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Thomas Becker, Heiner Fangerau, Peter Fassl, Hans-Georg Hofer (Hg.) Psychiatrie im Ersten Weltkrieg

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Psychiatrie im Ersten Weltkrieg

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Studien zur Wirtschafts-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte N.F. Band 12

Herausgegeben von Markwart Herzog und Sylvia Heudecker Schwabenakademie Irsee

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Peter Fassl, Hans-Georg Hofer (Hg.)

Psychiatrie im Ersten Weltkrieg

UVK Verlagsgesellschaft Konstanz

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den des Forts Douamont (26. Juli 1916)“, aus: Deutsches Reich/Kriegs-, Bild- und Filmamt (Hrsg.), Der Weltkrieg im Bild. Bd. 2. Frontaufnahmen aus den Archiven der Entente, München 1928, 163.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISSN 1619-3113

ISBN 978-3-86764-801-1 (Print) ISBN 978-3-7398-0316-6 (EPUB) ISBN 978-3-7398-0317-3 (EPDF)

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwer- tung außer halb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Über- setzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektroni- schen Systemen.

© UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2018

Satz: Textwerkstatt Werner Veith & Ines Mergenhagen, München Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas, Konstanz

Printed in Germany

UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz Tel. 07531-9053-0

www.uvk.de

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Inhalt

Zur Einführung ... 13

Ideengeschichte der Kriegspsychiatrie im Ersten Weltkrieg

Ralf Seidel Weltkrieg und Moderne. Die nervenärztliche Praxis und der Anspruch der Psychiatrie ... 21

1. Schwache Nerven ... 22

2. Regime der Seelen ... 24

3. Experten im Krieg ... 25

4. Vom Sachverständigen zum Erzieher ... 30

Philipp Rauh Der Münchener Kriegskongress der Psychiater und Neurologen vom September 1916 – Ränkespiele, Inszenierungen und Kontroversen ... 43

1. Einleitung ... 43

2. Hermann Oppenheims Konzept der traumatischen Neurose und seine Gegner ... 45

3. Die gemeinsame Kriegstagung des „Deutschen Vereins für Psychiatrie“ und der „Gesellschaft Deutscher Nervenärzte“ ... 48

4. Resümee ... 60

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Julia B. Köhne

Ästhetisierung des Unbewussten. Camillo Negros neuropathologische

Kinematographie des Kriegsreenactments (1918) ... 67

1. (Kriegs-)Hysterie und Kinematographie ... 68

2. Phänomen Kriegsreenactment – den Krieg im Symptom speichern und verlängern ... 72

3. War in Loops: Negros Kinematographie des Kriegsreenactments – Grabenkämpfe und arc de cercle auf dem Matratzenlager ... 76

4. Schuldgefühle und Tätersymptome? ... 95

5. Resümee ... 98

Psychiatrische Behandlung in Theorie und Praxis in den Anstalten der Mittelmächte im Krieg

Gundula Gahlen Zwei-Klassen-Medizin? Die ärztliche Sicht auf psychisch versehrte Offiziere in Deutschland im Ersten Weltkrieg ... 107

1. Einleitung ... 108

2. Zahl der Kriegsneurotiker ... 109

3. Diagnosen ... 111

4. Behandlungsalltag und Therapien ... 115

5. Resümee ... 120

Maria Hermes-Wladarsch Wie der Krieg die Menschen verändert. Notizen zur Psychiatrie zwischen 1914 und 1918 ... 127

1. Prolegomena: Das Bremer St. Jürgen-Asyl im Ersten Weltkrieg ... 128

2. Krank sein im Krieg ... 129

3. Der Krieg verändert die Psychiatrie ... 135

4. Deutungen des Krieges ... 139

5. Der Krieg verändert die Menschen ... 140

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Christoph Bartz-Hisgen

Die kriegswirtschaftliche Bedeutung soldatischer Psychiatriepatienten im Ersten Weltkrieg. Die militärärztliche Begutachtung am

Beobachtungslazarett an der Universitätsklinik Heidelberg ... 145

1. Einleitung ... 146

2. Das badische Lazarettwesen ... 148

3. Auswertung der Krankenakten ... 150

4. Resümee ... 159

Felicitas Söhner Arbeit in der Psychiatrie im Ersten Weltkrieg – zwischen Therapie und Ökonomie ... 163

1. Arbeit und Institution Psychiatrie ... 164

2. Historische Entwicklungslinien ... 166

3. Bayerisch-schwäbische Psychiatrie im Vorfeld des Ersten Weltkrieges ... 169

4. Arbeit im Anstaltsalltag ... 170

5. Arbeit, Lohn und Selbstwert ... 178

6. Arbeitstherapie als moralische und physische Behandlung ... 179

Psychiatrische Behandlung in Theorie und Praxis in den Anstalten der Entente-Staaten im Krieg

Marie Derrien A New Role for Asylums? Soldiers’ experiences of institutionalization during World War I in France ... 187

1. Introduction ... 188

2. Asylums, a relegation place for soldiers with incurable diseases? ... 188

3. Measuring the impact of war on institutionalization ... 190

4. Did the context of war make society more tolerant towards madness? ... 192

(9)

Christine Van Everbroeck

Army, Society and War Neuroses in First World War Belgium ... 197

1. Introduction ... 198

2. The army ... 198

3. Belgium at war ... 200

4. Facing war neuroses and coming to terms with them ... 200

5. How did military authorities consider war neuroses? ... 201

6. How did Belgian doctors consider war neuroses? ... 202

7. How did Belgian doctors treat war neuroses? ... 204

8. The network of Belgian psychiatric institutions ... 204

9. The return to Belgium after the war ... 205

10. No public debate ... 207

Vinzia Fiorino First World War Neuroses in Italy. Emergency Management, Therapies and Some Reflections on Male Hysteria ... 211

1. Introduction ... 212

2. Dealing with the soldiers traumatized at the front ... 213

3. The theoretical models of war psychiatry ... 215

4. Therapies in use ... 218

5. A case study: the hysterical traumatized soldier ... 220

Stefano Orazi Marinesoldaten in der Irrenanstalt von Ancona im Ersten Weltkrieg ... 227

1. Geisteskrankheiten in Italien zu Beginn des Ersten Weltkriegs ... 227

2. Geisteskrankheit in den Militärkrankenhäusern ... 229

3. Geisteskrankheit in der italienischen Gesetzgebung Anfang des 20. Jahrhunderts ... 232

4. Krieg und Geisteskrankheit ... 233

5. Und die Heilungsdauer? ... 237

6. Resümee ... 241

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Paolo Francesco Peloso/Gabriella Molino

Der Erste Weltkrieg und die Kriegsneurosen in der italienischen

psychiatrischen Fachpresse 1914–1919 ... 245

1. Prolog ... 247

2. Der Krieg vor dem Krieg ... 247

3. „Die Pflichten der italienischen Ärzte in der Gegenwart“ ... 252

4. Psychopathologie des Krieges... 254

5. Die Debatte über die Ätiopathogenese psychiatrischer Erkrankungen ... 257

Psychiatrische Praxis in Deutschland und Großbritannien – ein Vergleich

Andrea Gräfin von Hohenthal Psychologen in der Kriegspsychiatrie und die Aussagekraft von Krankenakten ... 267

1. Vergleich der britischen und deutschen Psychologie ... 267

2. Zum Aussagewert von Krankenakten ... 275

3. Resümee ... 281

Stefanie Linden “Terror psychoses”. The other face of war trauma ... 287

1. Introduction ... 288

2. Kleist’s concept of “terror psychoses” (Schreckpsychosen) ... 290

3. From trauma to psychosis – Kleist’s mechanistic account... 290

4. Kleist’s classification of terror psychoses ... 291

5. Dissociation and psychosis: a coping strategy? ... 299

6. Psychotic reactions to adversity: paranoid and hypochondriacal states... 300

7. Terror psychosis in context – Other (historical) concepts of acute reactions to trauma ... 301

8. The historical and modern understanding of reactive psychosis ... 303

(11)

Anstalten im Krieg – Mikrostudien

Dave Bandke

Zwischen Finden und Erfinden. Eine Analyse der Kriegsneurosen

an der Nervenheilanstalt am Rosenhügel in Wien ... 309

1. Einleitung und Fragestellung ... 310

2. Kurzer Überblick zur Geschichte der Nervenheilanstalt am Rosenhügel 1900–1918 ... 311

3. Die Krankenakten ... 312

4. Darstellung der Diagnosen anhand von Patientenbeispielen ... 313

5. Statistische Auswertungen ... 321

6. Resümee ... 326

Uta Kanis-Seyfried Vom „Kriegshelden“ zum „Kriegszitterer“. Traumatisierte Soldaten des Ersten Weltkriegs in den ehemaligen Heil- und Pflegeanstalten Ravensburg-Weissenau (Württemberg) und Reichenau (Baden) ... 331

1. Prolog ... 332

2. Kriegspropaganda und Männlichkeitsbild in den „Schallwellen“ ... 334

3. Württemberg: Die „Weissenau“ und das Reservelazarett ... 336

4. Baden: Die „Reichenau“ und das Lazarett ... 339

Petra Schweizer-Martinschek Die Behandlung von psychisch erkrankten Soldaten in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee während des Ersten Weltkriegs ... 351

1. Einleitung ... 352

2. Zur Quellenlage ... 352

3. Die Behandlung von psychisch erkrankten Soldaten in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee während des Ersten Weltkriegs ... 353

4. Datenerhebung zu den behandelten Soldaten ... 354

5. Das Vereinslazarett Kaufbeuren II im Männerpavillon II der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren (1918/19) ... 359

6. Resümee ... 362

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Corinna Malek

Die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee und die Frage des

Hungersterbens im Ersten Weltkrieg ... 365

1. Einleitung ... 366

2. Eine schwäbische Kleinstadt im Ersten Weltkrieg – Die städtische Lebensmittelversorgung ... 367

3. Versorgung der Vereinslazarette in Kaufbeuren ... 369

4. Hungersterben in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee? ... 375

5. Ausgangslage vor dem Krieg ... 375

6. Die Anstalt im Krieg – Versorgung der Patienten ... 376

7. Ärztliche und pflegerische Betreuung ... 377

8. Nahrungsmittelversorgung ... 378

9. Resümee ... 381

Erkenntnisse aus dem Krieg

Stephanie Neuner Die Rückkehr in den Alltag. Zur sozioökonomischen und gesundheitlichen Situation psychisch Kriegsbeschädigter in der Zwischenkriegszeit ... 387

1. Prolog ... 387

2. Die „Neurosenfrage“: Psychische Kriegsbeschädigung im politischen und fachwissenschaftlichen Diskurs nach 1918 ... 389

3. Zur Arbeits- und Gesundheitssituation psychisch Kriegsbeschädigter ... 396

4. Resümee ... 402

Maike Rotzoll Neue Taktik an der therapeutischen Front? Einige Anmerkungen zur Bedeutung des Ersten Weltkriegs für Behandlungskonzepte in der zivilen Psychiatrie ... 409

1. „Es lohnt sich immer noch, vom Kriege zu reden.“ – Einleitung ... 410

2. „Heroische Therapien“ im „Schlachtfeld des Lebens“ – vor dem Krieg, im Krieg, nach dem Krieg ... 411

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3. „…wir Ärzte sind zum Helfen“. Therapien in psychiatrischen Lehrbüchern

der 1920er Jahre ... 414

4. Vom Dauerbad zur Arbeit. Ein Blick auf die therapeutische Praxis in Heidelberg nach dem Krieg ... 418

Peter Steinkamp „Zweimal eingezogen“. Zum Schicksal psychisch kranker Teilnehmer des Ersten Weltkriegs bei der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg ... 425

1. Das Schicksal von Gustav Z. ... 425

2. Der Einsatz psychisch versehrter Soldaten im Zweiten Weltkrieg ... 426

3. Quellenlage und Forschungsstand ... 428

4. Entlassung aus dem Dienst ... 429

5. Suizid als letzter Ausweg ... 433

6. Psychisch kranke Soldaten ... 438

Autoren und Herausgeber... 445

Ortsregister ... 447

Personenregister ... 453

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Thomas Becker, Heiner Fangerau, Peter Fassl, Hans-Georg Hofer

100 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg blicken wir zurück auf ein Jahrhundert, das gekennzeichnet ist durch verschiedene, sich zum Teil scheinbar widersprechende soziale Prozesse. Nicht nur Medikalisierung und Demedikalisierung in verschiedens- ten Lebensbereichen gehören zu den Erscheinungsformen dieser Entwicklungen, die auch die Medizin betreffen. Neben der Individualisierung, Technisierung und der Entstehung einer so genannten „Risikogesellschaft“, die in der Medizin vor allem auf das „präventive Selbst“ zu setzen scheint (Lengwiler/Madarasz1), stehen auch eine Sozialisation und Kollektivierung in anderen Bereichen. Für diese hier nicht weiter zu konkretisierende Gemengelage aus konkurrierenden und konvergierenden Prozessen scheint der Erste Weltkrieg ein früher Kristallisationskeim gewesen zu sein. Bezogen auf den Phänomenbereich des Psychischen ist hier die Frage angelegt, wie „Psychisches aus Psychischem oder Erlebtem“ hervorgeht, welches individuelle Risiko für Alteration erblich prädisponiert ist oder wie materielles Erleben in das Gehirn eingreifen kann. Die Frage der posttraumatischen psychischen Veränderun- gen durchzieht das 20. Jahrhundert von der Nervosität bis zum Burnout, aber ohne dass eine direkte Linie zwischen so bezeichneten nosologischen Einheiten gezogen werden könnte. Mit der Auseinandersetzung um die Posttraumatische Belastungs- störung, die als so benannte Entität nach dem Vietnamkrieg eine erste Konjunktur hatte, verbinden sich zentrale kulturelle Debatten des späten 20. und frühen 21.

Jahrhunderts.

Es ist klar, dass bei einer solchen Zeitdiagnose das gesamte 20. Jahrhundert, vor allem auch mit dem Zweiten Weltkrieg und der Psychiatrie im Nationalsozialismus nicht nur in die Beschreibung einbezogen werden müssen, sondern als zentral für die weitere Entwicklung des Erlebens, Verstehens und des Umgangs mit psychi- schem Anderssein betrachtet werden muss. Die Literatur und die Debatten über die psychischen und Krankheitsfolgen des Holocaust schärfen beispielsweise auch das Krankheitsverstehen des Traumas in der Psychiatrie. Die Debatte ist zentral für die Konzeptgeschichte der Psychiatrie und reflektiert eine stärkere narrativ-diskursive Ausrichtung der Psychiatrie als Praxis und als Wissenschaft.

Die historische Forschung zur Psychiatrie im Ersten Weltkrieg hat sich in den vergangenen Jahren diversifiziert. Zu Ansätzen, die rigorose Therapien in den Blick nahmen und Kontinuitäten zur nationalsozialistischen Militärpsychiatrie betonten (Riedesser/Verderber2), traten solche, die psychiatrisches Handeln unter den Bedin- gungen des modernen, industrialisierten Krieges charakterisierten und für eine stär- kere Berücksichtigung von vergleichenden, transnationalen Perspektiven eintraten (Lerner/Micale,3 Winter,4 Crouthamel/Leese5). Parallel dazu entstanden Arbeiten,

1 LENGWILER/MADARASZ, Präventionsgeschichte.

2 RIEDESSER/VERDERBER, Maschinengewehre.

3 LERNER/MICALE, Traumatic pasts.

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die unter Einbezug von bislang nur wenig beachteten Quellencorpora wie Feldpost- briefen, Krankenakten und Gutachten das entstandene Bild weiter zu differenzieren suchten (Ulrich,6 Neuner,7 Prüll/Rauh8).

Vor diesem Hintergrund ist für diesen Band eine Herangehensweise gewählt worden, die konkrete Exemplifizierung mit übergeordneten Fragestellungen, regio- nale Tiefenschärfe mit transnational-vergleichenden Perspektiven zu verbinden sucht: Unterschiede von Ort zu Ort, von Lazaretten zu bestehenden Heil- und Pfle- geanstalten, in der Terminologie und zwischen veröffentlichter Expertise und der Praxis. Die Beiträge differenzieren und vertiefen neuere Forschungsergebnisse zur Psychiatrie im Umfeld des Ersten Weltkriegs. Sie gewähren neue Einblicke in die organisatorischen Strukturen, die für die Versorgung und Behandlung nervenkran- ker Soldaten bereitgehalten oder neu geschaffen wurden, arbeiten regionale und länderspezifische Besonderheiten psychiatrischer Einrichtungen heraus, zeichnen aber auch individuelle Schicksale von Soldaten zwischen dem Ersten und dem Zwei- ten Weltkrieg nach. Dabei stützen sich die Beiträge auf ein breites Spektrum von Quellen. Eine besondere Bedeutung kommt hierbei Krankenakten und Registerbü- chern aus den untersuchten Einrichtungen zu, die, auch wenn sie an die spezifische Sicht des Arztes gebunden bleiben, patientengeschichtliche Perspektivierungen er- möglichen und die Situation in den Lazaretten und Anstalten in praxi schildern.

Der Band versammelt Beiträge aus sechs Ländern (Deutschland, Frankreich, Österreich, Belgien, Großbritannien, Italien). Er möchte zu einer genaueren Kartie- rung psychiatrischer Versorgung im Ersten Weltkrieg beitragen, bekannte Themen- felder erneut aufsuchen, aber auch neue Forschungsfelder erschließen. Mit seinen Beiträgen zu Anstalten und Lazaretten in Baden-Baden, Günzburg, Heidelberg, Hornberg, Kaufbeuren-Irsee, Ravensburg-Weissenau und Reichenau hat der Band eine klare regionale Schwerpunktsetzung im südwestdeutschen Raum. Zugleich sucht er Bezugspunkte im europäischen Raum und bezieht dezentrale psychiatrische Einrichtungen in Ancona, Berlin, Bremen, Edinburgh (Craiglockhart), Dijon, Köln, Lyon, Grenoble und Marseille mit ein.

Eine Besonderheit des Bandes besteht in seiner interdisziplinären Herange- hensweise, die psychiatrische, medizinhistorische und geschichtswissenschaftliche Expertise zusammenführt. „Shell Shock is a Bridge where Historians and Psychiat- rists can meet“, so hat es Sir Simon Wessely, Autor vielbeachteter Studien zur psy- chiatrischen Traumaforschung,9 in seinem Abendvortrag pointiert zum Ausdruck gebracht. Einhundert Jahre nach Ende eines Krieges, der wie kein anderer den Gang des 20. Jahrhunderts und der modernen Psychiatrie geprägt hat, erwies sich diese Brücke als tragfähig, um Psychiatrie und Geschichtswissenschaft miteinander zu verbinden.

4 WINTER,Shell-Shock.

5 CROUTHAMEL/LEESE,Psychological trauma.

6 ULRICH,Augenzeugen.

7 NEUNER,Politik und Psychiatrie.

8 PRÜLL/RAUH,Krieg und medikale Kultur.

9 Z.B. WESSELY/JONES, Shell Shock.

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Im Ersten Weltkrieg, der als erster „totaler Krieg“ die Mobilisierung aller Kräfte zum Zwecke des Kriegserfolges bündelte, wurden auch Medizin und Psychiatrie von militärischen Zweckrationalen erfasst. Dies führte zu einem effizienzgeleiteten, an den Interessen des kriegführenden Staates ausgerichteten Handeln. Die Beiträge zeigen jedoch, dass der Umgang mit psychisch Verwundeten oder Erkrankten von Ort zu Ort sehr verschieden sein konnte und in hohem Maße von den Möglichkei- ten und Intentionen der aufnehmenden Einrichtung bestimmt war. Die Etablierung rationalisierter Behandlungsregime war jedoch weniger weit verbreitet als ange- nommen und blieb ausgewählten Lazaretten und Nervenabteilungen großer Kran- kenhäuser vorbehalten. Selbst diese setzten nicht allein die berüchtigten „aktiven Therapien“ ein, sondern brachten ein breiteres Spektrum therapeutischer Verfahren zur Anwendung. Ebenso spiegelte sich die ständische Struktur der Gesellschaft im ärztlichen Verständnis der Krankheiten wieder: Offiziere waren nervös, Soldaten hingegen hysterisch.

Das der Universitätsklinik in Heidelberg angeschlossene Beobachtungslazarett war ein Netzknoten im System der badischen Militärpsychiatrie (Bartz-Hisgen, Rotzoll). Im Sinne kriegswirtschaftlicher Erwägungen wurde eine Strategie der Nichtentlassung verfolgt, um staatliche Entschädigungszahlungen und Kriegsrenten zu vermeiden. Demgegenüber stellte sich die Situation in den Heil- und Pflegean- stalten anders dar. Zwar nahmen auch dort der Krieg und die konzertierten Mobili- sierungsbemühungen von Militär und Medizin Einfluss auf den Alltag. Doch zu- gleich bewahrten die Anstalten intra muros ihren herkömmlichen Charakter und ihre etablierten Versorgungsstrukturen (Derrien, Söhner, Malek, Kanis-Seyfried).

Unterschiede zeigen sich auch in der konkreten Ausgestaltung und Anwendung der Therapien. Die „aktiven“ Therapien, insbesondere die notorischen elektrischen Zwangsverfahren („Kaufmann-Methode“), mochten in den neu eingerichteten oder adaptierten Front- und Reservelazaretten häufig zum Einsatz gekommen sein. Sie verweisen auf eine Selbstermächtigung der Ärzte und einen tendenziellen Wandel der ärztlichen Orientierung, nämlich vom Wohl der Patienten zum Wohl des Vol- kes. In den bestehenden Heil- und Pflegeanstalten spielten diese jedoch nur eine untergeordnete Rolle. Im Vordergrund standen alle Formen der Arbeitstherapie, die von Mitarbeit in den diversen Werkstätten der Anstalt über landwirtschaftliche Tätigkeit extra muros bis hin zum Einsatz in nahegelegenen Betrieben der Rüstungs- industrie reichen konnten. Die Ausgestaltung der therapeutischen Maßnahmen stand den jeweiligen Direktoren der Anstalt frei und folgte bisherigen Handlungs- routinen, so dass sie häufig nicht eigens erwähnt werden musste.

Die Beiträge eröffnen nicht nur neue Einblicke in psychiatrische Handlungs- routinen (Diagnosen, Therapien), sondern zeichnen auch ein genaues Bild von den Lebensumständen von Soldaten und Patienten im Alltag der Anstalten. Das Hun- gersterben in den psychiatrischen Anstalten des Hinterlandes war im Ersten Welt- krieg weit verbreitet. Nachdem die Lebensmittelversorgung zentral organisiert wur- de, waren die organisatorischen Möglichkeiten der Anstaltsleitungen begrenzt.

Anstalten ohne Lebensmittelproduktion waren auf die Zuteilungen angewiesen.

Anstalten mit eigener Produktion konnten Engpässe eher ausgleichen. Wie etwa das Beispiel der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee zeigt, wurde zwischen zivilen

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und militärischen Patienten nicht unterschieden. Beide Patientengruppen waren in den ihnen zugeteilten Rationen nicht schlechter gestellt als die Bevölkerung in den umgebenden Orten (Malek, Kanis-Seyfried).

Der Erste Weltkrieg brachte eine Vielzahl an psychiatrischen Erklärungskon- zepten hervor, die sich oftmals überlagerten und in Konkurrenz zueinander standen.

Die Diagnosen waren unterschiedlich und veränderten sich im Laufe einer Behand- lung, so dass es schwer fällt, ein Modell zu erstellen. Während zu Kriegsbeginn das Konzept von der traumatischen Neurose favorisiert wurde, das die Ursache des Lei- dens in kleinsten Schädigungen von Gehirn und Rückenmark sah, gewannen mit Fortdauer des Kriegs psychogene Erklärungskonzepte die Oberhand. Mit dieser Verschiebung einher ging die Auffassung, wonach nicht der Krieg selbst als Ursache psychischer Leiden anzusehen sei, sondern individuelle, schon vor dem Krieg beste- hende (und durch diesen nur ausgelöste oder verschärfte) Persönlichkeitsdefizite der Soldaten für die auftretenden Symptome verantwortlich seien. Krankheit und Krieg standen damit in einem unmittelbaren, nicht aber kausalen Zusammenhang.

Diese Verschiebung war kein Spezifikum der deutschen Situation, sondern vollzog sich grosso modo auch in der österreichischen, italienischen, französischen und britischen Kriegsmedizin (Fiorino, Peloso, Orazi, Linden). Der vergleichende Blick zeigt weiterhin, dass in allen europäischen Kriegsgesellschaften ähnliche Be- handlungssysteme bestanden (elektrische Zwangsverfahren, Arbeitstherapie, sugges- tiv-hypnotische Therapien), die sich aber von Ort zu Ort erheblich unterscheiden konnten und deren Einsatz in hohem Maße von Entscheidungen der jeweils vor Ort verantwortlichen Anstaltsleiter abhängig war. Der komparative Blick auf psychiatri- sche Einrichtungen des Ersten Weltkriegs verdeutlicht damit sowohl Gemeinsam- keiten als auch Besonderheiten. Gleichzeitig mahnt er zur Vorsicht gegenüber gene- ralisierenden Etikettierungen und nationalkategorialen Zuschreibungen (die „deut- sche“, „französische“ oder „britische“ Kriegspsychiatrie).

Die Auswertung von Krankenakten differenziert die These, wonach der militä- rische und soziale Status von Patienten Einfluss auf die ärztliche Diagnosestellung und die Wahl der Behandlungsverfahren hatte (Bandke, Gahlen, Hermes- Wladarsch). Der Gegensatz von „neurasthenischen“ Offizieren und „hysterischen“

Soldaten mochte 1914 noch weit verbreitet gewesen und in Veröffentlichungen betont worden sein. Mit Fortdauer des Krieges, die zur Durchsetzung psychogener Erklärungsansätze – und damit auch zu einer Neubewertung des Hysterie-Konzepts – führte, schwächten sich diese Vorstellungen allerdings erheblich ab.

Die Rückkehr von psychisch Kriegsbeschädigten in die Nachkriegsgesellschaft gestaltete sich als schwierig. Zu den gesundheitlichen kamen wirtschaftliche und soziale Nachteile, die trotz Zuerkennung von Versorgungsansprüchen die gesell- schaftliche Teilhabe erschwerten. Seitens der universitären Psychiatrie wurden in vielen Fällen staatliche und ökonomische Erfordernisse höher gewichtet als indivi- duelles Leid. Dabei bestanden fortwährende diagnostische Unsicherheiten, die in ähnlich gelagerten Fällen zu konträren Urteilen und Entscheidungen führen konn- ten (Neuner).

Der vorliegende Band veröffentlicht die für den Druck überarbeiteten Vorträ- ge, die am 4. und 5. Februar 2016 im Kloster Irsee im Rahmen der Tagung „Psychi-

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atrie im Ersten Weltkrieg“ gehalten wurden. Einige weitere Beiträge wurden einge- worben. Die Auswahl der Themen und Autor/-innen zeigt, dass bei Fokussierung auf den räumlichen und zeitlichen Bezugspunkt des Ersten Weltkriegs in Europa nicht nur thematische Vielfalt angestrebt wurde, sondern auch interdisziplinäre Perspektiven auf das Psychische in diesem Krieg eröffnet werden sollten. Histori- sche, auf Medien und Kulturproduktion bezogene und psychiatrische Sichtweisen, die auf der Tagung eine fruchtbare Diskussion untereinander eröffneten, sollen nun hier in ihrer Heterogenität und gleichzeitigen Kommunikation miteinander einem breiteren Lesepublikum angeboten werden. Den Texten ist zu wünschen, dass sie sowohl im historischen als auch im psychiatrischen Diskurs zur Kenntnis genom- men werden.

Die Herausgeber des Bandes danken der Schwabenakademie Irsee für die Or- ganisation der Tagung. Dem Bezirk Schwaben, dem Bildungswerk des Bayerischen Bezirketags und der Schwabenakademie danken die Herausgeber sehr herzlich für die großzügige finanzielle Unterstützung der Konferenz. Des Weiteren sind die Bandherausgeber der Schwabenakademie Irsee sowie der UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz und München, für die Aufnahme des Bandes in die „Irseer Schriften:

Studien zur Wirtschafts-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte“ zu Dank verpflichtet.

Literatur

CROUTHAMEL,JASON/LEESE,PETER J. (Hrsg.): Psychological trauma and the lega- cies of the First World War, Basingstoke/Hampshire 2017.

LENGWILER,MARTIN/MADARASZ, JEANETTE: Präventionsgeschichte als Kulturge- schichte der Gesundheitspolitik, in: MARTIN LENGWILER (Hrsg.), Das präven- tive Selbst: Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik, Bielefeld 2010, 11–30.

LERNER, PAUL FREDERICK/MICALE, MARK S. (Hrsg.): Traumatic pasts. History, psychiatry and trauma in the modern age 1870–1930, Cambridge 2001.

NEUNER, STEFANIE: Politik und Psychiatrie. Die staatliche Versorgung psychisch Kriegsbeschädigter in Deutschland 1920–1939, Göttingen 2011.

PRÜLL,LIVIA/RAUH,PHILIPP (Hrsg.): Krieg und medikale Kultur. Patientenschick- sale und ärztliches Handeln in der Zeit der Weltkriege 1914–1945, Göttingen 2014.

RIEDESSER, PETER/VERDERBER AXEL: „Maschinengewehre hinter der Front“. Zur Geschichte der deutschen Militärpsychiatrie, Frankfurt am Main 1996.

ULRICH,BERND: Die Augenzeugen. Deutsche Feldpostbriefe in Kriegs- und Nach- kriegszeit 1914–1933, Essen 1997.

WESSELY,SIMON/JONES EDGAR: Shell Shock to PTSD. Military Psychiatry from 1900 to the Gulf War, New York 2005.

WINTER,JAY (Hrsg.): Journal of Contemporary History 35/1 (2000), Special Issue:

Shell-Shock.

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Ideengeschichte der Kriegspsychiatrie im

Ersten Weltkrieg

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Die nervenärztliche Praxis und der Anspruch der Psychiatrie

Ralf Seidel

Abstract

At the end of the 19th century “Neurasthenia” or “American Nervousness” seemed to be the discovery of a modern illness of civilization. Nervousness at that time was often linked positively with sensitivity, creativity and skills of art. This changed abruptly with the beginning of the First World War. It became crucial to combat fear and nervousness. The war would only be won by those with the strongest nerves. Military doctors were confronted and challenged by the epidemical appear- ance of psychiatric disorders. There was the theory of “War Neurosis”, and the frightening diagnosis of “war tremblers”. Military doctors were faced with a new dimension of illness and their treatment became much more drastic under the con- straint of warfare.

At the beginning of the 20th century neurologists/psychiatrists had achieved the status of experts. Their expertise was consulted at court, especially regarding com- pulsory restraint in hospitals, later even regarding political questions.

Finally the question will be discussed how the unsecured status of a “general expert” of former psychiatrists could be maintained even after the disaster of the First World War and if their claims of interpretation could be affirmed.

Zusammenfassung

Im Zentrum des Textes stehen das praktische Handeln und die damit verbundenen theoretischen Überlegungen der Nervenärzte im Ersten Weltkrieg.

Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die Neurasthenie oder „American Nervousness“ als moderne Zivilisationskrankheit „entdeckt“, beschrieben und be- handelt worden. Die Wilhelminische Ära galt als „Zeitalter der Nervosität“. Die Nervosität wurde zunächst jedoch noch häufig mit Empfindsamkeit, Kreativität und künstlerischem Vermögen in Verbindung gesehen. Dies änderte sich schlagartig mit Beginn des Weltkrieges. Nun ging es darum, der Nervosität den Kampf anzusagen.

„Den Krieg gewinnt“, so hieß es, „wer die stärkeren Nerven hat“. Durch das gerade- zu epidemische Auftreten psychischer Störungen – man sprach nun von Kriegsneu- rosen – vor allem in der erschreckenden Form der Kriegszitterer, sahen sich die

1 Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Klartext Verlags, erstmals dort erschienen unter folgendem Titel: SEIDEL,RALF: Von der Nervosität zur Kriegsneusore, in: RENATE GOLD- MANN/ERHARD KNAUER/EUSEBIUS WIRDEIER (Hrsg.), Moderne. Weltkrieg. Irrenhaus.

1900-1930: Brüche in der Psychiatrie. Kunst und Psychiatrie, Essen 2014, 45M55.

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Militärärzte vor eine völlig neuartige Herausforderung gestellt. Ihre Behandlungs- formen wurden drastischer und dienten immer weitgehender den angenommenen Sachzwängen der Kriegsführung. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren Nervenärzte zunehmend als „Experten“ aufgetreten. Sie waren Gutachter bei Ge- richt; ihr Urteil zählte, wenn es um zwangsweise Unterbringungen ging; nicht selten maß man ihrer Stimme auch bei politischen Entscheidungen Gewicht bei. So stellt sich zuletzt die Frage, wie und ob sich dieser gerade zuvor gewonnene, noch kaum gesicherte Deutungsanspruch der Psychiater auch nach den Ereignissen des Welt- krieges behaupten oder gar festigen konnte.

„Der Psychiater wird […] vielleicht der berufenste Führer werden auf dem Wege

zu Deutschlands Erneuerung, er wird zum Wegweiser werden nicht nur für Ärzte,

sondern auch für Geschichts- und Gesellschaftsforscher und darüber hinaus für alle

die Staats- und Volksmänner, denen ernstlich um Deutschlands Wohl zu tun ist;

er wird ihnen Wege zeigen, auf denen der Geist des Volkes wieder ge- sunden,

seiner Wiedererkrankung vorgebeugt werden kann; […] und aus der Schule der einst

so gemiedenen Narrendoktoren werden die hervorkommen, die zu Deutschlands

Gambettas emporwachsen werden. Sie werden, in vielfachem Sinne, Deutschland

und durch Deutschland die Welt emporführen aus Wahn zur Wahr- heit.“

Erwin Stransky, 19202

1. Schwache Nerven

Das Kaiserreich war einerseits zweifellos ein autoritärer, vom Militär dominierter Nationalstaat, auf der anderen Seite jedoch befand es sich in einem unaufhaltsamen Aufbruch in die Moderne. So verwundert es nicht, dass man die wilhelminische Ära auch als das „Zeitalter der Nervosität“ bezeichnete.3 Dampfende Eisenbahnen rück- ten die wachsenden Städte näher zueinander und erschütterten zugleich die Men- schen durch ihren tosenden Lärm, das Telefon beschleunigte die Kommunikation, die Elektrizität hielt Einzug in die Häuser. „Wohin wir hören, tritt uns die Klage entgegen, man sei nervös; […] Nervös nennt man unser ganzes öffentliches Leben, unsere Literatur und Kunst, das politische Treiben der Völker, das Gebaren der

2 STRANKSY, Seelischer Wiederaufbau, 280.

3 GAUPP, Wachsende Nervosität, 154.

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immer rascher arbeitenden Presse.“4 Die Schriftsteller nannten sich selbst Naturalis- ten. Sie brachten in minutiöser Sachlichkeit vor allem die Schicksale meist unter- drückter Menschen zu Papier. In den Naturwissenschaften sah man das Erklärungs- modell beinahe allen kulturellen und sozialen Geschehens.

Ein Beispiel stellt Gerhart Hauptmanns Sozialdrama „Vor Sonnenaufgang“

(1889) dar. Der Psychiater und spätere Politiker Willy Hellpach hat versucht an- hand der Hauptfigur dieses Stückes die Konflikte offenzulegen, die sich zwischen ererbter Bestimmung, sozialem Umfeld und Erziehung ergeben und an deren Ende das steht, was er als die häufigste und „im Durchschnitt der Fälle […] leichteste“5 Krankheit im Kreise unserer Kultur bezeichnet: die Nervosität. Sie zu besiegen kann nur gelingen in „sozialen Kämpfen bald gegen diese, bald gegen jene Schicht der Gesellschaft, die an der Erhaltung der gegenwärtigen Übelstände interessiert zu sein glaubt […] sicherlich aber gebührt den Nervenärzten, dabei in erster Schlachtreihe zu stehen“.6 Schriftsteller wie Henrik Ibsen oder Emile Zola übernahmen die Idee von der Vererbung moralischen und körperlichen Übels durch „Entartung“ als eine Ursache der Entstehung der Nervenschwäche und glaubten im Wirken der Degene- ration eine unausweichliche naturwissenschaftliche Gesetzlichkeit erkennen zu kön- nen.7

Etwa zur gleichen Zeit als der Neurologe Jean Martin Charcot8 im Pariser Hôpital de la Salpêtrière bühnenreif das Entstehen hysterischer Anfälle unter Hyp- nose demonstrierte, erschien im deutschen Sprachraum das Werk des amerikani- schen Arztes George Miller Beard „Neurasthenie“ oder „American Nervousness“. Er hatte darin bereits 1880 die „moderne“ Krankheit Neurasthenie als unausweichliche Folge des zivilisatorischen Fortschritts beschrieben. Die Neurasthenie sollte zur prototypischen Nerven- und Modekrankheit der Zeit avancieren, in der sich bereits der Durchbruch zur Kollektivierung und Politisierung individuellen Leidens ab- zeichnete (Volker Roelcke). Müdigkeit, undefinierte Schmerzen, Schwindel, Ängste oder sexuelle Funktionsstörungen waren ihre wesentlichen Symptome. „Wenn wir die Hysterie als erhöhte Suggestibilität, die Neurasthenie als abnorme Ermüdbarkeit bezeichnen, dann bleiben“, so schreibt der Internist Wilhelm His 1908, „immer noch zahlreiche Fälle übrig, die sich diesen beiden Begriffen nicht fügen […] dies soll ganz allgemein als Nervosität bezeichnet werden“.9

4 Ebd.

5 HELLPACH, Ursachen und Wirkungen, 43.

6 Ebd., 133.

7 LEIBBRAND-WETTLEY, Gestalt des Arztes, 641–646.

8 Der 29-jährige Sigmund Freud zählte 1895/96 zu seinen Schülern. Er hat Charcots „Neue Vorlesungen über die Krankheiten des Nervensystems, insbesondere über Hysterie“ ins Deutsche übersetzt.

9 HIS, Medizin und Überkultur, 626. ECKART, Nervosität, 220 nennt den Berliner Ordinarius

„einen naturwissenschaftlich geprägten Internist reinsten Wassers“, der „die erschlaffenden Wirkungen allzu gesicherter Existenz, den Mangel starker Empfindungen durch einen Krieg im Frieden auszugleichen“ hoffe. „Vor allem“, so His, „ist der Heeresdienst eine wahre Ge- sundschule“.

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2. Regime der Seelen

Bereits Wilhelm Griesinger hatte sich vorgenommen von der bisherigen Anstaltspsy- chiatrie zunächst kaum beachtete bürgerliche Patientengruppe – Künstler, Beamte, Ärzte – mit ihren oft geringfügigeren seelischen Störungen für eine Behandlung durch die Psychiatrie zu gewinnen. Sein Ziel war, damit die Schwelle zwischen Kli- nik und Außenwelt abzubauen.10 Hier deutet sich bereits an, was die Psychiatrie der wilhelminischen Epoche kennzeichnen sollte: die Erweiterung der eigenen profes- sionellen Handlungsmacht durch die Aneignung von ihren Gegenstandsbereich ausweitenden psychologischen und sozialpädagogischen Verfahrensweisen.11

Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts begannen Medizin und Psychiatrie auch kontrollierende und erzieherische Aufgaben zu übernehmen, die bis dahin im fami- liären Bereich geregelt worden waren.12 Nervenärzten wurde dabei zunehmend die Rolle zuteil von der Norm abweichendes Verhalten, etwa im Bereich der kindlichen Entwicklung oder der Sexualität, zu deuten und gegebenenfalls zu behandeln. Sie wurden Sachverständige im Rahmen der zwangsweisen Unterbringung und der Zurechnungsfähigkeit vor Gericht und begannen darüber hinaus auch vermehrt zu allgemeineren Problemen, etwa der Gefährdung der öffentlichen Ordnung, der Belastung der Bevölkerung durch die moderne Zivilisation, bis hin zu Fragen der Führung des privaten Lebens, Stellung zu nehmen.13

Gleichzeitig hatte der Andrang in die Anstalten weiter erheblich zugenommen.

Es entstanden vielerorts nach differenzierten architektonischen Plänen gestaltete Neubauten sowie, in Abgrenzung zur Anstaltspsychiatrie, Sanatorien für „heilbar Kranke“. Die Psychiatrie, zumindest die Hochschulpsychiatrie, hatte als medizini- sches Spezialgebiet Anerkennung gefunden. Dies war sicher auch Emil Kraepelins (1856–1926) erstmals handhabbar erscheinender, klaren Konzeptualisierung seeli- scher Krankheiten zu verdanken.

Das gab der wissenschaftlich noch wenig gefestigten Disziplin Psychiatrie einen ersten Rückhalt. Und der war bitter nötig, da sie sich gerade gegen heftigste Vor- würfe wegen – so der Vorwurf – unberechtigter Zwangsunterbringungen zu erweh- ren hatte.14 Wobei ein Teil der Presse dafür sorgte, dass erstmals auch die Anstaltser- fahrungen psychiatrischer Patienten den Weg zu einem interessierten Publikum fanden.15 Aus all dem war schließlich eine „Irrenrechtsbewegung“ hervorgegangen,

10 BRINK, Grenzen der Anstalt, 76.

11 ENGSTROM, Clinical Psychiatry, 203.

12 LABISCH, Gesundheitskonzepte und Medizin, 29.

13 ROELCKE, Verwissenschaftlichungen, 134.

14 Besonderes Aufsehen erregten damals die Skandale um die langwierige Unterbringung eines schottischen Geistlichen im Alexianer-Krankenhaus Aachen (dazu SCHAFFER, Pflegeanstalt Mariaberg, 155–192) und des Juristen und Sohnes des Vorsitzenden der Kölner jüdischen Gemeinde Morris de Jonge in einer Berliner Privatklinik sowie die Entmündigung und Un- terbringung des begütert aus Amerika zurückgekehrten Kaufmanns Hermann Feldmann durch seine Frau und ihren Liebhaber; dazu GOLDBERG, The Mellage Trial, 1–32; SEIDEL, Bürger, Richter und Psychiater, 4.

15 BLASIUS, Psychiatrische Versorgung, 124f.

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die ein Mitspracherecht der Betroffenen in Fragen der psychiatrischen Versorgung, insbesondere der nicht-freiwilligen Unterbringung und Behandlung forderte.16 Ein Verlangen, dass die etablierte Vereinigung der Irrenärzte als Angriff auf ihre Fach- kompetenz wertete und empört zurückwies.

In der Zeit zwischen 1890 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs hatte sich das Hauptgewicht der öffentlichen Gesundheitsversorgung von der Bekämpfung der Epidemien zur Eindämmung chronischer Krankheiten hin verlagert. Man begann die teilweise äußerst schlechten Wohnverhältnisse, sowie die oft enormen Belastun- gen am Arbeitsplatz in ihrer Wirkung auch auf die seelische Gesundheit einer wis- senschaftlichen Untersuchung zu unterziehen.17 Der Historiker Lutz Raphael be- zeichnete den Prozess des ordnenden Zusammenwirkens von Sozial- und Humanwissenschaft und Politik als „Verwissenschaftlichung des Sozialen“. „Die handgreiflichste Form der „Verwissenschaftlichung des Sozialen war und ist“, so Raphael, „das machtgeschützte, mit rechtlicher Sanktionsgewalt verbundene Ein- greifen von „Experten“, denen unsere modernen Gesellschaften auf Grund ihres Fachwissens Entscheidungsbefugnis bzw. eine gutachterliche Urteilskompetenz über andere zubilligen, manchmal sogar zuweisen.“18

Dass sich hier Kompetenz- und Abgrenzungsstreitigkeiten zwischen einzelnen Disziplinen – vor allem zwischen Juristen und Medizinern – ergeben mussten, kann nicht verwundern. Doch ist die Entwicklung von der kustodialen Anstaltspsychiatrie zur therapeutisch, auf Wiedereingliederung in die Gesellschaft orientierten Psychiat- rie, auch aus der Perspektive dieses Verwissenschaftlichungsprozesses zu verstehen.

3. Experten im Krieg

Nach der Jahrhundertwende wurde Nervosität häufig mit Empfindsamkeit, Kreati- vität und künstlerischen Vermögen in Verbindung gesehen. Der Jugendstil breitete sich aus in Europa, Edvard Munch forderte in seinen Bildern die konformistische Gesellschaft heraus, die Expressionisten begaben sich auf die Suche nach dem „Ur- sprünglichen“, „Wilden“, „Irren“.19 Seelische Verletzlichkeit war ein gesellschaftlich weithin anerkanntes Phänomen geworden. – Doch mit dem Kriegsbeginn sollte sich dies bald radikal ändern. Jetzt ging es darum der Nervosität den Kampf an zu sagen.

Den Krieg gewinnt, so hieß es, „wer die stärkeren Nerven hat“. „Die Wahrschein- lichkeit, im Felde psychisch zu erkranken“, schrieb der Psychiater Hoche, „muss im Interesse der Leistungsfähigkeit der Truppen mit allen Mitteln möglichst niedrig gehalten werden.“20 Die Begriffe Neurasthenie und Nervosität traten in den Hinter-

16 BRINK, Grenzen der Anstalt, 150–152; dazu auch JULIUSBURGER, Psychiatrische Fragen, 122f.

17 WEINDLING, Hygienepolitik, 37, 55.

18 RAPHAEL, Verwissenschaftlichung, 167.

19 Auch Psychiater setzen sich mit der modernen Kunst auseinander (vgl. RÉJA, L’Art) oder – problematisch – HELLPACH, Das Pathologische; zu Munch SEIDEL, Wunden, 51–56.

20 HOCHE, Krieg und Seelenleben, 21.

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grund, nun ist von „Kriegsneurose“ oder „Kriegshysterie“ die Rede.21 Die Vielfalt ihrer Symptome – Blindheit, Taubheit, Sitz-, Geh- und Sprachstörungen, Zittern, Herz- und Kreislaufkrisen – war kaum mehr zu überschauen.22

Vor 1914 sah man in den traumatischen Neurosen noch eine durch Erschütte- rungen der Mikrostrukturen des zentralen Nervensystems bedingte somatische Er- krankung. Nach Kriegsbeginn wurde die Entstehung des Krankheitsbildes Kriegs- neurose bald jedoch nicht mehr einem zu Grunde liegenden Trauma, sondern vielmehr der mangelnden konstitutionellen Ausstattung des Erkrankten zugerech- net.23 Und dies ergänzt um den unterstellten „fehlenden Willen“ des Einzelnen, seiner Symptome Herr zu werden. Dies sollte dazu führen, dass sich die Soldaten bald zunehmend auf ihren materiellen Nutzen als kriegsdienliches Material reduziert fühlten mussten.24 Doch sollte man nicht übersehen, dass auch die Ärzte, insbeson- dere die Psychiater, im Krieg mit dem „massenhaften“25 Auftreten von psychischen Erkrankungen – vor allem etwa im erschreckenden Bild der „Kriegszitterer“ – einer völlig neuartigen Herausforderung gegenüberstanden.26 Die Behandlung war zu- nächst noch ganz dem Zufall überlassen. „Erst als ihr Anschwellen sie immer stärker zur Sensation des Publikums und zur Last der Lazarette machte, die allmählich auch

21 Einerseits wurde zwar diagnostisch weiterhin zwischen hysterischen und „bloß“ neurastheni- schen Zustandsbildern unterschieden, auf der anderen Seite war die Behandlung in den spe- zialisierten Stationen ganz auf das Vorliegen einer hysterischen Störung ausgerichtet. Zur Schwierigkeit der begrifflichen Differenzierung: BUMKE,Kriegsneurosen, 59.

22 OPPENHEIM, Traumatische Neurose, 1568, spricht von der „Mannigfaltigkeit der Symp- tombilder“. Dazu ausführlicher KÖHNE, Kriegshysteriker, 44f.

23 In ihrer Publikation „Maschinengewehre hinter der Front“. Den Titel hatten sie dem Freud- Zitat „ [...] und den Ärzten ist etwas wie die Rolle von Maschinengewehren hinter der Front zugefallen, die Rolle, die Flüchtigen zurückzutreiben“, in: EISSLER, Freud und Wagner- Jauregg, 53. Hans Georg Hofer macht darauf aufmerksam, dass dieser Topos eigentlich auf ein Zitat Alfred Adlers zurückgeht. HOFER, Beyond Freud and Wagner-Jauregg, 57; RIEDES-

SER/VERDERBER, Maschinengewehre, 31.

24 So hieß es in einer Unterweisung für Militärärzte: „Fassen wir den Beruf des Militärarztes als ökonomischen Verwalters des militärischen Menschenmaterials ins Auge, so ergeben sich nach der Analogie anderer Materialverwaltungen leicht die einzelnen Richtungen seiner Tä- tigkeit [...] 1. Erhaltung des Bestandes, 2. Reparatur des Schadhaften, 3. Ausrangierung des Unbrauchbaren, 4. Ersatz des Ausrangierten, 5. Rechnungslegung“. Vgl. RIEDESSER/VER-

DERBER, Maschinengewehre, 18.

25 Zur Verbindung von Kriegshysterie und „Masse“ KÖHNE, Kriegshysteriker, 31–58. So schreibt Elias Canetti: „Solange der Krieg dauert, muss man Masse bleiben; und er ist eigent- lich zu Ende, sobald man es nicht mehr ist. Die Aussicht auf eine gewisse Lebensdauer, die er der Masse als solche bietet, hat zur Beliebtheit der Kriege sehr beigetragen“ (CANETTI, Masse und Macht, 79).

26 NEUNER, Politik und Psychiatrie, 14, 48f. – „Nach dem offiziellen Heeressanitätsbericht wurden zwischen 1914 und 1918 in der deutschen Armee insgesamt 613.047 Männer auf- grund von ‚Nervenkrankheiten‘ behandelt“ (ebd.). In diesen Akten wurde weder der Termi- nus Kriegsneurose noch der der Kriegshysterie gebraucht. Die diagnostischen Begrifflichkei- ten wurden hier auf unterschiedlichste und wechselnde Weise zur Sprache gebracht.

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von ihrer psychischen Infektiosität sich überzeugen durften, wurde die Frage ihrer geordneten Versorgung unaufschiebbar“.27

Die dagegen entwickelten Therapien waren drastisch. Sie bestanden aus: Isolie- rung, Zwangsexerzieren28 und vor allem der Anwendung elektrischer Schläge. Von den milderen, eher beruhigend wirkenden Methoden der Vorkriegszeit war man, zumindest in universitär geleiteten Einrichtungen, abgerückt. Ihr Wirkungseintritt schien zu unsicher und zeitaufwendig. Auf der Münchner Kriegstagung von 1916 hatte sich die Vorstellung von einer rein psychogenen Entstehung der Kriegsneuro- sen, gegenüber der von Hermann Oppenheim vertretenen Betrachtungsweise, die diese motorischen Störungen auf kleinste Verletzungen im Nervensystem zurück- führte, durchgesetzt. Diese von maßgeblichen Neurologen und Psychiatern29 her- beigeführte Entscheidung hatte zur Folge, dass von nun an zunehmend die unter- schiedlichsten Schreck- und Angstzustände unter dem weitgefassten Begriff eines

„hysterischen“ Symptomenbildes erfasst werden konnten. Als Therapie der Wahl setzte sich, neben zeitweilig geübten hypnotischen Verfahren, vor allem die so ge- nannte „Kaufmannsche Methode“ durch. Technisch betrachtet kann man in ihr eine an die Kriegssituation angepasste, durch Suggestion wirksam gemachte, rigorose Weiterentwicklung der Erbschen Elektrotherapie sehen.30 Die Methode bestand aus strikten, im Befehlston ausgesprochenen Direktiven, einer suggestiven, das militäri- sche Unterwerfungsverhältnis unterstreichenden Vorbereitungsphase,31 der Anwen- dung kräftiger, schmerzhafter Wechselströme, sowie „der Erzwingung der Heilung in einer Sitzung“. Das Ziel dieses im Kern psychotherapeutischen Verfahrens war es, die gelähmten Muskeln überrumpelungsartig so anzuregen, „dass die aktive Innerva- tionsmöglichkeit dem Leidenden schlagartig deutlich wird“. Das heißt, der Kranke muss fühlen „etwa beim unwillkürlichen Mitgehen bei raschen passiven Bewegun- gen des gelähmten Gliedes durch den Arzt […]: es bewegt sich wieder, ich bekom- me es wieder in meine Gewalt“.32 Im Hintergrund stand jedoch die, jedem Mitge- fühl zuwiderlaufende Vorstellung, die erschütternden Kriegserlebnisse der Soldaten durch eine beinahe ebenso traumatisierende Behandlung beseitigen zu können.33

27 HELLPACH, Differenzierung, 1259.

28 Ein besonders von Ferdinand Kehrer im Reservelazarett Hornberg geübtes und auch filmisch dokumentiertes Verfahren. Dazu KÖHNE, Kriegshysteriker, 200–214; MAMMALI, Ideal, 252–255.

29 Unter ihnen Karl Bonhoeffer, Robert Gaupp, Alfred Hoche, Max Nonne in: Anonym, 8.

Jahresversammlung, 1434-1436, 166f. Dazu LERNER, Hysterical Men, 61–85.

30 Wilhelm Erb hatte bereits in den sechziger Jahren in der Heidelberger Universitätsklinik eine Station eingerichtet, in der er Nervenkranke mit faradischem Strom behandelte. Man sah je- doch bald die gelegentlich eingetretenen Heilungserfolge als Ergebnis suggestiver Wirkung an. Vgl. ROELCKE, Krankheit und Kulturkritik, 110.

31 Kaufmann selbst nennt das „militärische Willensüberwältigung“, in: Anonym, Kriegstagung, 205.

32 KRONFELD, Psychotherapie, 254.

33 Goldstein spricht von der Kaufmannschen Methode als einem Vorgehen, „das durch den Einfluss starker elektrischer Ströme und die Macht des rücksichtslosen militärischen Kom- mandos“ Wirkung gewinnt und nur auf eine beschränkte Zahl von Betroffenen anwendbar

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Dennoch konnte ein Großteil der Betroffenen zunächst von den quälenden Symp- tomen befreit werden.34 Die Rückfallquote war allerdings wohl ebenfalls hoch.35

Therapie war nun ganz den Sachzwängen des Krieges untergeordnet. Dabei hatte sich „aktive Psychotherapie“, wenngleich „in ihrer rohesten und äußerlichsten Form“36 in dafür spezialisierten Krankenabteilungen fortan zum vorherrschenden Verfahren kriegsbedingter psychischer Leiden entwickelt.

Erste Auswertungen von Krankenakten zeigen, dass an anderer Stelle, vor allem in „normalen“ universitätsfernen Lazaretten wie bisher, eher soziotherapeutisch orientierte, empathischer geübte kurähnliche Verfahren, verbunden mit Arbeits- und Beschäftigungstherapie, zum Tragen kamen.37 Darüber hinaus muss die Frage gestellt werden, inwieweit die Ärzte durch das gewaltige Kriegsgeschehen nicht über- fordert waren und sich zur Behebung der sie bedrängenden seelischen Verletzungen gezwungen sahen jeden Weg zu beschreiten, der Hoffnung versprach. Im Prozess gegen den renommierten Psychiater und späteren Nobelpreisträger Wagner-Jauregg war Sigmund Freud als Zeuge geladen. Robert Eissler meinte später, dass sich hier in überzeugender Weise die Überlegenheit der Psychoanalyse gegenüber dem Vorge-

ist. Er gibt daher der Behandlung nach Rothmann (Königsberg) den Vorzug, bei der in Äthernarkose eine Einspritzung mit Kochsalzlösung vorgenommen wird, die – unter Vor- spiegelung eines Eingriffs – zur Heilung der hysterischen Störungen führen kann (GOLD- STEIN, Behandlung, 1916; DERS., Behandlung, 1917). Kurt Goldstein (1878–1965) war ein an der Gestaltpsychologie (Adhémar Gelb) orientierter, vom lokalistischen Denken abge- rückter, ganzheitlich denkender Neurologe, dem es um ein Verstehen des „Zusammenwir- kens“ der Funktionen des menschlichen Organismus ging. Seine wissenschaftlichen Arbeiten können als eine Synthese der Disziplinen Neurologie, Neuropsychiatrie und Psychologie an- gesehen werden. So war er auch ein früher Verfechter der Psychotherapie und Mitglied der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie (AÄGP). Goldstein floh 1933 über die Schweiz in die Niederlande und konnte schließlich 1935 in die USA emigrieren.

34 Es wurden Raten von über 90 Prozent angegeben. Vgl. LERNER, Hysterical Men, 110.

35 Uwe Zeller schildert in seiner Dissertation, in welchen Punkten das Kaufmannsche Verfah- ren sich von den schon früher geübten therapeutischen Anwendungen elektrischer Ströme abhebt: 1. durch den Effekt der Sanktionierung in der Art der Überrumpelung, die die Hei- lung in einer Sitzung erzwingen soll. 2. durch die im militärischen Befehlston durchgeführte reichliche Wortsuggestion. 3. in der exakten Ausarbeitung des Verfahrens. 4. durch die aus- drückliche Aufforderung das militärische Subordinationsverhältnis als wichtigstes Behand- lungsprinzip zu benutzen. Vgl. ZELLER, Psychotherapie, 18f. – Aufgrund einiger eingetrete- ner Todesfälle hatte das preußische Kriegsministerium die Anwendung „starken“

Sinusstromes 1917 verboten.

36 KRONFELD, Perspektiven, 454.

37 Dazu vor allem: PECKL,Patient records, 150f. Vgl. WOLLENBERG, Erinnerungen, 138: In seinem Lazarett hätte von Anfang an die „Aktivbehandlung“ kaum eine, die Beschäftigung in Werkstätten und landwirtschaftlichen Betrieben dagegen eine wichtige Rolle gespielt. „Da- rum schickte ich Fälle, die mir dafür geeignet schienen, in eines der rückwärtigen Lazarette, am liebsten nach Hornberg, wo Prof. Kehrer ein kleines militärisches Lourdes sich geschaf- fen hatte und Wunderheilungen in großer Menge vollzog. Für uns erwies sich diese Be- schränkung später insofern als günstig, als wir nach Ausbruch der Revolution von Seiten der gegen ihren Willen Geheilten keine Angriffe zu erleiden hatten.“

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hen der allgemeinen Psychiatrie deutlich geworden wäre.38 Doch Psychoanalytiker hatten sich mit den dramatischen, zu Hunderttausenden auftretenden Erkrankun- gen39 der einfachen Soldaten kaum zu befassen. Eine Ausnahme bildete der Psychia- ter Ernst Simmel. Ihm war der Alltag des Umgangs mit seelisch verletzten Soldaten vor Ort vertraut. Die von ihm entwickelte kathartische Therapie kann als ein der Kriegssituation angepasstes, verkürztes psychoanalytisches Behandlungsverfahren angesehen werden.40

Die Frontärzte wussten durchaus um den Zusammenhang von Kriegserlebnis und psychischem Ausnahmezustand. Sie hatten erlebt, was geschah.41 Doch das Interpretationsmonopol über die psychischen Störungen im Krieg hatte „eine kleine Gruppe von Universitätsprofessoren inne“ (Philipp Rauh).42 Sie waren es, die dar- über publiziert haben. Ihre Stimme wurde wahrgenommen. Und ihre ersten Erfolge und ihr anfänglicher therapeutischer Optimismus hatten dem Fach zunächst auch neue Anerkennung verschafft. Die Hinwendung zur psychogenen Erklärung seeli- scher Störungen eröffnete darüber hinaus die Möglichkeit, die wissenschaftlich un- terlegt erscheinende Deutungsmacht der Psychiatrie auf jegliche Form krisenhafter gesellschaftlicher Entwicklungen auszudehnen.43

„Der Arzt soll in erster Linie der Anwalt der Kranken sein, nicht der eines an- deren“ meinte Sigmund Freud bei seiner Einvernahme als Gutachter im Fall „Wag- ner-Jauregg“, „wie der Arzt in den Dienst eines anderen tritt, ist seine Funktion gestört“.44

Die auf die Person des jeweiligen Patienten bezogene „ärztliche Ethik“ hatte so im Verlauf des Krieges einer Moral Platz gemacht, die zunehmend nur noch „an den Interessen der ‚Gemeinschaft‘“ orientiert war. Da zählte das Schicksal des Einzelnen nicht mehr viel. Ein eindrückliches Zeichen dafür sind die Äußerungen Karl Bon- hoeffers auf der Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Psychiatrie von 1920:

38 EISSLER, Freud und Wagner-Jauregg, 125.

39 MICHL/PLAMPER,Soldatische Angst, geben an, dass man in Frankreich und Deutschland während des gesamten Kriegsverlaufes jeweils ca. 200.000 – in Österreich-Ungarn müsse man von einer noch größeren Zahl ausgehen – Kriegsneurosen diagnostiziert habe. Insge- samt könne von 800.000 bis zu mehr als einer Million Soldaten mit einer Traumadiagnose in den Krieg führenden Nationen gesprochen werden.

40 In seiner von Sigmund Freud hoch geschätzten Studie von 1918 „Kriegsneurosen und psy- chisches Trauma“ schreibt SIMMEL, Kriegsneurosen, 83: „Was im Erleben eines Menschen zu gewaltig und grässlich ist, als dass sein bewußter Geist es fassen und verarbeiten kann, das sinkt auf den unterbewußten Grund seiner Psyche. Hier liegt es wie eine Mine, bereit, das ganze Seelengefüge über sich zu sprengen.“. Dazu FREUD, Einleitung, 4; SIMMEL, Zweites Koreferat, 42–43. Vgl. LERNER, Hysterical Men, 183–185.

41 HERMES, Krankheit, 454; RAUH, Therapiemethoden, 45.

42 Ebd., 44.

43 SCHMUHL/ROELCKE, Heroische Therapien, Einleitung, 19. Man denke an Kraepelins „Psy- chiatrische Randbemerkungen zur Zeitgeschichte“ (1919) und Eugen Kahns Begutachtung der führenden Vertreter der Münchner Räterepublik (1919).

44 EISSLER, Freud und Wagner-Jauregg, 53.

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