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Das Gespenst der Nachträglichkeit : über Peter Handkes Mein Jahr in der Niemandsbucht

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Academic year: 2022

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_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ GEISTERS(HREIBEN

Holger Steinmann

DAS GESPENST DER NACHTRÄGLICHKElT

Über Peter Handkes Mein Jahr in der Niemandsbucht

Ein knapper Blick auf die Autor-Theorie französischer Provenienz im 20, Jahrhundert zeigt, dass bestimmte Begriffe hartn'äckig ihre Til- gung verweigern, Galt es bereits innerhalb des Strukturalismus als ausgemacht, den Autor als Funktion des Textes zu begreifen, so lag es durch Michel Foucaults historische Situierung von Autorschaft

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, VgL Mauricc Blanchot: The Space of Ijtcrdture [1955], Ijncoln - IDndon 19H2, S 90f. und passim,

, Ebenda, S, 95,

'VgL Roland Barthes: The Oeath of the Author [1968], in: Oers,: The Rustle of Language, Berkeley-Los AngeIes 1989, S, 49-55

, Wie viee versa Blanchot auf Barthes referiert, wenn er vom Nullpunkt der Literatur spricht VgL Maurice Blanchot:

Der Gesang der Sirenen, Essays zur moderen Literatur [1959], FrdnkfurtJM, 1988, S, 274ff,

'Blanchot, The Space of Literatur, a,a'ü', S, 95, vgL auch passim,

, Es ist der Aspekt den Peter Szondi in einer Cclan-Lektüre auf den Punkt bringt:

Mit der Sprache des modernen Gedichts (und moderner Literatur schlechthin)

"beginnt die Schwierigkeit des Verständ- nisses, zugleich aber auch die M('lglich- keit, zu erkennen, dass etie traditionellen Mittel der Lektüre versagen," (Peter Szondi: Durch die Enge gefuhrt, Versuch über die Verständlichkeit des modernen Gedichts, in: Ders,: Schriften 11. Hrsg, Jean Bollack et aL, FrankfurtJM, 1978, S, 345-389, hier: S, 345,) Gleichwohl muss darauf hingewiesen werden, dass B1an- chot in /Jer Gesang der Sirenen Her- mann Hesse ein ganzes Kapitel widmet

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(ihrer Erfindung und Instituierung um 1700) nur nah, vom wie auch immer metaphorischen Verschwinden oder Tod des Autors auszu- gehen. Diese Rede findet ihren Ausgangspunkt bereits in den proto- modernen Poetiken und Dichtungen Mallarmes, die in bezug auf Poetologie und Literaturtheorie von Roland Barthes und Maurice Blanchot reZipiert wurden, In The ~pace of Literature etwa legt dieser anhand von Kafka gleich einen zweifachen Nexus zwischen Tod und Literatur. Zum einen ist es die Gedankenfigur der Fähigkeit zum ,zufriedenen Sterben', die nach Kafka die Voraussetzung des Schriftstellers sei;} auf der anderen Seite ist es die Frage nach der generellen Unsicherheit des Todes. Heideggers Bemerkung, da~s

der Tod ein Problem der Lebenden sei, wird hier dadurch verschärft, dass der eigene Tod im Bereich einer nicht vernachrässigbaren Unsicherheit angesiedelt wird: "No one is Iinked to death by real certitude. No one is sure of dying. No one doubts death, but no one can think of certain death except doubtfully."2 Der Autor ist in dieser, weiterhin an Kafka angelehnten, Konstellation derjenige, der nach der Möglichkeit des Todes sucht. Wenn nun Barthes einen Artikel mit Der Tod des Autor~ überschreibt, ist davon auszugehen, dass er um den Text von Blanchot weiß;' ausgerechnet dem Autor, der in seiner Selbsttilgung den Tod sucht, den Tod zuzuschreiben, ist eine Wendung, die hierbei nicht ohne Ironie ist, da somit die Unsicherheit des Todes nun den Autorbegriff selbst kontaminiert.

Somit bekommt dieser durch eine Parallellektüre mit dem Text Blanchots neu es Leben eingehaucht, denn: "death is perpetual flight before death",' Es ist die theoretische Voraussetzung dieser Nicht- Tilgung von Autorschaft, die es legitimiert, den Begriff des Autors in Bezug zumghostwriting zu setzen, indem dieser, gleich einem Gespenst, unverhofft wiederkehrt.

Die Literatur föngt on mit der Niederschrift

Es scheint zun'ächst paradox, ausgerechnet Handkes Text Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Marchen aus den neuen Zeiten (1994) mit den genannten Iiteraturtheoretischen Vorgaben - vornehmlich mit Maurice Blanchot - in Verbindung zu bringen. Diese befassen sich vornehmlich mit Autoren wie Mallarme, Beckett, Kafka oder Char, allesamt Autoren, die mit der Narrativik bzw. den poetischen Formen des 19. Jahrhunderts weitgehend abgeschlossen haben.i> Es lassen sich in den frühen Texten Handkes deutliche Affinitäten zu literarischen Formen finden, die in engem Zusammenhang mit den genannten Iiteraturtheoretischen Ans'ätzen stehen, wie etwa zum Nouveau Roman. Doch auch in seinen Texten der 80er und 90er Jahre gibt es eine Fülle von Querverbindungen zu der der modern-

en Literatur eingeschriehenen DarsteUungsprohlematik: So über- setzte er in dieser Zeit zwei Texte von Francis Ponge und einen

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grogen Gedichtband von Rene Char. Und auch für Handkes eriähl- erische Texte dieser Zeit gilt, dass sie eine "unvoreilige Versöhnung"

(Ludwig Hohl) von ,klassischen' Eriählweisen und ,moderner' Litera- turtheorie wie literarischer Praxis betreiben: Ein wesentlicher Zug von Mein Jahr in der Niemandsbucht ist die Umlenkung, Brechung und Transformation von den in der Theorie affirmierten, diskutier- ten, negierten Begriffen (Werk, Autor, Eriählung, Niederschrift (ecriture), Schrift, Eriähler, Schriftsteller) in Eriählung. Durch diesen fast unmöglichen Akt, entsteht eine Spannung in den Texten Handkes, die nie zur Aufhebung kommt.

Bereits in einzelnen Teil- und Kapitelüberschriften lassen sich Ver- weise auf die poetologische Frage nach dem Autor finden. So heißen die ersten beiden Teile Wer nicht? Wer? und Wo nicht? Wo? Genau diese Fragen - ,Qui maintenant? Ou maintenant'- sind es, die Maurice Blanchot (seinerseits Beckett zitierend) in dem Essay Wohin

geht die Literatur? in Hinsicht auf den Autor stellt.? Vgl. Blanchot: Der Gesang der SIrenen, a.a.O., S. 288ff.

In dem Kapitel Das Jahr spitzt sich die Entgegensetzung und In-eins- Fügung von ,klassischer' Narrativik und und modernem Literaturbe- griff zu wie in kaum einem anderen Text der deutschsprachigen literatur der Nachkriegszeit. Ist für gewöhnlich gerade die darstellende Seite der literatur Signum ihrer Modernität, so ist hier die Darstellung eindeutig der Narrativik des 18. und 19. Jahrhunderts verpflichtet.

Schon in der Literatur dieser Epoche gibt es Schreibszenen, die mit- unter das Handlungsgerüst erst einmal konstituieren - man denke an Jean Paul oder Wilhe1m Raabe, Die Radikalität aber, mit der in be- stimmten Schreibszenen aus Mein Jahr in der Niemandsbucht die li- teratur auf ihren Nullpunkt gebracht wird und auf die krude, rohe, unhintergehbare Materialifät ihres Eintrags, verdient eine genauere Betrachtung. Handke setzt hier den institutionellen Akt in Szene, den B1anchot als das konstitutive Moment von (moderner) Literatur überhaupt beschreibt:

.. ( ... ) die literatur fängt an mit der Niederschrift [ecriture). Die Niederschrift ist jene Gesamtheit von Riten, jenes offenkundige oder verdeckte Zeremoniell, in dessen Verlauf, unabhängig davon, was man ausdrücken will und auf welche An man es ausdrückt, der Fall eintritt, dass das, was geschrieben wird, der Literatur angehört."H In diesem Kontext kommt der Schriftlichkeit und ihrer bisweilen hypertrophen Darstellung eine zentrale Rolle zu, doch liegt diese nicht mehr - wie in früheren Schriften Handkes - in der Utopie einer diesseitigen Eschatologie, in der der Schrift bzw. der Verwandlung von Sachverhalten in Schrift eine Erlösungsfunktion zukommt.9 In Mein Jahr in der Niemandsbucht sieht die Verfassung der Schrift anders aus. Zunehmend dominant wird hier die Anschreibung des

" Blanchot: Der Gesang der Sirenen, a.a.O., S. 279.

, W. G. Sehald hat dies in seinem Auf.~atz

zu Die Wiederholung klar dargelegt. Vgl.

W. G. Sebald: Jenseits der Grenze - Peter Handkes Eriählung Die Wiederholung.

In: Ders.: Unheimliche Heimat Essays zur iisterreischen üteratur [1991], FrJnkfun/M. 1995, S. 162-78,192-4, hier S. 172 und 175 passim.

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111 Auch auf der thematischen Ehene giht es Geisterszencn in Mein Jahr in der Niemandshuchl: so giht es eine An Geistprozession mit literarischen Figuren (vgl. MJI\', a.a.O., aaO., S. 813) wie auch mehrere Begegnungen Keuschnigs mit seinen Ahnen, den "Vorfahren aus dem Jaunfeld, die mir die ganze Zeit schon

( ... ) üocr die Schulter schauten" (MJN, a.a.O., a.a.O, S 877).

" Wenn Klettcnhammer fragt, ob es sich in diesem Text Handkes um eine ,,Aus- Ilischung des Subjekts" handele oder einen "Suhjektentwurf, der zeigt, dass Identität und Sinngehungskonzepte wenn, dann nur mehr über die Reflexion (der Zeichen) hergestellt werden kann", so ist dies nurmehr eine Banalisierung dieses Problems. (Sieglinde Kletten- hammer: Der Mvthos vom Autor als Subjekt: Peter Handkes Mein Jahr in der Niemalldshuchl und die Reflexion von Autorschaft und Schreiben im Kontext von Moderne. Modernismus und Post- moderne, in: literatur', hrsg. Manin Sexl, Innshruck- Wien 1997, S. 91-134, hier S 134.)

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Zusammenhangs von Buchstabe und Tod, der in der okzidentalen theologischen, philosophischen und literarischen Tradition immer wieder betont wurde. Dieser Zusammenhang wird in Handkes Text ebenfalls auf die verschiedensten Weisen narrativ eingelöst. Dabei wird eine zweite Paradoxie offensichtlich, die den Text Handkes durchzieht. Denn trotz der ex- und impliziten Beschaftigung mit dem Tod, bietet Mein Jahr in der Niernandsbucht subtile groteske, komi- sche und humoreske Szenen, wie sie in den bisherigen Texten Hand- kes kaum, in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur noch we- sentlich seltener zu finden sind.

Die Verkleidung, in der der Tod (bzw. der Un-Tod, da die verabschie- deten Begriffe unter dem Zeichen ihrer möglichen Rückkehr stehen, mit einem Wort: gespenstisch sind) in Mein Jahr in der Niernands- bucht erscheint, ist die Nachtraglichkeit. So wird der der Tod des er- iihlenden Subjekts nicht thematisch, sondern auf die verschiedensten Weisen evoziert und umschrieben. Wenn aber das eriählende Subjekt aus dem Bereich des Todes schreibt, ist dies nicht anders plausibilisier- bar, als da~s es selbst eine Art Untoter, ein Revenant, ein Gespenst ist, das sich im Akt des Schreibens verflüchtigt und adressiert.'"

Nochträglichkeit, Schriftlichkeit und Tod

Von ]acques Derrida ist an verschiedenen Stellen immer wieder auf diese Konstellation hingewiesen worden. Da die Schrift den Tod vorwegnimmt, indem sie schon zu Lebzeiten des Autors das archivier- bar macht, was nach dem Tod von ihm bleibt, ist der Schreiber mit der Situation seines eigenen Ablebens konfrontiert. Wenn schöner und zumal moderner literatur überhaupt eine konkrete Funktion zugeschrieben werden kann, so besteht sie unter anderem gewiss in der Reflexion genau dieser Situation. 11 Es ist ihre vordringlichste Auf- gabe, an diesen, ihren ureigenen Nullpunkt des Eintrags von Schrift ihre Tropen, Figuren, Zitate, kurL, ihre ganze Kunst zu wenden, um mit der Kraft der Aporie die implizite Todesn'ähe der Schrift zu tilgen, indem sie genau die Arbeit des Lesens und Schreibens betreibt, die auf dieser Todesn'ähe fußt bzw. sie hervorbringt.

Ein weiteres Modell für Handkes Text stellt in diesem Zusammenhang lngmar Bergmans Film Wilde Erdbeeren (1957) dar; bemerkenswert ist, dass auch in diesem Film die Problematik von Nachträglichkeit, Schriftlichkeit und Tod vorgeführt wird. Der Am lsak verfasst einen Bericht über den Tag seiner Ehrenpromotion; mit der gleichen ln- direktheit wie bei Handke wird aber schnell deutlich, dass dieser Film bzw. Bericht, in dem Lebenserinnerung, Phantasma, Wunschvorstel- lung und Traum auf einer kaum unterscheidbaren Ebene liegen, be- reits aus der Perspektive des sterbenden Subjekts eriahlt wird. Auch

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der Ton der Selbstanklage sowie die Unbeherrschbarkeit familiärer Strukturen sind Topoi, die sich in Handkes Text wiederfinden.

Die Diegese von Mein jahr in der Niemandsbucht ri~st sich etwa wie folgt wiedergeben: Über den Zeitraum eines Jahres schreibt der Schriftsteller Gregor Keuschnig an Mein jahr in der Niemand,bucht, einem Text, der zun'ächst seinen Lebenslauf referiert. Man erfährt, dass er studierter Jurist ist und für die UNESCO in Wien, New York und an verschiedenen Orten der Welt arbeitete. Während dieser Zeit schrieb und veröffentlichte er bereits. Er widmet sich dabei auch seinen Wohnorten und Häusern. Bedeutend ist Keuschnigs ,erste Verwandlung', die ihn in Gestalt einer Schreib- und Sprach- krise an den Rand der Existenz bringt. In den Text eingebettet sind zudem die Geschichten von Keuschnigs Freunden, die sich - zu- meist auf Reisen - an verschiedenen Orten der Welt aufhalten.

Deren konkrete Aufenthalte erstrecken sich - parallel zum Schreiben Keuschnigs - ebenfalls je über ein ganzes Jahr. Im Anschluss an diese Geschichten berichtet er von der ,Waldbucht' der Seinehöhen in der Nähe von Paris, in der er seit zehn Jahren lebt. Dieser Ort wird über den ganzen Text immer wieder evoziert. In dem langen Kapitel Dasjahr widmet er sich konkret seiner Schreibzeit; der Text endet mit einem Wiedersehensfest mit den Freunden. Darüber hinaus werden die Bücher verhandelt, die Keuschnig verfasst haben soll;

diese entpuppen sich als ein entstelltes Verzeichnis von Handkes CEuvre, wobei gar Texte erWähnt werden, die erst nach Meinjahr in der Niemandsbucht erscheinen. 12 Wenn diese Texte in Titel und Anlage auch Ähnlichkeiten zu Handkes Texten aufweisen, so sind sie doch so verschieden von ihnen, dass sie quasi eine Referenz ohne Referenten darstellen; das Werk Keuschnigs ist somit genauso geisterhaft wie er selbst.

Dieser Versuch einer Skizze des Plots wird freilich der extrem ver- wickelten und oft ineinander verdrehten Eriählstruktur des Textes nicht gerecht: So wird oftmals durch die Reflexion des Schreib pro- zesses und oft verschobene Verh"ältnismäßigkeit von Eriählzeit und erLählter Zeit - dem Jahrzehnt etwa, das Keuschnig in der Waldbucht wohnt, werden gute 50, dem Jahr, in dem er den Text verfasst fast 270 Seiten gewidmet - jede plane Diegese aufgehoben, zumal be- stimmte Motive in Variationen wiederholt werden.

Schon die zeitliche Situierung der eriählten Zeit durch die Jahres- zahl 1997 auf Seite 7 ist ein Zug, der das Spiel der Nach- (und Vor- )tfäglichkeit eröffnet. Meinjahr in der Niemandsbucht wurde 1993 geschrieben und 1994 veröffentlicht; es ist somit als ein Nah-Zukunfts- text etabliert, der nicht den utopischen Sprung in die ferne Zukunft betreibt, sondern einen ,kleinwinzigen' Aufschub setzt, der gleich- wohl der von Rene Char behaupteten 'energie disloquante poeti-

12 In dieser entstellten Chronologie stehen Langsame Heimkebr (1979) und Die Abwesenheit (1987) im Vordergrund.

Diese figurieren in dem Text, den der Protagonist Gregor Keuschnig zur Zeit seiner Schreihkrise verfasst: Der Titel dieses Textes lautet zunächst Die Varzeit- lannen und wird im Laufe des Schreibens

umbenannt in Die scbimärische Welt.

Die VOI7.eitformen heigt auch das erste Kapitel von Langsame Heimkebr. Der Bezug auf Die Abwesenheit rauft zudem über die zeitliche Dimensionierung von Meinjabr in der Niemandsbucbt; dieses Jahr ist 1997, 10 Jahre wohnt Gregor Keuschnig in dem Haus in der Pariser Vorstadt, 10 Jahre ist es da auch her, dass Die Abwesenheit erschien. Beide Texte sind als Marchen rubrizien.

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ß Banhcs: Thc Death of the Author, a,a,O., S. 52.

14 Peter Handke: Mein Jahr in der Nie·

mandsbucht. Ein Marchen aus den neuen Zeiten, Frankfurt/M. 1994, S. 11 (Fortan zitien als ,MJN').

I; Aus literaturgeschichtlicher Perspektive sind dies z.B. Ovids Metamorphosen, Goethes naturwissenschaftliche Schriften und Lehrgedichte zur Metamorphose der Pflanzen und Tiere sowie die verschie·

denen Marchenformen, in denen die Ver·

wandlung topisch ist. Wichtig ist bei Handke auch die theologische Allusion der Wandlung von Brot und Wein. Fast allen diesen Applikationen ist gemein, dass sie haufig in Zusammenhang mit dem Tod und dem Prozess des Sterbens stehen, so etwa bei den ovidischen Mythen, wo die Verwandlung einer handelnden Person in einen Naturgegenstand oft mit dem Tod dieser Person identisch ist; auch in der theologischen Anspielung liegt natürlich ein Konnex zum Tod, da das Ahendmahl ja auch an Kreuzestod und Auferstehung Christi erinnen. Vgl. auch MJN, a.a.O., S. 970, wo Eucharistie und Eriahlung zusammengebracht werden.

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schen Sprechens entspricht. Dieser Aufschub stellt, schon bevor der Text einsetzt, eben dieses Jahr, von dem er vorgibt zu handeln, radi- kal in Frage, da es, wörtlich genommen, ja noch gar nicht angefang- en hat. Dieses Problem ist nicht dadurch tilgbar, dass nun, im Jahr 2004, auch das Jahr 1997 in der Vergangenheit liegt. Die Differenz zwischen dem Jahr 1993, in dem der Schriftsteller Peter Handke, und dem Jahr 1997, in dem der Schriftsteller Gregor KeuschnigMein jahr in der Niemandsbucht schreibt, ist durch den Paratext des Er-

scheinungsjahres festgeschrieben. Der Untertitel von Mein jahr in der Niemandsbucht gibt dieser Irritation noch einen Namen. In

Referenz auf E.T.A. Hoffmanns Der goldne Topf, das den Untertitel Ein Marchen aus der neuen Zeit tragt, rubriziert Handke den Text als Ein Marchen aus den neuen Zeiten. Die Pluralbildung passt ge- nau zu den verschiedenen (lebens-)Zeiten Keuschnigs, um so mehr aber zu den Zeitschichten 1993/1997, da diese auf die Schreibzeiten Handkes und Keuschnigs verweisen. Die Unverwechselbarkeit der beiden Schreibzeiten ist dadurch gekennzeichnet, dass der Rückblick, die Nachtraglichkeit Keuschnigs dem ,Vor-Blick', der ,Vor-Traglich- keil' Handkes entspricht. Diese doppelte Zeitschichtung verscharft noch den Aspekt der Kreuzung von klassischer und moderner Autorschaft, die Barthes in The Death oj the Author beschreibt:

"The Author, when we believe in hirn, is always conceived as the past of his own book: book and author are voluntarily placed on one and the same line, distributed as a bejore and an after: The Author is supposed tojeed the book, i.e., he lives before it, thinks, suffers, lives for it; he has the same relation of antecedence with his work that a father sustains with his child. Quite the contrary, the modern scriptor is born at the same time as his text ( ... ), there is no other time than that of the speech-aet, and every text ist written eternally here and now."ll

In Hinsicht auf Keuschnig wird genau die ,klassische' Position des Autors angeschrieben, indem er über seine Vergangenheit berichtet;

in Hinsicht aufHandke aber wird die Position Barthes' noch radikali- siert, indem selbst die ,ewige Gleichzeitigkeit' von Werk und Autor demontiert und getilgt wird, indem dieses auf die Zukunft vertagt und somit ,immer' vier Jahre voraus ist.

Meinjahr in der Niemandsbucht beginnt mit den folgenden Satzen:

"Einmal in meinem Leben habe ich bis jetzt die Verwandlung erfahren.

Diese war mir davor ein bloßes Wort gewesen, und als sie damals anfing, nicht gem'achlich, sondern mit einem Schlag, hielt ich sie zunachst fur mein Ende. Sie traf mich als TodesurteiL"14Der Begriff der Verwandlung schreibt hier ein weites Feld von Bedeutungen und Referenzen anl\ von denen eine im Folgenden explizit wird:

"Plötzlich fand sich an meiner Stelle kein Mensch mehr, statt dessen

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ein Auswurf, fUr den es, im Unterschied zu der bekannten A1t-Prager Groteske, nicht einmal die Flucht in die wenn auch noch so schreckl- ichen Bilder gab." Die ,A1t-Prager Groteske' ist freilich nichts ander- es als eine Antonomasie von Kafkas Die Verwandlung, mit dessen Protagonisten Gregor Samsa Keuschnig den Vornamen teilt. Eine Gemeinsamkeit beider Texte liegt darin, dass die Verwandlung beid- er Protagonisten vor dem Einsetzen des Textes liegt; Keuschnig freilich versucht, die seine eriahlerisch zu bewaltigen, wahrend die Verwandlung Samsas zu einem "ungeheuren Ungeziefer,,'n am An-

fang der Eriahlung als Faktum vorgegeben wird, der Akt der Ver- wandlung somit enigmatisch bleibt. Ein weitere Verbindung besteht darin, dass beide Texte mit dem Tod des Protagonisten enden. Da aber Mein Jahr in der Niemandsbucht eine Ich-Eriahlung ist, wird dieser nur sehr vermittelt über die ,Bilder' dargestellt, die Keuschnig während seiner ersten Verwandlung so vermisst hat.

Tod und Verwandlung

Keuschnig verweist auf andere deutschsprachige Autoren - vor- nehmlich Goethe und Hölderlin -, die aber immer bei ihrem Namen genannt werden, wohingegen weder der Name Kafka erw'ahnt noch ein Werktitel Kafkas wönlich zitien wird. Implizit ist dies wieder ein Verweis auf Blanchot, für den Kafka einer der Hauptreferenzen ist, wenn es um die Poetik von Tod und Verwandlung geht. Konsequen- terweise bleibt der Name des ,Modernen' - im Gegensatz zu ,Klassi- ker' und ,Gegenklassiker' - eine Leerstelle, die erst über Antono- masie und Metonymie ,gefüllt' werden muss. Die Referenz auf Die Verwandlung geht aber nun genau d'accord mit der Idee vom Verschwinden des Schriftstellers, heißt es doch an einer Stelle über Gregor Samsa: "Seine Meinung darüber, daß er verschwinden müsse, war womöglich noch entschiedener, als die seiner Schwester."17 Seine innige Verbindung zu Kafka hat Handke in einem Notat aus den frühen 80er Jahren ins Bild gesetzt: "Kafka und ich als die zwei Balken des Andreaskreuzes". 18 Auch diese Anspielung auf den Heili- gen Andreas und seinen Kreuzestod implizien Todeswunsch und Selbstaufhebung; so ist in der Legenda Aurea über den Apostel überliefen, dass er am Kreuz Folgendes sprach:

"Herr, ich bitte dich, daß du mich nicht lassest lebend von diesem Kreuze kommen. Es ist Zeit, daß du der Erde wiedergebest meinen Leib: ich hab ihn so lange getragen und hab ihn so lang gehütet mit großen Sorgen und Arbeit, daß ich nun begehre erlöst zu werden von diesem Gehorsam, und bitte, daß mir abgenommen wird dieses schwere Kleid ( ... ).,,19

11, franz Kafka: Die Velwandlung [1915].

in: Ders.: Gesammelte Werke in zwölf Banden, hrsg. Hans-Gerd Koch, FrankfurtIM. 1998, Bd. 1, S. 91-158, hier S.93

17 Ehenda, S. 152 mit Rekurs aufS. 150.:

",Weg muß es', rief die Schwester, ,das ist das einzige Mittel, Vater. ",

IH Peter Handke: Phantasien der Wiederholung, Fr,mkfurtlM. 1983, S. 51.

'9 Jacobus de VCJrdgine: Die Legenda Aurea. Heidelherg 1984, S. 22.

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21J Wie der Bleistift das einzige Schreih- medium (und Leitmedium Handkes) ist, das sich \vahrend des Schreibens fast vollständig desintegriel1 und in Schrift

\uwanddt. Im Text wird jeder ver- hrauchte Bleistift fast zeremoniell I'crhschil'det, NB 987f.

- B1anchot: Der Gesang der Sirenen, 'I

a.aO., S 293.

22 VgL etwa MJN, a.a.O., S. 757 ,Bauwerk' und ,Baumwerk'.

2:\ Natürlich gibt es zum ,Niemand' noch weitere A1lusionen: Odysseus, der sich, um den Polyphem zu überlisten, ,niemand' nennt, Paul Cclans Gedichthand Die Nienumdsrose oder auch Nowhere _t1an von den Beatles.

24 MJN, a.aO, S. 12.

2\ MJN, a.a.O., S. 740.

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Anstatt der Passivität der ,ersten Verwandlung', deren Subjekt Keuschnig war, möchte er nun eine ,neue Verwandlung' "selber in Gang setzen". In den Metaphern des Turenöffnens, der Schwellen- situation und der Biologie der Metamorphose erkennt Keuschnig die Bilder fur sein Tun. Doch stellt sich die Frage nach der Referenz dieser zweiten Verwandlung: Was oder wem soll sie entsprechen?

Da diese Thematisierung der zweiten Verwandlung einhergeht mit dem Beginn des Schreibens, ist von einem intrinsischen Zusammen- hang, ja, der Identität von Verwandlung und Textentstehung aus- zugehen; der Schriftsteller verwandelt sich nach und nach in den Text den er schreibt. Diese ,neue Verwandlung' wäre also nichts anderes als der Tod; der Schriftsteller erscheint somit als sterbendes Subjekt, das vollkommen veräußerlicht im Text als seinem einzigen Surrogat zurückbleibt.20 Blanchot merkt zur ,Selbstverwandlung' des Schriftstellers an: "von dem Menschen der (das Werk) schreibt, wird verlangt, dass er sich dem Werk aufopfert, dass er ein anderer, oder vielmehr, dass er kein anderer wird, ( ... ) dass er niemand ist. ,,21 Über die Paronomasie, die bei Handke an Schlüssels teilen immer wieder lesbar wird22 , ist man durch die Tilgung des ,t' in der Lage, in dem Wort ,Niemandsbucht' das Ergebnis des Schreibprozesses zu erkennen: Das ,Niemandsbuch'.23

Dieses enthält auch auf der thematischen Ebene den Aspekt der Wiederkehr; so gibt Keuschnig am Anfang des Textes die Beschreib- ung eines eigenwilligen memento mari, das ihn am Vorabend des Beginns der Niederschrift ereilt hat: "Nachdem die zurückspringen- de Messerklinge, in einem tiefen Schnitt, der mich kurz alle Fleisch- schichten bis auf den Knochen sehen ließ, mir fast den Schreibfinger abgetrennt hatte, putzte ich, während ich die Hand, auf das Blut wartend, in den Strahl hielt, mit der anderen sorgsam die Zähne. ,,24 In dem Kapitel, in dem Keuschnig seine Niederschrift referiert, kommt er noch einmal auf das Selbstportrait des Autors als Knochenmann zurück: ,,An dem Voranfangsabend sprang die Klinge des Klapp- messers, womit ich eine Schraube anziehen wollte, zurück und schnitt mir eine Wunde in den Zeige- oder Schreibfinger, so tief, daß ich fur den einen Moment, ehe sich das Fleisch wieder schloß, noch ohne einen Tropfen Blut, das Weiß des Knochens aufblitzen sah. Im Krankenhaus, außerhalb der Bucht, wo die Wunde genäht wurde, sagte der Arzt, der Finger sei fur Wochen ruhig zu halten, und: ,Was ist ihr Berut?'''25

Warum diese starke narrative Verbindung von Messer und Schrift- steller? Der Schriftsteller trennt mit seiner Arbeit die Worte radikal von den Dingen. Indem die Dinge benannt und in Schrift verwan- delt werden, wird ein Abgrund zwischen Wort und Sache deutlich.

Bemerkenswerterweise lautet der Satz vor der zweiten Beschreibung

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des Schnitts: "Ich würde am folgenden Tag mit meinem Jahr in der Niemandsbucht anfangen." Da Jahr in der Niemandsbucht' keine Titelmarkierung tt'ägt, bleibt offen, ob es sich bei dem Jahr um einen Zeitraum oder einen Textraum handelt. Insofern bleibt Keuschnig - oder Handke - dieser Differenz eingedenk. Der geisterhaften ewigen Widerkehr des Textes wird hier der vergehende, einmalige Jahres- zeitraum entgegengesetzt.

Auch an den Freunden Keuschnigs, die in verschiedenen Weltteilen unterwegs sind, wird die Thematik des Todes deutlich. Die Kommu- nikationswege, auf denen diese Freunde sich mitteilen, sind dunkel und Keuschnig betreibt auch keine einfache Wiedergabe ihrer Er- lebnisse: "Meine Freunde wissen dabei auch nicht, dass ich mit ihnen etwas vorhabe, und ahnen nicht einmal, dass die paar Bruch- stücke, die mir von Zeit zu Zeit von ihnen zukommen, und im Lauf des Jahres weiter zufliegen sollen, hier Nachrichten, Zusammen- hänge, Entgrenzungen, ja rur Augenblicke ein vollkommenes Teil- nehmen stiften."z6 Dieses geht bisweilen so weit, dass Keuschnig ihre Wege nachvollzieht, ohne Nachricht von ihnen zu erhalten:

"Trotzdem, auch ohne zusammenhängenden Bilderzug, sah ich das durch die Welt Wandern jedes einzelnen Freundes weiterhin - ich brauchte nur meine Gedanken zu ihm hinzuspitzen - in einem scharfumrissenen Licht: Das war wie der Blick durch das Teleskop im Haus auf den Mond ( ... ). ,,27 Die Beschreibungen sind dann aber so ausruhrlich, dass man zu dem Schluss kommen kann, die einzel- nen Freunde seien im strengen Sinne gar keine anderen Personen, sondern erweiterte Darstellungen Keuschnigs selbst. Einruhlung in die Anderen und Auflösung seines Selbst gehen Hand in Hand. So heißt es schon am Anfang des Textes: "Es soll eine Geschichte meiner Gegend hier und meiner femen Freunde sein. Dabei bin ich weder sicher, ob es meine Gegend, noch ob jene Reisenden meine Freunde sind. ,,28 Auf jeden Fall werden sie allesamt am Schluss von Mein Jahr in der Niemandsbucht in eine akute Todesriähe geruckt: "Und jeder hatte mindestens einmal in dem vergangenen Jahr nachtlang in seinem Todesschweiß gelegen."29

In den Geschichten dieser Freunde finden sich dementsprechend etliche Stellen, die den Zusammenhang von Schrift und Tod - immer unter Einbeziehung kulturgeschichtlicher Referenzstellen - in Szene setzen. Es seien hier nur skizzenhaft einige Beispiele angeführt:

~ Einer der Freunde Keuschnigs, der Maler, entscheidet sich in der Schreibzeit des Textes, einen Film im Stil von Straub-Huillet zu drehen. Die Vorlage hierzu ist William Faulkners Roman As J lay Dying. Dieser durchaus agonale Text, der von Tod und Sterben einer Art Matriarchin handelt - die u. a. noch aus dem Sarg her-

26 MJN, a.a.O., S. 24.

27 MJN, a.a.O., S. 908f.

2B MJN, a.a.O., S. 25. Dies ist auch eine Anspielung auf Mes Amis von Emanuel Bove; dieser Text wurde ebenfalls von Handke übersetzt. Die ,Freunde' des Protagonisten bei Bove entpuppen sich im laufe der Begebenheiten des Textes fast immer als falsche Freunde.

29 MJN, a.a.O., S. 1054.

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]() Wie in eine Verdichtung ist aber auch dieser Protagonist mit dem ,Motiv' der Verwandlung verknüpft: In Langsame Heimkehr wird in personalem Erzählstil in dritter Person über ihn berichtet, wahrend er in dem Folgeband der Tetralogie gleichen Namens (Die Lehre der Saint Victoire) zum Erzähler mutiert.

]1 Vgl. Platon: Phaidros, 257e. Dazu Jacques Derrida: Dissemination; London 1981, S. 77: "The status ofthis orphan I the pharmakon of writing], whose wel- fare cannot be assured by any auendance or assistance, coincides with that of a graphein which, being nobody's son at the instant it reaches inscription, scarcely remains at all and no longer recognizes its origins, whether legally or morally."

32 Platon, Phaidros, 277a.

j ] Vgl. Platon: Phaidros, 273dff.

i; MJN, a.3.0., S. 918f.

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aus den Gang der Ereignisse kommentiert - wird verfilmt unter dem Titel Die Gegend hinter dem Spiegel. Weniger hat man hier- bei an Lewis Carroll zu denken, als vielmehr an Cocteaus Film Orpl1ee, in dem der Spiegel den Eingang in die Unterwelt darstellt.

~ Georges Simenon macht sich daran, ein Buch namens Der Apo- theker von Erdberg zu schreiben, das Keuschnig geplant, aber wieder verworfen hat. Am Ende des Jahres und Textes beobachtet Keuschnig ihn dabei - im Jahre 1997, da ist Simenon aber bereits 13 Jahre tot.

~ Die Aspekte überlagern sich auch in Valentin, dem Sohn Keuschnigs (der in Rückbezug auf Handkes Werk (die Hauptfigur Valentin Sorger in Langsame Heimkehr) eh eine Art ,Text-Sohn' ist):311 Nach dem Besuch der Nikolaos Orfanos-Kapelle in Thessaloniki kommt er zu der Einsicht, dass er keinen Vater und keine Mutter habe. Dieser Satz kann nun auf mehrere Weisen gelesen werden;

auf der inhaltlichen des Textes changiert die Lesart zwischen dem realen und dem symbolischen Tod des Schriftstellervaters, Zu- gleich schreibt er aber eine Märchenformel an, die auch für die Schrift gilt. Diese ist, nach P!atons Dialog Phaidros, eine Waise, die eines Vater bedürfte, der für sie einsteht bzw. sie auslegt, aber eben keinen hat.l1

~ In die gleiche philosophische Richtung weist auch das Verschwin- den des Sängers Emanuel. Er wird dargestellt als die Verkörpe- rung der Stimme und der lebendigen Rede - man denke an die Antonomasie ,der Sänger' für Homer - der von Platon gar Un- sterblichkeit zugeschrieben wird.32 Sein Fehlen referiert somit auf die platonische Kritik der Schrift.

~ Ebenfalls als eine direkte Referenz auf Phaidros rasst sich der Schluss der Reise von Keuschnigs Freundin lesen; diese endet in Ägypten, dem Land, in dem nach Platon der Gott Theuth die Schrift erfunden hat.ll Die Hieroglyphen, auf die diese Geschichte an- spielen, spielen freilich auch eine bedeutende Rolle in der Be- gräbniskultur der alten Ägypter. Auch die Freundin spricht "bis in den nordafrikanischen Winter hinein (. , ,) kein Wort mehr." Von den koptischen Heiligen wendet sie sich nun zu den "so anders gleichen des 'ägyptischen Altertums, und auf die zugehörigen so gar nicht kindlichen Körper, in denen drinnen, im Herzmuskel, die Pyramiden spürbar zuallererst dagestanden hatten, noch vor dem tatsächlichen Bauen, gleich wie die Begr'äbnisschiffe bereit zur Ausfahrt in die Unendlichkeit." Sie schickt Keuschnig zwei wortlose Postkarte, die eine mit dem Bild eines ,schreitenden Altreidiägypters', die andere mit "der Hieroglyphe für ,Grün''',34 Diese subjektivierte ,Vorträglichkeit' der Begräbnisstätte im Herzen

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_-= __________________ GEISTERSCHREIBEN

in der direkten Nachbarschaft mit der Schriftthematik macht den oben beschriebenen Zusammenhang überdeutlich.

Auffallig ist auch, dass sich die Schriftstellerfunktion hypertroph auf verschiedene Gestalten des Textes übertragt. So wird die Geschichte eines Clochards erLählt, über den Keuschnig spekuliert, er betreibe nur eine Maskerade, um, wie dieser, "über die Gegend ein Buch zu schreiben, unter dessen Gestalten eine, und eine ziemlich seltsame, auch ich ware."J'

Mit der grögten und überraschendsten Emphase aber geschieht diese Übertragung in Hinsicht auf einen Nachbarn, dessen vielgestalter Lärm es war, der Keuschnig zum weiteren Abfassen des Textes in die Walder getrieben)<; und somit schon ironischerweise Wesent- liches zu den inhaltlichen Komponenten des ,Schreibkapitels' Das Jahr beigetragen hat. Sp'ater heif~t es über ihn: "Einem meiner Lärm-

nachbarn, dem unermüdlichsten von allen, rutschte im Jahr eine seiner Winzigmaschinen aus (mit um so grögerer Krachleistung und Durchschlagskraft), und er hat sich damit heimgebohrt. [ ... ] Erst im Nachhinein erfuhr ich, dass er ein gefragter Philosoph und Lehrer war, Verfasser einer Eriahlung mit dem Titel ,Legende vom heiligen Lärmer', eines Buchs namens ,Zen und die Kunst des Gerausch- vollen' und der Broschüre ,Wie töte ich meinen Garten'; einer wie ich; ein Kollege."37

Am Ende des Textes zeigt Handke sehr kunstvoll, wie jegliche Pd- senz narrativ vermieden werden kann. Die Erwartung des Tages, an dem sich das Wiedersehensfest mit den Freunden ereignet, wird über den ganzen Text aufrecht erhalten, ja, Keuschnig macht aus dem Advent seine eigentliche Lebensform; so notiert er sich: "Immer erlebst du auch die vollkommene Gegenwart als eine bloge Advents- zeit."J8 Diese Vortdglichkeit übersetzt sich im letzten Kapitel so- gleich in Nachtraglichkeit, indem sich die Eriahlzeit von der erLähl- ten Zeit durch Zeitangaben, die sowohl die Schreibzeit markieren als auch die Gegenwart des Tages, an dem das Treffen mit den Freun- den stattfindet, radikal demontieren: "Vorgestern früh", "vorgestern früh", "vorgestern", "vorvorgestern", "vorvorvorgestern".39

Am Ende zeigt kein, wie auch immer metaphorisiertes, Spiegelbild dem Schriftsteller an, wer er ist. Als eine Schreibvorbereitung hat Keuschnig in einem Baum im Garten einen Platz freigeschnitten für ein Fabeltier40, das in derWaldgegend hausen soll. Wahrend des Treffens im Winter mit den Freunden tritt er vor die Tür: "Und die Trampelspur draufsen im fahlen Wintergras des Gastgartens stammte von mir. Das Fabeltier war ich? Staunen.,,41

.ll MJN, a.a.O., S. 956

.lI> Vgl. MJN, a.a.O., S. 798-811.

37 MJN, a.a.O., S. 976f.

38 MJN, a.a.O., S. 72.

39 Vgl. MJN, a.a.O., s. 994, 996, 1002, 1007,1037.

40Vgl. MJN, a.a.O., S. 741.

41 MJN, a.a.O., S. 1064.

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GEISTERSCHREIBEN

"_~~L--

______________ _

42 LaU[ DWh (xv, sp~ 154) ist ,Schimäre' die" [ ~ ~ ~ I bezeichnung eines fahelwesens, das vom ein löwe, hinten ein drache und in der mitte eine ziege war (lIias, vi, 179ft), fabelhaftes ungeheuer, hirngespinst [~~ ~I"~

_ _ 4 Holger Steinmann

Es elWeist sich, dass das Schim'arische - und somit Fabel-hafte wie auch Zusammengestückelte4! - das der Schriftsteller Gregor Keusch- nig in einem früheren Text (Die schimärische Welt) der Welt zuge- schrieben hat, zu ihm selbst gehört, Nur gerinnt dieses Schim'arische nicht zu einem Bild, das ein wie auch immer konstituiertes Autoren- subjekt begründen könnte, sondern bleibt allein lesbar als Spur.

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