende Struktur hat (vgl. dazu auch die jetzt greifbare englische Version in Morris (1971) 417):

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Designat Denotat

Skizze 3: Dimensionen der Semiose nach Morris (1939)

Zu klären ist in diesem Zusammenhang noch das Verhältnis von Designat zu De- notat und von Zeichenträger zu Zeichen. Wie der Übersetzer der deutschen Fas- sung, R. Posner (1972, 11), feststellt, ist beiden Begriffspaaren gemeinsam, „daß ihre Verwendung bestimmte Beziehungen zwischen ¡Zeichen und Wirklichkeit vor- aussetzt [. . . ]". Morris definiert: „Das Designat ist nicht ein Ding, sondern eine Gegenstandsart bzw. eine Klasse von Objekten — und eine Klasse kann viele Ele- mente, ein Element oder gar kein Element haben. Die Denotate sind die Elemen- te der Klasse" (1972, 22). Diese Abgrenzung hat Morris in seinem späteren Buch

„Signs, Language und Behavior" (1946, dt. „Zeichen, Sprache und Verhalten"

(1973)) in dieser Form nicht aufrechterhalten bzw. durch eine andere Terminolo- gie ersetzt (vgl. Morris (1973) 161 f.). Da es in diesem Zusammenhang vor allem um die Diskussion des von Morris etablierten „Dreidimensionalitäts-Schemas"

(K.-0. Apel, (1973) 19) geht, werde ich diese Revision hier nicht erörtern. Hin- sichtlich des Begriffspaares Zeichen und Zeichenträger legt Morris fest, „der Zei-

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chenträger verhalte sich zum Zeichen wie das Element einer natürlichen Klasse zu dieser Klasse" (Posner (1973) 11). Diese Bestimmung will ich im Zusammenhang mit der Rezeption Morris' durch G. Klaus diskutieren.

Morris unterscheidet nun zwischen der reinen Semiotik („pure semiotic"), die die reine Syntaktik, die reine Semantik und die reine Pragmatik (als Teildisziplinen) enthielte. Sie hätte zur Aufgabe, eine systematische Form einer Metasprache aus- zuarbeiten, „in deren Begriffen alle Zeichensituationen diskutiert würden". Dem stellt er eine deskriptive Semiotik („descriptive semiotic") gegenüber, die „An- wendung dieser Sprache auf konkrete Zeichenvorkommnisse" sei (und die bekann- ten Teildisziplinen enthielte) (1972, 27).

In eitler Skizze, die ich aus H.-H. Lieb (1971, 96) entlehne, läßt sich die Syste- matik der semiotischen Teildisziplinen folgendermaßen abbilden (die Kanten zwischen den Eintragungen, von unten nach oben, sind zu lesen 'ist ein Zweig (bzw.

eine Teildisziplin) von'):

semiotic

syntactics semantics pragmatics syntactics semantics pragmatics

Skizze 4 : Teildisziplinen der S e m i o t i k n a c h Morris ( 1 9 3 8 )

Darüber hinaus legen die Ausführungen von Morris nahe (1972,42 f.; vgl. H.- H. Lieb (1971) Anm. 12), die Linguistik der deskriptiven Semiotik zuzurechnen, und zwar sowohl hinsichtlich der Untersuchung von „universellen Sprachen"

(Englisch, Französisch, Deutsch) als auch hinsichtlich „stark beschränkter Fach- sprachen" („special and restricted languages") (1972, 30). Daß damit die Lingu- istik sowohl „universeller" als auch „spezieller" Sprachen unzureichend in den Kontext semiotischer Systematik und Teildisziplinen eingeordnet ist, da Sprach-

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theorie und allgemeine Linguistik zumindest in wesentlichen Teilen der reinen Se- miotik zuzurechnen sind, soll hier nur erwähnt, aber nicht weiter ausgeführt wer- den. Die von Morris vorgezeichnete Stellung der Linguistik im Rahmen benach- barter deskriptiver, aber nicht-linguistischer Semiotik ist nach Lieb (1971, 100) folgendermaßen abzubilden:

semiotic

descriptive syntactics semantics pragmatics

linguistic non-linguistic descriptive descriptive descriptive semiotic semiotic syntactics semantics pragmatics

linguistic linguistic linguistic syntactics semantics pragmatics

Skizze 5: Linguistik und Semiotik (nach Morris (1938), unvollständig)

Im folgenden soll nun nicht im einzelnen ausgeführt werden, wie die semio-

tischen Teildisziplinen zu bestimmen sind, ob die Morris'sche Systematik vollständig und wie sie zu modifizieren ist (vgl. dazu H.-H. Lieb (1971)). Vielmehr soll, ge- mäß einem linguistischen Erkenntnisinteresse, gefragt werden, wie die Beziehungen der linguistischen Teildisziplinen nach Morris zu definieren sind. Schwierigkeiten einer genuinen Bestimmung linguistischer Teildisziplinen ergeben sich aus dem An- satz von Morris insofern, als er die Beziehungen von Syntaktik, Semantik und Prag- matik generell, also auf der ersten Stufe der Unterteilung (s. Skizze 4) zu bestim- men sucht. Meine These ist, daß Morris z u n ä c h s t ein Modell der Relationen von Syntaktik, Semantik und Pragmatik zu entwickeln sucht, das die methodolo- gischen Beziehungen der Teildisziplinen und damit in gewisser Weise die Bezie- hungen der Forschungspraxis abbildet.

Einleitend zu dem Komplex der Bestimmung von Syntaktik, Semantik und Prag- matik wird die Syntaktik der „am besten entwickelte Zweig der Semiotik" genannt (1972, 32), innerhalb dessen von der semantischen und pragmatischen Dimension der Semiose abgesehen werde. Um aber nun einen semantischen Satz wie „ » Fido « designiert A" aussagen zu können, werde die Syntax schon v o r a u s g e s e t z t , da

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ja dieser semantische Satz schon eine Zeichenkombination darstelle: „Die Seman- tik setzt also die Syntaktik voraus, abstrahiert aber von der Pragmatik" (1972,43).

Damit ist eine „vollständige semiotische Charakterisierung einer Sprache" jedoch nicht gewährleistet, die erst durch die Pragmatik erfolge: „In einer s y s t e m a - t i s c h e n Darstellung der Semiotik würde die Pragmatik sowohl die Syntaktik als auch die Semantik v o r a u s s e t z e n , wie letztere ihrerseits die erstere v o r a u s - s e t z t , denn die adäquate Diskussion [im Sinne von Darstellung] der Beziehung der Zeichen zu ihren Interpreten [= Pragmatik] erfordert die Kenntnis der Bezie- hung der Zeichen untereinander [= Syntaktik] und zu jenen Dingen, auf welche sie ihre Interpretation verweisen [= Semantik]" (1972, 57, Sperrungen und [ }•

Zusätze von mir). Aufgabe der Pragmatik ist es, die „lebensbezogenen Aspekte der Semiose", somit die psychologischen, biologischen und soziologischen Phäno- mene des Zeichenprozesses zu beschreiben (1972, 52).

In diesem Zusammenhang möchte ich hinsichtlich der von Morris skizzierten Beziehungen der einzelnen semiotischen und damit linguistischen Teildisziplinen von einem m e t h o d o l o g i s c h e n [Syntaktik-Semantik-Pragmatik-] V o r a u s s e t - z u n g s m o d e l l sprechen. Dieses Modell erlaubt es, die Pragmatik nach Belieben, und das heißt: entsprechend dem sog. „Forschungsstand", als Restkategorie bzw.

„empirische Restproblematik" (K.-0. Apel (1973) 10) anzusehen. Zwar beeilt sich Morris in dem Kapitel „Die Einheit der Semiotik" zu betonen, daß erst die Summe der Teildisziplinen den Begriff Zeichen definieren könne und diese Teil- disziplinen „nicht reduzierbar" und „gleichartig" seien (1972, 81); aber herauszu- lesen, wie es E. Tugendhat (1960, 154) andeutet, daß nach Morris (1938) Syntax und Semantik in der Pragmatik „gründen", scheint nach den bisherigen Erörte- rungen nicht möglich. Mit anderen Worten: Gibt es nach Morris (1938) eine „prag- matisch integrierte Semiotik" (Apel (1973) Titel)? Wenn ja, hieße das zugleich die Forderung aufstellen, eine pragmatisch integrierte Linguistik zu begründen. Da- zu muß auf eine Passage zurückgegriffen werden, in der Morris den Begriff der Re- gel erläutert. Hier wird der Begriff der Regel, auch hinsichtlich syntaktischer und semantischer Regeln, p r a g m a t i s c h fundiert: Regel, also auch syntaktische und se- mantische Regel, ist immer ein pragmatischer Begriff: „Regeln sind mögliche Ver- haltensweisen und involvieren den Begriff des Interpreten" (1972, 80). Somit ist die Einheit der Semiotik pragmatisch begründet: „Denn die 'Semiotik' als 'Wissen- schaft vom zeichenvermittelten Verhalten des Menschen' ist in ihrem grundlegen- den Ansatz selbst eine Pragmatik" (K.-0. Apel (1959) 171). Syntaktische und se- mantische Regeln sind ohne Bezug auf einen Interpreten nicht denkbar, selbst die Operationsregeln logischer Syntax und die Wahrheitsregeln logischer Semantik s e t z e n den Interpreten v o r a u s . In diesem Fall möchte ich mit Apel (1973,

16 u. ö.) von einem p r a g m a t i s c h i n t e g r i e r t e n M o d e l l sprechen, das in Opposition zu dem oben beschriebenen m e t h o d o l o g i s c h e n V o r a u s s e t - z u n g s m o d e l l steht. Somit standen in jeweils methodologischer o d e r theore- tischer (bei Morris behavioristisch fundierter) Perspektive unterschiedliche Aspek-

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te der „Zauberformel" Syntax, Semantik, Pragmatik zur Verfügung, die entspre- chend den unterschiedlichen Erkenntnisinteressen rezipiert und interpretiert wer- den konnten. Carnap ζ. Β. (1959) § 5 (1. Aufl. 1942) „konzediert [ . . . ] ein sol- ches Fundierungsverhältnis nur für die empirische Forschung vorgegebener Spra- chen" (E. Tugendhat (1960) 154) (und akzeptiert deshalb nicht eine „reine Prag-

matik"), wobei Carnaps Verständnis von „reiner Semiotik" nicht mit dem von Morris übereinstimmt. Carnap versteht „reine Semiotik" als „Semiotik von Kon- struktsprachen" (formalen Sprachen) (vgl. Lieb (1971) 105), während Morris dar- unter eher die Erarbeitung grundlegender Terme der Semiotik verstand (s. S. 19).

Erst später hat Carnap eine Morris' 'reiner Pragmatik' (annähernd) vergleichbare 'theoretische Pragmatik' vorgeschlagen (Carnap 1956, dt. 1972; vgl. Lieb 1971, 104). Diese Entwicklung Carnaps ist nachzulesen bei Morris (1963, 88 f.), wo die- ser die Notwendigkeit der Einführung einer 'reinen Pragmatik' im System Carnaps betont und Carnap (1963, 861) im Rahmen einer Erwiderung konzediert: „Today I could agree with Morris, that there is an urgent need to develop pure pragmatics, which would supply a framework for descriptive pragmatics."

Diese Beziehung zur Carnap herzustellen, ist in diesem Zusammenhang deshalb von Relevanz, weil die unten zu diskutierende Position von G. Klaus mit der des f r ü h e n Carnap übereinstimmt.

Die Rezeption und Weiterentwicklung der Morris'schen Grundlegung einer se- miotischen und damit auch linguistischen Wissenschaft soll am Beispiel von Georg Klaus „Semiotik und Erkenntnistheorie" (1969) demonstriert werden. Klaus be- greift Semiotik im eingeschränkten Sinne als „allgemeine Theorie der sprachlichen Zeichen" (56) sowohl „natürlicher" als „künstlicher" Provenienz und folgt damit gegen Morris1 weitere Fassung des Begriffs (s.o.S. 19 f.) Carnaps Verständnis von Semiotik (vgl. Lieb (1971) 104). Die die triadische Relation abbildende Skizze Morris' (vgl. Skizze 3, S. 18 ) erhält bei Klaus(1969, 57)folgende Fassung:

Skizze 6: Dimensionen des Zeichenpiozesses nach Klaus (1969)

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Auf der Basis dieses graphischen Modells stellt Klaus u n t e r a n d e r e n fol- gende zweistellige Beziehungen (Relationen) und deren Konversen (Umkehrungen) auf, deren Untersuchung er speziellen Teildisziplinen zuweist (Klaus 1969, 56 f.):

1. R (Ζ, Α) ; Γ . R (A, Z) : Semantik 2. R (Ζ, Z') ; 2 ' . R (Z\ Z) : Syntax 3. R (Z, 0 ) ; 3 ' . R (0, Z) : Sigmatik 4. R (Ζ, M) ; 4 ' . R (Μ, Z) : Pragmatik

Die Herkunft dieser Teildisziplinen als Definitionen zweistelliger Relationen der im Zeichenprozeß beteiligten Faktoren verweist eindeutig auf Morris. Die Etab- lierung einer neuen Disziplin (Sigmatik) und spezifische terminologische Neufas- sungen gehen auf den Versuch einer materialistischen Fundierung zurück, auf die ich weiter unten eingehen werde.

Daß in dieser Etablierung von Teildisziplinen die in der Linguistik wohlbekann- te Phonologie fehlt, hat Klaus wohl bemerkt, indem er sie als „Theorie der Zei- chengestalten" (S. 62) definiert, sie dann aber in der weiteren Diskussion außer acht lassen möchte.

Klaus unterscheidet nun im folgenden zwischen „reiner" und „beschreibender"

Syntax und Semantik. Diese sei für „natürliche" Sprachen zuständig, da sie nur syntaktische und semantische Beziehungen beschreiben, nicht aber festsetzen kön- ne; jene hingegen lege die syntaktischen und semantischen Verhältnisse „künst- licher" Sprachen fest und bestimme, welche Ausdrücke wohlgeformt seien. Daraus resultiere, daß die beschreibende Syntax und Semantik Aufgabe der Sprachwissen- schaft, die reine Syntax und Semantik Aufgabe der Logik seien. Hingegen sei für die Pragmatik eine entsprechende Unterscheidung nicht zu treffen: „ [ . . . ] die Pragmatik kann immer nur beschreibend sein, da ja die Menschen und ihr Verhält- nis zu einer Sprache, die sie benutzen, nicht durch eine Konstruktion festgelegt, sondern immer nur als etwas Gegebenes beschrieben werden können. Das gilt auch fiir künstliche Sprachen [ . . . ] " (S. 61). Auch in der Interpretation der Dichoto- mie von „reiner" und „beschreibender" Semiotik erweist sich Klaus als ein Inter- pret Carnaps insofern, als er wie dieser (s. o. S.22 ) reine Semiotik als Semiotik künstlicher Sprachen und deskriptive Semiotik als Semiotik natürlicher Sprachen begreift. Im Anschluß an den „frühen" Carnap (s. o. S.22 ) schließt er deshalb auch eine reine Pragmatik aus, was nicht einsichtig ist und der Kritik bedarf: Die Kommunikationsgemeinschaft der Forscher, in diesem Fall der formalen Logiker, klammert sich, ihr Erkenntnisinteresse und ihre „Handhabung" künstlicher Spra- chen aus, während Morris am Begriff der Regel gerade die pragmatische Fundie- rung j e g l i c h e r Zeichenwissenschaft aufgezeigt hatte.

Im folgenden werden von Klaus die Aufgaben der Beschreibung der zweistelligen Relationen und damit der einzelnen Teildisziplinen so angegeben: „Gegenstand der Syntax ist die Relation R (Z, Z'). Bei ihrer Untersuchung wird vom gesellschaft- lichen Bezug von Sprachen, von den Beziehungen zwischen Zeichen und Bezeich-

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neten usw. abstrahiert. Die Syntax beschäftigt sich ausschließlich mit Beziehungen zwischen Zeichen, ζ. B. zwischen den Wörtern und Sätzen einer Sprache" (S. 64).

Die Relation R (A, Z) besagt, „daß gedankliche Abbilder die Bedeutung sprach- licher Zeichen sind. Ihre Konverse R (Ζ, A) besagt, daß sprachliche Zeichen die Existenzform gedanklicher Abbilder sind. Wir wählen von nun an den Begriff 'Exi- stenzform', weil er uns das tatsächliche Verhältnis zwischen Sprache und Denken besser zu charakterisieren scheint als der Begriff 'materielle Hülle', der in der mar- xistischen Literatur zumeist gebraucht wird" (S. 68). Klaus nennt für diese termi- nologische Präzisierung zwei Gründe, auf die ich weiter unten (S.27 ) zu sprechen kommen werde. Klaus führt dann weiter aus, daß die Untersuchung der Relation R(Z, A) die Syntax v o r a u s s e t z e (S. 67).

Auch die Untersuchung der Relation R (Z, 0 ) s e t ζ e die Syntax ν o r a u s (S.

67). Hinsichtlich dieser Relation unterscheidet Klaus zwischen „Sprachen der er- sten (semantischen) Stufe" [sog. „natürliche" Sprachen] und „künstlichen Spra- chen" [solchen der zweiten semantischen Stufe]. Im ersten Fall sei einsichtig, daß die Probleme einer Sigmatik natürlicher Sprachen nur im Rahmen der Abbildtheo- rie adäquat darzustellen seien: Die Objekte der Widerspiegelung (bzw. Abbildung) entstammen der „objektiv realen Außenwelt", und „die Zuordnung eines Wortes zu einem Objekt bzw. eines Satzes zu einem Sachverhalt" seien nur möglich über die Abbildrelation R (A, 0 ) : „Ein Wort kann zur Bezeichnung [ . . . ] nur verwen- det werden, [ . . . ] wenn die mit ihm verbundene Bedeutung ein Abbild des betref- fenden Objekts ist. Entsprechendes gilt für Satz, Aussage [als Bedeutung des Satzes] und Sachverhalt. Daraus ergibt sich, daß zumindest für Sprachen der er- sten Stufe und Abbilder der Nullstufe [der außersprachlichen Objekte und Sach- verhalte] die Relation R (Z, 0 ) ebensowenig eine direkte Relation ist wie die Be- ziehung zwischen Abbild und Signal [s. S.28 ]. Die Beziehung zwischen dem Zei- chen und dem Objekt ist vielmehr ein Relationsprodukt aus R (Ζ, A) und R (A, O)" (S. 69). Demnach kann es keine deskriptive Sigmatik als sprachwissenschaft- liche Aufgabe geben. Vom Standpunkt der reinen Semiotik hingegen - die der Untersuchung künstlicher Sprachen gewidmet ist — ist die Sigmatik, wie Klaus selbst ausführt, deshalb überflüssig, weil hier die Objekte der Widerspiegelung — die natürlichen Sprachen — Zeichen seien wie ihre Abbilder, die Zeichen künst- licher Sprachen: „Diese Tatsache ermöglicht es, die Relation R (Z, O) als eine di- rekte Relation zu behandeln und von der Vermittlung durch die Instanz A abzu- sehen" (S. 71). Somit aber fällt die Semantik künstlicher Sprachen mit deren Sig- matik zusammen: Logische Sigmatik ist logische Semantik (vgl. a. a. O.). Wenn aber wie im ersten Fall (s. o.) Sigmatik (als deskriptive semiotische Disziplin) nur ü b e r die Semantik zu betreiben ist, und wenn, wie im zweiten Fall, reine Sigma- tik mit logischer Semantik identisch ist, kann die Sigmatik gar nicht als semio- tische (vgl. Klaus' Bestimmung von Semiotik als 'allgemeine Theorie der s p r a c h - l i c h e n Zeichen') D i s z i p l i n gelten. Durch die Relation Ζ, 0 (und deren Konverse) und A, O (und deren Konverse) werden vielmehr nur semantische Re-

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