• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Lippen-Kiefer-Gaumenspalten" (11.09.1998)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Lippen-Kiefer-Gaumenspalten" (11.09.1998)"

Copied!
6
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

ißbildungen des Gesichtes reichen von der totalen Dysontogenese über Teil- aplasien und Defekte bis zu periphe- ren Störungen, zu denen auch Lip- pen-Kiefer-Gaumenspalten gehören.

Statistiken vieler Länder zeigen übereinstimmend, daß bei 500 Ge- burten mit einer Spaltbildung zu rechnen ist, wobei es sich vorwiegend um Lippen-Kiefer-Gaumenspalten, seltener um atypische Spaltformen im Bereich der Wange, der Nase und des Unterkiefers handelt. Zu den Entwicklungsstörungen, die unter dem Begriff der Lippen-Kiefer-Gau- menspalten zusammengefaßt wer- den, gehören nach der internationa- len Klassifikation (Rom 1967) drei Gruppen (16):

«Spalten des vorderen embryo- nalen Gaumens: die Lippen- und Lip- pen-Kieferspalten rechts und/oder links

¬Spalten des vorderen und hin- teren embryonalen Gaumens: die Lippen-Kiefer-Gaumenspalten rechts und/oder links (Abbildungen 1 bis 3)

­ Spalten des hinteren embryo- nalen Gaumens: die isolierten Gau- menspalten, harter Gaumen rechts und/oder links, weicher Gaumen (Mitte).

Sämtliche Gewebsabschnitte der Oberlippe, des Kiefers und des Gau- mens können von der Andeutung ei- ner Spalte über partielle Spalten bis

zur breiten Totalspalte getrennt sein.

Im Bereich der Lippe, des Alveolar- fortsatzes und des Gaumens treten Spalten sowohl einseitig als auch dop- pelseitig auf.

Spaltentstehung und Ursachen

Nach den gegenwärtigen Auffas- sungen werden die Spaltbildungen in den für die Kopfregion verantwortli- chen übergeordneten Organisations- zentren, dem Vorderkopf- und Hinter- kopforganisator, ausgelöst. Die em- bryonale Gesichtsentwicklung voll- zieht sich bereits in den ersten Lebens- wochen und ist spätestens mit der ach- ten Woche abgeschlossen. Bei den Lippen- und Lippen-Kieferspalten handelt es sich um Störungen in der Bildung der primitiven Nase zwischen dem 36. und 42. Tag des Embryonal- lebens, also zwischen der fünften und sechsten Woche. Dabei unterbleibt die Verwachsung der Nasenwülste (primäre LK-Spalte) oder die noch nicht substituierte Epithelmauer reißt

ein (sekundäre Spaltbildung [14]). Die Gaumenspalten, die als Hemmungs- mißbildungen zu betrachten sind, ent- stehen in der achten Embryonalwo- che, wobei sich die seitlichen Gaumen- fortsätze nicht vereinigen. Der Patho- genese liegt ein multifaktorielles Ge- schehen mit additiver Polygenie und Exogenie zugrunde. Als exogene No- xen werden Sauerstoffmangel, Vita- minmangel, Mangelernährung, Niko- tin, Kortikosteroide, Überdosen von Vitamin A und E sowie ionisierende Strahlung angenommen. Die erbliche Komponente liegt zwischen 15 und 30 Prozent.

Spaltprognosen

Gesunde Eltern mit einem Spalt- kind müssen in vier Prozent der Fälle mit der Geburt eines zweiten Spalt- kindes (Lippen-Kiefer-Gaumenspalte) rechnen. Das Auftreten einer isolierten Gaumenspalte ist in zwei Prozent der Fälle zu erwarten. Falls ein Elternteil Spaltträger ist und ein gesundes Kind vorhanden ist, wird beim nächsten Kind in etwa zwei Prozent eine Lippen- Kiefer-Spaltform zu erwarten sein, während eine isolierte Gaumenspalte eine Wahrscheinlichkeit von sieben Prozent hat. Hat ein Kind, dessen Vater oder Mutter Spaltträger ist, bereits eine Spalte, ist die Wahrscheinlichkeit, daß eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte beim nächsten Kind auftritt, zehn Pro-

Lippen-Kiefer- Gaumenspalten

Norbert Schwenzer

1

Ralf Arold

2

Schlüsselwörter: Lippen-Kiefer-Gaumenspalten, Kieferorthopädie, Phoniatrie, Logopädie

Bei der Behandlung von Lippen-Kiefer-Gaumenspalten sind in Abhängigkeit vom Schweregrad der Spaltbildung, insbesondere bei Totalspalten, mehrere Fachgebiete betei- ligt. Heute wird die Herstellung einer normalen Atmungs-, Sprech- und Kaufunktion bis zum Schuleintritt angestrebt.

Hierzu ist eine kieferorthopädische, eine operative, eine

phoniatrisch-pädaudiologische und logopädische Therapie erforderlich.

Bei Totalspalten wird im Hinblick auf die Herstellung einer ungestörten Tubenfunktion der Verschluß des Gaumense- gels bereits ab dem dritten Lebensmonat vorgenommen.

Regelmäßige gemeinsame Sprechstunden, in denen das Procedere abgestimmt wird, haben sich als äußerst effektiv erwiesen.

ZUSAMMENFASSUNG

Key words: Gnathopalatoschisis, orthodentics, phoniatrics, logopedics

The treatment of cleft lip and palate calls for multidiscipli- nary management. A number of specialities may be involved depending on severity. Modern management is aimed at

establishing normal breathing, speech, and chewing by school age. This requires ortho-

dentic, audiological, and speech therapy input. By complete clefts, the soft palate is closed at the age of three months in order to restore a normal tube function.

SUMMARY

M

1Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie (Ehem. Direktor: Prof. Dr.

med. Dr. med. dent. Norbert Schwenzer), Eberhard-Karls-Universität Tübingen

2Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie (Direktor: Prof. Dr. med. Ralf Arold), HNO- Klinik der Eberhard-Karls-Universität Tübingen

(2)

zent. Für das Auftreten einer isolierten Gaumenspalte liegt die Wahrschein- lichkeit sogar bei 15 Prozent.

Diverse Spaltformen

Am häufigsten treten Lippen-Kie- fer-Gaumenspalten auf (40 bis 65 Pro- zent), wobei die linke Seite zweimal so häufig befallen ist wie die rechte. Lip- pen- und Lippen-Kieferspalten werden mit 20 bis 25 Prozent, isolierte Gau- menspalten mit 30 Prozent der Fälle angegeben. Das Verhältnis männlich zu weiblich ist 3 : 2, wie sich auch aus dem Krankengut des Tübinger Spaltzen- trums ergab (6). Neben den vorgenann- ten Lippen-Kiefer-Gaumenspalten gibt es noch sogenannte seltene Gesichts- spalten, die zwischen ein- bis fünfmal pro 100 000 Geburten auftreten. Wir unterscheiden mediane, schräge und quere Gesichtsspalten (oro-auricular) sowie Spalten der Unterlippe, des Un- terkiefers und der Zunge, deren erste zusammenfassende Darstellung auf Schwalbe (1909) zurückgeht (23).

Sämtliche Spaltbildungen können auch mit anderen Mißbildungen kombiniert sein (25). Inzwischen sind 400 mit Lip- pen-Kiefer-Gaumenspalten assoziierte Syndrome bekannt (28).

Interdisziplinäre Therapie

Die Therapie besteht nicht nur in dem operativen Verschluß der Spalte, sondern es muß auch gewährleistet sein, daß die operierten Kiefer- und Gesichtsbereiche eine normale Ent- wicklung nehmen und das Gaumense- gel eine normale Sprechfunktion er- möglicht. Diese wiederum ist abhängig von einem guten Gehör. In der Tübin- ger Universitätsklinik besteht seit 1984 ein interdisziplinäres Zentrum für Lip- pen-Kiefer-Gaumenspalten und kra- niofaziale Anomalien (Spaltzentrum), dem folgende Disziplinen angehören:

ein Facharzt für Mund-Kiefer-Ge- sichtschirurgie, der auch die zahnärzt- liche Approbation besitzt und mit der Gebiß- und Kieferentwicklung vertraut ist, so daß er den operativen Verschluß der Spalte so vornehmen kann, daß das Wachstum des Gesichtsskelettes so we- nig wie möglich beeinträchtigt wird.

Außerdem gehören dem Spaltzentrum ein mit der Spaltproblematik vertrau-

ter HNO-Facharzt an, ein Anästhesist mit besonderen Erfahrungen auf dem Gebiet der Säuglingsanästhesie, sowie ein Kieferorthopäde als Zahnarzt mit einer speziellen Ausbildung zur Be- handlung von Zahn- und Kieferanoma- lien. Er behandelt die spaltbedingten Entwicklungsstörungen des Gebisses und beginnt je nach Form der Spaltbil- dung bereits nach der Geburt mit einer präoperativen Vorbehandlung. Er be- gleitet in der Regel das Spaltkind, bis die bleibende Gebißentwicklung abge- schlossen ist.

Der Hals-Nasen-Ohren-Arzt (Pho- niater-Pädaudiologe) behandelt die bei Spaltbildungen des Gaumens häufig auftretenden Erkrankungen des Mit- telohrs und der oberen Luftwege. Er trifft die Entscheidung, ob und wann Paukenröhrchen zur Vermeidung eines Mittelohrergusses eingelegt werden müssen. Inbesondere führt er bis zum

Erwachsenenalter Vorsorgeuntersu- chungen zur Früherkennung eines Cholesteatoms durch. Er stellt die Indi- kation zu einer Sprachheilbehandlung, die der Logopäde vornimmt.

Der Zahnarzt betreibt Karies- prophylaxe, behandelt kariös geschä- digte Zähne und führt nach abgeschlos- sener Gebißentwicklung die protheti- sche Versorgung durch. Weitere mitbe- handelnde Disziplinen sind die Kinder- heilkunde, insbesondere die Neonato- logie, sowie die Neurochirurgie bei Spaltbildungen, die mit Mißbildungen des Schädels und der Schädelbasis ein- hergehen. Es hat sich als unerläßlich er-

wiesen, eine regelmäßige Überwa- chung der Spaltpatienten in einer spezi- ellen Sprechstunde vorzunehmen, an der Vertreter der vorgenannten Fach- gebiete beteiligt sind.

Historischer Rückblick

Seit es Spaltbildungen gibt, finden sich Berichte über operative Behand- lungsmethoden, wobei vor allem zunächst das äußere sichtbare Zeichen einer Spaltbildung, die Lippe, ver- schlossen wurde. Lorber wies nach, daß nach dem 14. Jahrhundert zahlreiche bekannte Chirurgen sich mit Lippen- spaltchirurgie befaßten (11). Im 19.

Jahrhundert entstanden Operations- methoden, die mit den Namen Graefe (1820), von Langenbeck (1862) und Hagedorn (1892) verbunden sind und deren Prinzipien teilweise auch heute

noch zur Anwendung kommen (4, 5, 10). So hat Hagedorn (1892) eine Z- Plastik zum Verschluß der Lippe ange- geben. Langenbeck publizierte im Ar- chiv für klinische Chirurgie eine Me- thode zum Verschluß der Gaumenspal- te, die im Prinzip auch heute noch in Form der Brückenlappenplastik be- nutzt wird. In diesem Jahrhundert ha- ben vor allem Ernst (1925), Rosenthal (1924), Veau (1936), Axhausen (1936), Wassmund (1939), Schrudde und Stell- mach (1958) sowie Schuchardt (1960) mit seinen Schülern die Spalttherapie maßgeblich beeinflußt (1, 3, 21, 22, 30, 31). Während die Lippe schon recht Abbildung 1: a) Rechtsseitige Lippen-Kiefer-Gaumenspalte; b) Patient 19 Jahre später

a b

(3)

früh im Alter von drei bis vier Monaten verschlossen wurde, hat man im Hin- blick auf ein ungestörtes Oberkiefer- wachstum den Verschluß des harten und weichen Gaumens relativ spät, das heißt nach Durchbruch des Milchgebis- ses, vorgenommen, wobei die Reihen- folge, zunächst harter, dann weicher Gaumen, in der Regel einge-

halten wurde. Das umgekehrte Vorgehen, zunächst Verschluß des Weichgaumens, empfahl H. Schweckendiek (1955) un- ter bewußter Belassung einer Restöffnung im harten Gau- men, ein Vorgehen, das wir heute wieder aufgegriffen ha- ben (24). Eine richtungweisen- de Beeinflussung der Spalt- chirurgie erfolgte zweifellos durch die sogenannte Osteo- plastik mit Rippenknochen.

Sie sollte einen Kollaps der Kieferstümpfe verhindern und bei doppelseitigen Spalten den mobilen Zwischenkiefer fixie- ren. Weiterhin glaubte man, daß die kieferorthopädische Einordnung durchbrechender Zähne erleichtert würde (13, 20, 21). Es kam jedoch zu Oberkieferwachstumsstörun- gen und auch nicht zum Ein- wachsen von Zähnen in das Transplantat. Aufgrund dieser Ergebnisse wurde auch in der Tübinger Klinik die sogenann- te primäre Osteoplastik ver- lassen. An ihre Stelle trat seit 1985 die sogenannte sekundäre Osteoplastik mit Beckenknochenspongiosa, die sich in der Regel vor Durch- bruch des bleibenden Eckzah- nes als zweckmäßig erwies.

Die kieferorthopädische Einstellung spaltnaher Zähne wurde dadurch in vielen Fällen erst möglich (2, 26). Eine grundlegende Verbesserung des Thera- piekonzepts ergab sich jedoch aus der präoperativen kieferorthopädischen Behandlung, das heißt, einer sofort nach der Geburt einsetzenden Steue- rung des Kieferwachstums mit dem Ziel, die Kieferstümpfe so einzustellen, daß sie vor allem beim Verschluß der Lippe in regelrechter Position standen.

Diese von Hotz (1960) sowie Rosen- stein und Jacobson (1967) inaugurierte Behandlungstechnik erfolgt mit einem

abnehmbaren Plattenapparat, der nach Abdrucknahme individuell hergestellt wurde (7, 18). Hierdurch gelang es, die Kiefersegmente so zu positionieren, daß bereits im Milchgebiß eine norma- le Okklusion entsteht. Allerdings konnten auch vor der Einführung der präoperativen kieferorthopädischen

Behandlung, wenn auch mit größerem kieferorthopädischem Aufwand, zu- friedenstellende Ergebnisse erzielt werden (Abbildungen 1 bis 3).

Heutiges Therapiekonzept

Man unterscheidet grundsätzlich eine Primärbehandlung und eine Se- kundärbehandlung. Das Ziel der Primärbehandlung ist die Herstellung einer normalen Form sowie einer nor- malen Atmungs-, Sprech- und Kau- funktion bis zum Schuleintritt. Zur Er-

reichung dieses Zieles ist eine kieferor- thopädische, eine chirurgische, eine phoniatrisch-pädaudiologische und ei- ne logopädische Therapie erforderlich.

Es sei besonders hervorgehoben, daß je nach Art und Schweregrad der Spalt- bildung die vorgenannten Fachgebiete vielfach den Patienten bis zum Ab- schluß der Kiefer- und Gesichtsent- wicklung überwachen und therapeu- tisch begleiten.

Die chirurgische Primärbehand- lung beinhaltet die funktionsgerechte Vereinigung der gespaltenen Weichtei- le einschließlich der Auffüllung der Kieferspalte mit Knochen. Bei isolier- ten Lippen- und Lippen-Kieferspalten erfolgt der Verschluß der Lippe, bei Lippen-Kieferspalten auch des Nasen- bodens, im Alter von zirka drei Mona- ten, wobei das Kind mindestens 5 Kilo- gramm wiegen sollte. Der Lippenver- schluß kann nach der Technik von Ten- nisson (1958) beziehungsweise Randall (1959) erfolgen (17, 29). Als weitere Methoden kommen das Wellenschnitt- verfahren (Pfeifer 1970) sowie der Lip- penverschluß nach Millard (1964) zur Anwendung, Techniken, die in jedem Fall die Vereinigung der Lippenmusku- latur beinhalten (12, 15).

Bei isolierten Spaltbildungen des weichen Gaumens ist je nach Ent- wicklungsstand des Kindes ein Ver- schluß zwischen dem dritten und sechsten Lebensmonat, spätestens je- doch innerhalb des ersten Lebensjah- res sinnvoll. Hier kommt sowohl die Stiellappen- als auch die Brückenlap- penplastik in Betracht. Das Wesentli- che ist die regelrechte Vereinigung der Velummuskulatur. Hier ist auch die sogenannte intravelare Muskel- plastik von Kriens (1969) hervorzu- heben (8). Bei durchgehenden Spal- ten und Spalten des harten und wei- chen Gaumens wird die kieferor- thopädische Behandlung unmittelbar nach der Geburt durch Eingliedern einer Gaumenplatte eingeleitet. Sie trennt Mund- und Nasenhöhle, be- grenzt dadurch den Mundraum auf seine normale Größe und erleichtert das Trinken. Zungenlage und Zun- genfunktion werden weitgehend nor- malisiert, was sich auch günstig auf die Sprachentwicklung auswirkt.

Gleichzeitig wird mit der Gaumen- platte die Dislokation der Kieferseg- mente beeinflußt. Dies schafft eine Abbildung 2: a) Intraoraler Befund des in Abbildung 1 gezeigten

Patienten mit breiter Hart- und Weichgaumenspalte; b) Intraora- ler Befund nach Gaumenverschluß und kieferorthopädischer Be- handlung; c) Regelrechte Okklusion.

a

b

c

(4)

günstige Voraussetzung für die Pri- märoperation, das heißt, den Ver- schluß der Lippe und der Kieferspalte.

Bei durchgehenden Spalten wer- den nach kieferorthopädischer Vorbe- handlung heute bereits mit drei bis vier Monaten die Lippe und der weiche Gaumen (Gaumensegel) verschlossen, wobei eine sogenannte Lippenadhäsi- on zunächst die Annäherung der Kie- ferstümpfe und auch die richtige Ein- stellung der spaltseitigen Nasenflügel- basis ermöglicht. In einer zweiten Ope- ration erfolgt dann zirka sechs bis acht Wochen später der endgültige Lippen- verschluß. Nachdem auf diese Weise Gaumensegel und Lippe sowie vorde- rer Anteil des Nasenbodens verschlos- sen sind, bleibt im Hartgaumen eine Spalte zurück, die sich meist ver- schmälert und günstigenfalls etwa mit 18 Monaten geschlossen wird.

Die größten Probleme ergeben sich bei doppelseitigen Lippen-Kiefer- Gaumenspalten mit vorstehendem Zwischenkiefer. Hier ist eine kieferor- thopädische Vorbehandlung unerläß- lich. In besonderen Fällen kann auch eine forcierte kieferorthopädische Seg- menteinstellung mit Hilfe einer Lat- ham-Apparatur (1980) in Betracht ge- zogen werden (9). Das chirurgische Vorgehen ist das gleiche wie bei einsei- tigen Spalten, wobei jedoch der Ver- schluß der Lippe auf beiden Seiten heu- te in einem Operationsakt erfolgt. Die letzte chirurgische Maßnahme im Rah- men der Primärbehandlung ist die so- genannte Osteoplastik, das heißt, die Auffüllung der Kieferspalte mit Spon- giosa aus dem Beckenkamm, um dem durchtretenden spaltnahen seitlichen Schneide- und Eckzahn das Einwach- sen zu ermöglichen. Die in der Milchge- bißphase begonnene kieferorthopädi- sche Behandlung wird vielfach auch im Wechselgebiß fortgesetzt und endet erst nach Herstellung einer normalen Verzahnung im bleibenden Gebiß.

Die Sekundärbehandlung bein- haltet Korrekturoperationen nach er- folgtem Spaltverschluß, wie Lippenver- längerungen, zum Beispiel durch Z- Plastiken oder Narbenexzisionen. Wei- terhin ist der Verschluß von Rest- öffnungen im Bereich des Gaumens zu nennen. Bei einer Rhinophonie bietet sich neben Reoperationen vor allem die Velopharyngoplastik an. Ihr Prinzip besteht darin, daß ein kranial gestielter

Schleimhaut-Muskellappen von der Rachenhinterwand in den weichen Gaumen eingenäht wird. Bei sach- gemäßer primärer Operationstechnik können heute Restperforationen und Segelverkürzungen weitgehend ver- mieden werden. Daher ist in unserem Krankengut nur bei etwa 2 von 100 Ve- lumspalten eine Velopharyngoplastik

erforderlich. Besonders funktionell und ästhetisch bedeutsam ist die Kor- rektur der Nase. Wir unterscheiden hier die Verlängerung des Nasenstegs (Columella), die insbesondere bei dop- pelseitigen Spalten notwendig werden kann, die Stellungskorrektur des spalt- seitigen Nasenflügels sowie die Beseiti- gung der oft vorhandenen Septumde- viation.

Bei Knochenlücken im Kieferbe- reich und Restperforationen im Be-

reich des vorderen Nasenbodens ist ei- ne Osteoplastik angezeigt. Sie wird als tertiäre Osteoplastik (Osteoplastik im bleibenden Gebiß) bezeichnet und dient der Herstellung eines geschlosse- nen Alveolarfortsatzes, in den beim Ju- gendlichen unter Umständen noch spaltrandnahe Zähne, meist unter Ver- wendung festsitzender Apparaturen, kieferorthopädisch eingestellt werden können. Jedoch besteht auch die Mög- lichkeit, fehlende Zähne durch dentale Implantate, die in das Knochentrans- plantat eingebracht werden, zu erset- zen (27).

Hörstörungen, Sprech- und Sprachentwicklung

Die Schwerpunkte der Therapie betreffen Hörstörungen sowie Störun- gen des Sprechens und der Sprachent- wicklung. Hierzu müssen folgende Vor- aussetzungen erfüllt sein:

« Die erforderlichen Maßnah- men zur Beseitigung von Hör-, Sprech- und Sprachstörungen müssen rechtzei- tig erfolgen, das heißt, mit Beginn der sensitiven Phasen der Hör- und Sprach- entwicklung ab dem 5. beziehungswei- se 12. Lebensmonat.

¬ Früherfassung und Therapie einschließlich Nachsorge erfordern ei- ne enge Kooperation der beteiligten Fachdisziplinen des Spaltzentrums.

Therapie von Hörstörungen Etwa 95 Prozent aller Kinder, die innerhalb des ersten Lebensjahres vor dem operativen Gaumenverschluß pädaudiologisch untersucht werden, leiden an chronischer Tubenfunktions- störung. Die Ursache dürfte in erster Linie in einer muskulär bedingten Störung des Tubenöffnungsmechanis- mus zu suchen sein. Sie ist Wegbereiter für die Entstehung von Paukenergüs- sen. Zunächst entwickelt sich auf dem Boden einer Mittelohrminderbelüf- tung ein Transudat in die Mittelohrräu- me mit dem klinischen Bild des Sero- tympanons. Im weiteren Verlauf und ohne therapeutische Maßnahmen er- fährt das flache Epithel des Mukope- riosts eine Metaplasie in Ziliar- und Be- cherzellen mit Übergang des Serotym- panons in ein Mukotympanon. Je nach Art und Ausmaß des Paukenergusses Abbildung 3: a) Doppelseitige Lippen-Kiefer-Gau-

menspalte; b) Patient im Alter von 17 Jahren

a

b

(5)

resultiert eine Schalleitungsschwer- hörigkeit, die in der Regel einen mittel- gradigen Schweregrad von 50 dB nicht überschreitet. Tubenventilations- störungen mit beginnendem Paukener- guß können mit einem normalen Hör- vermögen einhergehen. Ein frühzeiti- ger Velumverschluß kann sich hier si- cher positiv auf die Herstellung des muskulären Tubenöffnungs-

mechanismus auswirken.

Der Anteil von bisher 60 Prozent chronischer Tuben- ventilationsstörungen nach Velumverschluß ist hoch. Ver- mutlich sind es neben mus- kulärer Öffnungsinsuffizienz weitere Faktoren, die für an- haltende Funktionsstörungen der Tuben bei Kindern mit operierten Gaumenspalten verantwortlich zu machen sind, wie zum Beispiel kom- pensatorische Hyperplasie der Rachenmandel, verdickte hin-

tere Muschelenden, Septumpolster, spaltbedingte Nasendeformationen, chronische Infektionen des Nasenra- chenraumes einschließlich der Tuben.

Erst im Schulalter ist mit einer allmäh- lichen spontanen Besserung der Tu- benfunktion bis hin zur Normalisierung im 16. bis 18. Lebensjahr zu rechnen.

Daher bedürfen die Kinder einer engmaschigen pädaudiologischen

Überwachung mit dem Ziel, durch frühzeitige Interventionen die Pauken- belüftung zu normalisieren bezie- hungsweise Komplikationen, wie rezi- divierenden Mittelohrentzündungen, Trommelfellperforationen, Cholestea- tomen und Adhäsivprozessen, vorzu- beugen. In komplizierten Fällen ist es zweckmäßig, die primäre Veloplastik in den ersten zwölf Lebensmonaten mit einer Parazentese zu verbinden und in Abhängigkeit vom Schweregrad des

Paukenergusses und der Schalleitungs- schwerhörigkeit frühzeitig Pauken- röhrchen einzusetzen. Anhaltende Paukenergüsse nach Veloplastik kön- nen wiederholte Behandlungen bis in das Schulalter hinein erfordern.

Da die transtympanale Pauken- drainage mit konventionellen Pauken- röhrchen eine symptomatische Maß-

nahme zur Paukenbelüftung darstellt, entwickeln sich nach Abstoßung der Paukenröhrchen häufig Rezidivergüs- se, so daß in etwa 50 bis 55 Prozent der Fälle Paukenröhrchen wiederholt ein- gesetzt werden müssen. Dies kann durch Einsetzen von Tuben mit langer Verweildauer vermieden werden (Ab- bildung 4). Liegt eine stark behinderte Nasenatmung mit chronisch-rezidivie- renden Otitiden vor, so sind je nach in- dividuellem Befund partielle Adeno- tomie, Nasenmuschelverkleinerungen, eventuell Tonsillektomie oder plasti- sche Septumkorrekturen indiziert.

Medikamentöse und physikali- sche Behandlungsmaßnahmen kom- men in Frage bei Fällen von postinfek- tiösen akuten Verschlechterungen der Hör- und Tubenfunktion. Zur Anwen- dung können kommen:

l Alpha-Sympathikomimetika l Sekretolytika

l Kombinationsbehandlung mit Steroiden und Antibiotika (zum Bei- spiel Trimethoprim Sulfamethoxazol 5 mg/kg, 30 Tage. Prednison 0,5 mg bis 1 mg/kg, 7 Tage)

l Eine Rotlichtbestrahlung der Ohren

l Kindgerechtes Tubenöffnungs- training durch Autoinsufflation von Luft mittels nasalen Aufblasens ei- nes Ballons (Otobar, Otovent) (Abbil- dung 5).

Probleme der Behandlung von Tubenfunktionsstörungen Komplikationen bei Paukener- güssen lassen sich trotz frühzeitiger Erfassung von Spaltpatienten nicht immer vermeiden. Es sind vor allem Komplikationen in Verbindung mit Paukenröhrchen, wie vorzeitiges Ab- stoßen, Lumenverlegungen, entzünd- liche Komplikationen mit eitrigen Se- kretionen aus den Röhrchen, die eine vorzeitige Paukenröhrchenentfer- nung erfordern. Auf dem Boden der- artiger schwer therapierbarer Tuben- belüftungsstörungen können sich ins- besondere Adhäsivprozesse ent- wickeln. In fortgeschrittenen Fällen entstehen breitflächige narbige Ver- wachsungen zwischen Trommelfell und medialer Paukenwand (Abbil- dung 6). Da durch eine Paukendrai- nage eine Verbesserung des Hörver- mögens nicht mehr möglich ist, müs- sen diese Kinder vielfach mit Hör- geräten versorgt werden. Die Indika- tion zu einer operativen Lösung der Adhäsionen muß sehr sorgfältig ge- stellt werden, da die funktionellen Operationsergebnisse bei ausgedehn-

ten Verwachsungen meist nicht be- friedigend sind.

Langzeituntersuchungen im Tü- binger Spaltzentrum ergaben 2 Pro- zent Cholesteatome, 4 Prozent Adhä- sivprozesse, 4 Prozent Trommelfell- perforationen, 6 Prozent Retraktio- nen, 30 Prozent geringe Schalleitungs- schwerhörigkeit, 6 Prozent ausge- prägte Schalleitungsschwerhörigkeit.

Da Cholesteatome potentiell lebens- bedrohliche Entzündungen sind, ist Abbildung 4: T-Röhrchen, konventionelles Pauken-

röhrchen

Abbildung 5: Kindgerechtes Tubenfunktionstraining durch nasales Aufblasen eines Ballons

Abbildung 6: Otologischer Befund bei Adhäsivprozeß

(6)

eine jahrelange ohrmikroskopische Kontrolle zur Früherkennung des Cholesteatoms erforderlich.

Therapie der

Gaumenspaltensprache

Unter dem Begriff „Gaumenspal- tensprache“ sind Störungen des Sprachklanges (Rhinophonie) und der Artikulation (Palatolalie), die als Fol- ge der verschiedenen Formen von Spaltbildungen im harten und wei- chen Gaumen auftreten können, zu- sammengefaßt. Velopharyngeale Ver- schlußinsuffizienzen infolge verkürz- ter, beziehungsweise schlecht bewegli- cher Gaumensegel nach Spaltopera- tionen führen zum offenen Näseln (Rhinophonia aperta) unterschiedli- cher Schweregrade mit Nasalität von Vokalen und oralen Konsonanten (Explosivlaute, Reibelaute). Die Bil- dung von Konsonanten kann abge- schwächt sein oder völlig versagen, da der für Konsonantenbildung erforder- liche Druckanstieg in den Artikulati- onszonen der Mundhöhle beeinträch- tigt ist. Störende Begleiterscheinun- gen können blasende und pfeifende Nasengeräusche sowie Weiterbildung

von Konsonanten sein. Zirka 65 Pro- zent unbehandelter Spaltkinder ent- wickeln eine unverständliche Um- gangssprache.

Ohne adäquate Betreuung kön- nen sich bereits im zweiten Lebensjahr Artikulationsstörungen entwickeln und zunehmend fixieren. Bei unzurei- chendem Gaumenschluß können Er- satzlautbildungen entstehen wie zum Beispiel K zu G, T zu D, Ersatz von Lippenlauten B und P durch Nasallau- te (Palatolalie). Schließlich sind auto- matische kompensatorische Vorgänge, die zur Rückverlagerung der Lautbil- dung in die vierte und fünfte Artikula- tionszone mit der Bildung von pharyn- gealen und laryngealen Ersatzlauten führen können. Zahnstellungsanoma- lien verursachen weitere Beeinträchti- gung der Artikulation beziehungswei- se der Sprachverständlichkeit. Eine weitere Folge der veränderten artiku- latorischen neuromuskulären Steue- rungssysteme sind Tonuserhöhungen mit Phonationsapparat. Es resultie- ren Hyperfunktionen der Stimme mit gepreßt heiserer Phonation oder har- ten Stimmeinsätzen bis hin zur Bil- dung von Phonationsverdickungen der Stimmlippen.

Dennoch ist ein gutes Operati- onsergebnis kein Garant für eine richtungsweisende Verbesserung der Sprachentwicklung und Aufklärung über funktionelle Zusammenhänge.

Wichtiger ist eine gute und bela- stungsfreie Eltern-Kind-Beziehung.

Zeitpunkt und Art der begleitenden logopädischen Betreuung sind aus der Tabelle zu entnehmen.

Abschließend ist hervorzuheben, daß durch eine auf den Einzelfall ab- gestimmte Zusammenarbeit aller an der Spaltbehandlung beteiligten Fach- gebiete optimale ästhetische und funk- tionelle Ergebnisse zu erzielen sind.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 1998; 95: A-2262–2267 [Heft 37]

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Li- teraturverzeichnis, das über den Sonderdruck beim Verfasser und über die Internetseiten (unter http://www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.

Anschrift für die Verfasser Prof. Dr. med. Dr. med. dent.

Norbert Schwenzer Solitude Privatklinik

Solitudestraße 24 · 71638 Ludwigsburg Tabelle

Logopädische Therapie nach dem Konzept des Tübinger Spaltzentrums

Häufigkeit Neugeborenes 1. Lebensjahr 2.–3. Lebensjahr weiterer

Entwicklungsverlauf nach Bedarf Elternberatung,

variabel optimales Saugen,

Muskelstimulation, Handling

Vorstellung alle Saugen/Kauen/

2–3 Monate Schlucken,

oder kurze Therapie- Velumübungen,

serien (6–10) in sensomotorische

Abständen von Entwicklung:

3 Monaten Förderung des

Stützens der Hände und Füße

visuelle und auditive Wahrnehmung, Nachahmung/non- verbale

Kommunikation

Therapieblöcke Hörtraining,

(6–10) oder Erlernen von

Vorstellung in Einzelphonemen,

halbjährlichen Koordination von

Abständen Sprechen und

Velumfunktion

Kontrolle in korrektes Schluckmuster,

größeren Abständen, muskuläres Gleichgewicht

Therapie bei Bedarf im orofazialen Komplex

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Dölger-Häfner, Würzburg, ging besonders in ihrer kephalome- trischen Studie zum Gesichtswachs- tum auf die Situation bei erwachse- nen LKG-Spaltpatienten nach pri- märer

Im Rahmen der Aktivitäten von Interplast Germany nehmen Kollegen unserer Klinik seit drei Jahren an der anästhesiologischen Versorgung von Kindern mit

Dieses Ergebnis würde im Widerspruch zu dem ventraler positionierten anterioren Bezugs- punkt sowohl bei den weiblichen Patienten mit einseitiger als auch den

Nach Angaben der Mutter und ihrer Arztin ist wahrend der Schwangerschaft kein Contergan eingenommen worden.. Die vorhandenen MiBbildungen weisen nicht auf

Berücksichtigt man weiterhin die dem CPITN zugrunde gelegte hierarchische Staffelung des parodontalen Schädigungsgrads, die eine Einteilung nach dem am stärksten ausgeprägten Be-

Betrachtet man Lage und Dimension in horizontaler und vertikaler Richtung, so schneiden die nicht-operierten Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten anders ab: nur ein Vier- tel der Autoren

Kieferklinik in Hamburg nach 1945... hauptsächlich Fachliteratur und korrespondierende Arbeiten aus den Jahren 1926 bis 1942 zur Erstellung genutzt haben, was den Schluss

Auch wenn die Ursachen für die Entstehung einer Lippen- und Gaumenspalte noch nicht in allen Einzelheiten bekannt sind, so haben klinische Beobachtungen und statistische Auswertun-