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Was Anlagenbetreiber von Künstlicher Intelligenz in Zukunft erwarten dürfen – und was nicht
Martin Horeni und Michael Wechner
1. Künstliche Intelligenz: Ingenieurmäßige Einordnung ...443
2. Neuronale Netze als eine Methode zur Beurteilung von Prozessgrößen ...444
3. Merkmale neuronaler Netze im Engineering ...445
4. Anwendungsbeispiele ...448
4.1. Ersatzmodell Dampfturbine zur Prognose der Stromproduktion ...449
4.2. Ersatzmodell Wärmetauscher zur Prognose der Wärmetauscherleistung ...450
4.3. Diskussion der Ergebnisse ...451
4.4. Weitere Anwendungsmöglichkeiten ...452
5. Entwicklung und Implementierung neuronaler Netze ...453
6. Fazit ...454
1. Künstliche Intelligenz: Ingenieurmäßige Einordnung
Der Begriff Künstliche Intelligenz (KI) wird heute in vielen verschiedenen Zusammen- hängen verwendet; eine eindeutige Begriffsbestimmung ist deshalb nicht möglich.
Gängige Definitionen beinhalten entweder vor allem technische Merkmale wie die Nutzung maschineller Entscheidungsbäume (z.B. If-Then-Analysen in einem Pro- grammcode) oder eher philosophische Aspekte wie die Fähigkeit einer Maschine, sich ihrer selbst bewusst zu sein.
KI-Anwendungen haben heute zwei Probleme:
1. KI wird im Sprachgebrauch oft mit der Lösung einer Aufgabe gleichgesetzt, nicht als Werkzeug für deren Erarbeitung und
2. KI als Werkzeug steht den allermeisten Menschen gar nicht zur Verfügung.
Der zweite Punkt hat zur Folge, dass es heute, abseits von spezialisierten Softwareun- ternehmen kaum Erfahrungen mit der Anwendung von KI gibt. Jeder weiß zwar, dass man damit komplizierte Aufgaben lösen kann (Erkennung von Bildern, Sprache, Mi- mik, Gestik, Handschriften usw.), kaum jemand hat dies aber selbst einmal gemacht.
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Ein drittes – aus technischer Sicht weniger relevantes – Problem ist, dass oft von DER Künstlichen Intelligenz gesprochen wird, als wenn es sich um mehr als die Anwen- dung von Algorithmen handelt. Dadurch ist das Thema emotional oft aufgeladen und öffentliche Diskussionen gleiten schnell ab.
Aus Sicht des Ingenieurs trifft auf eine künstliche Intelligenz wohl am ehesten das Merkmal der Fähigkeit zu Lernen zu. Im vorliegenden Beitrag wird deshalb unter KI vereinfachend ein Algorithmus verstanden, der die Fähigkeit zum Lernen aufweist. Da dies insbesondere auf neuronale Netze zutrifft ist im vorliegenden Beitrag
Künstliche Intelligenz = neuronale Netze (bzw. deren Implementierung) Die Erwähnung der Implementierung, d.h. der Einbau von KI-Algorithmen in irgendei- ne Software – z.B. in einem Tool für die Analyse von Messwerten – ist deshalb wichtig, weil die Implementierung sehr viel aufwendiger ist als der eigentliche Programmcode für ein neuronales Netz. Der Implementierungs-Faktor, gemessen in Programmzeilen liegt in der Größenordnung 1:1.000 bis 1:10.000 und mehr, je nach Benutzerfreund- lichkeit der Software. Grund hierfür ist, dass ein neuronales Netz im Wesentlichen aus Programmschleifen besteht, innerhalb derer Matrizenrechnungen durchgeführt werden. Die Implementierung enthält zusätzlich Komponenten für die Bereitstellung und Visualisierung der Daten, für die Sicherung und den Export der Ergebnisse, für die Parametrierung des Modells, für den Export des Modells usw.
2. Neuronale Netze als eine Methode zur Beurteilung von Prozessgrößen
Neuronale Netze dienen der Erkennung von Mustern in Werten bzw. Wertekonstel- lationen. Im Unterschied zu anderen Methoden der Erkenntnisgewinnung besteht die Besonderheit, dass zwar Abhängigkeiten zwischen den Werten vorliegen, diese Abhängigkeiten aber unbekannt sind. Anstelle dessen sind aus der Historie die je- weils gesuchten Werte bereits bekannt und werden passend zu neuen Vorgabewerten reproduziert. Damit lassen sich neuronale Netze gemeinsam mit einfacheren Regres- sionsverfahren in die verschiedenen Methoden für die Gewinnung von Prozessgrößen einordnen (Bild 1).
Aus der Abbildung wird deutlich, dass neuronale Netze die klassischen Methoden wie Bilanzierung von Energie- und Stoffströmen oder die Anwendung phänomenologischer Modelle zur Berechnung von Wärmetauschern nicht ersetzen, sondern diese vielmehr sinnvoll ergänzen. Interessant ist, dass neuronale Netze mit stetigen Ausgabewerten (im Unterschied zu diskreten Ausgangswerten, siehe nächster Abschnitt) ihrem We- sen nach Regressionsanalysen darstellen. Wer heute mit einer Tabellenkalkulation in einem x-y-Diagramm eine Trendlinie generiert, erstellt ein Modell basierend auf vorhandenen Daten. Da dabei im Hintergrund iterativ eine Funktion gesucht wird, deren berechnete y-Werte in Summe möglichst wenig von den vorgegebenen y-Werten abweichen, handelt es sich um einen Lernvorgang und damit um eine Art künstliche Intelligenz. Der Unterschied zu einem neuronalen Netz besteht lediglich darin, dass
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diese nicht nur zwei Dimensionen abdecken, sondern beliebig viele. Bei deutlich mehr als drei Dimensionen lässt sich die Lösung einfach nicht mehr so gut visualisieren und damit auch vorstellen.
Abhängigkeiten...
on site PLS, Betriebsdaten- Erfassungssysteme (BDE)
Büro-Software Ingenieur-Software Prozessgrößen
berechnete Größen keine
Abhängig- keiten gemessene
Größen
...bekannt
(weil...) ...unbekannt (wenn...dann...)
Messung im Feld
Bilanzen, chemische Gleichgewichte,
phänomeno- logische Modelle Einfache
Rechnungen
Regressions- verfahren, Neuronale
Netze
off site Bild 1:
Einteilung von Prozessgrößen für die Beurteilung von Betriebs- zuständen in Anlagen
3. Merkmale neuronaler Netze im Engineering
In Prozessen der Energieumwandlung und Stoffbehandlung können neuronale Netze dazu verwendet werden, statistische Zusammenhänge zwischen Messwerten bzw.
Prozessdaten mathematisch zu beschreiben. Im Engineering solcher Prozesse kann man das in zwei Bereichen sinnvoll einsetzen:
A) Erstellung von verfahrenstechnischen Ersatzmodellen und B) Durchführung von Zustandsanalysen.
Mit neuronalen Netzen Zustandsanalysen durchführen heißt, das Zusammenwirken von Messstellen bei unterschiedlichen Betriebszuständen zu charakterisieren und jene Messstellen zu identifizieren, deren Verhalten sich gegenüber dem der anderen Mess- stellen über die Zeit ändert. Mit neuronalen Netzen verfahrenstechnische Ersatzmo- delle erstellen bedeutet, dass Systeme ohne Berücksichtigung naturwissenschaftlicher Grundgesetze zwischen den Ein- und Ausgangswerten modelliert werden. Grund dafür kann sein, dass:
• der mathematische Zusammenhang nicht bekannt ist (zu viele, parallele Gleichun- gen, unklare Gleichgewichtszustände, unbekannte instationäre Glieder usw.) oder
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• der mathematische Zusammenhang bekannt ist, mit den verfügbaren Messwerten das Modell aber nicht validiert werden kann.
Mit Abstand der häufigste Anwendungsfall von neuronalen Netzen – mindestens in der öffentlichen Wahrnehmung – ist die Erkennung von bereits existierenden, weit verbreiteten Mustern (Bilder, Buchstaben, Geräusche usw.). Im Gegensatz dazu sind in Engineering-Anwendungen die Muster bzw. die die Muster bildenden Werte jedes Mal neu und ein zugehöriges Modell deshalb auch nicht übertragbar.
Wichtig für die Unterscheidung ist, dass für die Mustererkennung bekannter Muster neuronale Netze mit diskreten Ausgangswerten verwendet werden. Damit ist gemeint, dass die Werte die das Netz auf seinen Ausgabekanälen liefert annähernd diskret an- fallen. Sinnvolle Ausgangswerte sind dann entweder nahe 0 (manchmal auch -1 statt 0) oder nahe 1. Liegen die Werte zwischen 0 und 1 wurde kein Muster erkannt. Für Engineering-Anwendungen kommen demgegenüber Netze mit stetigen Ausgangs- werten zum Einsatz (Bild 2), wo alle Werte zwischen 0 und 1 ein Ergebnis darstellen.
Eingang versteckte
Schicht Ausgang Eingang versteckte
Schicht Ausgang Eingang versteckte Schicht Ausgang
0
1
0...1 0...1
0...1 0...1
Diskrete Ausgangswerte Stetige Ausgangswerte Stetiger Ausgangswert
Bild 2: Unterscheidung von neuronalen Netzen nach der Art und Anzahl ihrer Ausgangswerte, hier beispielhaft mit jeweils drei Schichten
Diese und weitere Unterschiede sind in Tabelle 1 zusammengestellt.
Charakteristisch ist, dass die Anwendung neuronaler Netze im Engineering deutlich weniger Ausgangsdaten benötigt (Anzahl Kanäle multipliziert mit Anzahl Daten pro Kanal), aber sehr viel komplizierter sein kann was die Formulierung des technischen Problems angeht.
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Weitere Besonderheiten beim Einsatz von neuronalen Netzen im Engineering sind:
Netztypologie Im Zusammenhang mit neuronalen Netzen wird häufig die Tiefe eines Netzes, d.h.
die Anzahl der Schichten im Netz (layer) thematisiert. Für die hier diskutieren An- wendungsbeispiele sind neuronale Netze mit einer versteckten Schicht (hidden layer) ausreichend, weshalb diese Netze aus nur drei Schichten bestehen (Eingangsschicht, versteckte Schicht, Ausgangsschicht).
Wird bei Teilsystemen nach kritischen Messwertabweichungen gesucht, können dafür sogenannte faltende neuronale Netzwerke (convolutional neural networks) zum Einsatz kommen. Mit diesen ist es möglich, einen Messwert inkl. seiner Schwankungen derart mit anderen Messwerten in Beziehung zu setzen, dass spätere Verletzungen dieser Schwankungen ausgewertet werden können. Faltende neuronale Netze verfügen über mindestens fünf Schichten.
Häufig werden auch Netze mit internen Rückkopplungen (rekurrente oder Feedback- Netzwerke) beschrieben. Durch Rückkopplungen ist es möglich, die zeitliche Abfolge der Eingangswerte mit zu berücksichtigen. Für die hier diskutieren Fälle spielen Rückkopplungen keine Rolle.
Aktivierungsfunktion Für die sogenannte Aktivierung der Neuronen in den versteckten Schichten und in der Ausgangsschicht werden normalerweise Sigmoid-Funktionen verwendet. Die Aktivie- rung bestimmt, wie stark der Eingangswert weitergeleitet wird. Wie bereits erwähnt sind Tabelle 1: Wesentliche Unterschiede zwischen neuronalen Netzen mit diskreten und mit stetigen
Ausgangswerten
Ausgangswerte diskret stetig *
Anwendungsbereich Erkennung universeller Muster Erkennung individueller Muster Betroffene Muster Bilder, Audiosignale, Symbole, Videos usw. Betriebszustände, einzelne Prozesswerte Datenquellen oft öffentlich, ähnliche oder sogar dieselben prozess-/anlagenzugehörig
Daten für unterschiedliche Implementierungen
Anzahl Eingangskanäle > 1.000 Ersatzmodelle: << 100,
(Größenordnung) Zustandsanalysen: variabel je nach
Systemgröße
Anzahl Ausgangskanäle = Anzahl der zu erkennenden Muster Ersatzmodelle: 1,
(Anzahl Bilder, Anzahl Musiktitel usw.) Zustandsanalysen: variabel je nach
Systemgröße
Trainingsdaten in grossem Umfang verfügbar, nur in begrenztem Umfang verfügbar, in gewissem Umfang vermehrbar Trainingsdaten = Prozessdaten/Messwerte, (bei Bildern z.B. durch Drehung) können nicht beliebig generiert werden zu erkennende Muster müssen
ggf. ergänzt werden
* die genannten Merkmale gelten für Engineering-Anwendungen
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bei der Erkennung universeller Muster sinnvolle Ausgabewerte entweder 0 (manchmal auch -1) oder 1; 1 wenn das dem Ausgabekanal zugeordnete Muster erkannt wurde, 0 wenn dem nicht so ist. Bei Engineering-Anwendungen liegen die Ausgabewerte aber gleichberechtigt zwischen 0 und 1, je nachdem wie die Werte normiert wurden. Im Zusammenhang mit der Sigmoid-Funktion bedeutet das, dass die für die Normierung verwendeten Maxima groß genug sein müssen, weil diese wegen dem asymptotischen Funktionsverlauf sonst nur schwer erreicht werden.
Im Zusammenhang mit neuronalen Netzen wird häufig erklärt, dass diese nur Muster erkennen können, die vorher auch trainiert wurden. Diese Aussage stimmt so nur für Netze mit diskreten Ausgangswerten. Neuronale Netze mit stetigen Ausgangswerten können nicht nur korrekt interpolieren, sondern in gewissen Grenzen auch extrapolieren.
Auflösung
Kraftwerke laufen in der Regel die meiste Zeit bei Volllast und nur ab und zu bei Teillast. Dadurch liegen sehr viele, tendenziell gleichartige Volllast-Werte, aber nur wenige Teillast-Werte vor. Ein neuronales Netz wird in solchen Fällen ungleichmäßig trainiert, da häufiger auftretende Werte-Kombinationen die Gewichte innerhalb des Netzes stärker ausprägen als weniger häufige. Das Modell muss aber auch (und viel- leicht gerade dann) für die wenigen Teillast-Fälle richtige Ergebnisse liefern. Um ein einseitiges Training zu vermeiden sollte deshalb mit einer Auflösung gearbeitet werden.
Dabei werden die Eingangswerte diskretisiert und gleichartige Kombinationen diskreter Eingangswerte vom Training ausgeschlossen. Das neuronale Netz wird dann nur noch mit gleichmäßig verschiedenartigen Werten trainiert.
4. Anwendungsbeispiele
Ausgehend vom Grundprinzip neuronaler Netze – mathematische Formulierung statistischer Zusammenhänge zwischen Messwerten bzw. Prozessdaten – gibt es viele mögliche Anwendungen im Engineering. Da es dabei immer um die Reproduktion von Ereignissen geht ist klar, dass dies keine Design-Aufgaben sind. Die Auslegung von verfahrenstechnischen Komponenten wird auch weiterhin eine klassische Ingeni- euraufgabe bleiben, basierend auf naturwissenschaftlichen Grundlagen und persönli- chen Erfahrungen. Wie bereits dargestellt sind neuronale Netze dort sinnvoll, wo A) verfahrenstechnische Ersatzmodelle abgeleitet werden müssen, unabhängig von den inneren Abhängigkeiten der Ein- und Ausgangswerte – aus welchen Gründen auch immer – oder B) Prozess- oder Anlagenzustände zu analysieren sind.
Die beiden folgenden Anwendungsbeispiele aus dem Bereich A) Ersatzmodelle wurden in fünf Schritten erarbeitet:
1. Erstellung eines verfahrenstechnischen Modells (VT-Modell), mit allen benötigten Gleichungen und Stoffwerten basierend auf den naturwissenschaftlichen Grundla- gen,
2. Variation der Eingangsgrößen in das Modell innerhalb einer vorgegebenen Schwan- kungsbreite und Berechnung der jeweils gesuchten Größe (ein Ausgangskanal),
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3. Erstellung eines künstlichen neuronalen Netzes (KNN) basierend auf allen Datensät- zen, jeweils bestehend aus den variierten Eingangsgrößen und der gesuchten Größe, 4. Nochmalige Berechnung der gesuchten Größe aus den variierten Eingangsgrößen
mit dem neuronalen Netz,
5. Optimierung des Netzes (Anzahl Neuronen in der versteckten Schicht, vorgegebene Minima und Maxima, Anzahl Trainingsepochen usw.), um eine möglichst hohe Korrelation zwischen beiden Berechnungsergebnissen zu erzielen.
4.1. Ersatzmodell Dampfturbine zur Prognose der Stromproduktion
Bei Prognosen zur Energieabgabe geht es darum, die von einem Kraftwerk in den nächsten Tagen/Wochen/Monaten abgebbare Energie (normalerweise Strom) zeitlich und quantitativ möglichst genau abzuschätzen. Wesentliche Einflussfaktoren auf die Stromproduktion sind in einer thermischen Abfallbehandlungsanlage die Frischdampf- produktion in Abhängigkeit vom Durchsatz und wenn vorhanden die Prozessdampf- und/oder Fernwärmeabgabe. Die Wärmeabgabe und – sofern die Anlage mit einer Dampfturbine mit Kondensationsstufe ausgestattet ist – die Stromproduktion hängen stark von der Außentemperatur ab. Außerdem spielt es für die Wärmeabgabe eine Rolle, welcher Wochentag und welche Tageszeit es ist. Hinzu kommen ggf. Wärmespeicher, Hilfsdampfkessel, lastabhängige Verteilschienen usw. Nicht alle diese Teilsysteme lassen Tabelle 2: Steckbrief Neuronales Netz Dampfturbine
Prinzipschema
Aufgabenstellung Berechnung der Stromproduktion
Eingangsgrößen Massenstrom Frischdampf: 8 bis 20 t/h Massenstrom Entnahmedampf: 0 bis 10 t/h Druck Entnahmedampf: 8 bis 10 bar Temperatur Abdampf: 0 bis 30 °C Datensätze für das Training 10.000
Trainingsergebnis
HD Dampf Turbine
HD Stufe Turbine ND Stufe
Strom- produktion Abdampf
LUKO
Kondensat ND Dampf
ηHD > ND ηND > A
18.000 16.000 14.000 12.000 10.000 8.000 6.000 4.000 Stromproduktion kW
Jan 2 Jan 3 Jan 4 Jan 5 Jan 6 Jan 7 Jan 8 Stromproduktion VT-Modell Stromproduktion KNN
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sich für jeden Betriebszustand zufriedenstellend modellieren. Für solch ein Teilsystem kann dann der Einsatz eines neuronalen Netzes sinnvoll sein. Im hier vorgestellten Beispiel einer Entnahme-Kondensations-Dampfturbine wurde ein Modell für die Be- rechnung der Stromproduktion der Turbine basierend auf den maßgeblichen äußeren Prozessdaten erstellt. (Tabelle 2) Um das Training durchführen zu können wurde die Stromproduktion vorab auf Grundlage vorgegebener isentroper Wirkungsgrade berech- net. Das neuronale Netz kennt diese inneren Wirkungsgrade der Dampfturbine nicht.
4.2. Ersatzmodell Wärmetauscher zur Prognose der Wärmetauscherleistung
Die Leistung bzw. die übertragene Wärmemenge eines Wärmetauschers hängt von sehr vielen Faktoren ab; einerseits von geometrisch-konstruktiven Größen wie Anordnung, totale Fläche, Bauart und Abmessungen der Wärmetauscherflächen und andererseits von den Zustandsgrößen der den Wärmetauscher durchströmenden Fluide. In Fest- brennstoff-Kessel kommt dazu noch der Einfluss der Verschmutzung. Die Auslegung eines Kessels und seiner Heizflächen ist deshalb eine sehr anspruchsvolle Aufgabe, die viel Fachwissen und Erfahrung erfordert. Genauso aufwendig ist das Re-Engineering (Nachrechnung/Modellierung des existierenden Prozesses) eines bereits in Betrieb befindlichen Kessels. Wird ein Modell benötigt, mit dem sich ermitteln lässt was ein Tabelle 3: Steckbrief Neuronales Netz Wärmetauscher
Prinzipschema
Aufgabenstellung Berechnung der Dampftemperatur am Austritt
Eingangsgrößen Volumenstrom Abgas: 90.000 bis 150.000 Nm3/h Massenstrom Dampf: 30 bis 80 t/h
Temperatur Abgas am Eintritt: 530 bis 670 °C Temperatur Dampf am Eintritt: 265 bis 385 °C Sauerstoffgehalt, trocken: 6 bis 13 Vol.-%
Datensätze für das Training 10.000 Trainingsergebnis
HD Dampf
HD Sammler
Überhitzer Einspritzkühler
Abgas Überhitzer
540 520 500 480 460 440 420 400 Temperatur
°C
Jan 2018 Mar
2018 Mai
2018 Jul
2018 Sep
2018 Nov
2018 HD Dampf Temperatur Austritt VT-Modell
HD Dampf Temperatur Austritt KNN
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Kessel-Wärmetauscher unter bestimmten Voraussetzungen tatsächlich leistet – z.B. um den Einfluss einer Umbaumaßnahme besser abschätzen zu können – oder um eine be- reits bestehende Auslegung einfacher zu verifizieren – z.B. um ein Auslegungsprogramm langfristig zu verbessern – kann dafür ein neuronales Netz verwendet werden. Im hier vorgestellten Beispiel eines Abgas-Dampf-Wärmetauschers wurde ein neuronales Netz erstellt, mit dem die Dampftemperatur nach dem Wärmetauscher berechnet werden kann. (Tabelle 3) Das Modell kennt dafür die Geometrie des Dampferzeugers nicht.
4.3. Diskussion der Ergebnisse
In beiden Beispielen sind die Kurven der gesuchten Größen Stromproduktion und Dampfaustrittstemperatur quasi deckungsgleich, obwohl die Eingangsgrößen über einen sehr großen Bereich variiert wurden. Das zeigt, dass in beiden Fällen neuro- nale Netze sehr gute Ergebnisse liefern, deren Anwendung auf Messwerte also vor allem von der Qualität der Messwerte bestimmt wird, weniger vom Modell an sich.
Bild 3 zeigt die Korrelation aller Werte miteinander; die jeweils rechte Spalte enthält die Korrelationen bezogen auf die gesuchte Größe. Im Fall der Dampfturbine ist die lineare Korrelation der Stromproduktion mit R = 1,0 höher, weil hier die Frischdampfmenge die Stromproduktion deutlich dominiert (starke Einzelkorrelation mit R = 0,85). Bei dem Wärmetauscher ist die Korrelation der Dampftemperaturen mit R = 0,97 etwas geringer; der Einfluss einzelner Eingangsgrößen auf das Ergebnis ist aber auch weniger groß (max. R = 0,58) für die Abgastemperatur am Eintritt.
Abdampf Temperatur HD Dampf Massenstrom
HD Dampf Massenstrom
ND Dampf Massenstrom ND Dampf Druck Stromproduktion KNN Stromproduktion VT-Modell
ND Dampf Massenstrom ND Dampf Druck Stromproduktion KNN Stromproduktion VT-Modell
Abdampf Temperatur
1,00 1,00 0,84
0,84
0,84 0,84
0,08 0,08
0,09 0,09
0,09
0,09
0,10
0,10
0,38
0,38
0,41 0,41 0,39 0,39
0,43 0,43
0,35 0,35 0,36
0,36 0,59
0,59 0,54
0,54
0,97 0,97 0,45
0,42
0,42 0,45
-0,55 -0,55
0,46 0,34
-0,46
0,34 0,34
0,14
-0,21 -0,01
0,01 0,27 0,21 0,60
0,21
0,56 0,56
-0,66 -0,66 -0,58
-0,58 0,14
0,14 0,27
0,27 0,58 0,55 0,21 -0,43 0,05
0,58 0,55 0,43 0,27 0,60 0,05
HD Dampf Temperatur Austritt VT-Modell HD Dampf Temperatur Austritt KNN HD Dampf Temperatur Eintritt HD Dampf Massenstrom Abgas O2 trocken Abgas Volumenstrom Abgas Temperatur Eintritt
Rauchgas Temperatur Eintritt Rauchgas Volumenstrom Rauchgas O2 trocken HD Dampf Massenstrom HD Dampf Temperatur Eintritt HD Dampf Temperatur Austritt KNN HD Dampf Temperatur Austritt VT-Modell
Dampfturbine Wärmetauscher
Bild 3: Heat maps für die Gegenüberstellung der Korrelationen zwischen allen Werten Die x-y-Darstellung für die jeweils gesuchte Größe in Bild 4 zeigt dies nochmals über den gesamten Wertebereich.
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4.4. Weitere Anwendungsmöglichkeiten
Neuronale Netze lassen sich überall dort sinnvoll einsetzen, wo in einem System aus Eingangswerten reproduzierbare Ausgangswerte erzeugt werden sollen, der formel- mäßige Zusammenhang zwischen Ein- und Ausgangswerten aber unbekannt ist. Vor diesem Hintergrund weitere mögliche Anwendungen neben den oben dargestellten Ersatzmodellen sind:
• die Bereinigung von Messwerten um Schwankungen
Um kurzfristige Messwertschwankungen zu vermindern wird das neuronale Netz auf die jeweilige Abweichung von einem Mittelwert trainiert, wobei der Zeitraum für die Mittelwertbildung gerade so groß gewählt wird, dass die Schwankungen nicht mehr sichtbar sind. Im Betrieb wird der Messwert dann jeweils um diese Abweichung bereinigt.
• die Bereitstellung zusätzlicher Gütekriterien, z.B. betreffend Korrosion
Können mehrere Prozessparameter einer Korrosionsneigung zugeordnet werden, die durch eine temporär installierte Zusatzmessung festgestellt wird (Messung von Leitfähigkeiten, von Flugstaubzusammensetzungen usw.), kann diese Neigung spä- ter innerhalb der ursprünglichen Prozessbedingungen reproduziert und der Anla- genbetrieb entsprechend angepasst werden.
4.000 4.000 6.000
6.000 8.000
8.000 10.000
10.000 12.000
12.000 14.000
14.000 16.000
16.000 18.000
18.000 Stromproduktion
kW
Stromproduktion VT-Modell vs. Stromproduktion KNN
540 520 500 480 460 440 420 400 Temperatur ºC
540 520 500 480 460 440 420 400
Temperatur ºC Stromproduktion kW
Dampfturbine
HD Dampf Temperatur Austritt VT-Modell vs. Dampf Temperatur Austritt KNN
Wärmetauscher
Bild 4:
Korrelationen der Ergebnisse aus verfahrenstechnischem Modell (VT-Modell) und aus dem Ersatzmodell (KNN)
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• die Bereitstellung von alternativen Regelgrößen
Wenn sich z.B. bei einer Betriebsmittelzugabe in der Abgasreinigung punktuell durch Probenahme und/oder zusätzliche Rechnungen ermitteln lässt, wie hoch der Betriebsmittelverbrauch bei bestimmten Messwert-Kombinationen hätte sein müssen, kann dieser Verbrauch für eine Vorsteuerung verwendet werden.
• die Detektion von fehlerhaften Messstellen
Das neuronale Netz lernt in einem gesichert fehlerfreien Zeitraum, welche Mess- wertschwankungen in welcher Kombination im Normalbetrieb auftreten. Später können über einen Abgleich mit diesem Ursprungsmodell übermäßige Schwan- kungen oder Ausreißer detektiert werden.
5. Entwicklung und Implementierung neuronaler Netze
Das größte Hemmnis für die breite Anwendung neuronaler Netze im Engineering ist der Zugang zu dieser Technologie. Nur wenige Ingenieure verfügen heute über die Möglich- keit, neuronale Netze einfach zu entwickeln, zu optimieren und in eine übergeordnete Anwendung (Regelkreise, Prognosemodelle, Auslegungstools usw.) zu implementieren.
Mindest-Voraussetzungen an Software-Lösungen die diese Arbeiten unterstützen sind:
• einfacher Zugriff auf die benötigten Prozessdaten,
• einfache Konfiguration der neuronalen Netze: Werte-Minima/Maxima, Anzahl Schichten und Anzahl Neuronen pro Schicht,
• einfaches Training der neuronalen Netze: relevante Zeiträume, Anzahl Trainings- Epochen, Anzahl Testdatensätze, Einstellung der Auflösung bei ungleichmäßiger Verteilung,
• einfache Visualisierung (Trends und Korrelationen) und
• einfacher Export der Modelle in einer weiter nutzbaren Form.
Wichtig sind vor allem die letzten drei Voraussetzungen, weil je nach Aufgabenstellung mehrere Optimierungsschritte erforderlich sind bis zufriedenstellende Korrelationen erzielt werden.
Prozess/Anlage
Datenspeicher
Alarme und Meldungen (SMS, Email) Analyse
KPIs Bilanzen Phänomene
komplexe Modelle
Visualisierung Trends Fließbilder Dashboards Monitoring
und Diagnose
Bild 5:
Komponenten der Software- Lösung PI process intelligence für das Re-Engineering, Monitoring und Daten-Management von technischen Prozessen
-Sicherheit
Ein Beispiel für den weiter nutzbaren Export eines neuronalen Netzes aus der Software- Lösung PI (Bild 5, siehe auch Anwendungsbeispiel Ersatzmodell Dampfturbine) zeigt Bild 6.
Bild 6: Export eines neuronalen Netzes in eine Tabellenkalkulation
Da innerhalb des neuronalen Netzes nur mit aktivierten Neuronen-Ausgängen und den ermittelten Gewichten gerechnet wird, ist das Modell sehr einfach in andere An- wendungen übertragbar.
6. Fazit
Im vorliegenden Beitrag wird der Begriff Künstliche Intelligenz vereinfachend mit der Anwendung neuronaler Netze gleichgesetzt. Der Einsatz von neuronalen Netzen für Engineering-Aufgaben in Kraftwerken ist faszinierend. Für Ingenieure ergeben sich ganz neue Anwendungsmöglichkeiten überall dort, wo Zusammenhänge zwischen einer Vielzahl von Prozessdaten herzustellen sind. Neuronale Netze kommen dabei
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sinnvollerweise dann zum Einsatz, wenn andere Werkzeuge der Prozessdatenanalyse (Bilanzen, Modelle der Stoff- und Wärmeübertragung, empirische Ansätze, Gleich- gewichtsbedingungen usw.) nicht weiterführen oder nicht zur Verfügung stehen. Mit neuronalen Netzen ist es möglich
• Ersatzmodelle für Teilsysteme zu erstellen, die bisher nicht oder nur sehr aufwendig modelliert werden konnten, was genauere Prognosen möglich macht und
• Zustandsanalysen durchzuführen, die nicht nur einzelne Messstellen betreffen, sondern ganze Prozessabschnitte umfassen, wodurch Unregelmäßigkeiten schnel- ler gefunden werden können.
Neuronale Netze entstehen allein aus Daten aus dem Prozess. Damit stellen sie gewis- sermaßen ein Bindeglied zwischen den theoretischen Modellen und der Praxis dar;
viele Engineering-Aufgaben können genau an dieser Stelle deutlich vereinfacht werden.
Nicht nur Anlagenbetreiber, sondern alle Beteiligten dürfen deshalb erwarten, dass mit Künstlicher Intelligenz verschiedene ingenieurtechnische Problemstellungen genauer, umfassender und schneller gelöst werden können als dies bisher der Fall war.
Ansprechpartner
Dr.-Ing. Martin Horeni
solutions-ahead Schweiz GmbH Toblerplatz 5
8044 Zürich, Schweiz + 41 43545-1516
martin.horeni@solutions-ahead.ch
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar
Stephanie Thiel, Elisabeth Thomé-Kozmiensky, Peter Quicker, Alexander Gosten (Hrsg.):
Energie aus Abfall, Band 16
ISBN 978-3-944310-45-9 Thomé-Kozmiensky Verlag GmbH
Copyright: Elisabeth Thomé-Kozmiensky, M.Sc., Dr.-Ing. Stephanie Thiel Alle Rechte vorbehalten
Verlag: Thomé-Kozmiensky Verlag GmbH • Neuruppin 2019
Redaktion und Lektorat: Dr.-Ing. Stephanie Thiel, Elisabeth Thomé-Kozmiensky, M.Sc., Dr.-Ing. Olaf Holm
Erfassung und Layout: Elisabeth Thomé-Kozmiensky, M.Sc., Ginette Teske, Sarah Pietsch, Claudia Naumann-Deppe, Janin Burbott-Seidel, Roland Richter, Cordula Müller, Gabi Spiegel
Druck: Universal Medien GmbH, München
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