A2512 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 39⏐⏐29. September 2006
P O L I T I K
A
us manchen Eckpunkten in der Gesundheitspolitik kann auch heute noch ein Gesetz werden:Am 22. September stand der Ent- wurf zu einem Vertragsarztrechtsän- derungsgesetz (VÄG) auf der Ta- gesordnung des Deutschen Bundes- tags. „Der Arzt soll in Zukunft mehr Entscheidungsfreiheit darüber ha- ben, wie er sich niederlässt und sei- ne Leistungen anbietet. Die alten Zöpfe des ständischen Niederlas- sungsrechts müssen endlich ab“, er- klärte Marion Caspers-Merk, Par- lamentarische Staatssekretärin im Bundesgesundheitsministerium, an- lässlich der ersten Lesung.
Neue Chancen – altes Geld
Tatsächlich sollen mithilfe des VÄG die bislang eher starren Strukturen in der ambulanten ärztlichen Versor- gung aufgebrochen und die Verzah- nung mit dem stationären Bereich vorangetrieben werden (Kasten). Der Gesetzentwurf folgt dabei in weiten Teilen weitreichenden Beschlüssen des 107. Deutschen Ärztetags 2004 und des 7. Psychotherapeutentags 2006. Dort schufen die Delegierten seinerzeit durch Änderungen ihres Berufsrechts die Basis zur Grün- dung von Berufsausübungsgemein- schaften oder zur Tätigkeit an mehr als einem Ort – Neuerungen, die nun auch im Sozialrecht fixiert wer- den sollen.Doch das VÄG hat aus Sicht der Ärzteschaft zwei große und mehrere kleine Schönheitsfehler. Ursprüng- lich sollte es parallel zu einer großen Gesundheitsreform umgesetzt wer- den, die den Ärztinnen und Ärzten eine Gebührenordnung mit festen Preisen und einen stärker morbi- ditätsorientierten Risikostrukturaus-
gleich (RSA) bringen sollte. Mit dem neuen RSA ist nicht vor 2009 zu rechnen, das Ende der Budgetie- rung scheint wieder fraglich. Des- wegen ist auch unklar, ob Ärzte das VÄG nutzen und in neuartige Ko- operationen investieren oder Kolle- gen in größerem Umfang als bisher anstellen werden.
Während der Debatte im Bundes- tag kritisierte denn auch der Abge- ordnete Dr. med. Harald Terpe von Bündnis 90/Die Grünen, dass der Gesetzentwurf „nicht mit einer lei- stungsgerechten Vergütung einher- geht“. Dr. med. Andreas Köhler, Vor- standsvorsitzender der Kassenärzt-
lichen Bundesvereinigung, hatte be- reits bei Vorlage der Eckpunkte zum VÄG gewarnt: „Jedes Jahr, das wir länger im Budget stehen, ist schlecht.“
Köhler hatte damals zudem auf ein weiteres Problem hingewiesen:
„Es ist das erste Mal, dass Vertrags- arztrecht Berufsrecht schlägt.“ Ge- meint ist damit, dass durch das VÄG mehrere Vorgaben im Sozialrecht über das hinausgehen würden, was Ärztinnen und Ärzten nach ihrer Be- rufsordnung erlaubt ist – und zwar mit Absicht. Als Begründung heißt es im Gesetzentwurf: „Die neue (Muster-)Berufsordnung erfüllt der- zeit die ihr zugedachte Funktion, durch Empfehlungen an die Ärzte- kammern als Normgeber der Berufs- ordnungen eine Simultannormge- bung auf dem Gebiet des allgemei- nen Berufsrechts zu gewährleisten, nicht in ausreichendem Maß.“
Kritik an Berufsordnungen
In zahlreichen Kammern bestün- de noch Uneinigkeit, insbesondere über den Passus, der die Anstellung fachgebietsfremder Ärzte vorsieht.Deshalb sei es notwendig, „im Ver- tragsarztrecht über die im ärztli- chen Berufsrecht erfolgte Liberali- sierung hinauszugehen“. Einwände des Bundesrats gegen dieses Vorge- hen hat die Bundesregierung erst einmal abgeschmettert. Die Bun- desärztekammer will diese „Verso- zialrechtlichung“ allerdings nicht hinnehmen. Ihr Präsident, Prof. Dr.
med. Jörg-Dietrich Hoppe, hatte im Frühsommer angekündigt, die Vor- gaben notfalls gerichtlich überprü- fen zu lassen.
Dr. med. Leonhard Hansen, Vor- standsvorsitzender der KV Nord- rhein, befand darüber hinaus bei ei- ner Veranstaltung des Economica- Verlags, dass noch viele praktische Fragen offen sind. Eines seiner Bei- spiele: Wie viele Kollegen ein Arzt anstellen darf, ohne dass ihm eine Vernachlässigung seiner Pflichten vorgeworfen werden kann, ist nicht festgelegt. Vermutlich wird die ge- meinsame Selbstverwaltung noch zahlreiche Details regeln müssen – und dafür im Anschluss wieder ge-
scholten werden. I
Sabine Rieser
VERTRAGSARZTRECHTSÄNDERUNGSGESETZ
Wunschkind
mit Schönheitsfehlern
Mehr Gestaltungsfreiheit für ihre Berufsausübung wün- schen sich viele Ärzte und Psychotherapeuten. Manche finden allerdings: Der neue Gesetzentwurf geht zu weit.
NEUES IM DETAIL
Das VÄG sieht unter anderem folgende Neuerungen vor:
>Örtliche/überörtliche Berufs- ausübungsgemeinschaften zwischen allen zur vertragsärztli- chen Versorgung zugelassenen Leistungserbringern, auch über KV-Grenzen hinweg
>Tätigkeit an mehreren Orten, auch über KV-Grenzen hinweg
>Anstellung von Ärzten ohne zahlenmäßige Begrenzung, auch fachgebietsübergreifend
>Teilzulassung, um Ärzten die Arbeit in Krankenhaus und Praxis zu erleichtern
>Aufhebung der Altersgrenzen von 55 Jahren (vertragsärztliche Tätigkeit) und 68 Jahren (für unter- versorgte Gebiete)
>Aufhebung des Vergütungs- abschlags bei der Honorierung der Privatbehandlung („Ostabschlag“)