BIFIE-Journal https://www.bifie.at/bildungsforschung/bifie-journal Ausgabe 1/2017, DOI: 10.7888/bifiejournal-1.2017-1-2 Bundesinstitut BIFIE, Alpenstraße 121, 5020 Salzburg, www.bifie.at
Christian Wiesner, Marcel Illetschko, Ann Cathrice George, Simone Breit, Evelyn Süss-Stepancik &
Claudia Schreiner
Aufgabenkultur
Aufgaben dienen im Unterricht dem Lernen, ermöglichen als Prüfungsaufgaben die Benotung und Beurteilung des Erlernten und können als Testitems Gelerntes messen. Diese drei sehr unterschiedlichen Funktionen sind von
einander abzugrenzen. Ihre Charakteristika sollen im Folgenden beschrieben werden.
Lernaufgaben
Lernaufgaben initiieren, steuern oder leiten Lernhandlungen (Kreitz, 2008) immer mit Blick auf die erforderlichen Aktivitäten zum Kompetenzerwerb. Dabei ist die Aktivierung als ein mehrdimensionales Konstrukt zu verstehen, das von Klieme, Schümer und Knoll (2001, S. 51) in Abhängigkeit von der „Komplexität von Aufgabenstellungen und Argumentationen und über die Intensität des fachlichen Lernens“ definiert wird.
Lernaufgaben ermöglichen oft unterschiedliche Lernwege, regen Kreativität an (Leuders, 2012) und fördern einen offenen, impulsgebenden und lösungsorientierten Austausch zwischen Lernenden.
Lernaufgaben arbeiten produktiv und reflektierend mit Fehlern und Irrwegen.
Lernaufgaben sind mehrdimensional und können definiert werden als „Katalysatoren von Lernprozessen, mit denen einzelne Teilprozesse des Lernens […] beeinflusst, d. h. ermöglicht, erleichtert, intensiviert, beschleunigt oder nachhaltig verfügbar und zugänglich gehalten werden können“ (Schmit, Peters & Kiper, 2014, S. 26). Lern
aufgaben schließen Wissenslücken, nehmen Verständnisprobleme wahr (Abraham & Müller, 2009) und arrangie
ren Wissensvernetzungen und lebensweltliche Anwendungen.
Durch Lernaufgaben können variierende Unterrichtssituationen des Erprobens, Beurteilens, Erkundens, Ent
deckens, Erfindens, Sammelns, Systematisierens und Sicherns herbeigeführt werden. „Lernaufgaben fördern den langfristigen Erwerb von Kompetenzen und nutzen Fehler ressourcenorientiert zum Lernen“ (George, Süss
Stepancik, Illetschko & Wiesner, 2016, S. 74). Deshalb sind Wissenschaft und Schulpraxis heute gleichermaßen herausgefordert, die Wirksamkeit von Lernaufgaben für den Kompetenzaufbau empirisch zu prüfen (Tulodziecki, Herzig & Blömeke, 2009). Diese dienen dem „teaching to competencies“ und der Unterrichtsentwicklung. Sie unterscheiden sich deutlich von Testaufgaben (Testitems) für Leistungs oder Kompetenzmessungen, aber auch unmissverständlich von unterrichtlichen Prüfungsaufgaben (siehe Tabelle unten).
Prüfungsaufgaben und Lernerfolgskontrollen
In der einschlägigen Literatur (z. B. Abraham & Müller, 2009; Kühn, 2016) werden die hier als „Prüfungsauf
gaben“ bezeichneten Aufgaben in der Regel den schulintern erstellten Leistungsaufgaben zugeordnet, genauer den
„unterrichtlichen Lernerfolgskontrollen“ (Tests, Schularbeiten etc.). Sie sind an der
Schnittstelle zwischen Diagnose und Leistungsfeststellung anzusiedeln […], weisen einen eher geringen Standardisierungsgrad auf und genügen vielfach nicht den Anforderungen der professio-
Sie haben sich, was Einsatzhäufigkeit und zum Teil auch die Form betrifft, an den zugrundliegenden administra
tiven Vorgaben (in Österreich etwa der Leistungsbeurteilungsverordnung) zu orientieren. Darüber hinaus sind sie vielfach Produkt von Aushandlungsprozessen verschiedener Beteiligter und steuern den Unterricht, der auf sie vorbereitet, ebenso wie jenen, der nach ihnen folgt. Trotz ihrer wichtigen Rolle ist festzustellen, dass im Vergleich mit der sich in der letzten Dekade stetig entwickelnden Aufgabenkultur hinsichtlich Lern und Testaufgaben „die fachdidaktische Diskussion um Prüfungsaufgaben sowie die Weiterentwicklung der Prüfungskultur erst in den Anfängen begriffen“ ist (ebd., S. 76).
Testaufgaben und Testitems
Hinsichtlich der Arbeit mit Testitems im Unterricht ist zu bedenken, dass diese sich wesentlich von Lernaufgaben unterscheiden und speziell für die Kompetenzmessung entworfen wurden.
Mit Testitems sollen erworbene Kompetenzen und der Abstand zum Ziel eindeutig, methodisch genau und unter Vermeidung von Fehlern gemessen werden.
Testitems messen somit eindimensional isolierte Teilkompetenzen, erfüllen dabei psychometrische und inhaltliche Qualitätskriterien und dienen Lehrpersonen für eine fundierte, objektivierte und professionelle Reflexionsarbeit.
Eine häufige Verwendung von Testitems im Unterricht führt unter Umständen eher zu einem nicht intendierten
„teaching to the test“ als zu einer fundierten und nachhaltigen Kompetenzorientierung im Unterricht (George, SüssStepancik, Illetschko & Wiesner, 2016). Mit Testitems sollen erworbene Kompetenzen unter Vermeidung von Fehlern in einer möglichst alltäglichen, unaufgeregten Situation unter Beweis gestellt werden.
Für den Unterricht ist daher „von einem 1:1Einsatz“ veröffentlichter Testaufgaben (Testitmes) „als Lernaufgaben – von der Vertrautmachung der Schüler/innen mit bestimmten Antwortformaten einmal abgesehen – dringend ab
zuraten, denn bloße Verwendung von Testitems als Lernaufgaben ohne entsprechende Didaktisierung greift viel zu kurz“ (LängauerHohengaßner, 2013, S. 92).
Die folgende tabellarische Gegenüberstellung soll veranschaulichen, worin sich Testitems, Prüfungsaufgaben und Lernaufgaben unterscheiden:
BIFIE-Journal, Ausgabe 1/2017
Aufgabentyp Testitems Prüfungsaufgaben Lernaufgaben
Basis Kompetenzmodell
Einsatz kompetenzbezogenes
Testen in der IKM oder Standardüberprüfung
kompetenzbezogenes Prüfen im Unterricht als
Lernerfolgskontrolle
kompetenzbezogenes Unterrichten
Merkmale in eine Atmosphäre des
Überprüfens und der päda
gogischen Diagnose eingebettet dienen der Diagnose bzw. dem eindimensionalen Nachweis von (Teil)Kompetenzen
messen möglichst abgrenz
bare (Teil)Kompetenzen einer definierten Schwierigkeit oder Komplexität
Fehler sind nachteilig bzw.
unerwünscht
es besteht Klarheit in der Aufgabenstellung über die Lösung
die gleiche Lösung ist unabhän
gig von Bewertungsinstanzen immer richtig
erfüllen psychometrische und inhaltliche Gütekriterien
in eine Atmosphäre des Prüfens eingebettet
dienen dem Nachweis von (Teil) Kompetenzen
bestehen oftmals aus Kompetenzbündeln Fehler sind nachteilig bzw.
unerwünscht
es besteht Klarheit in der Aufgabenstellung über die Lösung
bestehen meist aus Kompetenzbündeln und gestuften Schwierigkeits und Komplexitätsgraden
mehrere Lösungswege können möglich sein
erfüllen keine psychometrischen Gütekriterien
können sich am Lernstand einer Lerngruppe, Klasse oder einem Lernenden/einer Lernenden orientieren
in eine Atmosphäre des Lernens eingebettet
wecken Neugier und Interesse bzw. regen z. B. Erinnern, Üben, Analysieren, Erkunden, Erproben, Entdecken, Erfinden, Abwägen oder Argumentieren an
dienen dem langfristigen Erwerb von (Teil)Kompetenzen bestehen meist aus Kompetenzbündeln und gestuften Schwierigkeits und Komplexitätsgraden
nutzen Fehler zum Lernen können variable Lösungswege oder vielfältige Lernprozesse anbieten
können variable
Unterrichtssituationen her
vorrufen (Kooperation oder Einzelarbeit)
sind an den Lernstand einer Lerngruppe, Klasse oder an den Lernenden/die Lernende angepasst
Orientierung Produktorientierung Produktorientierung Prozessorientierung mögliche Ziele Schulentwicklung
Unterrichtsentwicklung Diagnosefunktion als Grundlage für Förderung (z. B. IKM) Rechenschaftslegung für den Unterricht/für die Schule
Leistungs und Lernkontrolle Benotung und Beurteilung Rechenschaftslegung für eine Beurteilung
Feedback für den Lernprozess Förderung bestimmter (Teil) Kompetenzen
Erweiterung bzw. Ausbau von (Teil)Kompetenzen
Prinzip im Unterricht teaching to the test Lernerfolgskontrolle teaching to competencies Bezugsnorm kriteriale Bezugsnorm
wünschenswert, soziale und individuelle Bezugsnorm möglich
eher soziale und auch indivi
duelle Bezugsnorm möglich eher individuelle und auch soziale Bezugsnorm möglich
Anbindung an Kompetenzmodelle
notwendig erwünscht erwünscht
Darstellung kriteriumsbezogen durch Kompetenzstufen, soziale und individuelle Vergleiche
soziale und individuelle
Vergleiche soziale und individuelle Vergleiche
Komplementärer Einsatz von Aufgaben
Sowohl Testitems als auch Lernaufgaben werden für die nachhaltige Etablierung der Kompetenzorientierung im Unterricht benötigt, jedoch für unterschiedliche Zwecke:
Testitems sollen bereits erlernte (Teil)Kompetenzen (nachweislich und trennscharf) messen, während Lernauf
gaben das Aneignen, Verstehen, Erfassen, Begreifen, Vernetzen, Ordnen, Integrieren, Wiederholen und Üben (als vernetzte Kompetenzen) unterstützen.
Bei Lernaufgaben steht die didaktische Herausforderung im Vordergrund, dass mit ihnen Kompetenzen ausge
bildet, ausgebaut und gefestigt werden. Psychometrische Gütekriterien sind dabei weitgehend nicht relevant (vgl.
Leutner, Fischer, Kauertz, Schabram & Fleischer, 2008). Den Prüfungsaufgaben kommt eine Mittlerposition zu;
es sind bereits vielfach innovative und kompetenzorientierte Prüfungsmethoden im Einsatz, wie etwa die Portfolio
arbeit, die an Neuen Mittelschulen verbreitete 4.0Skala oder die kompetenzorientierte Reifeprüfung.
Neben diesen fundamentalen Unterschieden sollten sich Testitems der Bildungsstandardüberprüfung oder der Informellen Kompetenzmessung (IKM) und standardorientierte Lernaufgaben im Unterricht (Deutsch, Mathematik und Englisch) allerdings auf die gleichen Kompetenzen und auf dieselben Kompetenzmodelle beziehen. Merkmale frei gegebener, also vom BIFIE veröffentlichter Testitems können selbstverständlich als Impulse im Sinne von „Repräsentanten von zu erreichenden Kompetenzen“ zur Entwicklung neuer und standardorientierter Lernauf
gaben durch Abwandlung und Neugestaltung von Testitems in Lernaufgaben dienen (vgl. George, SüssStepancik, Illetschko & Wiesner, 2016). Inwiefern die Orientierung von Lehrkräften an beispielhaften Aufgaben aus Standard überprüfungen tatsächlich als inspirierend bzw. normierend wirkt, ist „bislang – mit Ausnahme einer explorativen Studie von Kuhn (2010) – nicht untersucht worden […] – aus steuerungstheoretischer Sicht besteht hier also erheblicher Forschungsbedarf“ (Kühn, 2016, S. 77).
Literatur
Abraham, U. & Müller, A. (2009). Aus Leistungsaufgaben lernen. Praxis Deutsch, 214, S. 4–12.
George, A. C., SüssStepancik, E., Illetschko, M. & Wiesner, C. (2016). Entwicklung wirkungsvoller Lernaufga
ben für den Unterricht aus Testitems der Bildungsstandardüberprüfung. In Journal transfer Forschung <> Schule, 2, S. 67–87.
Klieme, E., Schümer, G., Knoll, S. (2001). Mathematikunterricht in der Sekundarstufe I: Aufgabenkultur und Unterrichtsgestaltung. In Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (Hrsg.), TIMSS – Impulse für Schule und Unterricht: Forschungsbefunde, Reforminitiativen, Praxisbericht und Video-Dokumente (S. 43–57). Mün
chen: Biering.
Kreitz, R. (2008). Pädagogisches Handeln – eine analytische Theorie. Münster, New York, München, Berlin: Wax
mann.
Kühn, S. M. (2016). Aufgaben in (zentralen) Abschlussprüfungen. Theoretische und empirische Perspektiven auf ein interdisziplinäres Forschungsfeld. In S. Keller & C. Reintjes (Hrsg.), Aufgaben als Schlüssel zur Kompetenz.
Didaktische Herausforderungen, wissenschaftliche Zugänge und empirische Befunde. Münster, New York: Waxmann.
Kuhn, H. (2010). Authentische Aufgaben im theoretischen Rahmen von Instruktions- und Lehr- Lernforschung. Wies
BIFIE-Journal, Ausgabe 1/2017
Leuders, T. (2012). Kompetenzorientierte Aufgaben im Unterricht. In W. Blum, C. DrükeNoe, R. Hartung & O.
Köller (Hrsg.), Bildungsstandards Mathematik: konkret (S. 81–95). Berlin: Cornelsen.
Leutner, D., Fischer, H. E., Kauertz, A., Schabram, N. & Fleischer, J. (2008). Instruktionspsychologische und fachdidaktische Aspekte der Qualität von Lernaufgaben und Testaufgaben im Physikunterricht. In J. Thonhauser (Hrsg.), Aufgaben als Katalysatoren von Lernprozessen (S. 169–181). Münster: Waxmann.
Schmit, S., Peters, S., Kiper, H. (2014). Wissenserwerb durch Lernaufgaben. In P. Blumschein (Hrsg.), Lernauf- gaben – Didaktische Forschungsperspektiven (S. 24–34). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Tulodziecki, G., Herzig, B. & Blömeke, S. (2009). Gestaltung von Unterricht. Eine Einführung in die Didaktik.
2., durchgesehene Auflage. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Zumhasch, C. (2014). Schulleistungsbeurteilung: Leistungen feststellen und bewerten. In Einsiedler, W., Götz, M., Hartinger, A., Heinzel, F., Kahlert, J. & Sandfuchs, U. (Hrsg.). Handbuch Grundschulpädagogik und Grund- schuldidaktik. 4., ergänzte und aktualisierte Auflage (S. 302–310). Stuttgart: UTB.