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Archiv "EHEC am Kieler Uniklinikum: Absolute Krisensituation" (10.06.2011)

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A 1304 Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 108

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Heft 23

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10. Juni 2011

EHEC AM KIELER UNIKLINIKUM

Absolute Krisensituation

Der EHEC-Ausbruch stellt Ärzte und Kliniken vor besondere Herausforderungen.

Viele und vor allem junge Patienten entwickeln schwere Komplikationen. Etablierte Therapiestandards gibt es nicht.

W

ie viele Stunden sie in den vergangenen Tagen geschla- fen hat? Das kann Priv.-Doz. Dr.

med. Tanja Kühbacher nicht genau sagen. Sie ist praktisch rund um die Uhr im Einsatz. Kühbacher ist Ober- ärztin an der Klinik für Innere Medizin I am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel.

Ihre tägliche Arbeit ist derzeit von ei- nem Thema bestimmt: enterohämor- rhagische Escherichia coli (EHEC).

„Es ist eine absolute Krisensituation“, berichtet Kühbacher. Die Lage sei sehr angespannt und ernst. „Wir kön- nen derzeit noch kein Ende absehen“, sagt die Oberärztin. Eine Entwarnung könne nicht gegeben werden.

Bisher mussten fast 100 Patien- ten am Kieler Universitätsklinikum mit EHEC-Verdacht versorgt wer- den. Darunter waren auch Pa - tienten mit anderen Durchfaller- krankungen, die dann wieder ent- lassen werden konnten. Ein großer Teil befindet sich aber noch in der Klinik. 46 Patienten haben ein hämolytisch-urämisches Syndrom

(HUS) entwickelt, von denen 14 mittlerweile intensivpflichtig sind.

Todesfälle gab es am Campus Kiel bisher nicht. Derzeit werden 78 Pa- tienten stationär behandelt*. Dabei nehmen Kühbacher und ihre Kolle- gen nur Patienten auf, die wirklich krank sind. „Klinisch kompromi- tiert“, nennt sie das. Ansonsten

würde das die Kapazitäten der Kli- nik sprengen.

Kühbacher hat eigentlich über- haupt keine Zeit für ein Gespräch.

Angepiepst wird sie im Minutentakt.

Dann klingelt ihr Handy. Das Robert- Koch-Institut ist dran. Und dann ist da noch das öffentliche Interesse an EHEC. Eben war ein Kamerateam vom NDR da. Aber, so sagt die In- ternistin, sie finde es wichtig, die Menschen zu informieren, ohne da- bei Panik zu verbreiten. Dafür ist sie sicherlich die Richtige, denn sie ist sachlich und unaufgeregt.

Sorge bereiten Kühbacher aller- dings die vielen schweren Verläufe.

Bei den HUS-Patienten ist nicht nur die eingeschränkte Nierenfunktion das Problem. Einige Patienten ent- wickeln pulmonale Komplikationen.

Rund die Hälfte der HUS-Patien- ten hat neurologische Symptome.

Dazu zählen Kopfschmerzen, Merk- fähigkeits- und Koordinationsstö- rungen. Viele Patienten sind aller- dings schwer krank und entwickeln Krampfanfälle, Paresen, Sprachstö- rungen sowie deutliche kognitive Defizite bis zu deliranten Zuständen.

Etablierte Therapiestandards für das normalerweise seltene HUS gibt es nicht. So müsse man jeden Tag dazulernen, sagt Kühbacher. Die Patienten werden je nach Schwere- grad behandelt. Zum einen sympto- matisch und mit einer engmaschigen Blutkontrolle. Entwickelt der Patient ein HUS, wird er plasmasepariert, gegebenenfalls dialysiert. Reagiert er darauf nicht angemessen oder ent- wickelt er neurologische Symptome, kommt der Antikörper Eculizumab zum Einsatz. Er richtet sich gegen die Komplement-Komponente C 5 und ist zugelassen für die Therapie der paroxysmalen nächtlichen Hä- moglobinurie. Beschrieben wurde aber kürzlich eine Behandlung von drei Kindern mit EHEC (NEJM, doi:

10.1056/ NEJMc1100859).

Gratwanderung Antibiose Kommt Eculizumab zum Einsatz, werden die Patienten in Kiel zum Schutz vor einer Meningokokken- meningitis antibiotisch abgedeckt, in der Regel mit Rifampicin. Im Falle einer Sepsis oder eines akuten Abdo- mens erhalten sie ein Carbapenem.

Der Erreger reagiere aber auch auf Ciprofloxacin. Für die Ärzte ist die Behandlung eine Gratwanderung.

Prinzipiell gilt eine Antibiose als nicht indiziert, weil sie zu einer er- höhten Toxinfreisetzung führt.

Arbeit an der Be- lastungsgrenze:

Die Kieler Oberärz- tin Tanja Kühbacher ist fast rund um die Uhr im Dienst.

*Stand: 1. Juni

Fotos: Eberhard Hahne

M E D I Z I N R E P O R T

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Deutsches Ärzteblatt

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10. Juni 2011 A 1305 EHEC ist eine Herausforderung

für alle Beteiligten. Nicht nur, weil die Infektionsquelle nach wie vor nicht gefunden worden ist. Der Aus- bruch ist in vielerlei Hinsicht unge- wöhnlich, zum Beispiel was die Ver- teilung nach Alter und Geschlecht angeht. Vielfach sind junge Frauen betroffen. Bei einer Pressekonferenz am 1. Juni in Kiel sprach Prof. Dr.

med. Hendrik Lehnert (Lübeck) zu- dem im Hinblick auf die neurolo - gischen Komplikationen von „völlig unerwarteten Krankheitsverläufen“.

Keim bleibt lange im Darm Die neurologischen Symptome trä- ten vielfach drei bis vier Tage nach Beginn des HUS auf. Ob der Einsatz von Eculizumab den gewünschten Erfolg bringe, werde man wohl erst in einigen Wochen beurteilen kön- nen, erläuterte Lehnert. Kühbachers Chef, Prof. Dr. med. Stefan Schrei- ber, sprach von einer „medizini- schen Hilflosigkeit“. Tatsächlich ist noch vieles im Ungewissen. Man wisse jedoch, dass der Erreger weni- ger Shigatoxin 1 produziert, das den Durchfall verursacht, sagte Prof. Dr.

med. Ulrich Kunzendorf (Kiel). Der Keim bilde mehr Shigatoxin 2, ver- antwortlich für das HUS, zudem auch auch für die neurologischen Symptomatiken.

Eine Genomsequenzierung des Erregers HUSEC041 (O104:H4) ist unter anderem Wisenschaftlern in Münster gelungen. Demnach hande- le sich bei dem Ausbruchsstamm um

einen Hybridklon, der Virulenzei- genschaften unterschiedlicher Erre- ger vereint. Meldungen, wonach es sich bei dem aktuellen Erreger um ei- nen völlig neuen Typ handele, seien aber nicht zutreffend. Stämme, die zu HUSEC041 gehören, seien auch schon früher aufgetreten. „Allerdings sind sie extrem selten, und zwar weltweit“, erklärte Prof. Dr. Dr.

Helge Karch, Direktor des Instituts für Hygiene am Universitätsklini- kum Münster.

Der Erreger habe Eigenschaften, die sowohl in EHEC als auch in en- teroaggregativen E. coli (EAEC) und extraintestinalen E. coli aufträ- ten. Der aktuelle Ausbruchsstamm zeige eine aggregative Adhärenz, vergleichbar mit einem Stamm aus dem Jahr 2001. Das bedeutet: Er kann lange im Darm verbleiben.

Der jetzige Erreger zeigt eine er- höhte Resistenz gegen Cephalospo-

rine der dritten Generation (ESBL) und eine stärkere schädigende Wirkung auf Nierenzellen.

Aber warum breitet der Erreger sich so aggressiv aus? Eine Antwort auf die- se Frage hoffen die Wissen- schaftler in den kommen- den Tagen zu finden. Nicht jeder, der mit EHEC in Kontakt kommt, erkrankt.

In der Literatur sei be- schrieben, dass nur circa zehn Prozent der Infizier- ten Symptome entwickel- ten, sagte Kunzendorf. Diese Zahl beziehe sich aber nicht auf den aktu- ellen Stamm. Wie der EHEC-Aus- bruch zustande kam, ist unklar. Re- servoir für den Keim sind Wieder- käuer, vor allem Rinder, Schafe, Ziegen. Die Übertragung auf den Menschen erfolgt fäkal-oral – etwa durch verunreinigte Lebensmittel, aber auch durch Kontakt von Mensch zu Mensch (Schmierinfektion).

Teamarbeit funktioniert gut Nach wie vor gelte die Empfeh- lung, auf rohe Tomaten, Gurken und Salat zu verzichten, sagt Ober- ärztin Kühbacher. Was man aber auf jeden Fall beachten sollte:

„Hände waschen, Hände waschen, Hände waschen“, sagt sie auf dem Weg zur Krisensitzung in der Kli- nik. Der EHEC-Ausbruch hat ihren Arbeitsalltag komplett verändert.

Dabei hat Kühbacher auch positi- ve Erfahrungen gemacht: Die inter- disziplinäre Zusammenarbeit funk- tioniere gut. „Es gibt außerdem Kol- legen aus anderen Fachbereichen, die ihre Hilfe angeboten haben und ein- springen wollen“, sagt sie. Es sei eine große Solidarität spürbar. Das gelte auch für Regionen in Deutschland, die nicht betroffen seien. Zur Unter- stützung seien in Kiel zurzeit Dialy- seschwestern und -pfleger aus Er - langen und Mannheim im Einsatz.

Auch die Bevölkerung wolle hel- fen. Um spätere Engpässe beim Plasma zu vermeiden, startete das Uniklinikum Schleswig-Holstein ei- nen Aufruf zur Blutspende. Die Zahl der Spender pro Tag hat sich daraufhin verdoppelt. ■

Dr. med. Birgit Hibbeler Dem Robert-Koch-Institut (RKI) wurden bisher

1 601 Fälle von Infektionen mit enterohämorrha- gischen Escherichia coli (EHEC) übermittelt, sechs der Patienten starben. Zudem wurden 630 Fälle eines hämolytisch-urämischem Syndroms (HUS) gemeldet, darunter 15 Todesfälle. Somit gab es insgesamt 2 231 Fälle von EHEC und HUS.

Alle Bundesländer sind von dem EHEC-Aus- bruch betroffen, die Mehrzahl (75 Prozent) der Fälle stammt jedoch aus Schleswig-Holstein (n = 451), Niedersachsen (n = 348), Nordrhein-West- falen (n = 188) und Hamburg (n = 226).

Die Infektionsquelle ist weiterhin unbekannt.

Das Bundesinstitut für Risikobewertung rät vorsorg-

lich davon ab, Tomaten, Salatgurken und Blattsala- te roh zu verzehren. Mittlerweile sind Sprossen aus einem niedersächsischen Erzeugerbetrieb als Quel- le im Gespräch. Der Ausbruchsstamm HUSEC041 (O104:H4) ist ein Hybrid, der Virulenzeigenschaften unterschiedlicher Erregertypen vereint.

Das RKI hat unter www.rki.de Informationen zu EHEC veröffentlicht. Für das Vorgehen in der haus- ärztlichen Praxis hat die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin eine S1-Leitlinie erstellt, abrufbar unter www.degam.de. Tagesaktuelle Nachrichten zu EHEC: www.aerzteblatt.de.

Stand bei Redaktionsschluss (6. Juni, 15 Uhr)

FAKTEN ZU EHEC

Viele schwer kranke EHEC-Pa- tienten werden derzeit auf dem Kieler Campus be- handelt.

M E D I Z I N R E P O R T

Referenzen

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