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Archiv "Zellersatz aus embryonalen Stammzellen: Neue Perspektiven für die Transplantationsmedizin" (16.06.2000)

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nter einer Stammzelle ver- steht man jede undifferen- zierte Zelle eines Organis- mus, die sich selbst vermehren und reifere Tochterzellen bilden kann.

Bei den embryonalen Stammzellen handelt es sich um eine sehr frühe Form, welche aus der inneren Zell- masse der so genannten Blastozyste jenseits des Acht-Zell-Stadiums ei- nes Embryos gewonnen wird (5, 8).

Embryonale Stammzellen können noch in alle Zell- und Gewebetypen des Organismus ausreifen. Im Ge- gensatz zu befruchteten Eizellen sind sie allerdings allein nicht in der Lage, einen intakten Embryo auszu- bilden.

Die Zeitspanne des embryona- len Stammzellstadiums in der Bla- stozyste beträgt nur wenige Tage. Im

Anschluss erfahren die Zellen des Embryos bereits eine Prägung, wel- che ihr Differenzierungsspektrum zunehmend einschränkt.

ES-Zellen besitzen die bemer- kenswerte Eigenschaft, nach Injekti- on in einen frühen Embryo an der Entwicklung und Ausreifung aller Gewebe- und Zelltypen in vivo teil- zunehmen. Heute kann man mithilfe der ES-Zell-Technologie praktisch jedes Gen ausschalten oder verän- dern und die Folgen im lebenden Or- ganismus einer transgenen Maus stu- dieren. Diese Methode erlaubt nicht nur die Analyse einer veränderten Genfunktion in vivo, sondern hat

auch den Weg für die Herstellung ei- ner großen Zahl von transgenen Tiermodellen für menschliche Er- krankungen geebnet.

Die universelle Fähigkeit zur Differenzierung von ES-Zellen lässt sich in vitro nachvollziehen. So wur- den in Kulturen differenzierender ES-Zellen unter anderem Zellen des Nervensystems, hämatopoetische Zelltypen, Kardiomyozyten, glatte und Skelettmuskelzellen, Chondro- zyten, Endothelzellen und Keratino- zyten beschrieben (7).

Als mögliche Spenderquelle für Transplantate sind embryonale Stammzellen schlagartig in das Zen- trum des öffentlichen Interesses gerückt, als 1998 zwei US-amerikani- sche Arbeitsgruppen über die Isolie- rung humaner embryonaler Stamm-

Zellersatz aus

embryonalen Stammzellen

Neue Perspektiven für die Transplantationsmedizin Oliver Brüstle

Otmar D. Wiestler

In der Wissenschaftsdiskussion hat das Thema embryonale Stammzellen (ES-Zellen) große Aufmerksamkeit erregt.

Dies sind Vorläuferzellen aus dem frühen Embryonalstadi- um der Blastozyste, die noch in alle Zelltypen des Organis- mus ausreifen können. Sie haben allerdings nicht mehr die Fähigkeit, allein einen kompletten Embryo auszubilden. Im Herbst 1998 ist es zwei US-amerikanischen Arbeitsgruppen gelungen, mit der Gewinnung embryonaler Stammzellen be- ziehungsweise äquivalenter Vorläuferzellen aus menschli- chen Embryonen eine neue Domäne der Stammzellfor- schung zu erschließen. Da aus murinen ES-Zellen bereits zahlreiche somatische Zelltypen gewonnen werden konnten, verspricht sich die Transplantationsmedizin große Fortschrit- te von der Stammzelltechnologie. Die Möglichkeiten, ES-

Zellen nahezu unbeschränkt zu ver- mehren und sie langfristig autolog her-

zustellen, spielen dabei eine entscheidende Rolle. Es besteht ein großes Interesse, humane ES-Zellen für entwicklungsbio- logische Forschungsarbeiten und pharmakologische Unter- suchungen einzusetzen. Dieser Beitrag soll eine Übersicht über das sich rasch entwickelnde Feld der Stammzellfor- schung geben und das Potenzial von ES-Zellen für den Zell- ersatz im Zentralnervensystem aufzeigen. Es ist den Autoren auch ein Anliegen, die heftige und oft kontroverse Diskussion zu versachlichen.

Schlüsselwörter: Embryonale Stammzelle, Kerntransfer, Transplantation, Nervenzelle, Glia, multiple Sklerose, Mye- linreparatur.

ZUSAMMENFASSUNG

Embryonic Stem Cells:

New Perspectives for Cell Replacement

Recent developments in stem cell technology have placed embryonic stem cells (ES cells) at the centre of both scientific and public interest. ES cells are derived from the inner cell mass of blastocysts and display two remarkable features.

First, they are pluripotent and can generate all tissues and cell types. Second, they can be expanded to virtually unlimited numbers. These properties make ES cells an exciting poten- tial donor source for cell transplants. Interest in the clinical use of ES cells received strong impetus from recent reports on the first isolation of ES cells and ES-like stem cells from embryonic human tissue. In addition, human ES cells may

open new avenues for the study of human devel- opment and disease. In conjunction with recent

advances in mammalian cloning, the ES cell technology pro- vides both fascinating and controversial perspectives for the generation of autologous donor cells. Focussing on recent developments in ES cell-based nervous system repair, this re- port is aimed at providing an unbiased view of the field.

Thorough and informed discussions between the medical community and the general public will be required to guide this promising technology from the laboratory to clinical ap- plication.

Key words: Embryonic stem cell, nuclear transfer, neural transplantation, neuron, glia, multiple sclerosis, myelin repair

SUMMARY

U

Institut für Neuropathologie (Direktor: Prof.

Dr. med. Otmar D. Wiestler) der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn

(2)

zellen beziehungsweise embryona- ler Keimzellen berichteten. Die Gruppe von James Thomson am Wi- sconsin Regional Primate Research Center in Madison konnte embryo- nale Stammzelllinien aus menschli- chen Blastozysten gewinnen, über mehrere Monate in Kultur halten und auf einige Stammzelleigenschaf- ten untersuchen (12). Eine von John Gearhart an der Johns Hopkins University in Baltimore geleitete Gruppe von Wissenschaftlern ver- folgte einen anderen Weg zur Ge- winnung von Stammzellen. Hier wurden primordiale Keimzellen aus früh abortierten Feten entnommen und in Zelllinien überführt. Auch diese Zellen wiesen Eigenschaften von sehr frühen, pluripotenten em- bryonalen Vorläufern auf (10). In wieweit die Eigenschaften dieser hu- manen Zellen denen embryonaler Stammzellen der Maus entsprechen, ist allerdings noch weitgehend un- klar.

Donorquelle für die Transplantationsmedizin

Die moderne Transplantations- medizin hat spektakuläre Fortschrit- te gemacht. Gleichwohl werden die Verfügbarkeit und der langfristige Erfolg von Organtransplantaten durch verschiedene Probleme emp- findlich eingeschränkt. An erster Stelle ist der nach wie vor prekäre Mangel an Spenderorganen zu nen- nen. Auch das neue Transplantati- onsgesetz hat keine nennenswerte Entlastung für die langen Warteli-

sten an Transplantationszentren ge- bracht. Das Risiko von akuten und chronischen immunologischen Ab- stoßungsreaktionen kann bei einigen Patienten nicht befriedigend be- herrscht werden. Schließlich bleibt die Transplantation für verschiedene komplexe Gewebe des menschlichen Organismus nach wie vor eine große wissenschaftliche Herausforderung.

Dies gilt in besonderer Weise für das zentrale Nervensystem, in welchem der Bedarf für erfolgreichen Zeller- satz besonders groß wäre.

Im Bereich des hämatopoeti- schen Systems hat die Transplantati- on von Stammzellen aus dem Kno- chenmark oder aus dem periphe- ren Blut in den vergangenen Jah- ren einen großen Entwicklungs- schub erfahren (Tabelle). Allerdings werfen auch hier die Ver-

fügbarkeit kompatibler al- logener Spender und Ab- stoßungsreaktionen Proble- me auf. Prinzipiell ist es denkbar, fetale menschliche Zellen in Zellkultur zu ver- mehren und dann für Trans- plantate in erkrankten Or- ganen zu benutzen. Die sehr begrenzte Verfügbarkeit von fetalen menschlichen Ge- weben, Probleme bei der

In-vitro-Vermehrung von Vorläufer- zellen, immunologische Barrieren und ethische Bedenken lassen je- doch eine breite Verwendung fetaler menschlicher Spendergewebe nicht praktikabel erscheinen. Einige Un- tersucher propagieren seit längerem den Einsatz von Spendergeweben tierischer Herkunft. Fragliche lang-

fristige Funktionstüchtigkeit, Absto- ßungsreaktionen, und das ungewisse Risiko einer Übertragung von Krank- heitserregern stehen diesen Xeno- transplantaten entgegen.

In neuerer Zeit gibt es zuneh- mende Hinweise auf das Vorhanden- sein noch teilungs- und differenzie- rungsfähiger Stammzellen in er- wachsenen Geweben auch außer- halb des Knochenmarks. Hieraus lei- ten sich Bemühungen ab, solche Zel- len aus Gewebeproben zu isolieren, in Kultur stark anzureichern und anschließend als Spenderzellen für Transplantate zu verwenden. Bisher sind Ausbeute und Vermehrbarkeit solcher adulter Stammzellen aller- dings bescheiden.

Mit der Isolierung embryonaler Stammzellen beziehungsweise äqui- valenter embryonaler Vorläuferzel- len des Menschen rückt ein neuarti- ger Typ von Spenderzellen in das Zentrum des Interesses, mithilfe dessen sich viele der angesproche- nen Probleme umgehen lassen. Em- bryonale Stammzellen können unter Kulturbedingungen zu praktisch un- begrenzten Zellzahlen vermehrt werden (11). Aufgrund ihres frühen Entwicklungsstadiums haben sie noch die Fähigkeit, in alle Zell- und Gewebetypen auszudifferenzieren.

Falls es gelingt, die für einen spezifi- schen Reifungsprozess erforderli- chen Faktoren zu identifizieren, wä- re es im Prinzip möglich, die für die

Behandlung der jeweiligen Erkran- kung erforderlichen Spenderzellen in Zellkultur quasi künstlich herzu- stellen. Die Möglichkeit einer gene- tischen Veränderung von ES-Zellli- nien könnte zur Modulation des Im- munsystems genutzt werden. Dar- über hinaus zeichnen sich seit der Herstellung des Klonschafs „Dolly“

Tabelle

Stammzelltransplantate in klinischer Erprobung

Gewebequelle Beispiel

Autologe Stammzellen Hämatopoetische Stammzellen, Leukämie, aus dem erwachsenen Organismus seltene Erbleiden

Allogene Stammzellen Hämatopoetische Stammzellen, Leukämie aus Nabelschnurblut

Allogene Stammzellen Mesenzephale Vorläuferzellen, aus embryonalem Donorgewebe M. Parkinson

Xenogene Stammzellen Mesenzephale Vorläuferzellen (Schwein) aus embryonalem Donorgewebe M. Parkinson

Alternative Methoden zur Gewinnung von Stammzellen

❃Wachstumsfaktor-vermittelte Expansion somatischer Stammzellen

❃Onkogen-vermittelte Immortalisierung somatischer Stammzellen

❃Gewinnung somatischer Stammzellen aus embryonalen Stammzellen

(3)

Perspektiven ab, durch Kernver- pflanzung beziehungsweise Repro- grammierung des Zellkerns embryo- nale Stammzellen aus demselben Organismus zu gewinnen (13). Lang- fristig könnte es ein solcher Ansatz erlauben, Patienten Spenderzellen mit ihrer eigenen Erbinformation zu verpflanzen.

Zellersatz im

Zentralnervensystem

Gehirn und Rückenmark sind die komplexesten Systeme, die die Evolution hervorgebracht hat. Diese Komplexität hat ihren Preis: Kaum ein anderes Organsystem weist ein

so geringes Regenerationspotenzial auf wie das Zentralnervensystem.

Zugrunde gegangene Nervenzellen regenerieren bis auf wenige Ausnah- mefälle nicht und bleiben auf immer verloren. Dementsprechend stehen wir dem Großteil neurologischer Defizite bei Erkrankungen wie dem Morbus Parkinson, der Chorea Hun-

tington, Schlaganfällen, traumati- schen Hirn- und Rückenmarkver- letzungen, aber auch primär die Glia betreffenden Krankheiten wie der multiplen Sklerose machtlos gegen- über. Ist ein Zellverlust einmal ein- getreten, bietet sich – zumindest aus heutiger Sicht – die Transplantation als erfolgversprechendste Perspekti- ve an.

Nun unterscheiden sich Zeller- satzstrategien im Nervensystem ganz wesentlich von der Transplantation ganzer Organe wie zum Beispiel Herz, Niere oder Leber. Die kom- plexe Architektur und die mannig- fachen Verbindungen der einzel- nen Hirnregionen machen es un- möglich, ganze Abschnitte des Ner-

vensystems komplett zu transplan- tieren. Vielmehr müssen bei einer Transplantation ins Nervensystem unreife Vorläuferzellen in die beste- hende Architektur inkorporiert und dort zur Ausreifung gebracht wer- den.

Da neurale Vorläuferzellen in nennenswertem Umfang nur wäh-

rend der Entwicklung des Nerven- systems vorkommen, erfordern der- artige Transplantate embryonales Spendergewebe. Bei der Parkinson- schen Krankheit werden solche Transplantate bereits klinisch ange- wandt. Allerdings werden für die Transplantation eines Patienten Zel- len aus dem ventralen Mittelhirn von bis zu sieben menschlichen Feten benötigt – eine Strategie, die langfri- stig weder aus ethischer noch aus lo- gistischer Sicht auf eine größere Zahl von Patienten anwendbar ist.

Alternative Donorquellen Innerhalb der letzten Jahre sind zahlreiche Anstrengungen unter- nommen worden, Spenderzellen durch In-vitro-Expansion neuraler Vorläufer zu gewinnen (Textkasten).

Bislang ist die Ausbeute allerdings zu gering, um ausreichende Zellmen- gen für klinische Transplantations- zwecke herstellen zu können. Eine zweite Strategie zur Gewinnung großer Zellmengen ist die dauerhaf- te Vermehrung (Immortalisierung) von frühen neuralen Zellen mit On- kogenen. Ein möglicher klinischer Einsatz solcher potenziell tumorige- ner Gene erscheint jedoch äußerst fraglich.

Gewinnung von Neuronen und Glia aus ES-Zellen

Bereits seit mehreren Jahren ist bekannt, dass ES-Zellen prinzipiell Neurone und Gliazellen bilden kön- nen (7). Erst vor kurzem gelang es hingegen, auch teilungsfähige neura- le Vorläuferzellen aus ES-Zellen zu gewinnen und mit Wachstumsfakto- ren in vitro weiter zu vermehren (3, 9). Nach Wachstumsfaktorentzug reifen diese Vorläuferzellen in alle drei wesentlichen Zelltypen des Ner- vensystems aus – Neurone, Oligo- dendrozyten und Astrozyten (Gra- fik). Transplantationsexperimente an embryonalen Ratten zeigen, dass solche in der Kulturschale erzeugten Vorläuferzellen in der Lage sind, an der Hirnentwicklung teilzunehmen (l). Mit verfeinerten Methoden ist es mittlerweile sogar möglich, Vorläu- fer zu definierten Subpopulationen neuraler Zellen in praktisch unbe- Schematische Darstellung der Gewinnung transplantationsfähiger neuraler Spenderzellen aus pluripotenten

ES-Zellen. Einmal aus der inneren Zellmasse von Blastozysten angelegt, lassen sich ES-Zellen in Anwesenheit von Leukemia Inhibitory Factor (LIF) zu nahezu unbegrenzten Mengen vermehren. Durch Aggregation zu so genannten Embryoidkörperchen wird die Differenzierung der ES-Zellen eingeleitet. Die dabei entstehenden neuralen Vorläuferzellen werden dann in definierte Zellkulturmedien überführt. Mithilfe zelltypspezifischer Wachstumsfaktor-Kombinationen lassen sich spezialisierte Vorläuferzellen weiter vermehren. Diese können durch Wachstumsfaktorentzug in vitro zur Ausreifung gebracht und transplantiert werden.

Grafik

(4)

grenzter Anzahl aus ES-Zellen zu gewinnen (3). Im Folgenden möch- ten wir das Potenzial dieser Zellen am Beispiel von ES-Zell-abgeleite- ten Oligodendrozyten aufzeigen.

Tiermodell der

Pelizaeus-Merzbacherschen Erkrankung

Vorausgegangene Arbeiten meh- rerer Forschungsgruppen hatten ge- zeigt, dass die Transplantation unrei- fer oligodendroglialer Zellen in das Nervensystem myelindefizienter Na- getiere großes Potenzial für die Wie- derherstellung defekter Markschei- den hat. Ein für diese Untersuchun- gen vielfach verwendetes Tiermodell ist die myelindefiziente (md) Ratte, die aufgrund einer Mutation im PLP- Gen keine funktionsfähigen Mark- scheiden bilden kann. Der Gende- fekt wird X-chromosomal rezessiv vererbt und stellt ein Analogen zur Pelizaeus-Merzbacherschen Erkran- kung des Menschen dar.

Wir haben an diesem Tiermodell exemplarisch untersucht, ob ES-Zel- len grundsätzlich für die Reparatur von Defekten im Nervensystem ver- wendet werden können. Zu diesem

Zweck wurde zunächst ein Zellkul- turprotokoll für die Gewinnung glia- ler Vorläuferzellen aus ES-Zellen etabliert. Transplantationsexperimente in myelindefizienten Ratten beleg- ten auf eindrückliche Weise, dass diese von ES-Zellen abgeleiteten glialen Vorläuferzellen tatsächlich in der Lage sind, Faserbahnen aktiv aufzusuchen und Markscheiden um Axone der Empfängertiere zu bilden (3). So ließen sich nur zwei Wochen

nach Transplantation in den Hinter- strängen des Rückenmarks zahlrei- che PLP-positive Myelinscheiden nachweisen. Diese waren nicht auf die Implantationsstelle beschränkt, sondern fanden sich über mehrere Millimeter in Längs- und Querrich- tung verteilt – ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Zellen nach Trans- plantation im Empfängergewebe wandern (Abbildung 1). Das neu ge- bildete Myelin zeigte auch elektro- nenmikroskopisch einen regelrech- ten Aufbau (Abbildung 2). Diese Er- gebnisse belegen, dass aus embryo- nalen Stammzellen hergestellte glia- le Vorläuferzellen nach Transplanta- tion reife Gliazellen bilden und my- elindefiziente Regionen des Zentral- nervensystems mit Markscheiden versorgen.

Ein zentrales Problem von Zell- ersatzstrategien im ZNS ist, dass die meisten neurodegenerativen Erkran- kungen große Abschnitte von Gehirn und Rückenmark mit einbeziehen.

Dementsprechend würde es ein Zell- ersatz über Transplantation erfor- dern, Spenderzellen in verschiedenste Regionen des Nervensystems einzu- bringen. Im Tierexperiment ist dies möglich, wenn die Zellen anstatt ins Gehirnparenchym in das Ventrikelsy-

stem embryonaler oder neonataler Empfänger implantiert werden (4). So ließen sich auch nach Transplantation der von ES-Zellen abgeleiteten glia- len Vorläuferzellen in die Seitenven- trikel embryonaler myelindefizienter Ratten neu gebildete Myelinscheiden in zahlreichen Hirnregionen nachwei- sen (3). Diese Beobachtung an unrei- fen Empfängertieren lässt hoffen, dass in Zukunft vielleicht auch Zell- verteilungsstrategien über das ausge-

reifte Ventrikelsystem und die Li- quorwege entwickelt werden können.

Die vorgestellten Befunde stel- len ein erstes Beispiel für den erfolg- reichen Einsatz ES-Zell-abgeleiteter somatischer Spenderzellen in einem Tiermodell einer neurologischen Er- krankung dar. Die Forschungsergeb- nisse sind so ermutigend, dass nun häufigere Entmarkungskrankheiten in Angriff genommen werden kön- nen.

Von besonderem Interesse ist die multiple Sklerose, bei der chroni- sche Entmarkungsherde nicht mehr hinreichend remyelinisiert werden.

Zwar müssen sich die Untersuchun- gen hier auch mit der zugrunde liegenden Autoimmunreaktion aus- einandersetzen. Aus einer Kombina- tion von neuen, immuntherapeuti- schen Ansätzen und Zellersatz durch Transplantation kann man jedoch durchaus Erfolge erhoffen.

Kernproblem: Herstellung spezifischer Neuron-Subtypen Im Gegensatz zu Gliazellen sind bei Nervenzellen eine Vielzahl von Subtypen beschrieben, die sich im Hinblick auf Morphologie, Transmit- terbildung und Funktion stark unter- scheiden. Ein neurona- ler Zellersatz erfordert je nach zugrunde liegen- der neurologischer Er- krankung ganz ver- schiedene Spenderzel- len. Während zum Bei- spiel bei Morbus Parkin- son dopaminerge Neu- rone benötigt werden, sind es bei der Chorea Huntington GABAerge Nervenzellen. Diesen unterschiedlichen An- forderungen muss wäh- rend der In-vitro-Differenzierung von embryonalen Stammzellen Rech- nung getragen werden. Die momen- tanen Bemühungen zielen darauf ab, die während der Entwicklung wirksa- men Faktoren zu identifizieren, um sie dann in der Zellkultur anzuwen- den.

Innerhalb der letzten Jahre sind in zunehmendem Maße Signalmo- leküle entdeckt worden, die an der Regionalisierung des Nervensystems Abbildung 1: Myelinbildung durch transplantierte von ES-Zellen abgeleitete gliale Vorläuferzellen. (A) Ein Längsschnitt durch das

Rückenmark einer myelindefizienten Ratte zwei Wochen nach Transplantation zeigt zahlreiche neugebildete PLP-positive Mark- scheiden (braun). Die transplantierten myelinbildenden Zellen sind von der Implantationsstelle (Stern) ins Empfängergewebe ein- gewandert (Pfeile). Die stärkeren Vergrößerungen zeigen transplantierte Oligodendrozyten (B) und Astrozyten (C) im Detail.

Copyright: Science, Washington, USA (3).

(5)

beteiligt sind. Diese erfreuliche Ent- wicklung lässt auf eine baldige Um- setzung der Ergebnisse auf die Ge- winnung spezifischer Nervenzellty- pen aus embryonalen Stammzellen hoffen.

Übertragbarkeit auf menschliche Zellen

Die Anwendbarkeit dieser Ver- fahren auf menschliche Zellen lässt sich nur durch Zellkulturexperimen- te an humanen embryonalen Stamm- zellen prüfen. Das Entwicklungspo- tenzial solcher Vorläuferzellen kann nach Implantation in das Nerven- system junger Empfängertiere un- tersucht werden (2). Darüber hinaus lässt sich das regenerative Poten- zial von Vorläuferzellen durch Xeno- transplantation in Tiermodelle neu- rologischer Erkrankungen studie- ren.

Weitere biomedizinische Anwendungen für ES-Zellen

Das Interesse an embryonalen Stammzellen geht weit über die Transplantationsmedizin hinaus. Mit ihrer Hilfe lassen sich grundlegende Mechanismen der normalen und pa- thologischen Differenzierung mensch- licher Zellen und Gewebe studieren.

Bislang waren solche Arbeiten häu- fig auf tierexperimentelle Unter- suchungsreihen beschränkt. Gerade aus der Teratologie gibt es ein- drucksvolle Beispiele dafür, dass sich der menschliche und der tierische Organismus grundlegend in ihrer Empfindlichkeit gegenüber missbil- dungsverursachenden Substanzen unterscheiden. Ähnliches gilt auch für die realistische Abschätzung ei- nes krebserzeugenden Risikos von chemischen Verbindungen und an- deren Noxen sowie für die Wirkung von Pharmaka.

Die In-vitro-Differenzierung von embryonalen Stammzellen würde es ermöglichen, den Einfluss solcher Faktoren auf menschliche Zelltypen zu überprüfen. Schließlich könnte durch die Verwendung von Zelllini- en auch der hohe Bedarf an Versuchs- tieren wesentlich eingeschränkt wer- den.

Ethische Gesichtspunkte und öffentliche Diskussion

Die Berichte über eine erfolgrei- che Isolierung embryonaler Stamm- zellen des Menschen haben großes öf- fentliches Interesse gefunden und ei- ne lebhafte, kontroverse Debatte ent- facht. Auf der einen Seite verspre- chen Arbeiten mit diesen Zellen neue Behandlungsmöglichkeiten für die Medizin. Andere Stimmen haben da- gegen große ethische Bedenken an- gemeldet. Das deutsche Embryo- nenschutzgesetz untersagt die Zeu- gung von menschlichen Embryonen zu wissenschaftlichen Zwecken, die Verwendung künstlich erzeugter menschlicher Embryonen für For- schungsarbeiten sowie Genmanipula- tion an Embryonen. Weiterhin ist das so genannte Klonieren, dass heißt die Erzeugung von genetisch identischen Embryonen unter Strafe gestellt. Da- mit sind enge Grenzen abgesteckt, welche die Gewinnung von embryo- nalen Stammzellen des Menschen in Deutschland nicht zulassen. Ob wis-

senschaftliche Untersuchungen an menschlichen ES-Zellen aus den Ver- einigten Staaten in bundesdeutschen Einrichtungen möglich wären, wird derzeit überprüft.

Aufgrund des langfristig zu er- hoffenden Nutzens embryonaler Stammzellen für biomedizinische Anwendungen erscheint uns eine breite öffentliche Debatte mit Betei- ligung aller einzubeziehenden gesell- schaftlichen Gruppen dringend er-

forderlich. Unter Mitwirkung von Ärzten, Wissenschaftlern, Juristen, medizinethisch ausgewiesenen Ex- perten und Politikern ist auf diesem diffizilen Gebiet durchaus eine ein- vernehmliche Lösung denkbar. Eine von der Deutschen Forschungsge- meinschaft eingesetzte Experten- kommission hat im März 1999 eine Stellungnahme zum Problemkreis humane embryonale Stammzellen abgefasst. Diese beinhaltet, dass Ar- beiten mit humanen Stammzellen embryonaler Herkunft ein großes biomedizinisches Potenzial verspre- chen. Eine Novellierung beziehungs- weise Anpassung des Embryonen- schutzgesetzes erscheine derzeit je- doch nicht erforderlich. Die Exper- tengruppe empfiehlt, auf primordiale Keimzellen zurückzugreifen, da die Gewinnung menschlicher embryona- ler Stammzellen durch das Embryo- nenschutzgesetz ausgeschlossen sei.

Dieses Votum wird möglicher- weise einer Überarbeitung bedürfen.

Im Hinblick auf Anwendungen in der Transplantationsmedizin werden Versuchsreihen an Zellen menschlicher Herkunft er- forderlich sein. Es ist un- klar, ob sie sich identisch verhalten wie murine em- bryonale Stammzellen. Be- reits in naher Zukunft könnten die Methoden der Kernübertragung und -re- programmierung neue Fra- gen von möglicher ethischer Brisanz aufwerfen. Auf der anderen Seite sollte die Sor- ge nicht außer acht bleiben, dass ein wichtiges biomedi- zinisches Entwicklungsfeld bundesdeutschen Arbeits- gruppen im Vergleich zu ih- rer internationalen Kon- kurrenz verschlossen bleibt.

Im Hinblick auf eine mögliche künf- tige Anwendung in der Transplanta- tionsmedizin wäre diese Situation langfristig kaum akzeptabel. Ein Ausweichen auf primordiale Keim- zellen erscheint derzeit nicht als zufriedenstellende Alternative. Da diese Zellen aus bereits mehreren Wochen alten Feten gewonnen wer- den, wäre eine solche Strategie mit erheblichen ethischen und prakti- schen Problemen verbunden. Dar- Abbildung 2: Elektronenmikroskopische Aufnahme eines von ES-

Zellen abgeleiteten Oligodendrozyten nach Transplantation in das Rückenmark einer myelindefizienten Ratte. Die Spenderzelle hat zahlreiche Markscheiden um benachbarte Nervenfasern gebildet.

In starker Vergrößerung lässt sich ein regelrecht lamellierter Auf- bau der Myelinscheiden erkennen (Detail).

Copyright: Science, Washington, USA (3).

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über hinaus gibt es Hinweise, dass sich primordiale Keimzellen im Hinblick auf Genregulation und Differenzie- rung deutlich von anderen Stammzel- len unterscheiden (6).

In zunehmendem Maße plädie- ren Wissenschaftler und Ärzte aus diesem Grund für eine neue gesetzli- che Regelung, welche Arbeiten mit menschlichen ES-Zellen nach gründlicher Evaluation und unter streng kontrollierten Bedingungen möglich macht. Die positiven Erfah- rungen mit Leitlinien für genthera- peutische Anwendungen könnten auch auf diese Fragestellung über- tragen werden. Mit unserem Beitrag möchten wir auch das Interesse der ärztlichen Kolleginnen und Kollegen an einer solchen Regelung wecken.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 2000; 97: A-1666–1673 [Heft 24]

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Nature 1997; 385: 810–813.

Anschrift für die Verfasser

Prof. Dr. med. Otmar D. Wiestler Dr. med. Oliver Brüstle

Institut für Neuropathologie Universitätskliniken Bonn Sigmund-Freud-Straße 25 53105 Bonn

E-Mail: neuropath@uni-bonn.de

„Bei brusterhaltender Operati- on“, heißt es in der Zusammenfassung,

„die heute etwa 70 Prozent aller be- troffenen Frauen angeboten werden kann, ist nach allen vorliegenden Stu- dien die postoperative Strahlenthera- pie weiterhin unverzichtbar.“ Doch in Tabelle 3 sind drei randomisierte Stu- dien zitiert und die Überlebensraten von 1 137, 381 und 837 Patienten mit und ohne Strahlentherapie angegeben:

63 Prozent beziehungsweise 58 Pro- zent, 91 Prozent beziehungsweise 90 Prozent und 79 Prozent beziehungs- weise 76 Prozent. – Es ist mir unver- ständlich, wie aus diesen statistisch nicht signifikanten und nur geringfügig

erhöhten Überlebensraten noch die prinzipielle Notwendigkeit einer Strahlentherapie als Standard nach brusterhaltender Operation abgeleitet werden kann, wenn man von der Tatsa- che absieht, dass die Autoren Radiolo- gen sind.

Prof. Dr. med. Dr. rer. nat.

Hans E. Müller Laborpraxis John

Campestraße 7 · 38107 Braunschweig

Die Schlussfolgerungen der Auto- ren klingen überzeugend und scheinen die Notwendigkeit einer postoperati- ven Strahlentherapie nach brust- erhaltender operativer Behandlung ei- nes Mammakarzinoms zu bestätigen.

Ich vermisse jedoch sowohl im Text als auch im Literaturverzeichnis einen Hinweis auf das strahleninduzierte An- giosarkom der Brustdrüse nach „brust- erhaltender Therapie“ eines pri- mären Mammakarzinoms. Es gibt dar- über bereits seit 1987 zahlreiche Arbei- ten in der onkologischen Literatur und offensichtlich keinen Dissens bezüglich der Kausalitätszusammenhänge. An-

Das Mammakarzinom:

Systemerkrankung oder lokales Problem?

Neue Ergebnisse beleben eine alte Kontroverse Unverständlich

Zu dem Beitrag von

Priv.-Doz. Dr. med. Marie-Luise Sautter-Bihl Prof. Dr. med. Michael Bamberg in Heft 1–2/2000

Strahleninduziertes

Angiosarkom

(7)

gesichts der Tatsache, dass die erwähn- te Erkrankung nahezu ausnahmslos und nach kurzem Intervall zum Tode führt, und wenn weiterhin bedacht wird, dass nach Operation eines klei- nen Mammakarzinoms ein potenziell gesundes Organ bestrahlt wird, muss man die Schlussfolgerungen der Auto- ren sicher kritisch werten. Zumindest wäre eine Stellungnahme zu der ge- schilderten Problematik wünschens- wert.

Dr. med. Hans Stockhausen

Vogelsangstraße 129 · 42109 Wuppertal

Im ersten Leserbrief wird Unver- ständnis darüber geäußert, dass wir uns in unserem Artikel über das Mamma- karzinom den national und internatio- nal üblichen Empfehlungen – beispiels- weise Leitlinien der Deutschen Krebs- gesellschaft – angeschlossen haben, die adjuvante Strahlentherapie weiterhin als Standard nach brusterhaltender Operation zu betrachten. An diesem von Herrn Prof. Müller artikulierten Unverständnis wird deutlich, wie viel Aufklärungsbedarf nach wie vor hin- sichtlich des Stellenwertes der Strah- lentherapie im Gesamtkonzept der On- kologie besteht. So sind die Verfasser des Artikels auch nicht – wie es am En- de des Briefes heißt – Radiologen, das heißt sie betreiben nicht bildgebende Diagnostik, sondern als Radioonkolo- gen therapieren sie Tumorpatienten.

Die angesprochene Tabelle gibt ei- nen Überblick über die fünf randomi- sierten Studien, die nach brusterhalten- der Operation den Verlauf mitpostope- rativer Strahlentherapie dem ohneeine solche gegenübergestellt werden.

Sämtliche zitierten Studien haben ei- nen statistisch signifikanten und erheb- lichen Unterschied in der Lokalrezidiv- rate zu Ungunsten der nichtbestrahl- ten Kollektive ergeben. Alle Studien kommen deshalb zu dem Schluss, dass die Radiatio unverzichtbar sei. Richtig und im Text auch ausdrücklich erwähnt ist, dass die Überlebensraten keinen statistisch signifikanten Unterschied zeigten. Möglicherweise waren hierfür jedoch auch die Nachbeobachtungszei- ten noch nicht ausreichend. Dass eine

verbesserte lokale Tumorkontrolle durchaus die Überlebenschancen ver- bessern kann, wurde in den in unserem Artikel referierten Studien (5, 6, 7) mit einem Follow-up von 10 bis 15 Jahren gezeigt, in denen nach Mastektomie ein signifikanter Überlebensvorteil zugun- sten bestrahlter Patientinnen nachge- wiesen wurde.

Die Berechtigung einer adjuvan- ten Therapiemaßnahme ausschließlich an Überlebensraten zu orientieren hieße jedoch, die heute immer mehr in den Vordergrund rückenden Aspekte der Lebensqualität zu ignorieren. Die Erkrankung Brustkrebs hat unter an- derem deshalb in den letzten bei- den Jahrzehnten einen Teil ihres Schreckens für die betroffenen Patien- ten verloren, da sie nicht mehr automa- tisch mit dem Schicksal Amputation verbunden ist. Unbestritten ist jedoch, dass eine brusterhaltende Operation ohne Strahlentherapie mit einem ho- hen Lokalrezidivrisiko verbunden ist.

Wie in unserem Artikel beschrieben, ist das Rezidiv für die Patientin oft we- sentlich belastender als die Erstdiagno- se, zumal dann eine Ablatio meist nicht mehr vermeidbar ist.

Der zweite Leserbrief thematisiert die Induktion von Angiosarkomen der Brust infolge einer Strahlentherapie.

Das Risiko einer solchen ist als äußerst gering einzustufen. Eine Analyse des schwedischen Krebsregisters, in der speziell unter dieser Fragestellung die Nachsorgedaten von 122 991 Mamma- karzinompatientinnen ausgewertet wurden, fanden sich 40 Angiosarkome.

Die Häufigkeit korrelierte mit dem Vorhandensein eines Lymphödems (so genanntes Stewart-Trewes-Syndrom), eine Beziehung zwischen Angiosar- kom und Strahlentherapie wurde je- doch nicht beobachtet (2). Zu ähnli- chen Schlüssen kommt eine französi- sche Analyse der Nachbeobachtungs- daten von 18 115 brusterhaltend thera- pierten Patientinnen aus elf französi- schen Tumorzentren: Hier ergab sich in neun Fällen ein Angiosarkom der Brust, das heißt fünf Fälle pro 10 000.

Dies entspricht etwa der natürlichen Prävalenz von Angiosarkomen der Brust bei „Gesunden“ (3). Damit soll keineswegs bagatellisiert werden, dass durch den Einsatz ionisierender Strah- len das theoretische Risiko einer Tu- morinduktion besteht. Hierüber wer-

den sämtliche Strahlentherapie-Patien- ten auch vor Behandlungsbeginn auf- geklärt. Dieses rechnerische Risiko muss jedoch gegen das „reale“ Risiko einer Rezidiventstehung von bis zu 35 Prozent nach brusterhaltender Thera- pie ohne Nachbestrahlung abgewogen werden. Auch das sonstige Nebenwir- kungsrisiko einer Strahlentherapie der Brust ist bei Verwendung moderner Techniken (dreidimensionale Bestrah- lungsplanung) als gering einzustufen (4). Darüber hinaus ist diese Therapie – wie in unserem Artikel ausgeführt – auch kostengünstig (1). Somit sollte – unter Abwägung aller Gesichtspunkte – den Frauen, die sich für eine bruster- haltende Operation eignen, die Strah- lentherapie nicht vorenthalten und da- mit der Erhalt ihrer Brust aufs Spiel ge- setzt werden.

Literatur

1. Hayman JA, Hillner BE, Harris JR, Weeks JC: Cost effectiveness of routine radiation therapy following conservative surgery for early stage breast cancer. J Clin Oncol 1998;

16: 1022–1029.

2. Karlsson P, Holmberg E, Samuelsson A et al.:

Soft tissue sarcoma after treatment for breast cancer – a Swedish population-based study.

Eur J Cancer 1998; 34: 2068–2075.

3. Marchal C, Weber B, de Lafontan B et al.:

Nine breast angiosarcomas after conservative treatment for breast carcinoma: a survey from French comprehensive Cancer Centers.

Int J Radiat Oncol Biol Phys 1999; 44 (1):

113–119.

4. Nixon AJ, Manola J, Gelman R et al.: No long term increase in cardiac-related mortali- ty after breast-conserving surgery and radia- tion therapy using modern techniques. J Clin Oncol 1998; 16: 1374–1379.

5. Overgaard M, Hansen PS, Overgaard J et al.:

Postoperative radiotherapy in high-risk pre- menopausal women with breast cancer who receive adjuvant chemotherapy. N Engl J Med 1997; 337: 949–955.

6. Overgaard M, Jensen MB, Overgaard J et al.:

Postoperative radiotherapy in high-risk post- menopausal breast cancer patients given ad- juvant tamoxifen: Danish Breast Cancer Cooperative Group DBCG 82C trial. Lancet 1999; 353: 1641–1648.

7. Ragaz J, Jackson SM, Le N et al.: Adjuvant radiotherapy and chemotherapy in nodeposi- tive premenopausal women with breast can- cer. N Engl J Med 1997; 337: 956–962.

Priv.-Doz. Dr. med.

Marie-Luise Sautter-Bihl Städtisches Klinikum Karlsruhe Klinik für Strahlentherapie Moltkestraße 90 · 76133 Karlsruhe Prof. Dr. med. Michael Bamberg Eberhard-Karls-Universität Abteilung für Strahlentherapie Hoppe-Seyler-Straße 3 72076 Tübingen

Schlusswort

Referenzen

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