DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Die Diagnosen eines guten Allgemeinmediziners können den gleichen Wahrscheinlichkeitsgrad haben wie die Ergebnisse einer aufwendigen apparativen Untersu- chung. Wenige typische Befunde bewirken oft eine hohe Wahrscheinlichkeit. Weitere Untersuchungen erhöhen sie nicht wesentlich.
Wie kommt
der Allgemeinarzt zur Diagnose?
Friedrich Flachsbart
D
ie Sprache der natur- wissenschaftlichen Medien formt und be- stimmt das Denken des Arztes. Medizini- sche Modelle und Theorien sitzen„gleichsam als Brille auf unserer Nase, und was wir ansehen, sehen wir durch sie" (7). Unser Sehen ist ein aktives Geschehen. Jeder Beob- achtung gehen Hypothesen und Er- wartungen voraus. Unsere Vorstel- lungen formen die Wahrnehmung, filtern die Signale und bewerten sie (6). Diese erkenntnistheoretischen Einsichten sind für die ärztliche Dia- gnostik von höchster Bedeutung.
Die Diagnose entsteht nicht aus ei- ner Sammlung von Daten, die dann ausgewertet werden. Zuerst muß ei- ne Diagnose oder Theorie vorhan- den sein. Durch sie und mit ihr wer- den dann relevante Daten gesam- melt. Diese ärztliche Arbeit kann nicht durch einen Computer ersetzt werden, die Einengung einer unend- lichen Zahl von Möglichkeiten auf eine kleine Zahl von Differentialdia- gnosen ist bisher nur dem Menschen möglich (1).
1. Wenige Befunde bringen eine
hohe Wahrscheinlichkeit
Bei 3840 Patienten wurde nach Erhebung einer großen Fülle von anamnestischen, klinischen und ap- parativen Befunden eine Koronar-
angiographie durchgeführt. Eine re- trospektive Auswertung, die pro- spektiv bestätigt werden konnte, er- brachte folgendes Ergebnis: Eine kleine Zahl primärärztlicher Befun- de ermöglicht eine ähnliche hohe Si- cherheit bei der Diagnose einer KHK wie die Angiographie! Die sie- ben Befunde zeigt die Tabelle 1.
Bei kombiniertem Auftreten der Befunde kommt es zu einem An- steigen der Wahrscheinlichkeit p, bei p = 1 ist eine hundertprozentige Sicherheit erreicht (Abbildung 1).
Abbildung 1: Die ansteigende Wahr- scheinlichkeit p einer KHK bei kombiniert auftretenden Befunden (siehe Tabelle 1) am Beispiel eines 60 Jahre alten Rauchers mit typischer Angina pectoris und Chole- sterinwert von 280 mg% (nach Goldman,
1982)
2. Weitere Untersuchungen erhöhen die Wahrschein- lichkeit einer Diagnose nicht wesentlich
Bei dem Patienten der Abbil- dung 2 ist bei Vorliegen von fünf ty- pischen Befunden eine Wahrschein- lichkeit von 95 Prozent erreicht.
Würde bei ihm ein Belastungs-EKG durchgeführt, das ein typisches Bild ergibt (2 mm ST-Depression und Abbruch wegen Angina pectoris), so könnte die Wahrscheinlichkeit da- durch nicht gesteigert werden!! (2).
Wenn bei dem Patienten eine untypische Angina pectoris vorliegt, so ist die Wahrscheinlichkeit 78 Pro- zent. In diesem Fall erbringt das Be- lastungs-EKG eine Steigerung von nur 3 Prozent auf 81 Prozent!! (2).
3. Weitere Untersuchungen sind nur sinnvoll, wenn da- durch die Wahrscheinlich- keit einer Diagnose über ei- ne „Schwelle" steigt, die ei- nen neuen Therapieansatz vertretbar werden läßt
Die medikamentöse Therapie der KHK umfaßt mehrere relativ ne- benwirkungsarme Medikamente.
Ihr Einsatz erscheint auch bei einer Wahrscheinlichkeit p kleiner als 1 gerechtfertigt. Nur wenn der Ver- lauf der Krankheit, das Ansprechen A-3252 (52) Dt. Ärztebl. 85, Heft 46, 17. November 1988
Anamnese Unmittelbarer Befund
4,
Klinisch-chemische, hämatologische, mikrobiologische Daten Mechanische Messungen 4-7 (Drucke, Funktionen) 4-
Ableitung elektr.
4-- Aktionspotential 4- (EKG, EEG, EMG u. a.) Röntgen und Isotopendarstellung (Organe, Hohlräume, Gefäße) 4"
Inspektion und Photographie von Hohlräumen 4- Zytologische und histologische 4— Untersuchung (Organproben, Ab- 4--
schilferungen, Sekrete) 4— Weitere Untersuchungen
Literatur und anderes gespeichertes Wissen Persönliche Erfahrung (Erinnerung)
Summe der Befunde
Vergleich
Vorläufige Diagnose(n) Oberprüfung durch gezielte Untersuchungen Verlauf
Therapieergebnisse --,
Endgültige Diagnose(n)
Abbildung 2:
Kübelmodell = Diagnoseschema für die Klinik (4)
theoretisches Wissen und Persönliche Erfahrung
Diagnosen, mögliche
•
Anamnese I4 Ie. Befund
•
Diagnose, relativ wahrscheinlich
•
weitere
• Befunde
•
Diagnose, endgültig sichere
auf die Therapie oder der Wunsch des Kranken eine Operation erfor- derlich werden lassen, ist eine Koro- narangiographie notwendig. Diese Untersuchung hebt die Wahrschein- lichkeit über eine „Schwelle", die dann die Operation erlaubt (p gleich 1) (5).
Eigene Beobachtungen
Eine Untersuchung in meiner Praxis für Allgemeinmedizin zeigt, in welcher Zeit und mit welchen Hilfsmitteln Diagnosen erstellt wur- den, die nach meiner Meinung aus- reichend wahrscheinlich waren.
Tabelle 1: 7 wichtige Befunde bei der Diagnose einer KHK 1. Alter des Patienten 2. Geschlecht des Patienten 3. typischer Angina-pectoris-
Schmerz
4. Zigarettenkonsum in den letzten fünf Jahren
5. Cholesterinwert
6. alter Infarkt in der Ana- mnese
7. Q-Zacke im EKG als Hin- weis auf alten Infarkt
Vom 16. Januar bis 16. März 1987 wurden alle Patientenkontakte prospektiv erfaßt. Unmittelbar nach dem Kontakt wurde die Zeit ge- schätzt, die bis zum Klarwerden der Diagnose verging.
Ergebnis
392 Arzt-Patient-Kontakte wur- den protokolliert. Bei 238 stand ein diagnostisches Problem im Vorder- grund, entweder für den Patienten oder für den Arzt. Die gestellten Diagnosen sind in Tabelle 2 aufge- führt.
Obwohl immer viel Zeit vorhan- den war, konnte die Verdachtsdia- gnose meist innerhalb weniger Mi- nuten gestellt werden.
Allein aufgrund des Blickkon- taktes und der Anamnese wurde die Diagnose bei 21 Prozent gestellt. Bei den anderen 79 Prozent wurde ein körperlicher Befund erhoben. Zu- sätzliche Untersuchungen erschie- nen bei 15 Prozent notwendig, Kon- siliarärzte wurden bei 16 Prozent hinzugezogen (Tabelle 2).
Eine Revision der Diagnosen erfolgte in vier Fällen: Grippe (An- gina tonsillaris, nach 12 Stunden);
Grippe (Varizellen, nach 24 Stun- den); Verdacht auf Mitralinsuffi- zienz (nicht bestätigt); Verdacht auf Thrombose (nicht bestätigt).
Diskussion
Für einen Allgemeinmediziner wesentlich ist die Summe seiner wis- senschaftlichen, theoretischen und persönlichen Erfahrungen. Sie be- stimmt sein Vorgehen bei Anamne- se und Befunderhebung In der Kli- nik hingegen werden Anamnese und Befund zu untergeordneten Teilas- pekten, die meist an unerfahrene Anfänger delegiert werden. Für den Kliniker ist der Apparat wichtiger, der Daten und Befunde liefert. Die unterschiedliche Gewichtung zeigen die Abbildungen 2 und 3.
Popper nannte die eine Form der Diagnosefindung „Kübelmo- dell" , die andere „Scheinwerfermo- dell". Nach der Kübeltheorie wer- den Beobachtungen und Daten in ei- nem Kübel gesammelt. Dann erst erfolgt die Generalisation, Assozia- tion, Klassifikation, und eine Hypo- these entsteht. So scheint oft eine Diagnose in der Klinik gemacht zu werden. Nach der Scheinwerfer- theorie steht am Anfang die Er- kenntnis; die Hypothesen, Modelle
Abbildung 3: Scheinwerfermodell = Dia- gnoseschema für die allgemeinmedizini- sche Praxis
Dt. Ärztebl. 85, Heft 46, 17. November 1988 (57) A-3253
Alopezie Alkoholkollaps Angina pectoris Verdacht Appendizitis
1 1 9 7
Lymphangitis Laryngitis LWS-Syndrom Soor/Mykose
1 3 8 7
Depression Diarrhoe Distorsion Duodenalulkus
6 1 2 1
Pyelitis
Refluxösophagitis
respiratorische Insuffizienz Scabies
6 2 3 1
2 2 2 6 Herpes zoster
Herzinsuffizienz Herzrhythmusstörung HWS-Syndrom
1 Tendovaginitis
transitorische ischämische Attacke
Verdacht Thrombose
1 3 Tonsillitis
Varicellen Warzen
3 4 1
Konzentrationsschwäche COLD
Kokzygodynie Kopfplatzwunde
2 1 1
Tabelle 2: Diagnosen in einem Zeitraum von zwei Monaten
Erkrankung Anzahl Erkrankung Anzahl
Bronchitis BWS-Syndrom Cerumen Cholangitis
Verdacht Mitralinsuffizienz 1 Medikamenten-Nebenwirkung 5 Otitis media 2 Periarthritis humeroscapularis 2
Ekzem
Verdacht Fraktur Fremdkörper Gastritis Gastroenteritis Ganglion
Gehirnerschütterung Herpes labialis
Seborrhoe Sägeverletzung Seitenstrangangina Sekundärinfektion Stirnhöhleninfektion Senk-Spreizfüße Skoliose
Verdacht Scharlach 3
1 1 1 13 2 1 2
1 1 18 1 5 1 5 7 18
6 1 1
Tabelle 3: Zusätzliche Untersuchungen bei 238 Patienten
8%
3%
3%
2%
Mikrobiologe Internist Chirurg
andere Gebietsärzte 4%
Uricult
1%
Lungenfunktion
Allergietest 1%
Untersuchungen in der Praxis Konsiliarunt e rsuchung en anderer Ärzte
3%
EKG
SMAC-Labor 6%
und Krankheitsbilder ähneln einem Licht, mit dem gezielt Beobachtun- gen, wie mit einem Scheinwerfer, gemacht werden. Entsprechen die Beobachtungen einem Modell, so gilt diese Hypothese so lange als wahr, bis sie durch Verlauf oder wei- tere Befunde falsifiziert wird (6).
Der wichtigste Unterschied zwi- schen den beiden Theorien zur Dia- gnosis (griechisch für unterscheiden- des Erkennen) liegt in der höheren Bewertung des Untersuchenden bei der Scheinwerfertheorie: „Man sieht nur das, was man schon kennt!" Der erfahrene Arzt erkennt durch Anamnese und Befund die meisten Krankheiten. Dies betont auch Gross, der bei 5000 Kranken in etwa 80 Prozent durch Anamnese und Befund zur richtigen Diagnose kam (3).
Der Unerfahrene kann zwar auch sehr gründlich Anamnese und Befund erheben, er weiß aber mit den Daten nichts anzufangen. Er braucht weitere Befunde, scheinbar objektivere, die ihn dann zu einer Diagnose führen. Diese Diagnose ist aber, wie das Beispiel der Angina pectoris zeigt, nicht sicherer, wahr- scheinlicher als die Diagnose eines erfahrenen Arztes, nur durch Ana- mnese und Befund erhoben (2).
Literatur
1. Blois, M. S.: Clinical Judgment and Com- puters. New Engl. J. Med. 303 (1980) 192-197
2. Goldman, L.; Cook, E. F.; Mitchell, N. et al.: Incremental Value of the Exercice Test for Diagnosing the Presence or Absence of Coronary Artery Disease. Circulation 66 (1982) 945-953
3. Gross, R.: Geistige Grundlagen der Medi- zin. Springer, Berlin—Heidelberg—New York—Tokyo, 1985
4. Gross, R.: Der Prozeß der Diagnose. Dtsch.
med:-Wschr. 98 (1973) 783-787
5. Pauker, S. G.; Kassirer, J. P.: The Thre- shold Approach to Clinical Decision Mak- ing. New. Engl. J. Med. 302 (1980) 1109-1117
6. Popper, K. R.: Objektive Erkenntnis. Hoff- mann und Campe, Hamburg, 1973 7. Wittgenstein, L.: Philosophische Untersu-
chungen. Suhrkamp, Frankfurt a. M., 1982
Anschrift des Verfassers:
Dr. med. Friedrich Flachsbart Arzt für Allgemeinmedizin Eisenacher Straße 6 3400 Göttingen
Dt. Ärztebl. 85, Heft 46, 17. November 1988 (61) A-3257