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Archiv "Nanotechnologie: Viele Chancen, unbekannte Risiken" (02.03.2007)

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W

er unter schmerzempfindli- chen Zähnen leidet, muss möglicherweise nur die Zahncreme wechseln, um sich zu kurieren: So ist seit Kurzem nanohaltige Zahn- pasta (Firma Henkel) mit einem dem Zahnmaterial ähnlichen („bio- mimetischen“) Wirkstoff erhältlich.

Dieser aus Nano-Calciumphosphat und Eiweiß bestehende Wirkstoff reagiert mit dem im Speichel enthal- tenen Calcium und den Phosphat- bausteinen und setzt sich auf der Zahnoberfläche ab. Dort bildet er ei- nen dünnen Film, der die winzigen freiliegenden Kanälchen im Den- tin verschließt und so dazu beiträgt, die Schmerzemp- findlichkeit zu senken.

Ob in Zahnpasta oder als UV-Schutz in Sonnencremes, in der Chiptechnologie, in kratzfesten Autola- cken und schmutzab- weisenden Oberflä- chen – Nanotechnolo- gie begegnet uns inzwi- schen auf Schritt und Tritt im Alltag. Bundesfor- schungsministerin Annette Scha- van hat die Nanotechnologie zu ei- nem der „aussichtsreichsten Tech- nologiefelder mit einem großem Marktpotenzial“ erklärt und im Rahmen der nationalen Hightech- strategie Ende 2006 die „Nano-In- itiative – Aktionsplan 2010“ ge-

startet, in der sieben Bundesmi- nisterien ressortübergreifend zu- sammenarbeiten (www.bmbf.de/pub/

_nano_initiative_aktionsplan_2010.

pdf). Mit rund 330 Millionen Euro wurde 2006 die Nanotechnologie in Deutschland gefördert, davon in- vestierte allein 134 Millionen Euro das Bundesforschungsministerium (BMBF) in Forschung und Ent- wicklung (FuE) .

Doch auch weltweit gilt die Nanotechnologie als bedeutende Schlüsseltechnologie des 21. Jahr- hunderts, für die Experten ein Marktpotenzial von mehr als ei- ner Billion Euro im Jahr 2015 prognostizieren. Vor diesem Hintergrund hat die Europäische Uni- on in ihrem kürz- lich gestarteten 7.

Forschungsrahmen- programm die För- dermittel hierfür um rund zwei Milliarden auf etwa 3,5 Milliar- den Euro für die Lauf- zeit von 2007 bis 2013 aufgestockt (Thema 4 „Na- nowissenschaft, Nanotechno- logien, Werkstoffe und neue Pro- duktionstechnologien“). Hinter den USA und Japan liegt Deutschland bislang auf Platz 3, gemessen an den Ausgaben für FuE und der Zahl der beteiligten Firmen und Institute, al- lerdings werden hierzulande Defizi-

te bei der kommerziellen Umset- zung bemängelt. Immerhin hängen inzwischen bundesweit rund 50 000 Arbeitsplätze von diesem Wirt- schaftssegment ab – Tendenz stei- gend. Zu den fünf Bereichen, in de- nen „Leitinnovationen“ entwickelt werden sollen, zählt neben Automo- bilbau, Chemie, Halbleitertechnik und Lichttechnik auch die Medizin.

NanoforLife

Experten erwarten durch den Ein- satz von Nanotechnologie im Ge- sundheitsbereich große Fortschritte in Diagnostik und Therapie, insbe- sondere bei Volkskrankheiten wie Krebs und Herz-Kreislauf-Erkran- kungen. So spricht etwa die Euro- pean Science Foundation in ihrer Ende 2005 veröffentlichten Zu- kunftsstudie zur Nanomedizin von einem „Paradigmenwechsel im Ge- sundheitswesen“, der es ermögli- chen werde, Menschen auf der Grundlage bekannter genetischer Prädispositionen zu überwachen, Krankheiten zu diagnostizieren, be- vor Symptome auftreten, Medika- mente gezielt zu verabreichen und nichtinvasive bildgebende Hilfsmit- tel einzusetzen, um zu zeigen, dass die Therapie wirksam war.

Den Nano-Ansatz in der Medizin fördert das BMBF durch zwei große Programme: Mit der Fördermaß- nahme Nanobiotechnologie unter- stützt das Ministerium bereits seit NANOTECHNOLOGIE

Viele Chancen, unbekannte Risiken

Ein wesentliches Einsatzgebiet der Nanotechnologie ist die Medizin. Experten erhoffen sich dadurch vielfältige neue Ansätze für Diagnostik und Therapie. Gleichzeitig sind mögliche Risiken der Zukunftstechnologie für die Gesundheit noch weitgehend unerforscht.

Tumorzellen – vor und nach der Aufnahme von Nanopartikeln

Nanopartikel sind für das menschli- che Auge nicht sichtbar, denn per definitionem sind die Teilchen kleiner als 100 Nanometer (ein Nanometer ist der milliardste Teil

eines Meters) und daher nur mit Werk- zeugen wie einem Rasterelektronen- miskroskop zu be- obachten.

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dem Jahr 2000 vor allem Projekte, die noch eine relativ lange „Time- to-market-Phase“ bewältigen müs- sen (www.nanobio.de). Als Ergän- zung dazu wurde 2005 zusätzlich das Förderprogramm „NanoforLife“

gestartet und mit einem Budget von rund 30 Millionen Euro ausgestattet (www.bmbf.de/de/5063.php). Mit den Mitteln wolle man unter Beteili- gung großer Systemverwerter vor allem „marktnähere Projekte“ för- dern, so Dr. Oliver Bujock vom Pro- jektträger VDI Technologiezentrum GmbH. Ein wesentliches Merkmal der Förderinitiative ist die interdis- ziplinäre Zusammenarbeit unter- schiedlicher Branchen, darunter der pharmazeutischen Industrie, der Material- und Medizintechnik, der Chemie und Biotechnologie. Die in großen Verbundprojekten organi- sierten 3-Jahres-Projekte konzen- trieren sich vor allem auf drei Fel- der:

c Wirkstofftransport (Drug- Delivery-Systeme): Nanopartikel sollen als „Fähren für Medikamen- te“ verwendet werden, um Wirk- stoffe gezielt und möglichst verlust- frei zum kranken Gewebe zu trans- portieren. Gesunde Organe könnten dadurch geschont und Nebenwir- kungen vermieden werden. Proble- matisch bei der Verabreichung von Medikamenten ist bislang auch, dass viele Wirkstoffe nicht in Blut oder Wasser löslich sind, von der Magensäure zersetzt werden oder biologische Barrieren wie die Blut- Hirn-Schranke nicht passieren kön- nen. Nanoskalige Trägersysteme bieten hierfür Lösungsansätze.

Vielversprechend ist beispiels- weise das Förderprojekt „Ther- misch aktivierbare Nanocarrier zur Krebsbekämpfung“ unter Federfüh- rung des von dem Wissenschaftler Dr. rer. nat. Andreas Jordan gegrün- deten Unternehmens Magforce, Berlin. In dem Projekt werden ver- schiedene Therapieformen mitein- ander kombiniert: So werden mit Biomolekülen umhüllte (superpara- magnetische) Eisenoxid-Nanoparti- kel in Tumorzellen geschleust, wo sie durch Einschalten eines Wech- selmagnetfeldes zum Vibrieren ge- bracht werden. Die dadurch entste- hende Wärme tötet die Zellen ab.

Zusätzlich dienen die Partikel als hocheffiziente Wirkstoffträger, die Antikrebsmittel in die Tumorzellen einschleusen. Thermo- und Chemo- therapie sollen sich dabei „synergis- tisch verstärken“. Projektpartner sind die Charité Berlin und das Leibniz-Institut für Neue Materiali- en, Saarbrücken.

Am Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München (TUM) arbeiten Wissenschaftler im Rahmen eines von der EU mit 2,8 Millionen Euro geförderten interna- tionalen Verbundprojektes an einer Methode, die es ermöglicht, Gene mit Nanopartikeln und Magnetfel- dern in Körperzellen zu transportie- ren, um beispielsweise Erbkrank- heiten, Aids und Krebs zu bekämp- fen. Das Verfahren der magneti-

schen Arzneimitteltherapie (Nano- magnetomedizin), bei dem Genmo- leküle mit magnetischen Nanoparti- keln verbunden und mit einem Ma- gnetfeld in die Zielzellen geleitet werden, wird seit Mitte der 90er- Jahre auch in der Krebsbehandlung beim Menschen angewandt. Dr.

Christian Plank, Projektleiter und Biochemiker am Institut für Experi- mentelle Onkologie und Therapie- forschung der TUM, will diese Idee auf Nukleinsäuren übertragen. Bei dem Verfahren, der „Magnetofekti-

on“, sollen mittels magnetischer Nanopartikel die Gewinnung von blutbildenden Zellen aus dem Na- belschnurblut und die Verknüpfung dieser Stammzellen mit Gensequen- zen kombiniert werden. Ziel ist es, kontrolliert „gesunde“ Blutvorläu- ferzellen zu gewinnen und diese in das Blut von Patienten zu übertra- gen, um dort genetisch defekte Zel- len zu ersetzen.

c Implantat- und regenerative Medizin: In der Implantatmedizin und in der zellbasierten regenerati- ven Medizin (vor allem Stammzell- forschung und Tissue Engineering) geht es um die Bioverträglich- keit der verwendeten Materialien.

Die spezifische Strukturierung von Oberflächen und die Nutzung nano- poröser Schichten zur Freisetzung

von Wirkstoffen und bioaktiven Molekülen können dazu beitragen, die Einbettung von Implantaten in den Körper zu optimieren und die Wechselwirkung zwischen Medi- zinprodukt und Gewebe verträgli- cher zu gestalten.

Im Rahmen der regenerativen Medizin werden zum Beispiel nano- strukturierte Polymersubstrate ein- gesetzt, um das aufwendige und teu- re Verfahren der Gewinnung, Ver- vielfältigung und Differenzierung von humanen Stammzellen zu ver- Darstellung der

Anreicherung von Nanopartikeln auf dem Computerbild- schirm: Die Nano- partikel mit Eisen- kern befinden sich im Magnetofluid.

Diese Nanoteilchen- flüssigkeit wird in den Tumor gespritzt und dort von den Zellen aufgenom- men.

Foto:dpa

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bessern und in einer integrierten Pro- zesskette zu steuern. Die Stammzel- len werden aus Knochenmark ange- reichert und auf nanostrukturierten Substraten gezielt gezüchtet. Ziel sei es, ein halbautomatisiertes Sys- tem zu entwickeln, mit dem thera- peutisch ausreichende Mengen von Stammzellen produziert werden können, so Dr. Reinhold Deppisch von der Firma Gambro, die ein mit vier Millionen Euro gefördertes Verbundprojekt hierzu koordiniert.

c In-vivo-Diagnostik: In der bildgebenden Diagnostik arbeiten Forscher an der Entwicklung nano- partikulärer Kontrastmittel, die ge- zielt an kranke Zellen binden. Da- durch hofft man, die Früherkennung beispielsweise bei Herz-Kreislauf-

Erkrankungen zu verbessern und bei Tumoren die Risikoklassifizie- rung und die Therapiekontrolle zu präzisieren. Langfristiges Ziel ist die Früherkennung von Erkrankun- gen auf zellulärer Ebene.

Beispiele hierfür sind die BMBF- Förderprojekte „Nano-Angionese“

und „Eisenherz“, in denen MRT- Kontrastmittel auf der Grundlage nanoskaliger Eisenoxidpartikel ent- wickelt werden, um frühzeitig phy- siologische beziehungsweise mole- kulare Prozesse, die mit bestimmten Krankheiten verbunden sind, erken- nen zu können. Im Projekt „Nano- Angionese“ geht es dabei um das Herzinfarktrisiko: Mittels dieser Teilchen lassen sich entzündliche Veränderungen der Gefäßwand, die

akute Gefäßverschlüsse auslösen können, nichtinvasiv nachweisen.

Dazu müssen nicht nur geeignete Nanopartikel entwickelt, sondern auch die MRT-Messverfahren ange- passt werden. Am Projekt unter Fe- derführung der Firma Siemens be- teiligen sich unter anderem die Cha- rité Berlin, das Deutsche Krebsfor- schungszentrum (DKFZ) Heidel- berg und die Universität Freiburg.

Im „Eisenherz“-Projekt, an dem un- ter anderem Philips und Siemens als industrielle Partner sowie das Uni- versitätsklinikum Münster und das DKFZ mitarbeiten, liegt der Schwer- punkt auf der Früherkennung von Brust- und Prostatakarzinomen.

Nanopartikel – megariskant?

„Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Ihren Forschungsminister – aber beide ha- ben zurzeit noch keine Ahnung, welche Risikowelle durch die Inva- sion der Nanoteilchen auf die Ver- braucher zukommt“, so die Kran- kenkasse Securvita in einer Presse- mitteilung Ende 2006. „Die Nano- technologie findet weitgehend im Verborgenen statt“, kritisiert der Sprecher der Versicherung, Norbert Schnorbach. Eine Reihe von Nano- Produkten werde schon hergestellt, doch eine Hinweispflicht, wie bei Zusatzstoffen, in der Lebensmittel- chemie oder der Gentechnik, beste- he bislang nicht.

Bei der Risikoabschätzung der Nanotechnologie geht es darum, mögliche negative Folgen der An- wendung von Nanomaterialien oder -verfahren für Mensch und Umwelt zu erkennen. Hierfür sind Daten zur Toxizität der Materialien, geeignete Messtechniken und Daten zur Ex- position von Mensch und Umwelt erforderlich. Diese Daten zu gewin- nen ist keine einfache Aufgabe, denn im Labor produzierte Nano- partikel sind neue Produkte, die so in der Umwelt nicht vorkommen und für die teilweise eigene physi- kalische und chemische Regeln gel- ten – der Nanokosmos unterscheidet sich wesentlich von der makrosko- pischen Welt.

Studien zu gesundheitlichen Aus- wirkungen von Nanopartikeln oder -materialien beschäftigen sich vor Beispiele für Projekte, die sich mit

möglichen Gesundheitsgefahren durch Nanotechnologie beschäftigen

c NNaannooCCaarree:: In dem BMBF-Projekt untersu- chen Industrie und Wissenschaftseinrichtungen gemeinsam die Auswirkungen industriell herge- stellter Nanopartikel auf Gesundheit und Umwelt.

Start: März 2006, Laufzeit: drei Jahre, Förderung:

rund 5 Millionen Euro sowie 2,6 Millionen Euro Fördergelder von der Industrie, Projektkoordinati- on: Forschungszentrum Karlsruhe. im Projekt will man neuartige Nanopartikel herstellen und in Mo- dellen auf ihre toxikologische Wirkung untersuchen.

c IINNOOSS::Das Projekt ist auf die Entwicklung von Methoden zur Bewertung des Gefährdungspotenzi- als von technischen Nanopartikeln, vor allem von

keramischen und metallischen Partikeln als auch von Kohlenstoffnanoröhren, ausgerichtet. Die Er- gebnisse sollen in einer Datenbank öffentlich zu- gänglich gemacht werden. Das Projekt wird von vier Forschungseinrichtungen und einem Biotech- nologie-Unternehmen getragen. Start: Januar 2006, Förderung: 1,1 Millionen Euro.

c NNaannootteecchhnnoollooggiiee uunndd GGeessuunnddhheeiitt –– TTeecchhnnii-- sscchhee OOppttiioonneenn,, RRiissiikkoobbeewweerrttuunngg uunndd VVoorrssoorrggeessttrraa-- tteeggiieenn..Im Rahmen des von der Helmholtz-Ge- meinschaft Deutscher Forschungszentren e.V. ge- förderten Projektes werden synthetische Nanopar- tikel und neuronale Implantate im Hinblick auf Po- tenziale und Risiken untersucht. Start: April 2006, Laufzeit: drei Jahre, Projektkoordination: Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS), Forschungszentrum Karlsruhe.

Nanometer-Dar- stellung der Oberfläche eines Wavers in einem Elektronenmikro- skop im Hinter- grund und das Auf- nahmeobjekt im Größenvergleich

FORSCHUNGSPROJEKTE ZUR RISIKOABSCHÄTZUNG

Foto:dpa

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allem mit entzündlichen Reaktio- nen in der Lunge und der Lun- gengängigkeit von Nanopartikeln, mit der Überschreitung von Ge- websbarrieren (wie die Blut-Hirn- Schranke), mit möglichen toxi- schen Potenzialen für Nickel und Gold in bestimmten Partikelgrößen und mit Effekten von Kohlenstoff- Nanoröhrchen (Carbon-Nanotubes) im Tierversuch. So hat zwar die eu- ropäische Studie „Nanoderm“ bis- lang keine Hinweise darauf er- bracht, dass Nanopartikel durch die Haut in das Körperinnere gelan- gen und darin Schaden anrichten können (www.uni-leipzig.de/~nano derm). Allerdings haben US-ameri- kanische Wissenschaftler von der North Carolina State University kürzlich nachgewiesen, dass Nano- partikel in gedehnte Hautproben eindringen können – je länger der Dehnvorgang dauerte, desto größer war die Menge der Teilchen, und desto tiefer waren sie ins Gewebe eingedrungen.

Verbraucherschützer fordern eine eindeutige und verständliche Kenn- zeichnung von Nanotechnologien in Konsumgütern, wie Lebensmitteln, Kosmetika und Textilien, sowie die Festlegung von Standards hierfür.

Nanoskalige Stoffe in Lebensmit- teln und Verpackungen sollten zu- sätzlich ein Zulassungsverfahren durchlaufen. Darüber hinaus kriti- sieren sie, dass es bislang kaum Analyse- und Messverfahren gibt, mit denen Nanopartikel kontrolliert werden können. In die Risikobe- wertung, so eine weitere Forde- rung, müssen auch Herstellung, Nutzung und Entsorgung der Pro- dukte einbezogen werden. Außer- dem müsse die Risikoforschung stärker gefördert werden.

Die Bundesregierung sieht je- doch vorerst keinen Veränderungs- bedarf bei bestehenden Gesetzen und Vorschriften aufgrund nano- technologischer Entwicklungen, weil ihrer Ansicht nach die bisherigen Regelungen, beispielsweise im Che- mikaliengesetz, im Lebensmittel- und Futtergesetz, im Arzneimittel- gesetz oder im Medizinproduktege- setz, auch für nanopartikelbasierte

Produkte greifen. n

Heike E. Krüger-Brand

D

er 150. Geburtstag Sigmund Freuds und seine psychoana- lytische Theorie, die zumindest das 20. Jahrhundert stark geprägt hat, sind im vergangenen Jahr intensiv mit zahlreichen Publikationen über Freud, seine Familie, sein Werk und seine Schüler gewürdigt worden.

Die zur Illustration herangezogenen Freud-Fotos zeigten meist einen weißhaarigen Mann, der geradezu gütig und wissend durch seine Bril- le in die Kamera zu blicken schien.

Aber natürlich hat Freud auch Jahre der Unsicherheit und Verunsiche- rung durchlebt, in denen er sein Konzept, sein Theoriegebäude, sei- ne Lehre erst allmählich entwickelte

und in denen er auch starken An- feindungen ausgesetzt war. Eine sei- ner wichtigsten menschlichen Stüt- zen in diesen Jahren war Wilhelm Fließ (1858–1928), und doch blieb dieser Mann, der von einigen Freud- biografen auch als „Geburtshelfer der Psychoanalyse“ bezeichnet wird, in den Publikationen des ver- gangenen Jahres weitgehend unbe- achtet.

1887, vor 120 Jahren also, begeg- neten sich beide in Wien zum ersten Mal; vor 110 Jahren (1897) veröf- fentlichte Fließ – von Freud ermu- tigt – sein wichtigstes Buch. Im Nachklang zum Freud-Jubiläum soll deshalb auf eine interessante, gleichsam interdisziplinäre Facette dieser besonderen Beziehung näher eingegangen werden.

Viele Gemeinsamkeiten Es gibt zwischen Sigmund Freud und Wilhelm Fließ zahlreiche Ähn- lichkeiten kultureller und religiöser Art, aber auch im medizinischen Background. Fließ war zwei Jahre jünger als Freud (1, 17). Er stammte aus einer Familie sephardischer Ju- den, die sich im 18. Jahrhundert in der Mark Brandenburg niedergelas- sen hatte. Fließ wurde im Oktober 1858 in Ahrenswalde geboren. 1862 zog die Familie nach Berlin. Der Va- ter war Getreidehändler (11). Wil- helm Fließ ließ sich nach Ende sei- nes Medizinstudiums zunächst als praktischer Arzt nieder und unter- nahm 1887 – wie damals durchaus üblich – eine längere Fortbildungs- reise durch Europa, die ihn auch für drei Monate an das berühmte Wie- ner Allgemeine Krankenhaus führ- te. Fließ besuchte dort unter ande- rem die Vorlesungen Freuds (16).

WILHELM FLIESS (1858–1928)

Die nasogenitale Reflextheorie

Mit Sigmund Freud pflegte er einen intensiven Gedankenaustausch.

284 Briefe Freuds sind aus der sogenannten Fließ-Periode

zwischen 1887 und 1902 erhalten. Über die Ursachen der Neurosen- entwicklung kam es zum Dissens zwischen beiden.

Matthias David

1

, Andreas D. Ebert

2

Fließ und Freud:

Nach langen Jahren der Freundschaft kam es zum Bruch.

Foto:picture alliance / IMAGNO

1Charité – Universitätsmedizin Berlin, Campus Virchow-Klinikum, Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe (Priv.-Doz. Dr. med. David) 2Vivantes-Klinikum Humboldt, Klinik für Gynäkologie und Geburtsmedizin, Berlin (Prof. Dr. med. Dr. phil. h. c.

Ebert)

(5)

Beide lernten sich schließlich auf ei- ner Abendgesellschaft bei Freuds Freund und Kollegen Josef Breuer persönlich kennen (8).

Zurück in Berlin, nahm Fließ sei- ne Praxistätigkeit wieder auf und spezialisierte sich zum Arzt für Na- sen- und Halsleiden. Fließ hatte of- fenbar etwas „Genialisches“. Er be- saß, so berichten Zeitzeugen, die Gabe, seine Freunde und Patienten durch sein umfassendes biologi- sches Wissen, seine weit ausgreifen- de Fantasie und den unerschütterli- chen Glauben an seine therapeuti- schen Fähigkeiten zu beeindrucken

(2, 15). Und so hinterließ er auch bei Sigmund Freud einen bleibenden Eindruck, denn Freud trägt Fließ die Freundschaft an und mit ihr den Wunsch nach Austausch und Zu- sammenarbeit auf wissenschaftli- chem Gebiet (16).

Was folgte, war eine der wichtigs- ten Abschnitte in der Entwicklung der Psychoanalyse, die in die Lite- ratur unter dem Namen „Fließ-Peri- ode“ eingegangen ist und die Jahre 1887 bis 1902 umfasst. Die auf-

schlussreichen Informationen über diese Zeit stammen aus 284 Brie- fen, die Freud an seinen Berliner Freund Wilhelm Fließ schrieb (3).

Fließ ist für Freud „ . . . der einzige Andere, der alter“ (8). In ihm hatte er einen, wie es bei Wegener (16) heißt, „Resonanzträger und Ge- dankenverstärker“ gefunden. Freud und Fließ schickten sich gegensei- tig ihre wissenschaftlichen Arbei- ten, trafen sich in regelmäßigen Ab- ständen zu sogenannten Kongres- sen und tauschten sich vor allem brieflich intensiv über Gedanken und Projekte aus, wobei nur die Briefe von Freud an Fließ erhalten sind. Freud hat nach dem Ende der Freundschaft Fließ’ Briefe vernich- tet. So können wir zwar nicht nach- vollziehen, inwieweit Fließ in der Lage war, Freuds Ideen zu folgen.

Es ist aber aus Freuds Briefen zu schließen, dass Fließ nicht nur ein interessierter, sondern bis zu einem gewissen Grad auch ein verständ- nisvoller, wenngleich kritischer Le- ser war (15).

Eine wichtige Grundlage für die Freundschaft beider Männer war si- cher, dass, wie seine eigenen Theo- rien bewiesen, Fließ fantasiebegabt genug war, um Sinn für Freuds völ- lig neue Theorien zu haben (2).

Nachdem Fließ seine beiden wis- senschaftlichen Ideen, nämlich die Periodizitätslehre und die Arbeiten zur nasalen Reflexneurose, in den

„gemeinsamen“ Jahren entwickelt und auch Freud wesentliche Ge- danken seines psychoanalytischen

Lehrgebäudes veröffentlicht hatte, kam es Anfang des 20. Jahrhunderts zwischen den beiden zu einem nicht mehr ausgleichbaren Dissens.

Die Freunde differierten zuneh- mend in einem fundamentalen Punkt, denn Freud war der Ansicht, dass die Neurosenentwicklung prin- zipiell psychische Ursachen habe, während Fließ, von seiner Grund- einstellung her ganz Chirurg, den physikalischen Ursachen Priorität einräumte (13).

Beide nahmen zwar eine „Ver- schiebung“ von Erkrankungen und sexueller „Abartigkeit“ an, glaubten also, dass diese in einer „Überset- zung“ vorhanden seien. Freud hatte ja den Terminus der „Verschiebung“

bei psychischen Erkrankungen ge- prägt und ging von einer Verdrän- gung realer Probleme aus. Fließ aber war der Überzeugung, dass die- se Verdrängung das Resultat einer

„Konfliktverschiebung“ im anato- mischen Sinn sei, nämlich zum Bei- spiel vom Genitale zur Nase (13). Er glaubte, das morphologische Sub- strat gefunden zu haben und ging al- so davon aus, dass die Lösung eines solchen Problems die quasi physi- kalische Intervention durch Mani- pulation beziehungsweise Operati- on an der Nase sein müsste.

Genitalstellen der Nase Um 1900, am Ende der „Fließ-Peri- ode“, waren die Theorien Freuds und Fließ’ so weit ausgebaut, dass sie sich tatsächlich fast diametral entgegenstanden (2). Freud geriet in Konflikt mit seinen psychoanalyti- schen Entdeckungen, den Hypothe- sen von Fließ und seinen persönli- chen Gefühlen diesem gegenüber.

Sollte er psychogenen Faktoren, na- saler Pathologie oder der von Fließ ebenfalls entwickelten Periodizi- tätsberechnung mehr Bedeutung zu- sprechen (15)?

Fließ schrieb in seinem 1910 er- schienenen Buch „Über den ursäch- lichen Zusammenhang von Nase und Geschlechtsorganen“ zur Lo- kalisation von besonderen „Geni- talzonen“ in der Nase: „ . . . deren Zugehörigkeit zu den Geschlechts- organen (wird) zunächst durch die Veränderung bezeugt, die sie ganz typisch, wenn auch in wechselndem Ausmaß, bei der Menstruation des Weibes erleiden. Diese Stellen sind erstens die beiden unteren Nasen- muscheln und zweitens die an bei- den Seiten der Nasenscheidewand symmetrisch sitzenden, durch Blut- gefäße – und Nervenreichtum aus- gezeichneten Erhöhungen, die so- genannten Tubercula septi. Es ist bekannt, dass an den Nasenmu- scheln ein eigentlicher Schwellkör- per sich befindet, wie er auch an den Wollustorganen des Mannes

Es ist bekannt, dass an den Nasenmuscheln ein eigentlicher Schwellkörper sich befindet, wie er auch an den Wollust- organen des Mannes und der Frau wiederkehrt.

Melancholie:

Skizze in einem von Freud verfassten Manuskript, das er 1895 an Fliess sandte

Foto:

picture alliance / akg-images

Wilhelm Fließ

(6)

und der Frau wiederkehrt. Physio- logisch zeigen sich an jenen Stellen der Nase, den unteren Muscheln und den Tuberculi septi – wir wol- len sie kurzweg als Genitalstellen der Nase im engeren Sinne be- zeichnen –, bei jeder Menstruation besondere Veränderungen.“ Es fin- det sich auch eine direkte Bezug- nahme auf die Theorien Freuds:

„Die typische Ursache der Neur- asthenie junger Leute beiderlei Ge- schlechts ist die Onanie (Freud).

Die Onanie aber ruft – ebenso wie der Koitus interruptus – Verände- rungen an den nasalen Genitalstel- len hervor, die ihrerseits wieder für die Nase die charakteristischen Fernschmerzen erzeugen.“ (6)

Nasenchirurgische Eingriffe wegen Dysmenorrhoe

Später konnte Fließ mit Erlaubnis des gynäkologischen Ordinarius Geheimrat von Olshausen auch auf das „Material der (Berliner) Univer- sitäts-Frauenklinik“ zurückgreifen und berichtete, dass es bei vielen Frauen „ . . . gelungen (sei), den Nachweis zu führen, dass sich durch Anästhesierung der nasalen Genital- stellen aus den Geburtsschmerzen ein gewisser sensibler Anteil her- auslösen und zum Verschwinden bringen lässt“. (6)

Diese Personalie, aber wohl auch der Umstand, dass Fließ häufig Frauen behandelte, deren gynäko- logische Symptome von den dama- ligen Frauenärzten mit „gynäkolo- gischen Mitteln“ nicht mehr geheilt werden konnten, führten schließ- lich dazu, dass er als Gast im Januar 1897 zu einem Vortrag vor der ehrwürdigen Gesellschaft für Ge- burtshilfe und Gynäkologie in Berlin über die Beziehungen zwi- schen Nase und weiblichen Sexu- alorganen eingeladen wurde, in dem er seine Theorie am Beispiel von „Dysmenorrhoe und Wehen- schmerz“ darstellte (4, 5). Ein in Berlin prominenter Mitstreiter, der sich über lange Jahre mit der nasa- len Reflexneurose beschäftigt hat, war der Frauenarzt Alfred Kob- lanck. Auch er hielt vor der erwähn- ten Berliner wissenschaftlichen Ge- sellschaft darüber einen Vortrag, der – wie der von Fließ – sehr aus-

führlich und kritisch von den anwe- senden Fachkollegen diskutiert wurde (9).

Prof. Alfred Koblanck war der ers- te dirigierende Arzt der gynäkologi- schen Abteilung des im Jahr 1906 neu eröffneten Rudolf-Virchow- Krankenhauses in Berlin-Wedding, heute Campus Virchow-Klinikum der Charité, und leitete diese Abtei- lung bis 1922. In einem Nachruf heißt es, dass er sich nach Aufgabe seiner klinischen Tätigkeit vor al- lem der intensiven Ergänzung und Auswertung der während seiner ganzen ärztlichen Tätigkeit gesam- melten Erfahrungen über die nasa- len Reflexneurosen widmete.

Die Verbindung von Nase und Genitale hat offenbar Ende des 19.

Jahrhunderts Konjunktur. Einer der Ersten, der einen Hinweis auf ei- nen möglichen Reflexkreis gibt, ist der amerikanische Laryngologe J.

Mackenzie, der auch brieflich mit Fließ in Kontakt getreten ist (16).

Während Mackenzie jedoch der An- sicht war, dass der Ursprung ver- schiedener nasaler Probleme Beein- trächtigungen beziehungsweise Stö- rungen von Genitalgewebe, insbe-

sondere verursacht durch die Men- struation, seien, baute Fließ diese Idee aus, vermutete aber umgekehrt, Nasenerkrankungen könnten Dys- menorrhoe, abdominale Schmerzen oder andere Beschwerden verursa- chen (15, 18). Auch wenn uns diese Theorien heute etwas bizarr erschei- nen, so war doch immerhin noch 1958 wegen der, wie es im Vorwort heißt, „ständigen Nachfrage nach diesem Buch“ eine Neuauflage der 1928 erschienenen Publikation „Die Nase als Reflexorgan des autono- men Nervensystems“ von Alfred Koblanck (10) notwendig.

Die nasogenitale Reflextheorie wurde im 20. Jahrhundert weiter ausgebaut. So erschien 1912 eine Literaturübersicht, welche 300 Zita- te auflistete. 1914 wurde über 93 Frauen berichtet, deren Dysmenor- rhoe durch Nasenchirurgie behan-

delt wurde. Weitere Publikationen über Behandlungserfolge gab es bis in die späten 1930er-Jahre. Die Dis- kussion über diese Reflexzonen- theorie erstarb dann aber Mitte der 1940er-Jahre (18). Man kann an- nehmen, dass Veränderungen in der sozialen Akzeptanz und im Umgang mit Sexualität eine Rolle spielten, aber auch Forschungsergebnisse und „alternative Erklärungsmög- lichkeiten“ von nasalen und genita- len Störungen im Zusammenhang mit dem Ausbau der Psychoanalyse wie auch Fortschritten in der Hor- monforschung.

Diese kurze Besprechung „nasaler Reflexneurosen“ zeigt, dass auch bei Theorien, die lange Zeit akzeptiert sind und durch zahlreiche Behand- lungserfolge untermauert scheinen, immer wieder eine kritische Überprü- fung erfolgen sollte. Die Geschichte impliziert die Frage, welcher Natur unsere klinischen Erfolge sind.

Die von Fließ, Koblanck und an- deren postulierte Verbindung zwi- schen Nase und Genitale, einen zweiten „nasal-therapeutischen“ G- Punkt, gibt es offenkundig nicht.

Anders als die naturwissenschaft-

lich orientierte Schulmedizin spielt eine solche Beziehung aber bei den erfahrungswissenschaftlichen The- rapeuten auch heute noch eine Rol- le. So wurde 2005 eine Arbeit, die im weiteren Sinne auf Fließ’ (unbe- wiesener) Theorie der nasalen Re- flextherapie beruht, mit dem Preis der Stiftung Deutscher Heilprakti- ker ausgezeichnet (14).

Die von Fließ postulierte Verbindung zwischen Nase und Genitale gibt es offenkundig nicht.

Literatur im Internet:

www.aerzteblatt.de/lit0907

@

❚Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2007; 104(9): A 553-6

Anschrift für die Verfasser PD Dr. med. Matthias David Charité – Universitätsmedizin Berlin Campus Virchow-Klinikum

Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe Augustenburger Platz 1, 13353 Berlin E-Mail: matthias.david@charite.de

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