8. Oktober 2014 U. PFISTER
Industrialisierung im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert
Einführung
Gliederung
Was ist Industrialisierung? Chronologie — Hauptelemente
Wichtige, teilweise kontroverse Themen
Übersicht über Erklärungen der Industrialisierung
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Chronologie
Ära der Industriellen Revolution in England ca. 1770–1850 in Deutschland Einsetzen der Industrialisierung ca. 1840er–1870er Jahre
Ca. 1870er Jahre bis 1913 Hochindustrialisierung mit neuen wissensintensiven Leitsektoren
Chemische Industrie (v. a. Textilfarben) Elektrotechnische Industrie
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Hauptelemente der Industrialisierung I
Einsetzen eines stetigen technischen Fortschritts
… beginnend v. a. mit der Mechanisierung der Baumwollverarbeitung und der Veränderung der Methoden der Eisenverarbeitung
→Zunahme der Produktivität
Güterproduktion pro Arbeitsstunde bzw. pro Einheit an physischem Kapital (Maschinen) Steigende Produktivität verbilligte gewerbliche Erzeugnisse, was deren Absatz ausweitete und damit ein Wachstum der Produktion von Industriegütern bewirkte
Erweiterung der energetischen Basis von Sonnenenergie und Biomasse (Wasserkraft, Holzkohle) auf fossile Energie
Steinkohle für Eisenverarbeitung
Betrieb von Dampfmaschinen für den Antrieb mechanischer Arbeitsmaschinen
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Hauptelemente der Industrialisierung II
Transport- und Kommunikationsrevolution seit dem späten 18. Jh.
Bau von Straßen und Kanälen, durch Einsatz der Dampfmaschine in Eisenbahn (ab 1830er Jahren) und Schifffahrt (Hochseeschifffahrt ab 1850er Jahren)
Drastische Beschleunigung der Kommunikation durch elektrische Telegraphie (1850er/1860er Jahre)
Industrialisierung vollzog sich räumlich konzentriert in Regionen (nicht Ländern); das Wachstum der gewerblichen Produktion in diesen Regionen bewirkte eine starke Ausweitung des Handels, was seinerseits Anreize zur Verbesserung der Transport- und Kommunikationstechnik schuf. Umkehrt erleichterte die daraus resultierende Senkung der Transportkosten die Spezialisierung zwischen Regionen und Ländern
Fabrik
Technischer Fortschritt war in Arbeitsmaschinen verkörpert, die zunehmend Dampfmaschinen zum Antrieb benötigten
Die Hauswirtschaft war für die Anwendung dieser Maschinen zu klein, und Haushalte verfügten meist nicht über die für die Beschaffung erforderliche Kapitalkraft
→Die gewerbliche Produktion verlagerte sich von der Hauswirtschaft selbständiger ProduzentInnen in im Besitz von Unternehmern befindliche Fabriken, die LohnarbeiterInnen beschäftigten
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Leitsektoren
In der Ära der Industriellen Revolution erfolgte Wirtschaftswachstum ungleichgewichtig, d. h. konzentriert in einzelnen Sektoren, sog.
Leitsektoren Definition Leitsektor
Rascher technischer Fortschritt bewirkt hohe Produktivität, die ihrerseits einen Anreiz für die Mobilität von Produktionsfaktoren in diesen Sektor schafft
→überdurchschnittlich hohes Wachstum des fraglichen Sektors und mittelfristig hoher Anteil an der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung
Koppelungseffekte:
(1) Vorwärtskoppelungseffekte: Leitsektoren stellen für zahlreiche andere Sektoren Vorleistungen bereit. Wenn sie größere Mengen zum selben Preis anbieten können, begünstigt dies Wachstum in den nachgelagerten Sektoren (2) Rückwärtskoppelungseffekte: Durch das rasche Wachstum fragen Leitsektoren
mehr Vorleistungen aus vorgelagerten Sektoren nach und begünstigen somit Wachstum in diesen Sektoren
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Wichtige Leitsektoren
Mechanisierung der Baumwollspinnerei, danach der –weberei
Obwohl in Westeuropa seit dem Spätmittelalter aus dem Ostmittelmeerraum importierte Rohbaumwolle verarbeitet wurde, stieg die Baumwollverarbeitung erst im 19. Jh. zur wichtigsten Branche des Textilsektors auf
Montanindustrie
Definition: Bergbau von Kohle und Eisenerz sowie die Verarbeitung zu Halbfabrikaten aus Eisen (Bleche, Stäbe, Profile wie z. B. Eisenbahnschienen)
Zentrale Veränderungen: Umstellung der energetischen Basis von Holzkohle auf Steinkohle; Entwicklung von zunehmend ressourcensparenden und schnelleren Verfahren; Vervielfältigung von Produkten (komplexe Profile; Stahl)
Verkehrstechnik
Dampfeisenbahn (ab 1830er Jahren)
mit Dampfturbinen angetriebene Hochseeschiffe mit Stahlrümpfen (ab 1850er Jahren)
Neue, verstärkt wissensbasierte Industriesektoren des späten 19. Jh., sog. Zweite industrielle Revolution
Chemische Industrie, wobei zunächst der Schwerpunkt auf der Substitution natürlicher Farbstoffe und der Vervielfältigung von Textilfarbstoffen lag
elektrotechnische Industrie
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Großbritannien und Deutschland im Vergleich
Großbritannien
überragende Bedeutung der Baumwollverarbeitung als Leitsektor Einsetzen der Industrialisierung in den 1760er Jahren
Um 1850 Dominanz der Weltmärkte mit Erzeugnissen der Baumwollindustrie und des Montansektors
Deutschland
zunächst langsame Adaptation wichtiger Innovationen in Textil- und Montansektor Eisenbahnbau (Hauptlinien 1840er–1870er Jahre) war durch die Senkung der Transportkosten in einem kaum durch Wasserstraßen erschlossenen Binnenland zentraler Leitsektor
Zum Teil im Gefolge des Eisenbahnbaus starke Entwicklung des schon seit dem Spätmittelalter bedeutsamen Montansektors, besonders mit dem Aufkommen der Herstellung von Massenstählen seit Ende 1860er Jahre
Im frühen 20. Jh. führende Stellung Deutschlands in chemischer und elektrotechnischer Industrie
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Revolution oder Evolution?
Ursprünge des Konzepts der Industriellen Revolution
Arnold Toynbee: »Lectures on the industrial revolution in England«, 1884 Ausrichtung auf große Erfindungen und ErfinderEine evolutionäre Perspektive der Industrialisierung …
… wurde vor allem von Studien zum gesamtwirtschaftlichen Wachstum entwickelt:
Selbst in Großbritannien erfolgte die Beschleunigung von Wirtschaftswachstum und Kapitalakkumulation langsam
der Beitrag der neuen Leitsektoren zur gewerblichen Wertschöpfung blieb anfänglich mehrere Jahrzehnte lang gering
Wichtige Sektoren wie das Bekleidungs- und das Baugewerbe blieben vorerst traditionell organisiert und wiesen geringe Produktivitätssteigerung auf
Die Rehabilitierung der Industriellen Revolution (Berg/Hudson 1992)
auf der Ebene von einzelnen gewerblichen Regionen und für betroffene gewerbliche Unterschichten verlief der Wandel in der Organisation der Produktion durchaus kurzfristig und damit diskontinuierlich, was den Begriff der Revolution rechtfertige
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„Wäre es auch ohne gegangen?“
Social savings-Kontroversen
Die evolutionäre Sicht auf die Industrialisierung wurde gestützt durch Studien aus der erstmals mit quantitativen Methoden arbeitenden New
Economic HistorySie suchten durch eine kontrafaktische Untersuchungsanlage zu zeigen, dass wichtige Innovationen nur eine geringe
Ressourcenersparnis bewirkten und nur einen schwachen Wachstumsimpuls auslösten
Wichtige Arbeiten beziehen sich auf die Eisenbahn; klassisch Bob Fogel 1964 (Nobelpreisträger 1993): Er schätzte die Höhe des Volkseinkommens der USA 1890 unter der Annahme, statt des Baus von Eisenbahnen wären einfach Kanal- und Straßennetze stärker ausgebaut worden. Er kam zum (umstrittenen) Ergebnis, dass das Volkseinkommen ohne Eisenbahn nur 2,7% geringer gewesen wäre
Ähnliche Kontroversen existieren zur Rolle der Dampfmaschine und der Steinkohle in der Industrialisierung
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Raumwirtschaft I
Nationalstaat und Region Nationalstaat als räumliche Untersuchungsebene
Insbesondere vergleichende Studien zum unterschiedlichen Zeitpunkt und Verlauf der Industrialisierung in Europa betrachten die Ebene von Nationalstaaten
Die Relevanz der Region
Beispiele: Lancashire („Wiege der Industriellen Revolution“), Ruhrgebiet, Sachsen Argument: Vor dem Abschluss der staatlichen Einigung und vor dem Ausbau der Eisenbahnnetze, also vor ca. dem 3. Viertel des 19. Jh., stellten die Nationalstaaten keinen integrierten Markträume dar. Industrialisierung spielte sich somit primär auf regionaler Ebene ab
Viele Studien zu einzelnen Branchen sind Regionalstudien
Interregionale Arbeitsteilung und Agrarmodernisierung
Vor der Integration der transatlantischen Getreidemärkte im Zuge der Hochseedampfschifffahrt ab dem 3. Viertel des 19. Jh. hing die Versorgung wachsender gewerblicher Bevölkerungen in Industrieregionen mit Grundnahrungsmitteln von zunehmenden Getreideüberschüssen in landwirtschaftlichen Regionen in ihrer Nähe ab
→Industrialisierung setzte Agrarmodernisierung voraus
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Raumwirtschaft II
Industrialisierung und Globalisierung
Die Erzeugnisse industrieller Leitsektoren waren handelbare Güter
ca. 60% des Ausstoßes der britischen Baumwollbranche wurde exportiert (1770–1850)Da Leitsektoren rascher wuchsen als die Volkswirtschaft insgesamt resultierte eine Steigerung des Offenheitsgrad
Definition Offenheitsgrad: (Exporte+Importe) / Volkseinkommen
Wichtige Vorleistungen wie Rohbaumwolle, Rohseide und Wolle waren bereits alte Fernhandelsgüter
Rohbaumwolle: Ostmittelmeerraum, seit Ende 18. Jh. Karibik, Süden der USA Seide: Italien, Ostmittelmeerraum, Iran
Wolle: Spanien, ab Ende 18. Jh. Mitteldeutschland, ab 2. Viertel 19. Jh. Südamerika, Australien
Die durch die Industrialisierung bewirkte Verbesserung der
Verkehrstechnik senkte natürliche Handelsbarrieren und leistete damit einem Wachstum des Welthandels Vorschub
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Ursprünge der industriellen Unterschichten / des Proletariats
Die Verlagerung der gewerblichen Produktion in Betriebe von Unternehmen (Fabriken) änderte die Lebensverhältnisse von Unterschichten nachhaltig
Proletariat (im marxistischen Sinn)
Verlust der Kontrolle über Arbeitsplatz, Arbeitsmittel, Erzeugnis der Arbeit und Arbeitsrhythmen (Entfremdung); alleinige Verwertung der Arbeitskraft gegen Lohn Teilweise im Gefolge der Migration in Industriezonen auch Verlust der Unterstützung durch herkömmliche Schutzverbände: Grundherrschaft, Nachbarschaftsgemeinde, Verwandtschaftsverband
Neuer Lebensalltag
Regulierung der Arbeitszeit durch Fabrikdisziplin
proletarisches Wohnen in Arbeiterquartieren bzw. Werksiedlungen Entwicklung der Familie als Verdienst- und Konsumgemeinschaft
Lebensstandard
Wieweit partizipierten Unterschichten am Wirtschaftswachstum, das die Industrialisierung mit sich brachte?
Wieweit verschlechterten sich durch die Bildung industrieller Agglomerationen mit wenig entwickelter Infrastruktur die Lebensverhältnisse?
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Staat und Industrialisierung I
Utilitaristische Orientierung der Eliten
Staatliches Handeln im späten 18. und frühen 19. Jh. entwickelte sich im Spannungsfeld zwischen einer utilitaristischen Orientierung von Eliten und wachsenden regulatorischen Herausforderungen Utilitarismus …
… meint die Vorstellung, dass einzelne Menschen ihr Handeln so auszurichten suchen, dass dadurch ihr Glück maximiert wird. Kollektives Glück ergibt sich aus der Summe individuellen Glücks. Ein regulativer Rahmen, der Individuen einen möglichst großen Spielraum lässt, unterstützt in dieser Perspektive kollektive Wohlfahrt
Eine Reihe von im frühen 19. Jh. ergriffenen Liberalisierungsmaß- nahmen standen in Verbindung mit einer utilitaristischen Orientierung der damaligen Eliten
Aufhebung des Zunftzwangs und Koalitionsverbot
Reformen der Armenfürsorge, die das Leistungsniveau senkten (New Poor Law in Großbritannien 1834)
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Staat und Industrialisierung II
Neue staatliche Ordnungsfunktionen
Die Industrialisierung brachte neue Regulierungserfordernisse hervor, die im Endergebnis trotz der utilitaristischen Grundorientierung eine Ausweitung von Staatsfunktionen bewirkten:
Spezifizierung von Eigentumsrechten
Wasserrechte; Regelung von Enteignungsverfahren bei Straßen- und Eisenbahnbau
Gewährleistung der Sicherheit technischer Systeme
Dampfmaschinen, Eisenbahn
Kapitalmarktregulierung
Entstehung des modernen Aktienrechts
Schutz industrieller Unterschichten angesichts des Versagens traditioneller Schutzformen → Anfänge der modernen Sozialpolitik
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Was begünstigte die Entstehung eines kontinuierlichen Stroms an technischen Innovationen?
Relative Preise, Markttiefe
Erfinder gehen hohe Kosten und ein hohes Risiko eingehen → Erfindungen müssen sich rechnen
Arbeitssparende Innovationen (z. B. Mechanisierung der Baumwollspinnerei) rechnen sich bei hohen Arbeitskosten (England 18. Jh.) und großen Märkten, d. h. in bereits entwickelten Gewerberegionen, die über einen weiten Absatzmarkt verfügen
→Bedeutung sog. proto-industrieller Entwicklung als Voraussetzung für Industrialisierung. Das Argument erklärt auch die Kontinuität zwischen vorindustriellen und frühindustriellen Gewerberegionen
Institutionelle und kulturelle Faktoren; Hypothesen
Innovationen rechnen sich nur bei (staatlichem) Schutz des geistigen Eigentums (Patentrecht), das dem Erfinder ein allenfalls befristetes Monopol über die Verwertung einer Erfindung gewährt
Innovationstätigkeit wird durch eine Wissenskultur befördert, in der Kenntnisse gut zwischen Praktikern, Tüftlern und Wissenschaftlern zirkulieren
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Werte und Institutionen
Definition Institutionen
Gesetze, Verträge, Regeln und Konventionen, die das Handeln von Wirtschaftssubjekten anleiten
Institutionen brauchen nicht in Organisationen verkörpert zu sein!
Institutionen können sowohl formal (Gesetze, Verträge) auch informal (Konventionen) verfasst sein
Die These Max Webers (1904/5) …
… einer Verbindung zwischen asketischem Protestantismus und der Entwicklung eines methodischen Kapitalismus wird heute selten mehr vertreten
Schutz individueller Verfügungsrechte
… ist eine potentiell wichtige Voraussetzung für Innovationstätigkeit und die Akkumulation industriellen Festkapitals
Die Einschränkung der Willkür von Herrschern und der Schutz individuellen Eigentums waren deshalb wichtige Voraussetzungen für die frühe (industrielle) Entwicklung Nordwesteuropas
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Anfänge der Globalisierung und Fleißrevolution
Idee: Vor der industriellen Revolution gab es eine Fleißrevolution, welche die Voraussetzungen für Innovationen schuf
Gewerberegionen, breite Märkte für gewerbliche Erzeugnisse
Das Argument
Menschen schätzen Vielfalt (love of variety preferences), weil sie durch selektiven Konsum Prestige gewinnen (modisches Auftreten) oder ihre Identität konstruieren können (geschmackvolle Inneneinrichtung)
Interkontinentalhandel in der Frühen Neuzeit erhöhte die Vielfalt des Konsumgüterangebots in Europa. Beispiel: Bemalte und bedruckte indische Baumwolltuche seit dem späten 17. Jh. (d. h. vielfältiges, differenziertes Produkt) Wegen des Nutzens, den die gesteigerte Produktvielfalt mit sich brachte, waren Haushalte bereit, zum selben Lohn mehr zu arbeiten, um differenzierte Konsumgüter erwerben zu können
Da Landressourcen begrenzt waren, wurde zusätzliche Arbeit im Gewerbesektor eingesetzt, was seinerseits zur Entstehung von Gewerberegionen und breiter Märkte für gewerbliche Erzeugnisse beitrug
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