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granat apfel 9|2014LEBEN & GESUNDHEIT Krankenhaus Graz, Standort Marschallgasse
Tag 1
Mit wackeligen Knien stand Brigitte an der Glastür mit der Aufschrift „Intensivstation“.
Sie läutete und sagte mit zitternder Stimme:
„Mein Name ist Brigitte Schneider. Ich würde gerne meine Mutter Rosa Meier besuchen!“
Die Türe öffnete sich, Schwester Petra reich- te ihr freundlich die Hand und brachte sie zu ihrer Mutter. Nun stand sie vor ihr. Kurz hat- te sie das Bedürfnis, wieder kehrtzumachen.
Schwester Petra legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter und meinte: „Setzen Sie sich zu ihr. Das tut ihr sicher gut!“ Brigittes Blick strich über den Körper ihrer Mutter. Aber eigentlich sah sie nur jede Menge Kabeln, Schläuche, Geräte und Monitore. Die Augen ihrer Mutter waren geschlossen. In ihrem Mund steckte ein dicker Schlauch.
„Hallo Mama! Was ist denn mit dir pas- siert? Gestern haben wir noch über Lisas Erst- kommunion gesprochen. Weißt du noch?“ Sie strich ihrer Mutter ein paar graue Haarsträh- nen aus dem Gesicht. Die vielen verschiedenen Geräusche verwirrten sie. Sie vernahm wieder Schwester Petras Stimme: „Reden Sie mit Ihrer Mutter. Sie kann Ihnen nicht antworten, aber sie wird spüren, dass Sie da sind!“ Brigitte begann zu sprechen.
„Brigitte? Bist du das? Wo bin ich? Wieso kann ich nicht sprechen? Wieso bekomme ich meine Augen nicht auf? Ich bin so müde, aber ich will jetzt nicht schlafen! Ich möchte dir so viel sagen.“
Tag 2
„Guten Tag, Dr. Adam. Was gibt es Neues bei meiner Mutter?“ – „Ihr Zustand hat sich leider verschlechtert. Sie hat eine Lungenentzün- dung, die wir mit Antibiotika behandeln. Lei- der hat auch die Nierenfunktion nachgelassen und wir mussten mit einer Dialyse beginnen.
Karin Scharler arbeitet auf der Intensivstation im Krankenhaus Graz, Standort
Marschallgasse. Sie widmet diesen Text allen Personen, die Menschen auf ihrem Weg an der Grenze zwischen Leben und Tod begleiten; nicht wissend, auf welcher Seite der Weg enden wird, aber immer im Bewusstsein, diesen Weg einmal selbst beschreiten zu müssen.
TEXT: KARIN SCHARLER, DGKS
Um den Kreislauf in Gang zu halten, geben wir ihr Medikamente.“
Brigitte setzte sich und ergriff die schlaffe, fiebrig-heiße Hand. „Hallo Mama! Ich hab’ dir ein Buch von Ephraim Kishon mitgebracht.
Den hast du gerne gelesen. Ich werde dir vorlesen, ja?“ Ihr Blick fiel auf den aufgedun- senen Körper ihrer Mutter. Am Monitor ent- deckte sie die Zahl 40,5. War das ihre Tempe- ratur? Sie atmete tief ein und begann zu lesen.
Während des Sprechens beruhigte sie sich und Schwester Petra stellte mit einem Blick auf die sinkende Herzfrequenz fest, dass auch Frau Meier sich beruhigte.
„Brigitte? Bist du das? Ich glaube, wir sollten in den Schatten gehen. Es ist so heiß hier!
Kommst du mit ins Wasser? Wo sind Papa und Daniel? Ich sehe sie nirgends. Ach Gott, mir ist so heiß! Bringst du mir bitte Mineral- wasser?“
Brigitte hatte jedes Zeitgefühl verloren. Sie saß einfach da und dachte: „Bitte geh nicht, Mama!
Ich möchte dir noch so viel sagen. Und vor ein paar Jahren hast du mir gesagt, später wirst du mir ein Geheimnis von Papa verraten. Jetzt ist später!“
Tag 3
Am Nachmittag kam Brigitte mit ihrem Bru- der Daniel. Sie begrüßte ihre Mutter: „Hallo Mama! Ich hab dir jemanden mitgebracht!“
Daniel brauchte geraume Zeit, bis er fähig war zu sprechen. „Hallo Mama, ich bin’s, Daniel.
Was machst denn du für Sachen?“ Er versuchte seine Stimme fröhlich klingen zu lassen. Aber das gelang ihm nicht.
„Daniel! Endlich bist du bei mir! Aber wieso hast du nicht vorher angerufen? Ich hätte dir deine Indianer mit Schlagobers gebacken!“
Grenzgang
Karin Scharler, DGKS arbeitet auf der Intensivstation im Krankenhaus Graz, Standort Marschallgasse
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granat apfel 9|201411 Tag 4
Behutsam lagerten Schwester Petra und ihre Kollegin Frau Meier auf die linke Seite, damit ihre Lungen besser belüftet werden. Das hatte ein lautes, dröhnendes Alarmsignal des Dialy- segeräts zur Folge.
„Mama, ich hör’ den Zug! Gleich sind wir am Bahnhof, dann können wir endlich zu Papa nach Österreich fahren. Du brauchst es nicht noch einmal sagen: Wenn uns die jugoslawi- schen Polizisten an der Grenze fragen, was wir drüben machen, dann sage ich: ,Wir be- suchen Oma und Opa!‘ Komm, Mama! Der Zug hört nicht auf zu pfeifen! Ich will ihn nicht versäumen!“
Tag 10
„Die Sauerstoffsättigung fällt ab. Ich sauge ein- mal aus der Lunge ab, Frau Meier, nicht erschre- cken, es ist etwas unangenehm, aber notwen- dig, damit Sie wieder besser Luft bekommen!“
Frau Meier erkannte Schwester Petras Stimme, ihre Melodie hatte etwas Beruhigendes. Aber schlagartig war es damit vorbei. Denn ihr blieb wieder einmal die Luft weg.
„So, liebe Rosa! Du bist seit sechs Monaten in Österreich und hattest genug Zeit, dich an unsere Sprache zu gewöhnen. Komm heraus und trage uns das Gedicht vor.“ Rosa bekam Angst, ihr blieb die Luft weg vor lauter Angst.
Die Lehrerin mochte keine Flüchtlingskinder und würde wieder darauf herumreiten, dass sie ihr R nicht gut aussprechen konnte.
„Alles in Ordnung, Frau Meier! Ich bin fertig.
Ruhig weiteratmen!“ Schwester Petras Stimme ließ das Bild der Schulklasse in Frau Meiers Kopf wieder zerplatzen.
Tag 15
Müde schleppte sich Brigitte wie jeden Tag ins Krankenhaus. Der Abschied nahte. Wenn die Mutter noch einmal aufwachen könnte, damit wir alles besprechen könnten, was wir uns seit Jahren NICHT gesagt haben! Heulend saß sie am Bett ihrer Mutter. Ihre Hand war glühend heiß, Blutdruck und Herzfrequenz viel zu nied- rig. Man hatte alles Menschenmögliche getan, aber vergebens. „Therapierückzug“ war jetzt vereinbart. Ein Sterben in Würde. Gleich würde der Priester für die Krankensalbung kommen.
„Vater unser im Himmel …“ Rosa saß im schönen Brautkleid in der Kirche. Ein sonni- ger Tag im Juni. Es war heiß, so heiß! Peter schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. Rosa war selig. Sie hatte ihr Glück gefunden.
Tag 17
Als Brigitte das Krankenzimmer betrat, sah alles aus wie immer. Nur ein paar Geräte we- niger. Das Gesicht ihrer Mutter hatte sich ver- ändert. Sie sah, dass ihre Mutter nun an der Grenze stand. Zwischen Leben und Tod. Bri- gitte streichelte ihr über das Gesicht und ergriff dann ihre Hände. „Mama, ich hab’ dich lieb.
Ich wollte dir noch so viel sagen! Aber du sollst dich nicht mehr quälen. Geh hinüber, ich will nicht, dass du leiden musst!“
„Dieses helle, warme Licht. Es strahlt wun- derschön! Aber ich kann noch nicht hin! Lie- ber Gott, bitte lass mich noch einmal zurück!
Ich muss unbedingt mit Brigitte und Daniel reden! Ich bin nicht so weit! Ich hab’ noch so viel zu erledigen. Aber dieses schöne, warme Licht zieht mich magisch an!“
Es war ein ruhiges Einschlafen. Als der Mo- nitor nur noch gerade Linien zeigte, hatte sie plötzlich ein glückliches Lächeln auf den Lip- pen. Selig, zufrieden sah sie aus. Schwester Pe- tra hatte alle Schläuche und Kabeln entfernt.
Jetzt lag sie im Bett, als ob sie schliefe. Brigitte gab ihr ein Kreuzzeichen auf die Stirn, dann ei- nen Kuss auf die noch warmen Lippen. Mit den Worten „Gute Reise, Mama!“ verabschiedete sie sich von ihrer Mutter.
„Oh mein Gott! Es ist wunderschön hier!
Aber … das gibt es ja nicht: Hallo Mama!
Papa! Maria! Was macht ihr denn hier? Ihr seid doch tot! Oder heißt das, ich bin jetzt auch …?“
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