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Zur Anzahl der Kriegsgefangenen im Ersten Weltkrieg

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Reinhard Nachtigal

Zur Anzahl der Kriegsgefangenen im Ersten Weltkrieg

Einleitung

In den vergangenen zehn Jahren ist eine ansehnliche Reihe wissenschaftlicher Un- tersuchungen vorgelegt worden, die die Kriegsgefangenen des Ersten Weltkriegs zum Gegenstand haben. Dies scheint für die Gefangenen, die auf beiden Seiten der Ostfront gemacht wurden, sogar in stärkerem Maße zuzutreffen als für die Solda- ten an der Westfront und an der Front zwischen Österreich und Italien. Insbeson- dere das Schicksal von über zwei Millionen Soldaten der Mittelmächte in Russland hat mit der Öffnung der russischen Staatsarchive nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 geradezu themenbildend gewirkt: fünf westeuropäische Forscher zog es allein der Kriegsgefangenen wegen in Moskauer Archive, darunter den Ver- fasser dieser Studie. Weitere beschäftigten sich mit verwandten Themen des rus- sischen Hinterlands in den Kriegsjahren, die auch den Blick auf andere »Kriegs- teilnehmer« dort öffneten'. Seit 1997 erschienen dann acht Monografien^ die sich auf sehr unterschiedliche Weise den Kriegsgefangenen in Russland widmen.

1 Peter Gatrell, A Whole Empire Walking. Refugees in Russia during World War I, Bloo- mington, IN 2005, ist die zweite Auflage desselben Titels von 1999. In dän weiteren Zu- sammenhang gehören auch Eric Lohr, Nationalizing the Russian Empire. The Campaign against Enemy Aliens during World War I, Cambridge, MA 2003, und Joshua A. San- born, Drafting the Russian Nation. Military Conscription, Total War, and Mass Politics, 1905-1925, DeKalb, IL 2003. Insbesondere Sanboms Studie ist auch für die Kriegsgefan- genschaft aufschlussreich.

Marina Rossi, I prigionieri dello zar. Soldati italiani dell'esercito austro-ungarico nei la- ger della Russia 1914-1918, Milano 1997; Marina Rossi, Irredenti giuliani al fronte russo.

Storie di ordinaria diserzione, di lunghe prigionie e di sospirati rimpatri (1914-1920), Udine 1998 (= Civiltä del Risorgimento, 58); Alon Rachamimov, POWs and the Great War. Captivity on the Eastem Front, Oxford, New York 2002; Reinhard Nachtigal, Die Murmanbahn. Die Verkehrsanbindung eines kriegswichtigen Hafens und das Arbeitspo- tential der Kriegsgefangenen 1915-1918, Grunbach 2001; Reinhard Nachtigal, Russland und seine österreichisch-ungarischen Kriegsgefangenen 1914-1918; Remshalden 2003;

Hannes Leidinger und Verena Moritz, Gefangenschaft, Revolution, Heimkehr. Die Be- deutung der Kriegsgefangenenproblematik für die Geschichte des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa 1917-1920, Wien 2003; Reinhard Nachtigal, Kriegsgefangenschaft an der Ostfront 1914 bis 1918. Literaturbericht zu einem neuen Forschungsfeld, Frank- furt a.M. 2005; Georg Wurzer, Die Kriegsgefangenen der Mittelmächte in Russland im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2005. An neueren russischen Studien dazu ließ sich finden Tat'jana Ja. Ikonnikova, Voennoplennye Pervoj mirovoj vojny na Dal'nem Vostoke Ros- sii (1914-1920 gg.) [Kriegsgefangene des Ersten Weltkriegs in Russlands Fernem Osten 1914-1920], Chabarovsk 2004, und Svetlana N. Vasil'eva, Voennoplennye Germanii, Av- stro-Vengrii i Rossii v gody Pervoj mirovoj vojny. Avtoreferat dissertacii na soiskanie ucenoj stepeni kandidata istoriceskich nauk [Die Kriegsgefangenen Deutschlands, Öster- reich-Ungams und Russlands im Ersten Weltkrieg. Autoreferat der Dissertation zur Er- langung des wissenschaftlichen Grades eines Doktors der Geschichtswissenschaft], Moskva 1997 (24 S.).

Mililärgeschichtliche Zeitschrift 67 (2008), S. 345-384 © Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam

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346 MGZ 67 (2008) Reinhard Nachtigal Liegt der Grund für diese wissenschaftliche Produktivität einerseits in der Öff- nung der russischen Archive, so spielten weitere Faktoren eine Rolle: gerade an der Ostfront, wo sich drei große Kaiserreiche gegenüberstanden, von denen kei- nes das Kriegsende überlebte, bildete sich Gefangenschaft als Massenschicksal von langer Dauer heraus, weit mehr als an der Westfront, wo sich Franzosen, Briten, Belgier und Deutsche gegenüberstanden. An der Westfront gerieten etwa 1,5 Mil- lionen Soldaten in die Hand des Gegners: je etwa zur Hälfte Deutsche auf der ei- nen Seite und Soldaten der westlichen Entente-Länder Frankreich, England, Bel- gien, den USA und Portugal auf der anderen. An der Ostfront hingegen waren es über fünf Millionen. Doch nicht allein diese beeindruckende Zahl, die außerdem hohe Sterberaten gerade in Russland einschließt, scheint die in der Forschung lange vernachlässigte Ostfront weit interessanter zu machen als die Westfront oder die verstärkt in das Blickfeld landesgeschichtlicher Forschung getretene Südtirol- bzw.

Italienfront^. In Russland fanden 1917 zwei Revolutionen statt, von denen der bol- schewistische Oktoberputsch nicht nur einen Paradigmeneinbruch für das riesige Land selbst brachte, sondern auch Rückwirkungen auf die mitteleuropäischen Kai- serreiche und schließlich für den Kriegsverlauf insgesamt hatte, von den Langzeit- folgen im 20. Jahrhundert hier gar nicht zu sprechen.

Runde Jahrestage zum Kriegsbeginn und -ende 1914 und 1918 mögen weiter- hin für die Forschung wichtiger Anreiz sein, sich mit der Ostfront zu befassen^. Si- cher hat auch die aufsehenerregende Forschung des Grazer Historikers Stefan Kar- ner zu den Kriegsgefangenen in der Sowjetunion am Ende des Zweiten Weltkriegs Interesse für die gefangenen Großväter geweckt, nicht nur in Österreich. Kamer hatte schon 1995 eine ausgreifende Publikation dazu vorgelegt, für die er kurz nach Öffnung der russischen Archive ausgiebig sowjetisches Quellenmaterial nutzen konntet Alan Kramer hat schließlich in der grundlegenden Enzyklopädie Erster Welt- krieg das verfügbare statistische Material zur Kriegsgefangenenfrage als proviso- risch erkannt, da die in einer breiten Spanne genannten Daten für die einzelnen Gewahrsamsstaaten sehr unsicher erscheinen'.

In dieser Studie soll allein von einem Aspekt der Gefangenschaft im Ersten Weltkrieg die Rede sein. Er ist erst in letzter Zeit als diskussionswürdiges Sonder- problem hervorgetreten, auf das zwei Publikationen des Jahres 2005 verweisen^.

Zuletzt Der Erste Weltkrieg im Alpenraum. Erfahrung, Deutung, Erinnerung. Hrsg. von Hermann J.W. Kuprian und Oswald Überegger, Innsbruck 2006; Zwischen Nation und Region. Weltkriegsforschung im interregionalen Vergleich. Ergebnisse und Perspekti- ven. Hrsg. von Oswald Überegger, Innsbruck 2004 (= Tirol im Ersten Weltkrieg. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, 4). Vgl. auch die Ausstellung »Der Erste Weltkrieg und die Strafexpedition von 1916« im Dokumentationszentrum LusemA-usema bei Trient 2006.

Die vergessene Front. Der Osten 1914/15. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung. Im Auftr.

des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Gerhard P. Groß, Paderborn [u.a.]

2006 (= Zeitalter der Weltkriege, 1).

Stefan Karner, Im Archipel GUPVI. Kriegsgefangenschaft und Internierung in der So- wjetunion 1941-1956, München 1995.

Alan Kramer, Kriegsrecht und Kriegsverbrechen. In: Enzyklopädie Erster Weltkrieg.

Hrsg. von Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich und Irina Renz in Verb, mit Markus Pöhl- mann, 2. Aufl., Paderborn [u.a.] 2004, S. 281-292, hier S. 287.

Dazu die Rezension von Oksana Nagomaja. In: Voprosy istorii, 2005, 9, S. 171-173, und Verena Moritz und Hannes Leidinger, Zwischen Nutzen und Bedrohung. Die russischen Kriegsgefangenen in Österreich 1914-1921, Bonn 2005, S. 21 und 328-332, zur Unmög- lichkeit, eine verbindliche Gefangenenstatistik für Österreich-Ungarn vorzulegen, ins- besondere für die Russen.

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Darin wird die Frage berührt, wie viele Soldaten denn zwischen 1914 und 1918 an der Ostfront in Gefangenschaft gerieten. Die in den vergangenen Jahren vorge- legten Untersuchungen lassen sich für eine vorsichtige Berechnung nutzbar ma- chen, um sich einer Gesamtstatistik zu nähern. Vorweggenommen sei an dieser Stelle, dass es sich dabei hauptsächlich um die Soldaten Deutschlands, Österreich- Ungarns und Russlands handelt. Insgesamt hielten diese drei Staaten wahrschein- lich 6,8 Millionen Soldaten des Gegners in ihrem Gewahrsam, das heißt über 70 Prozent aller Weltkriegsgefangenen. Diese Länder werden daher im Folgenden ausführlicher betrachtet. Für das russisch-türkische Verhältnis liegen immer noch keine sicheren Daten vor. Ja, die von jeher offene Frage, wie viele osmanische Sol- daten in russische Gefangenschaft gerieten und wie viele russische in türkische, ist bis heute in der Forschung beider Länder gänzlich unbeachtet geblieben. Für die Balkanfront wiederum, die zeitweise - nach dem Kriegseintritt Rumäniens - auch Russland betraf, liegen ebenfalls keine neuen Erkenntnisse vor. Hier muss man sich auf das bekannte Datenmaterial stützen, das allgemein zur Kriegsgefan- genenstatistik nach dem Ersten Weltkrieg zusammengetragen wurde.

Die einzige Gesamtbetrachtung zur Kriegsgefangenschaft in Österreich-Un- garn versucht zwar eine Eingrenzung des Datenmaterials zu den gefangenen En- tente-Soldaten, stellt aber klar das Problem heraus, dass auch der altösterreichische Beamtenstaat keine verlässliche Statistik dazu hinterlassen hat. Das ist bedauer- lich, denn damit fällt eine bedeutende Gewahrsamsmacht des Großen Kriegs als sichere Bezugsquelle aus. Die deutschen Quellen zu diesem Komplex sind als Be- stände des Reichsarchivs in Potsdam im Frühjahr 1945 verloren gegangen. Ersatz bietet hier der Umstand, dass die Archivalien zur Gefangenenstatistik in der Zwi- schenkriegszeit für verschiedene Arbeiten genutzt und publiziert wurden, teil- weise auch die Bestände der deutschen Kontingentarmeen Sachsens, Württem- bergs und Bayerns®. Daher und weil Deutschland anders als das Zarenreich und Österreich-Ungarn über das Kriegsende eine staatliche Kontinuität bewahrte, schei- nen die Daten für Deutschland einigermaßen genau und verlässlich. Das hat sich auch in der Forschungsliteratur so niedergeschlagen: die statistischen Angaben ge- hen von relativ festen Werten aus, die unstrittig scheinen.

Mit dem Deutschen Reich als größte Gewahrsamsmacht von Kriegsgefangenen im Ersten Weltkrieg bietet sich an, den Blick von der Ostfront auf die Westfront schweifen zu lassen. In Deutschland machten Soldaten der Zarenarmee annähernd zwei Drittel aller Gefangenen aus. In der Habsburgermonarchie waren es sogar fast 70 Prozent. Darüber hinaus befand sich das Hohenzollemreich - seit 1917 - mit allen kriegführenden Staaten der Welt im Kriegszustand, sofern sie nicht den Mittelmächten angehörten. Was zunächst wie eine wenig erhellende Binsenwahr- heit wirkt, ist wichtig für die Kriegsgefangenenfrage. Deutschland war das einzige Land, in dem Soldaten faktisch aller Entente-Staaten interniert waren, die dort alle demselben Gefangenensystem unterworfen waren - übrigens ein wichtiger Unter- schied zu Deutschland als Gewahrsamsmacht im Zweiten Weltkrieg. Somit macht

' Am verbindlichsten Wilhelm Doegen, Kriegsgefangene Völker, Bd 1: Der Kriegsgefan- genen Haltung und Schicksal in Deutschland, Berlin 1919; Wilhelm Doegen, Die feind- lichen Kriegsgefangenen in Deutschland. In: Der große Krieg 1914-1918, Bd 10: Die Or- ganisationen der Kriegführung, Dritter Teil. Hrsg. von Max Schwarte, Leipzig 1923, S. 205-220; Uta Hinz, Gefangen im Großen Krieg, feiegsgefangenschaft in Deutschland 1914-1921, Essen 2006, stützt sich außerdem auf Quellen des Hauptstaatsarchivs Stutt- gart, wo auch Dokumente des Preußischen Kriegsministeriums erhalten sind.

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348 MGZ 67 (2008) Reinhard Nachtigal es Sinn, nicht nur von der Ostfront zu sprechen, wo über fünf von annähernd neun Millionen Gefangenen des Ersten Weltkrieges in die Hand des Gegners gerieten.

Die Gesamtzahl der Weltkriegsgefangenen ist dabei erst in jüngeren Studien von 6,6 Millionen auf über 8 Millionen hoch revidiert worden'. Die vorliegende Untersuchung will hingegen aufzeigen, dass es wahrscheinlich gegen 9 Millionen waren. Daten zum Arbeitseinsatz der Gefangenen und ihre Mortalität im Gewahr- samsstaat lassen weitere Aussagen zu, nicht zuletzt zur Qualität der Gefangen- schaft in den jeweiligen Ländern. Andererseits kann insbesondere die Sterberate auch nicht allein Gradmesser für die Qualität der Gefangenenbehandlung sein, wie im Hinblick auf Faktoren wie den physischen Zustand bei Gefangennahme, die Emährungslage bei den Mittelmächten und die Dauer der Gefangenschaft rich- tigerweise betont wurde'".

Die Angaben für die Länder der westlichen Entente scheinen verlässlicher. Ge- rade neuere französische Studien zu den gefangenen Franzosen in Deutschland le- gen das nahe, denn anstelle einer offensichtlich redundanten Statistik-Diskussion steht hier die Alltags- und Mentalitätengeschichte im Vordergrund". Im Folgenden soll also versucht werden, durch Interpolation eine einigermaßen plausible Statis- tik zu Kriegsgefangenen im Ersten Weltkrieg zu (re-)konstruieren, die aber nur eine Näherung darstellen kann und als vorläufig gesehen werden muss. Fehler und Mängel dieser Berechnung, für die ich die Verantwortung trage, können selbst- verständlich auch hier unterlaufen. Doch wenn eine fruchtbare Diskussion damit angestoßen wird, hat der Versuch wohl schon mehr erreicht, als erwartet werden kann. Denn trotz der Menge bisher publizierter Literatur und entsprechender Re-

Vgl. Hinz, Gefangen im Großen j ^ e g (wie Anm. 8), S. 9, in Auswertung der Schätzungen von Jochen Oltmer (Bäuerliche Ökonomie und Arbeitskräftepolitik im Ersten Weltkrieg.

Beschäftigungsstruktur, Arbeitsverhältnisse und Rekrutierung von Ersatzarbeitskräften in der Landwirtschaft des Emslandes 1914-1918, Bentheim 1995, S. 282) und Rüdiger Overmans (»In der Hand des Feindes«. Geschichtsschreibung zur Kriegsgefangenschaft von der Antike bis zum Zweiten Weltkrieg. In: In der Hand des Feindes. Kriegsgefan- genschaft von der Antike bis zum Zweiten Weltkrieg. Hrsg. von Rüdiger Overmans, Köln [u.a.] 1999, S. 1-39, hier S. 9). Eine ältere Gesamtberechnung aller Kriegsgefangenen kommt bereits auf über 8,5 Millionen. Auf sie wird wegen des Detailmaterials im Fol- genden rekurriert: Leopold Kern, Kriegsgefangene und Zivilinternierte in den wich- tigsten kriegführenden Staaten. In: In Feindeshand. Die Gefangenschaft im Weltkriege in Einzeldarstellungen, 2 Bde. Hrsg. von Hans Weiland und Leopold Kern, Wien 1931, Anhang. Die Hauptdaten daraus bei Rachamimov, POWs and the Great War (wie Anm. 2), S. 39-42.

Rüdiger Overmans, »Hunnen« und »Untermenschen« - deutsche und russisch/sowje- tische Kriegsgefangenschaftserfahrungen im Zeitalter der Weltkriege. In: Erster Welt- krieg - Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich. Krieg, Kriegserlebnis, Kriegserfahrung in Deutschland. Im Auftr. des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Bruno Thoß und Hans-Erich Volkmann, Paderborn [u.a.] 2002, S. 335-365, hier S. 343, Anm. 16.

Oden Abbal, Soldats oublies. Les prisonniers de guerre frangais, Bez-et-Esparon 2001, S. 22 f. Von insgesamt 600 000 gefangenen Franzosen geht aus Annette Becker, Oublies de la Grande Guerre. Humanitaire et culture de guerre 1914^1918. Populations occupees, deportes civils, prisonniers de guerre, Paris 1998, S. 15; Jean-Claude Auriol, Les Barbe- les des Bannis. La tragedie des prisonniers de guerre frangais en Allemagne durant la Grande Guerre, Paris 2002, S. 8, nennt 568 000 Frar\zosen in Deutschland, worunter er offenbar auch Zivilintemierte zählt. Bis 1918 wurden 26 645 kriegsgefangene Franzosen über die Schweiz repatrüert (ebd., S. 276).

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zensionen dazu ist noch kein Diskurs zur »Kriegsgefangenenforschung« für die Zeit des Ersten Weltkriegs zustande gekommen.

Ein Gedanke soll einleitend noch angeführt sein, da die Statistik-Diskussion dem mit der Problematik nicht weiter vertrauten Leser als bloßer Selbstzweck eher marginaler Fragestellungen erscheinen mag. Dass statistische Fragen keineswegs nur der Statistik dienen, wurde in einer Sammelbesprechung der bis 2004 erschie- nenen Literatur zum Gesamtkomplex aufgezeigt^^: Aus rein statistischen Daten sind weitergehende Schlüsse zu ziehen, und zwar nicht nur für die historische For- schung, sondern auch für politische Sichtweisen, mit denen sich diese Studie aber nicht befasst. Dem Leser bleibt es überlassen, weiterführende Interpretationen der verschiedensten Art anzustellen. Auch der Vergleich mit der Gefangenschaft im bzw. nach dem Zweiten Weltkrieg und auf außereuropäischen Schauplätzen liegt außerhalb der Intentionen dieses Beitrags". Hier soll eine möglichst verlässliche Übersicht zur Problematik im Ersten Weltkrieg versucht werden, wie ich es schon früher für die russische Gewahrsamsmacht unternommen habe".

Statistiken zu den Gewahrsamsmächten

1. Deutschland

Aufgrund der Militärdoktrinen der europäischen Großmächte 1914 wurde das Deutsche Reich schon in der Frühphase des Weltkrieges die Gewahrsamsmacht mit den meisten Kriegsgefangenen. Der Schlieffenplan sah das frühzeitige Über- rennen der französischen Armeen in Nordfrankreich vor. Es hatte zur Folge, dass Ende 1914 bereits rund 200 000 Franzosen sowie etliche Zehntausend Briten und Belgier in deutschen Gefangenenlagern saßen. Nach der Mameschlacht verringerte sich der Zustrom rasch, denn an der Westfront trat nun der Stellungskrieg ein, der nur gelegentlich durch Großangriffe der Gegner unterbrochen wurde. An der zu- nehmend technisierten Westfront vom Ärmelkanal bis an die Schweizer Grenze begann eine Kriegführung, die Unmassen von Toten, Schwerverwundeten und In- validen, aber nur relativ kleine Kontingente von Gefangenen hervorbrachte: die Front blieb auf einer Länge von 600 Kilometern nahezu uridurchlässig, ja, auch die Absicht zum Feind überzugehen, wurde fast unmöglich, da lebensgefährlich. Die insgesamt 535 000 Franzosen in deutscher Gefangenschaft kamen also nach 1914 in kleinen Schüben bis zum Sommer 1918 zustande. Dass die französische Armee bis dahin die Hauptlast an der Westfront trug, lässt sich an der niedrigeren Zahl britischer Soldaten im deutschen Gewahrsam ablesen, unter denen sich ebenfalls Kämpfer aus den Kolonien und aus den Dominions befanden: nach britischen

^^ Nachtigal, Kriegsgefangenschaft an der Ostfront (wie Anm. 2), S. 15-19.

'' Vgl. etwa Richard B. Speed, Prisoners, Diplomats, and the Great War. A Study in the Di- plomaqf of Captivity, New York 1990. Konkret für Russland etwa Overmans, »Hurmen«

und »Untermenschen« (wie Anm. 10). Dazu auch Peter Gatrell and Mark Harrison, The Russian and Soviet economies in two world wars: a comparative view. In: The Economic Histoiy Review, 46 (1993), S. 425-^52.

" Nachtigal, Kriegsgefangenschaft an der Ostfront (wie Anm. 2), S. 140.

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3 5 0 M G Z 67 (2008) Reinhard Nachtigal Quellen waren dies 176 139 Gefangene, von denen 6826 Offiziere waren^®. Etwa 46 000 belgische Soldaten wurden überwiegend in den ersten Kriegsmonaten ge- fangen. Ab 1917 trafen von der Westfront dann auch Soldaten späterer Entente- Verbündeter ein: etwa 4480 der US-Armee, 12 318 der portugiesischen und wenige anderer Staaten^^ Bis Oktober 1918 dürften sich also etwa 770 000 Gefangene al- lein der westlichen Entente in deutscher Hand befunden haben. In Deutschland wurde die erste Million an Kriegsgefangenen im Sommer 1915 erreicht^''.

Am deutschen Abschnitt der Ostfront gestaltete sich der Zufluss von Gefange- nen anders. Sowohl der Kriegsverlauf als auch die Art der Kriegführung unter- schieden sich hier wesentlich von der Westfront. Die deutschen Truppen im Osten sollten sich zunächst defensiv verhalten. Daher blieb der österreichisch-unga- rischen Armee die Hauptlast im Osten überlassen. Doch auch hier wurde vom Schlieffenplan abgewichen: weil der russische Aufmarsch sich durch technische und organisatorische Verbesserungen, die nach dem für Russland desaströsen Rus- sisch-Japanischen Krieg von 1904/05 vorgenommen worden waren, schneller voll- zog als vom deutschen Generalstab erwartet. Der Wunsch der deutschen Führung, möglichst alle Landesteile vor dem feindlichen Zugriff zu bewahren, verwässerte den Schlieffenplan an der West- wie an der Ostfront, doch mit verschiedenen Er- gebnissen: schon nach der Vernichtung der russischen Narev-Armee im August 1914 gerieten 100 000 Russen in Gefangenschaft, während die neuen Befehlshaber der deutschen Ostfront die Initiative gegen einen zahlenmäßig überlegenen Geg- ner übernahmen. Die Umkehrung der angenommenen Voraussetzungen des preu- ßischen Generalstabs, die französische Armee sei leichter niederzuringen als das in wenigen Jahren vor dem Weltkrieg aufgerüstete russische Heer, das überdies mit schließlich 15,8 Millionen mobilisierten Soldaten die weitaus größte Streitmacht aufwies'®, führte dazu, dass bis Spätwinter 1915 sich im Osten mehr ereignete, als von den Mittelmächten geplant oder erwartet worden war. So fanden sich bis Ende 1914 rund 300 000 Russen in deutscher Gefangenschaft. Zu diesem Datum war be- reits eine halbe Million Entente-Soldaten in Deutschland, im Frühjahr 1915 wur- den es 650 000.

Während der Winterschlacht in den Karpaten (Ende Januar bis April 1915) ver- ringerte sich die Zahl eingebrachter Kriegsgefangener. In einem erbitterten Stel- lungskrieg in Eiseskälte traten Verhältnisse wie an der Westfront ein: hohe Ver- luste durch Verwundung, durch Erfrierungen und Hunger, denn der Nachschub

Statistics of the Military Effort of the British Empire during the Great War 1914-1920. Ed.

by The War Office, London 1922, S. 329-331. Ebd., S. 238-242 und 271 höhere Gesamt- verluste an eigenen Gefangenen und Vermissten allein in Nordfrankreich/Belgien: 3464 Offiziere und 221 200 Mann bzw. S. 739 ff. 10 848 Offiziere und 316 114 Mann. Die ver- trauenswürdige Statistik von Doegen, Kriegsgefangene Völker (wie Anm. 8), S. 28 f., nennt 182 009 Briten in deutscher Gefangenschaft.

Statistics of the Military Effort of the British Empire (wie Anm. 15), S. 352 f. Die britische Statistik nennt ebd., S. 352 nur 446 300 gefangene Franzosen für alle Mittelmächte und 10 203 belgische Soldaten. Portugiesen können auch weniger Personen ausgemacht ha- ben.

Hinz, Gefangen im Großen Krieg (wie Anm. 8), S. 10, nach einer Zählung des Preußischen Kriegsministeriums »Nachweisung der am 10. August 1915 in den Kriegsgefangenenla- gern und Lazaretten untergebrachten Kriegsgefangenen«, wonach die Gesamtzahl der Gefangenen 1 045 232 Mann betrug.

So Rüdiger Overmans, Kriegsverluste. In: Enzyklopädie Erster Weltkrieg (wie Anm. 6), S. 663-666, Tafel S. 664 f.

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zur kämpfenden Truppe funktionierte schlecht. Die Zahl russischer Gefangener wuchs dann mit der Sommeroffensive der Mittelmächte ab Mai 1915 wieder an.

Zwar waren auch die deutschen und österreichischen Verluste während dieses über alle Planungen hinaus erfolgreichen mehrmonatigen Vorrückens nach Osten immens. Doch die Mittelmächte hielten schließlich Ende August 1915 Massen an Zarensoldaten gefangen: in Deutschland könnten es bis zu 1 Million gewesen sein, denn schon im Juni 1915 soll sich die Zahl aller Gefangenen den 1,5 Millionen ge- nähert haben, was allerdings die für August genannte Gesamtzahl (1 040 000 Ge- fangene) bereits um 400 000 überschreitet^'. Welche vielfältigen Folgen dies im deutschen Gefangenenwesen mit sich brachte, etwa bei der Verpflegung und beim Arbeitseinsatz, ist an anderer Stelle aufgezeigt worden^".

Während danach sich das Einströmen von Gefangenen von der Westfront auf vergleichsweise niedrigem Niveau und stetig einspielte, blieb für die Ostfront das stoßweise Eintreffen in Massen während großer Operationen hauptsächlich in den Sommermonaten charakteristisch. Für die Anfang Juni 1916 begirmende russische Sommeroffensive, die Brusilov-Offensive, ist wieder mit etlichen Hundertausend gefangener Russen zu rechnen, allerdings bis zur Einstellung der Kämpfe im Spät- sommer. Anfang Oktober 1916 sollen in Deutschland allein 1,225 Millionen rus- sische Mannschaften im Arbeitseinsatz gestanden sein^\ Dazu sind noch wenige Zehntausend hinzuzuzählen, die nicht arbeiteten: Invaliden und etwa 9000 Offi- ziere.

Die russischen Gefangenen-Verluste der im Juli 1917 beginnenden russischen Sommeroffensive, die sich zu Ende Juli festgefahren hatte, dürften vergleichsweise niedrig, vielleicht mit 100 000 Soldaten, ausgefallen sein". Im Herbst 1917 wurde es an der Ostfront ruhig, nach dem Oktoberputsch der Bolschewiki am 7. Novem- ber kam es zu keinen weiteren Kampfhandlungen, im Dezember begannen die Waffenstillstandsverhandlungen, die am 3. März 1918 zum Frieden von Brest- Litovsk führten. In dieser Zeit vom Oktober 1917 bis ins Frühjahr 1918 kamen nur noch russische Überläufer als neue Gefangene in Frage. Wilhelm Doegen nennt al-

So etwa Die Ernährung der Kriegsgefangenen im Deutschen Reich. Bericht über den Kur- sus für Verpflegungsoffiziere der Gefangenenlager vom 22. bis 25. Juni 1915 in Berlin.

Hrsg. von Bacldiaus, Berlin 1915. Hier sind vermutlich zivile Feindstaaten-Ausländer (Zivilgefangene) hinzugezählt. Vgl. periodische Angaben zum Eintreffen bei Doegen, Kriegsgefangene Völker (wie Anm. 8), S. 28 f., Tabelle G. »Zahlentafel sämtlicher einge- brachten Kriegsgefangenen während der Kriegsdauer bis zum 10. Oktober 1918«.

Vgl. Hinz, Gefangen im Großen Krieg (wie Anm. 8). Katja Mitze, Das Kriegsgefangenen- lager Ingolstadt während des Ersten Weltkriegs, Berlin 2000, sowie Klaus Otte, Das La- ger Soltau. Das Kriegsgefangenen- und Intemiertenlager des Ersten Weltkriegs (1914-1921).

ite und Geschichten, Soltau 1999.

Geschichte i

Karl Auerbach, Die russischen Kriegsgefangenen in Deutschland (Von August 1914 bis zum Beginn der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution), unveröffentlichte Diss. Pots- dam 1973, S. 132 und 135 nach Quellen des DDR-Militärarchivs Potsdam. Ein Jahr spä- ter, im September 1917 wurde vermutlich der Höchststand erreicht: von insgesamt 1,861 Millionen arbeitenden Gefangenen waren 1,271 Millionen Russen. Mit Invaliden und Offizieren dürften also Ende 1917 über 1,3 Millionen Russen im Land gewesen sein (ebd.). Hinzuzurechnen sind außerdem bereits Ausgetauschte, in neutralen Ländern In- ternierte, Geflüchtete und Verstorbene.

Ebd., S. 270, nennt 50 000 von der Kerenskij-Offensive eingebrachte Russen in Deutsch- land nach einer amerikanischen Quelle, die aber nur die beiden ersten Juliwochen be- rücksichtigt haben dürfte. Der Gegenstoß der Mittelmächte hielt bis September 1917

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3 5 2 MGZ 67 (2008) Reinhard Nachtigal lerdings allein für das Halbjahr bis Oktober 1918, also nach dem Friedensschlüsse 27 600 neu eingetroffene russische Gefangene^^.

Auch die deutschen Truppen auf dem Balkan dürften in den letzten zwölf Kriegsmonaten nur noch wenige Tausend Rumänen, Griechen, Südslawen, bri- tische, französische und australisch-neuseeländische (ANZAC) Soldaten einge- bracht haben. Das größte Kontingent von Gefangenen traf Ende 1917 von der Süd- tirolfront nach dem erfolgreichen Durchbruch am Isonzo (ital. »Caporetto«) ein:

Deutschland und Österreich-Ungarn teilten sich die menschliche Beute von 300 000 italienischen Gefangenen hälftig^^. Deutschland erhielt etwa 140 000 Italiener^®.

Insgesamt traf damit also die Masse der geschätzten rund 1,5 Millionen Solda- ten der russischen Armee schon 1914/15 in Deutschland ein, was dort urmiittelbare Folgen zeitigte. Annähernd 1 Million Gefangene machten es im Frühsommer 1915 illusorisch, ausgedehnte Massenlager in Deutschland zu errichten, wo sich mit der Nahrungsverknappung durch die britische Blockade ein zukünftiges Problem der Kriegführung abzeichnete. Kriegsgefangene wurden, auch um zu ihrer Ernährung selbst beizutragen, rasch zum Arbeitseinsatz gebracht. Die Gefangenenarbeit hatte zwar in Deutschland schon im Herbst 1914 begonnen; aber zunächst in kriegswirt- schaftlich unbedeutenden Branchen und nur in geringer Zahl: bei Kultivierungsarbei- ten in Moorgebieten, beim Bau von Binnenkanälen und zur Errichtung von Infrastruk- tur in neu gebauten Gefangenenlagern, die in Österreich-Ungarn und Deutschland zunächst als Massenlager für Zehntausende geplant wurden^^.

Die Zahl von 2 Millionen Kriegsgefangenen in Deutschland wurde etwa Ende 1917 erreicht. 1918 trafen dann noch einmal 500 000 Entente-Soldaten dort ein^^.

Das bedeutet, dass seit 1916 noch knapp 1 Million Entente-Soldaten nach Deutsch- land kamen, die einerseits ein eingespieltes Gefangenenwesen antrafen, in das sie eingegliedert wurden. Dieses war ab Sommer 1915 andererseits durch den Arbeits- einsatz charakterisiert, seit dieser Zeit standen nämlich zwischen 65 und 80 Pro- zent aller Kriegsgefangenen ständig in Arbeit. Wie bei den meisten Gewahrsams- mächten arbeiteten dabei rund zwei Drittel von ihnen in der Landwirtschaft.

Schwankungen beim Arbeitseinsatz in der Winterzeit wurden seit dem Hinden- burg-Programm nahezu unmöglich, da die landwirtschaftlichen Arbeiter dann der Industrie überstellt wurden. Diese Situation blieb bis zum Waffenstillstand im No- vember 1918 erhalten, als die Repatriierung vor allem der westlichen Entente-Ge- fangenen einsetzte.

Doegen, Kriegsgefangene Völker (wie Anm. 8), S. 28 f., Tafel G. Auch Österreich-Ungarn brachte 1918 noch russische Überläufer als Gefangene ein. Vgl. unten, Anm. 53.

Moritz/Leidinger, Zwischen Nutzen und Bedrohung (wie Anm. 7), S. 194.

Nach Doegen, Kriegsgefangene Völker (wie Anm. 8), S. 28 f., Tafel G., waren 133 000 Ita- liener in deutscher Gefangenschaft. Nach Giovanna Procacci, »Fahnenflüchtige jenseits der Alpen«. Die italienischen Kriegsgefangenen in Österreich-Ungarn und Deutschland.

In: Kriegsgefangene im Europa des Ersten Weltkriegs. Hrsg. von lochen Oltmer, Pader- born [u.a.] 2006 (= Krieg in der Geschichte, 24), S. 194-215, hier S. 196, waren Ende 1918 170 000 Italiener in Deutschland.

Hierzu vor allem Hinz, Gefangen im Großen Krieg (wie Anm. 8), S. 248-252, unter Aus- wertung der Studie Oltmer, Bäuerliche Ökonomie und Arbeitskräftepolitik (wie Anm. 9) und württembergischer Archivquellen. Ihr zufolge (ebd., S. 258) wurde die systema- tische, d.h. durchgängige Gefangenenarbeit in Deutschland noch früher geplant, als von lochen Oltmer angenommen, nämlich schon Anfang 1915. Vgl. ebd., S. 276 f., statistische Tabellen zum Arbeitseinsatz.

Doegen, Kriegsgefangene Völker (wie Anm. 8), S. 28 f., Tafel G.

(9)

Für drei deutsche Staaten sind sogar Daten zur Gesamtzahl der internierten Kriegsgefangenen erhalten. In Bayern waren es 1917 u m 92 000 Mann, 1918 dann fast 130 000^®. In Sachsen waren es 1918 über 55 000, in Württemberg schließlich 49 000^'. Auffallenderweise stellten in den meisten stellvertretenden Generalkom- mandos Russen dabei nur zwischen 40 und 50 Prozent. Da Russen insgesamt aber etwa 60 Prozent aller Gefangenen ausmachten, muss man sie zu einem überdurch- schnittlichen Anteil bei Arbeiten für die Frontarmeen vermuten. Alle für die Rus- sen vorliegenden Daten scheinen auszusprechen, dass bis Oktober 1918 insgesamt um 1,5 Millionen von ihnen in deutsche Hand gerieten, nicht nur 1,3 Millionen, wie niedrigere Angaben lauten. Ob russische »Gefangenenverluste« nach dem Frie- den von Brest-Litovsk im Sommer 1918 hier eine Rolle spielen, ist unsicher, sollte aber in Betracht gezogen werden.

Im Oktober 1918 vermeldete eine Statistik des Berliner Kriegsministeriums 2 374 769 Mannschaften und 40 274 Offiziere der Entente, also insgesamt 2 415 043 Gefangene im deutschen Gewahrsam'". Von diesen sind in der Forschung 118 159 Gefangene abgezogen worden, die bis zum 10. Januar 1919 im deutschen Gewahr- sam verstarben'^ Vermutlich müssen weitere Kategorien Kriegsgefangener von den verbleibenden 2 296 884 abgezogen werden, nämlich die der ausgetauschten bzw. in neutralen Ländern internierten und der aus dem deutschen Machtbereich geflüchteten:

Ausgangsquote Gesamtzahl

überlebender Kriegsgefangener (1918/19) 2 296 884 - abzgl. bis Juni 1918 »erfolgreich« Geflüchtete 67 655^' 2 229 229 - abzgl. 100 000 bis 136 628 Ausgetauschte

(30 000 bis 63 000 Russ., 51 900 Franz., 7864 Briten u.a.)'' 2 090 600 - in neutralen Ländern Internierte

48 000 bis 67 000 bleiben 2 023 000 bis 2 042 000.

Auerbach, Die russischen Kriegsgefangenen (wie Artm. 21), S. 200, u n d Mitze, Das Kriegsgefangenenlager Ingolstadt (wie Anm. 20), S. 73.

Auerbach, Die russischen Kriegsgefangenen (wie Anm. 21), für Sachsen. Für Württem- berg Hinz, Gefangen im GroiSen Krieg (wie Anm. 8), S. 35. Es ist möglich, dass sich wei- tere Gefangene bei den entsprechenden Kontingent-Fronttruppen zu Arbeiten in der Frontetappe befanden. Unklar ist, ob Gefangene der bayerischen Pfalz mitgezählt sind.

Mitze nennt keine Lagerorte dort.

Hinz, Gefangen im Großen Kriög (wie Anm. 8), S. 10, nach HStA Shittgart, M 1/6-1430, Preuß. Kriegsministerium »Nachweisung der Zahl der Kriegsgefangenen nach dem Stande vom 10.10.1918«. (Ebd., auch S. 112 und S. 320. Nach Doegen, Kriegsgefangene Völker (wie Anm. 8), S. 28 f., waren bis zum 10.10.1918 2,422 Millionen eingebrachte Ge- fangenen registriert worden, eine Zahl, die nach Abzug von Abgängen während des Kriegs noch zu niedrig scheint!

Hinz, Gefangen im Großen Krieg (wie Anm. 8), S. 112. Zu dieser Rechenweise, die auf eine niedrige Sterberate von 4,89 % Entente-Gefangenen in Deutschland kommt, vgl.

hier, S. 382, Kern, Kriegsgefangene und Zivilintemierte (wie Anm. 9) nermt noch weni- ger: 90 000 verstorbene von insgesamt 2 553 400 Gefangenen in Deutschland. Die Ge- samtzahl scheint überhöht, was die prozentuale Mortalität zusätzlich senkt.

Doegen, Kriegsgefangerie Völker (wie Anm. 8), S. 28 f., Tafel F., nennt insgesamt 106 000 aus Deutschland geflüchtete Gefangene (darunter 98 325 Russen!), die aber wohl nicht alle in Entente-Staaten gelangt sind.

Ebd., S. 28 f.: insgesamt 218 676 Ausgetauschte abzüglich 80 048 Zivilintemierte, ergibt 136 628 ausgetauschte Kriegsgefangene. Elsa Brändström, Unter Kriegsgefangenen in Rußland und Sibirien 1914-1920, 6. Aufl., Leipzig 1927/31, S. 150, nennt nur 37 295 Rus- sen, die von Österreich und Deutschland ausgetauscht wurden.

(10)

354 MGZ 67 (2008) Reinhard Nachtigal Vergleichbar Russlarid dürften weiterhin noch Abzüge vorzunehmen sein, die aus der Gefangenschaft entlassene und an verbündete Mächte überstellte Kriegs- gefangene betrafen: vor allem muslimische und Hindi-Kolonialsoldaten der bri- tischen und französischen Armeen sowie Muslime, Anhänger von Naturreligionen und Buddhisten der Zarenarmee. Hier ist keine auch nur annähernd verlässliche Zahl vorhanden, doch dürfte es sich um mehrere Tausend handeln: bei den aus der Gefangenschaft Entlassenen handelt es sich überwiegend um Deutschrussen'^, die in Deutschland blieben, und um Muslime, die an die Türkei überstellt v^mrden.

Falls nur eine der vorgenannten Gefangenen-Kategorien zu den sicher erfassten mindestens 2,415 Millionen Gefangenen in Deutschland der Gesamtzahl hinzuzu- zählen wäre, weil sie im Oktober 1918 nicht mehr im deutschen Machtbereich als Gefangene präsent war, so erhöhte sich die Zahl der von August 1914 bis Oktober 1918 gemachten Gefangenen für den Nehmestaat Deutschland auf rund 2,5 Milli- onen. Dass für eine solche Berechnung durchaus Anhaltspunkte gegeben sind, ist auch an den unsicheren Daten zu den Russen festzumachen: nach dem Bürger- krieg in Russland berechneten sowjetische Behörden Gefangenenverluste der rus- sischen Armee in Höhe bis zu 3,4 Millionen zusammen in Deutschland, Österreich- Ungarn, Türkei und Bulgarien^®.

Wenn diese Ziffer auch viel zu hoch gegriffen i s P , da sie der politischen Ab- sicht entsprang, die militärische Leistung der Zarenarmee herabzusetzen, so deu- tet sie an, dass die wesentlich niedrigere Ziffer von insgesamt 2,8 Millionen gefan- genen Russen (Deutschland: 1,4 bis 1,5 Millionen, Österreich-Ungarn: 1,3 Millionen,, Türkei/Bulgarien: höchstens 100 000) vielleicht auch nicht zutrifft!

Gleichzeitig erklärt diese Rechenweise die bei Kriegsende von der deutschen und österreichischen Regierung genannten niedrigeren Zahlen.

Ende 1918 drängte insbesondere das gedemütigte Frankreich auf bedingungs- lose und unverzügliche Heimführung seiner 520 000 Landsleute aus Deutschland, die nach den Russen die zweitgrößte einzelstaatliche Gruppe an Gefangenen stell- ten. So verringerte sich die Zahl der fremden Schützlinge in Deutschland bis Ja- nuar 1919 rasch. Im Frühling 1919 befanden sich noch etwa 300 000 Kriegsgefan- gene in Deutschland. Da entgegen der Vereinbarung mit der West-Entente die deutsche Regierung bis Februar 1919 noch rund 1 Million Russen die Heimkehr ermöglichte, war auch ihre Zahl innerhalb von vier Monaten auf etwa 250 000 ge- s c h r u m p f P . Wegen der Repatriierungspolitik der westlichen Entente-Länder, die

Moritz/Leidinger, Zwischen Nutzen und Bedrohimg (wie Anm. 7), S. 140 f., nennt 18 000 Deutschrussen in deutscher Gefangenschaft. Für Österreich-Ungarn liegt keine Gesamt- zahl vor. Auerbach, Die russischen Kriegsgefangenen (wie Anm. 21), S. 147, nennt 16 000 Deutschrussen.

Reinhard Nachtigal, Die Repatriierung der Mittelmächte-Kriegsgefangenen aus dem re- volutionären Russland. Heimkehr zwischen Agitation, Bürgerkrieg u n d Intervention 1918-1922. In: Kriegsgefangene im Europa des Ersten Weltkrieges (wie Anm. 25), S. 239-266, S. 241. Vgl. Nachtigal, Kriegsgefangenschaft an der Ostfront (wie Anm. 2), S. 15-19.

Oksana Nagomaja. In: Voprosy istorii, 2005,9, S. 172 f., hat diese überhöhten Zahlen neu- erdings problematisiert. Sie kamen durch Mehrfachzählungen zustande, die schon Bo- ris Zesarewitsch Urlanis, Bilanz der Kriege. Die Menschenverluste Europas vom 17. Jahr- hundert bis zur Gegenwart, Berlin (Ost) 1965, S. 284-287, thematisiert hat.

Hinz, Gefangen im Großen Krieg (wie Anm. 8), S. 341-346; Moritz/Leidinger, Zwischen Nutzen und Bedrohung (wie Anm. 7), S. 290, nennen nach einer russischen Quelle 950 000 Rtjssen, die vom November 1918 bis Januar 1919 von Deutschland und Österreich-Ungam nach Russland heim- kehrtea Eine unbekannte Zahl hielt sich in den neu entstandenen Staaten Ostmitteleuropas auf.

(11)

i W h a t R u s s i a H a s . D o n e !

Das antibolschewistische Russian Liberation Committee im britischen Exil publizierte 1919/20 eine Reihe politischer Schriften ßr

die Sache der antibolschewistischen »Weißen«. , ™ - - -

Dabei erinnerte es an Russlands Leistungen . C o n i n i o i l CaUSe.

im Krieg gegen die Mittelmächte. Wie sich die , ' . i ^ i Verlustberechnungen instrumentalisieren lie- |

ßen, zeigen überhöhte - von der russischen | J)URING the War Russia mobilised -' Armee eingebrachte - und ZU niedrige Anga- [ ' ' men*- - Hussia's losses i benßr die-eigenen-Kriegsgefangenen. I were as follows:- -

' ' • Killed and died'of wouids 1,700,000 j Di<»bled - - . . 1,450.000 " I i , Wounded . 3,500,000 i

Prisonew - ' - . • 2,500,000

f-ii J ., j Total - - 9,150,000

I n i t s t u r n t h e R u s s i a n A r m y t o o k 3,500,000 o f t h e e n e i h y p n s o n e r s .

als Interventionsmächte auch im russischen Bürgerkrieg kämpften und entspre- chende personale Verstärkung der Roten Armee zu verhindern trachteten, aber auch wegen der Bürgerkriegsfronten und des polnisch-russischen Krieges 1920, kam es bis Sommer 1920 zu keiner wesentlichen Verringerung osteuropäischer Ge- fangener in Deutschland, die dort inzwischen als Nahrungsmittelkonkurrenten, als soziale und politische Gefahr wahrgenommen wurden. 1920/21 erst kehrte der größte Teil von ihnen in ihre Heimat zurück. Gleichzeitig stellten sie das größte Kontingent von »Bleibern«'^ da für viele der Sowjetstaat keine Attraktivität besaß oder andere Gründe, etwa Familiengründung, für den Verbleib in Deutschland den Ausschlag gaben.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass auch über 1000 ehemalige fran- zösische Kriegsgefangene aus ebendiesen Motiven in Deutschland dauerhaft blie- ben, was bei den Friedensverhandlungen in Versailles für Verwicklungen sorgte.

Scherte Frankreich als Heimatstaat seiner 520 000 Gefangenen in Deutschland mit dem Waffenstillstand vom 9. November 1918 aus der strikt reziprok ausgerichte- ten und nach gegenseitigen Vereinbarungen getroffenen Gefangenenpolitik aus, indem es seine Gefangenen zurückforderte, bevor es die deutschen Gefangenen im französischen Gewahrsam zurückschicken wollte, so scheinen Differenzen hierzu keine Folgen gehabt zu haben®'. Diese Frage müsste aus französischen Ar- chivquellen noch geklärt werden.

Nach Hinz, Gefangen im Großen Krieg (wie Anm. 8), S. 346, blieben 30 000 ehemals kriegsgefangene Russen mit behördlicher Genehmigung in Deutschland, weitere 40 000 bis 50 000 waren untergetaucht.

Bemard Delpal, Zwischen Vergeltung und Humanisierung der Lebensverhältnisse. Kriegs- gefangene in Frankreich 1914-1920. In: Kriegsgefangene im Europa des Ersten Weltkriegs (wie Anm. 25), S. 147-164. Ebd., S. 152, nennt die überhöhte Zahl von 844 000 gefange- nen Franzosen in Deutschland, die durch die Addierung von 300 000 Vermissten zu- stande kommt (ebd., S. 158, Dezember 1918). Zum 1.2.1917 waren 367 124 französische Mannschaften und 6287 Offiziere in deutscher Gefangenschaft. Das heißt, im Laufe der letz- ten 21 Kriegsmonate gerieten noch einmal rund 160 000 Franzosen in Gefangenschaft.

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356 MGZ 67 (2008) Reinhard Nachtigal War für Deutschland als Gewahrsamsmacht im Frühling 1919 dieses Kapitel bis auf die verbleibenden 250 000 Russen und wenigen Angehörigen der Balkan- staaten sowie Lazarettkranken »erledigt«, so trafen im Spätsommer 1920 wiede- rum 50 000 sowjetrussische Militärinternierte in Deutschland ein, die im gerade beendeten polnisch-russischen Krieg auf deutsches Territorium übertraten, u m nicht in polnische Gefangenschaft zu geraten^". Sie werden nicht der Weltkriegs- statistik bis 1918 zugezählt! In Deutschland wurden diese Militärinternierten in Lager gebracht, wo bis 1919/20 Kriegsgefangene gewesen waren. Sie waren die letzten Kriegsgefangenen in Deutschland und wurden im Frühling 1921 repatri- iert. Für die Jahre von 1914 bis 1918 könnte somit die Gesamtstatistik für Deutsch- land aussehen wie in Tab. 1.

Tab. 1: Anzahl der Kriegsgefangenen und Veriauf ihrer Gefangenschaft in Deutschland 1914 bis 1918 Bis Insgesamt Arbeits- Verstorben* Geflüchtet

Ende eingelangt einsatz ausDtld.

ca. in %

Aus deutscher Gefangenschaft entlassen Ausgetauscht Interniert in an Verbündete

in Heimat neutr. Ländern überstellt vor Ort

1914 - 500 000 ? ? ? 1915 1 500000 - 75 < 50000 ? 1916 1 800 000 - 80 - 60 000 >10 000 1917 - 2 Mio. - 8 0 90 000-110 000 - 50 000

1918 -2,5 Mio. - 8 0 118159-140 000 106 000 (Okt)

0 0 0

< 10 000 0 ? - 30 000 - 2000 Russen ?

<100 000 45 922-65 000 ? (nur Kgf. der

West-Entente)

136 628 - 5000

-500 000 -1,4 Mio.

- 1 , 7 Mio.

-1,8 Mio.

< 2,2 Mio.

• Nach Nationalitäten aufgegliedert bei Urlanis, Bilanz der Kriege (wie Anm. 36), S. 289 (darunter 72 586 Russen) Kursiv = nicht belegte aber plausible Schätzdaten

Für die Verluste unter den Gefangenen in Deutschland liegt nur die Zahl 118 159 vor, die von offiziöser Seite stammt und bislang unbeanstandet in der Forschung weitergereicht wird". Falls es zutrifft, dass bis Anfang 1919 rund 120 000 Entente- Soldaten in deutscher Gefangenschaft starben, so beliefe sich ihre Sterberate auf erstaunlich niedrige 5 Prozent, geht man von der Gesamtzahl von rund 2,5 Milli- onen Gefangenen dort aus. Diese Angabe erscheint durchaus realistisch, obwohl die deutschen Behörden insbesondere weniger russische Gefangene geltend mach- ten, nämlich um 1,3 Millionen. Hingegen erscheint die Gesamt-Sterbezahl dem Au- tor dieser Studie zu niedrig, sie kam vermutlich aus politischen Gründen zustande.

Die Sterberate unter den einzelstaatlichen Gruppen von Gefangenen war sehr un- terschiedlich". Sie wurde angeführt von den insgesamt 43 300 Rumänen in Deutsch- land, von denen 12 512 in den Jahren 1917 und 1918 starben, eine Mortalität von 28,9 Prozent. Die nächsthöhere Todesrate ist bei den nur 27 912 Serben in Deutsch- land zu verzeichnen, mit 1693 Toten kommen sie auf 6,1 Prozent. Die Sterberate

Otte, Das Lager Soltau (wie Anm. 20), S. 258-290.

Doegen, Kriegsgefangene Völker (wie Anm. 8), S. 56 f., Tabelle D, auf die zurückgreift:

Hinz, Gefangen im Großen Krieg (wie Anm. 8), S. 238-246.

Hinz, Gefangen im Großen Krieg (wie Anm. 8), S. 238 f., nach Doegen, Kriegsgefangene Völker (wie Anm. 8), S. 56 f. Aufgliederung nach Todesursachen. An Krankheiten star- ben über 90 % der Russen, jedoch nur 75 % der Franzosen. Von letzteren starben an Spät- folgen von Verwundungen 25 %. Ein klarer Hinweis auf den schlechteren physischen Zustand der Russen.

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der größten Einzelgruppe von mindestens 1,435 Millionen Russen scheint dem Au- tor dieser Studie mit 72 586 Personen und 5,1 Prozent zu niedrig, insbesondere im Vergleich mit den entsprechenden Zahlen in Österreich-Ungarn^. Zwar sind 1917 und 1918 die Todesfälle nicht mehr auf Massenepidemien zurückzuführen. Aber da die ost- und südosteuropäischen Gefangenen ab 1916 in Deutschland hunger- ten, ist mit einer beständigen Auszehrung, Schwächung und einer erhöhten An- fälligkeit für letale Krankheiten auszugehen. Eine hohe Sterberate (5,7 %) bestand nur noch unter den 133 000 bis 170 000 Italienern, die in den ersten Kriegsjahren Italiens nicht von der Heimat mit Lebensmitteln unterstützt wurden^. Relativ nied- rig war die Sterberate von 3,2 Prozent unter den Franzosen, geht man von 535 400 Soldaten und 17 000 verstorbenen Gefangenen aus^®.

Dass die deutschen Behörden nach dem Krieg werüger Entente-Gefangene im Lande nannten, als offensichtlich während des Krieges eingebracht, hatte auch po- litische Motive. Eine wichtige Erklärung bietet dafür die Statistik für Deutschland, denn bis Ende 1918 haben Abgänge verschiedenster Art die Gesamtzahl der Ge- fangenen erheblich verringert. Neben - mindestens -120 000 verstorbenen Gefan- genen werden in der Literatur auch 60 295 bis 98 000 Russen genannt, die aus Deutschland erfolgreich in neutrale oder Entente-Länder flüchteten^. Rechnet man ebenfalls aus dem deutschen Machtbereich geflüchtete 8000 Gefangene anderer Entente-Staaten (davon 5000 Franzosen, zusammen also 106 000 Geflüchtete) hinzu, so ergeben sich schon aus den beiden Kategorien »Geflüchtete« und »Verstorbene«

Abgänge in Höhe von rund 230 000 Mann. Weiterhin sind 136 000 ausgetauschte Gefangene (vor allem kriegsuntaugliche Invaliden) und in neutralen Ländern in- ternierte (etwa 50 000 bis 67 000 Mann) hinzuzuzählen. In die Türkei und nach Österreich-Ungarn überstellte Deutschland einige Tausend Muslime und andere Gefangene. Rund 400 000 eingebrachte Kriegsgefangene des Feindes waren somit beim Waffenstillstand nicht mehr in Deutschland. Im November 1918 dürften da- her nicht einmal mehr 2,1 Millionen Gefangene in Deutschland gewesen sein.

2. Österreich-Ungarn

Der Habsburgerstaat steht als Gewahrsamsmacht erst an dritter Stelle. Es bildete sich bei ihm ein Gefangenenwesen heraus, das dem in Deutschland stark ähnelte und sich diesem zunehmend anglich. Diese keineswegs überraschende Einsicht ist eine Folge der Notwendigkeit, Kriegswirtschaft und Kriegführung des ebenfalls von der alliierten Blockade betroffenen Landes mit denen des Partners abzustim-

Vgl. hier, S. 361-363.

Vgl. hierzu die Beiträge von Giovanna Procacci, Soldati e prigionieri italiaru nella Grande guerra, Roma 1993; Procacci, »Fahnenflüchtige jenseits der Alpen« (wie Anm. 25) und Gio- vanna Procacci and Paul Comer, The Italian experience of »total« mobilization 1915-1920.

In: State, Society and Mobilization in Europe during the First World War. Ed. by John Home, Cambridge, MA1997, S. 223-240. Neuerdings Alan Kramer, Italienische Kriegs- gefangene im Ersten Weltkrieg. In: Der Erste Weltkrieg im Alpenraum (wie Anm. 3), S. 247-258.

Doegen, Kriegsgefangene Völker (wie Anm. 8), S. 56 f.; Auriol, Les Barbeles (wie Anm. 11), S. 282, geht von über 30 000 verstorbenen Franzosen aus. Irreführend dagegen ebd., S. 179.

Urlanis, Bilanz der Kriege (wie Anm. 36), S. 287-293. Die höhere Zahl Geflüchteter nach Doegen, Kriegsgefangene Völker (wie Anm. 8), S. 28 f., Tabelle F.

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3 5 8 M G Z 6 7 ( 2 0 0 8 ) Reinhard Nachtigal

men. Die Zuschübe an Gefangenen verliefen zwar ebenfalls stoßweise, aber an- scheinend in kleineren Größenordnungen und vielleicht stetiger als in Deutsch- land. Aber die auch hier unerwartet großen Massen gerade an Russen haben später im Krieg zu schweren Versorgungsengpässen geführt, was sich dann auf die Gesundheit und Überlebenschancen vor allem der Ost- und Südosteuropäer in Österreich auswirkte.

Betrachten wir zunächst den Zustrom von Gefangenen nach Österreich. Es han- delte sich bis Ende 1914 hauptsächlich um Russen, die in der Frühphase auf dem galizisch-polnischen Schauplatz eingebracht wurden, während an der Serbienfront wenige Zehntausend Serben in österreichische Gefangenschaft gerieten. Der Zu- schub an Gefangenen verlief im Weiteren ähnlich wie in Deutschland, da die Zwei- bundmächte fortan militärische Operationen an der Ostfront weitgehend mitei- nander abstimmten und in Österreich die Soldaten der Zarenarmee wenigstens zwei Drittel aller Gefangenen stellten. Da der Habsburgerstaat, der übrigens mehr eigene Soldaten an Russland verlor als er russische Gefangene einbrachte, insge- samt mit etwa 1,9 Millionen weniger Gefangene als Deutschland hatte, ist auch von kleineren Kontingenten im Vergleich mit Deutschland auszugehen. Die 1-Mil- lionen-Schwelle dürfte hier frühestens Ende 1915 erreicht worden sein. Dabei machten bis zu diesem Zeitpunkt - beim Zusammenbruch Serbiens - gefangene Serben und Montenegriner wohl etwa 165 000 und Italiener über Hunderttausend aus, sodass sich die Nationalitäten der Gefangenen für die Doppelmonarchie etwa folgendermaßen berechnen lassen (Tab. 2):

Tab. 2: Kriegsgefangene in der Habsburgermonarchie nach Staatsangehörigkeit Gefangene Russ. Armee Serben/Montenegr. Italiener Rumänen Andere" Gesamt Mai 1916 800 000-1 Mio. 165 000 150 000 0 7 < 1,2 Mio.

Okt. 1918 1,27-1,33 Mio." 167 000 370-468 000= 52 800 2500 1,892-2 Mio.

»Andere«: etwa 650 Franzosen, 150 Briten, 1400 Albaner nach Kern, Kriegsgefangene und Zivilinter- nierte (wie Anm. 9), sowie weitere kleine Gruppen (Griechen werden nicht genannt).

Nach ebd., 1,27 Mio., Anhang. Moritz/Leidinger, Zwischen Nutzen und Bedrohung (wie Anm. 7), S. 328, nennen 1,33 Mio. Russen eiiwr soliden Quelle des k.u.k. Kriegsministeriums als höchste Angabe.

Die höhere Zahl bei Procacci, »Fahnenflüchtige jenseits der Alpen« (wie Anm. 25), nach Kramer, Kriegsrecht und Kriegsverbrechen (wie Anm. 6), S. 287.

Eine gründliche Untersuchung zur Gefangenschaft in Österreich-Ungarn macht zwei wichtige Merkmale aus, die sich in der Frühphase des Krieges auf die Statistik auswirk- ten. Wie in Deutschland kam es im Winter 1914/15 zu ausgreifenden Seuchen in einigen Massenlagem. Die Umstände einer Typhusepidemie im oberösterreichischen Serben-Lager Mauthausen, wo zwischen 7000 und 12 000 Kriegsgefangene zugrunde gingen, sind aufgearbeitet worden und stellen die Spitze der Anfangsschwierig- keiten im österreichischen Gefangenenwesen dar^''. Da solche Seuchen auch in an- deren Lagern, aber offenbar mit geringeren Verlusten wüteten, ist schon bis Früh- jahr 1915 mit einer Sterberate von 20 000 bis 30 000 zu rechnen. 1915 bekamen die militärmedizinischen Dienste der Zweibundmächte das Seuchenproblem jedoch in den Griff, und die Sterberate sank bis zum Hungerwinter 1916/17 wieder.

Moritz/Leidinger, Zwischen Nutzen und Bedrohung (wie Anm. 7), S. 83-89.

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1916 setzte im Habsburgerstaat die Versorgungskrise im stärkeren Maße als beim deutschen Verbündeten ein, dem allerdings ebenfalls der »Steckrübenwin- ter« bevorstand. In der Doppelmonarchie wirkte sich nun der staatliche Dualis- mus fatal für die Gesamtemährungslage aus^, als alle Anstrengungen sich auf den militärischen Erfolg richteten, der auch die Kriegsgefangenen als billige, fast un- beschränkt auszubeutende Arbeitskräfte erfasste. Anders als in Deutschland, wo Briten, Franzosen und Belgier Lebensmittelpakete ihrer Heimatstaaten zur Unter- stützung erhielten, war dies bei russischen, serbischen, rumänischen und zeitweise auch italienischen Gefangenen nicht der Fall. Letztgenannte Nationalitäten mach- ten im österreichischen Gewahrsam aber über 90 Prozent aller Gefangenen aus.

Die Folge war, dass die Masse der Gefangenen ab 1916 ständig hungerte, gleich- zeitig aber für schwere körperliche Arbeiten immer stärker herangezogen wurde.

Ab 1917 stieg daher die Sterberate unter ihnen wieder an, jetzt aber nicht aus Grün- den ansteckender Krankheiten, für die ein geschwächter Körper anfälliger ist als ein gesunder. Die österreichische Militärmedizin beugte zwar durch Hygiene- und Impfmaßnahmen einer Masseninfizierung vor. Was auch sie nicht verhindern konnte, war das Verhungern der Gefangenen, deren Körpergewicht vermutlich noch unter den 50 Kilogramm des durchschnittlichen österreichischen Frontsol- daten im Jahre 1918 lag^'. Die Etappenführung versuchte wiederum mit Maßnah- men dem Hunger unter den Gefangenen zu begegnen, die für den deutschen Ver- bündeten so nicht belegt sind: Austausch der physisch geschwächten Arbeitern mit vermeintlich weniger geschwächten im Hinterland, mit häufigen Rastpausen und Ruhetagen bzw. geringerer Arbeitsleistung.

Hier spielt eine Rolle, dass seit 1916 in Österreich-Ungarn mit seinen drei Fron- ten (Nordost-Front gegen Russland, Südfront gegen Italien und die Balkanfront) ein besonders hoher Anteil von Gefangenen für Arbeiten bei der Armee im Felde (A.i.F.) stand. Völkerrechtlich ist der Arbeitseinsatz von Gefangenen bei der A.i.F.

und im Frontbereich - was nicht deckungsgleich sein muss - und dessen Etappe relevant. Er fand im Ersten Weltkrieg zum ersten Mal und bei allen großen Ge- wahrsamsmächten statt. Tendenziell war die Arbeit der Kriegsgefangenen bei der A.i.F. durch ihre größere rechtliche Schutzlosigkeit gekennzeichnet: in der Regel konnten sie dort nicht durch neutrale bzw. Hilfsdelegationen besucht wprden, wie das für beide Seiten der Westfront, für Österreich-Ungarn und Russland belegt ist.

Obwohl die Versorgungslage bei der kämpfenden Truppe besser war als im Hin- terland, war die physische Ausbeutung der dort arbeitenden besonders rigoros, auch wurden Willkürakte und Misshandlungen gegen sie seltener kontrolliert und geahndet. Hunger und Überanstrengung dürften dort zu einer höheren Sterberate als im Hinterland geführt haben.

Im Frühjahr 1917 waren im Bereich der k.u.k. Armee rund 295 000 Gefangene eingesetzt, während die entsprechende Zahl für Deutschland für Ende 1916 und September 1917 nur unwesentlich etwas über 250 000 schwankt'". Damit war aber

Gustave Comi, Ernährung. In: Enzyklopädie Erster Weltkrieg (wie Anm. 6), S. 461^64;

Hans Loewenfeld-Russ, Im Kampf gegen den Hunger. Aus den Erinnerungen des Staats- sekretärs für Ernährung 1918-20, Wien 1926, und Ottokar Landwehr von Pragenau, Hun- ger. Die Erschöpfungsjahre der Mittelmächte 1917/18, Zürich 1931.

Moritz/Leidinger, Zwischen Nutzen und Bedrohung (wie Anm. 7), S. 180-185, 204-208 und 234-237.

Ebd., S. 171, als der Chef des österreichischen Ersatzwesens von 1,3 Millionen Gefange- nen im Land ausging (Frühjahr 1917), eine Zahl, die trotz Abgängen (Tod, Invalidenaus-

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360 M G Z 67 (2008) Reinhard Nachtigal der Anteil Gefangener bei der A.i.F. in Österreich-Ungarn nicht nur absolut höher als in Deutschland. Anfang 1918 erreichte die Gefangenenzahl bei der A.i.F. mit 362 517 Personen einen Höchststand in Österreich. Etwa 240.000, zwei Drittel da- von waren Russen. Möglicherweise erhöhte sich die Zahl noch bis zum Kriegsende auf über 430 000^'. Die Zahl der bei Frontarbeiten eingesetzten Gefangenen spielt auch bei der Entente eine Rolle, die noch aufgeklärt werden muss.

Dass für Österreich-Ungarn die Gesamtzahl an Kriegsgefangenen für kein Kriegsjahr sicher belegbar ist, ist nach neuesten Erkenntnissen auch darauf zurück- zuführen, dass die Fronteinheiten der A.i.F. neu eingebrachte Gefangene für sich behielten und somit vor der ordentlichen Registrierung durch die Militärverwal- tung im Hinterland »unterschlugen«. Das k.u.k. Etappenoberkommando (EOK), k.u.k. Kriegsministerium und Armeeoberkommando (AOK) führten hier einen Kleinkrieg miteinander u m wenigstens 160 000 Gefangene, die das Kriegsministe- rium im Frühjahr 1916 zusätzlich bei der A.i.F. vermutete. Nach dem Sieg gegen Italien im Spätherbst 1917 mit bis zu 300 000 gefangenen Italienern wurden öster- reichische Fronttruppenführer sogar disziplinarisch bedroht, wenn diese einge- brachte Gefangene »verheimlichten« oder nicht ins Hinterland abgeben wollten, wo man ihrer dringend als Arbeitskräfte vor allem in der Landwirtschaft bedurfte®^.

Dieses Phänomen ist in ähnlicher Weise auch für Deutschland,belegt, wo ebenfalls die Gefangenenarbeit bis zum Äußersten u n d im Frontbereich ausgeschöpft wurde.

Für die Habsburgermonarchie liegt eine Zahl von 21 389 russischen »Kriegsge- fangenen« vor, die noch nach dem Waffenstillstand an der Ostfront im Dezember 1917 im ersten Quartal 1918 eingebracht wurden. Dabei handelt es sich u m Über- läufer der russischen Armee, die sich bereits in Auflösung befand^'. Man mag sich über diese Gruppe wundern, da die Zweibundmächte Feindstaatenangehörigen kaum noch etwas zu bieten hatten, auch politisch nicht. Das für Österreich belegte Phänomen bestand auch in Deutschland, das mit Russland ja eine noch längere Frontlinie hatte als der Habsburgerstaat.

In Österreich schnellte im ersten Quartal des Jahres 1918 die Sterberate unter den Gefangenen wieder hoch. Bei vierstelligen Ziffern unter den in der Monarchie Verstorbenen wurde auf völlige Erschöpfung und Herzschwäche erkannt, die schließlich in über 50 Prozent der Fälle zum Tode führtto, sodass die k.u.k. Behör- den in den Sterbemeldungen teilweise andere Todesursachen angaben als die tat- sächliche, um das Drama gegenüber den Gegnern zu verschleiern. Allein im letz- ten Kriegsjahr dürfte eine fünfstellige Sterbeziffer erreicht worden sein. Das führt zur Frage, wieviele etwa der im Habsburgerstaat internierten Gefangenen bis Ende

tausch, Flucht) zu niedrig scheint. Ebd., S. 191-193,194 000 Kriegsgefangene an Öster- reichs Nordostfront 1917/18, davon 139 000 Russen. Vgl. auch S. 331 ein prozentualer Vergleich der Verwendung bei der A.i.F. in Deutschland u n d Österreich-Ungarn, der nur unwesentliche Unterschiede nennt. Für Deutschland vgl. Hinz, Gefangen im Großen Krieg (wie Anm. 8), S. 296; Auerbach, Die russischen Kriegsgefangenen (wie Anm. 21), S. 338 f. Immerhin verheimlichte die OHL nicht diese Gefangenen.

Moritz/Leidinger, Zwischen Nutzen und Bedrohung (wie Anm. 7), S. 292. Darunter jetzt etwa 285 000 Russen.

Ebd., S. 194.

Ebd., S. 230. Es ist unwahrscheinlich, dass es sich um von den k.u.k. Behörden falsch re- gistrierte »verkleidete« Russland-Heimkehrer handelt, die zu dieser Zeit in Massen an der österreichischen Nordostfront eintrafen. Vgl. die entsprechende Zahl Russen in Deutschland oben (Anm. 23).

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1918 verstarben. Darüber liegen nur fragnrientarische Angaben vor, die sich aber vielleicht interpolieren lassen.

Man erinnert sich der rund 10 000 verstorbenen Serben von Mauthausen im ersten Kriegswinter. Einige weitere Tausend Gefangene werden in der Frühphase in anderen Lagern wie etwa dem böhmischen Milowitz mit einer ebenfalls hohen Sterberate hinzugekommen sein. Da Italien erst Ende Mai 1915 in den Krieg gegen die Mittelmächte eintrat und die ersten italienischen Gefangenen frühestens im Juni in Österreich eintrafen, lassen sich 33 574 Italiener uneingeschränkt hinzuad- dieren, die nach verlässlicher Quelle bis Anfang 1919 in Österreich-Ungarn umge- kommen sein sollen®^. Damit wäre man schon bei wenigstens 50 000 Toten, unter denen sich noch kaum Russen und keine Rumänen befanden!

Umstritten bzw. unklar ist die Zahl der in Österreich verstorbenen Angehöri- gen der russischen Armee. Eine sowjetische Behörde machte nach dem Krieg hier 110 443 Russen geltend. Der deutsche Völkerrechtler Franz Scheidl stellte dagegen in seinem völkerrechtsgeschichtlichen Monumental werk von 1943 nur 63 000 ver- storbene Russen fest, eine Angabe, die von der neueren Forschung zu Recht in Zweifel gezogen wird®®. Für weitere Gruppen wie 154 000 Serben (zuzüglich 13 000 Montenegrinern) und 53 000 Rumänen liegt ein Sterbesatz von knapp 10 Prozent in der Monarchie (16 000 und 4200) vor, der mit der Berechnimg von Leopold Kern übereinstimmt.

Tab. 3: Sterberate unter Kriegsgefangenen in Österreich-Ungarn nach Staatsangehörigkeit Nationalität Russen Serben/Monten. Italiener Rumänen Andere Gesamt Verstorben 80 000-110 000 16 000 33 600-92 451* 4200 ? 134 000-230 000 von insgesamt -1,3 Mio 167 000 370 000-468 000* 53 000 2500 ~ 2 Mio.

anteilig in % 8,5 <10 - 9 8,1 ? 7,5-10

Die höheren Angaben nach Procacci, »Fahnenflüchtige jenseits der Alpen« (wie Anm. 25), S. 195-197;

Kramer, Kriegsrecht und Kriegsverbrechen (wie Anm. 6), S. 287.

Demzufolge wären bis Ende 1918 rund 140 000 oder mehr Gefangene im österrei- chischen Machtbereich verstorben, was in Hinsicht »verheimlichter« Gefangener bei den k.u.k. Frontarmeen realistisch erscheint. Doch welche Sterberate insgesamt

^ Moritz/Leidinger, Zwischen Nutzen und Bedrohung (wie Anm. 7), S. 328. Zu italienischen Verlusten vgl. Procacd, »Fahnenflüchtige jenseits der Alpen« (wie Anm. 25), S. 194-215, und Kramer, Italienische Kriegsgefangene (wie Anm. 44). Zu niedrig dagegen Kern, Kriegsgefangene und Zivilintemierte (wie Anm. 9), mit 26 000 in ÖsterreicJi verstorbe- nen Italienem. Vgl. auch Rita Lepre, Gli sfollati isontini e istriani neH'intemo della Mo- narchia durante la prima guerra mondiale. In: Österreichisches Italien - italienisches Österreich? Interku turelle Gemeinsamkeiten und nationale Differenzen vom 18. Jahr- hundert bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. Hrsg. von Brigitte Mazohl-Wallnig und Marco Meriggi, Wien 1999, S. 753-777.

Moritz/Leidinger, Zwischen Nutzen und Bedrohung (wie Anm. 7), S. 328 (insgesamt 1,33 Mio. Russen in Österreich) und 331 f. Diese Zahl dürfte ebenfalls zu niedrig sein, umso mehr als Scheidl - ebenso Kem, Kriegsgefangene und Zivilintemierte (wie Anm. 9), Anhang - die Todesrate der Russen im Habsburgerstaat (5 %) für die niedrigste von al- len gefangenen Nationalitäten hält, was wegen der genannten Verpflegungsprobleme unrealistisch ist. Andererseits nennt er insgesamt 1 860 000 Gefangene in der Monarchie, was realistisch scheint. Dabei geht er von insgesamt knapp 1,3 Millionen Russen aus, ein plausibel wirkender Mittelwert zwischen den sonst genannten 900 000 bis 1,7 Millionen Russen. Vgl. unten, S. 382.

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3 6 2 M G Z 67 (2008) Reinhard Nachtigal daraus zu berechnen ist, kann noch weniger sicher erschlossen werden. Der Ver- fasser dieser Studie hält 1,86 bis 2 Millionen Kriegsgefangene im Habsburgerstaat für wahrscheinlich. Sowjetische Behörden nannten nach dem Krieg offensichtlich zu hohe russische Gefangenen-Verluste, sowohl insgesamt bei den Mittelmächten als auch allein für Österreich-Ungarn: 1,5 Millionen Russen oder gar 1,7 Millionen scheinen überhöht^. Vermutlich sind sie auch nicht bei anderen Gewahrsamsmäch- ten der Mittelmächte, bei Deutschland oder dem Osmanischen Reich zu finden! Bei Annahme von 1 860 ODO Gefangenen in Österreich ergäbe sich mit 140 000 Toten bereits eine Sterberate von rund 7,6 % im Gesamtdurchschnitt, der sich bei den ein- zelstaatlichen Gruppen nur geringfügig unterscheidet: bei Russen etwa 8 %, bei Serben fast 10 %, bei Rumänen 8 %, bei Montenegrinern 7,4 %. 33 574 verstorbene Italiener ergeben bei einer Gesamtzahl von 369 600 Italienern eine Sterberate von 9 % in Österreich, was auffallend hoch ist. In noch krasserer Relation stehen die entsprechenden höheren Angaben Procaccis von 92 000 verstorbenen unter den insgesamt 468 000 in Österreich gefangenen Italienern (20 % Mortalität), von denen sie ausgeht.

Eine Mindestberechnung auf Grundlage sicherer Daten für nichtrussische Ge- fangene in Österreich kommt zuzüglich der geschätzten Russen auf rund 110 000 Verstorbene. Hierzu werden die genannten Zahlen für Serben/Möntenegriner (16 000), Rumänen (4200) sowie die österreichischerseits festgestellten 33 574 Ita- liener mit den von Scheidl genannten 63 000 Russen - verstanden als Minimalwert - zusammengerechnet. Das bereits ergibt 116 000 in Österreich verstorbene Gefan- gene! Diese Berechnung macht deutlich, dass der Versuch einer Näherung für die k.u.k. Monarchie von der Sterberate der gefangenen Russen und Italiener abhängt, die bei beiden um jeweils 50 000 Todesfälle schwankt. Allerdings ist auch die Ge- samtzahl eingebrachter Gefangener dieser Nationalitäten nicht sicher.

Geht man von einer mittlerer Annahme von rund 140 000 Toten aus, läge die Sterberate in Österreich-Ungarn prozentual deutlich höher als bei den westlichen Gewahrsamsmächten Deutschland, England und Frankreich. Sie kam durch Kriegs- seuchen im ersten Kriegswinter und extreme Auszehrung der Italiener, Ost- und Südosteuropäer seit dem Winter 1916/17 zustande, wenngleich ein nicht beziffer- barer Anteil zu berücksichtigen ist, der durch letale Spätfolgen von Kriegsverwun- dungen und tödliche Unfälle beim Arbeitseinsatz entstand. Weitere Abgänge er- gaben sich durch eine vermutlich mindestens ebenso hohe Rate erfolgreicher Flucht (zunächst über neutrale Länder wie Rumänien und die Schweiz, dann auch über schlecht bewachte Frontabschnitte) und durch den Gefangenenaustausch mit den Feindstaaten. Dieser betraf nach Elsa Brändström 37 295 Russen zusammen in Österreich-Ungarn und Deutschland, die bis Anfang 1918 nach Russland heim- kehrten. Weitere ca. 2000 waren in neutralen Ländern interniert®''. An Deutschland hat die Doppelmonarchie auch Deutschrussen der Zarenarmee in geringer Zahl überstellt.

Vgl. oben, S. 350 f. zu Deutschland. Bettina Brand und Dittmar Dahlmann, Streitkräfte (Rußland). In: Enzyklopädie Erster Weltkrieg (wie Anm. 6), S. 901-904, hier S. 904, nen- nen die zutreffende Gesamtzahl von 2,9 Mio. gefangenen Russen.

Brändström, Unter Kriegsgefangenenen (wie Anm. 33), S. 150 und 162 f.; N. Zdanov, Russkie voennoplennye v mirovoj vojne 1914-1918 [Die russischen Kriegsgefangenen im Weltkrieg 1914-1918], Moskva 1920, S. 98.

Abbildung

Tab. 1: Anzahl der Kriegsgefangenen und Veriauf ihrer Gefangenschaft in Deutschland 1914 bis 1918  Bis Insgesamt Arbeits- Verstorben* Geflüchtet
Tab. 2: Kriegsgefangene in der Habsburgermonarchie nach Staatsangehörigkeit  Gefangene  Russ
Tab. 3: Sterberate unter Kriegsgefangenen in Österreich-Ungarn nach Staatsangehörigkeit  Nationalität  Russen  Serben/Monten
Tab. 4: Gesamtberechnung zur Kriegsgefangenschaft

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