• Keine Ergebnisse gefunden

Mitten im Leben

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Mitten im Leben"

Copied!
67
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

EKD-Zentrum für

Mitten im Leben

Hans-Hermann Pompe

Hans-Hermann PompeMitten im Leben

Die Volkskirche, die Postmoderne und die Kunst der kreativen Mission

(2)

Inhalt

1. postmoderne: regional gültige schwerkraft . . . 10

1.1. Nachchristliches Denken . . . . 10

1.2. Wesentlich. In Gottes Geschichte verstrickt werden . . . 12

1.3. Wahrheit als Begegnung . . . 15

1.4. Die Todsünden der Postmoderne . . . 16

1.5. Offene Türen zu postmodernem Denken . . . 20

2. volkskirche als missionarisches forum . . . 22

2.1. Geistliche Krisendeutung . . . 24

2.2. Evangelische Kirche: Mission auf der Tagesordnung . . . 26

2.3. Missionarische Volkskirche: Chancen und Spannungen . . . 27

2.4. Weitsicht in Zeiten des Übergangs . . . . 35

2.5. Die vier Generationen: Eine verfasste Kirche wagt Mission . 39 2.6. Mehrwert: Regional denken . . . 45

3. kreative mission: die dna der kirche. . . 49

3.1. Begleiten, ausstrahlen, hinwenden . . . 49

3.2. Gottes Mission: Die Bewegung der Liebe . . . 51

3.3. Die drei Handlungsweisen der Mission . . . 56

3.4. Den Himmel offen halten. Spirituelle Sehnsüchte . . . 62

4. was ist gute mission? . . . 69

4.1. Beweglichkeit: Biblische Begleitmusiken . . . 70

4.2. Biotope des Glaubens. . . . 75

4.3. Vitalitätsprüfung: Die Indikatoren guter Mission . . . 78

5. wann, wenn nicht jetzt? missionarische umsetzungen . . 83

5.1. Einfach Erzählen: Die Sprachfähigkeit des Glaubens üben . . 84 5.2. „Gott der Film, die Kirche das Kino“: Menschen begleiten . .90 5.3. Haltung bitte! Sieben Kennzeichen vitaler Gemeinden . . . . 95

5.4. Beweglichkeit. Neues wagen in innovativen Aufbrüchen . 100 5.5. Wege zum Glauben: Konversionen und die Folgen. . . 105

6. raum gewinnen. region missionarisch gestalten . . . 112

6.1. Region als Gestaltungsraum . . . .112

6.2. Der Nazareth-Effekt . . . .116

6.3. Ortsgemeinde und Kirchenregion abstimmen . . . 120 Ermutigung zum Beginn

Was Sie erwartet:

Diese kurze Missions theologie für die Volkskirche in der Post- moderne stellt sich der Frage: Wie kann das Evangelium in einer zunehmend nach christlichen Gesellschaft kommuniziert werden?

Missionarische Chancen der Volkskirche und missions theologische Grundlagen für die evangelische Kirche hier und heute werden benannt. In lokaler wie regionaler Perspektive werden Kriterien guter Mission sowie konkrete Erfahrungen gelingender Mission vorgestellt.

Mitten im Leben

Hans-Hermann Pompe Die Volkskirche, die Postmoderne und die Kunst der kreativen Mission

(3)

Für eine Reise zum Glauben braucht es freundliche und offene Be- gegnungen: Mit jedem Menschen beginnt ein neuer Weg, ein an- derer Zugang, eine unverwechselbare Begegnung. Im November 2011 traf sich die EKD-Synode in Magdeburg unter dem Thema:

„Was hindert’s, dass ich Christ werde?“ – zum zweiten Mal nach 1999 zum Thema ‚Mission’. Im Plenum gab es auch Kurzstate- ments von Nicht-Christen, Suchenden, Distanzierten wie z. B. von Pavel Richter, Geschäftsführer der deutschen Wikimedia-Stiftung.

Richter erzählte vom Onkel, der Theologieprofessor in Tübingen ist, erzählte vom besten Freund, der ihn nicht als Paten wählte, weil dieser keinen Geschenkespender suchte, sondern einen Begleiter im christlichen Glauben, erzählte von bewegenden Got- tesdiensten im Berliner Dom, die er gerne besucht. Allerdings: Die Frage nach dem Christwerden komme in seinem Alltag gar nicht mehr vor, und er vermisse sie auch nicht. Irgendwie verstehe er sich – ungetauft und kein Kirchenmitglied – dennoch als Christ.

Und dann veränderte er die Frage und gab sie zurück an die Dele- gierten der EKD-Kirchen. „Was lockt mich denn, in die Kirche ein- zutreten?“ Er empfinde keine Ablehnung, ärgere sich nicht über Frühjahr 1522. Martin Luther muss früher als geplant von der

Wartburg zurück nach Wittenberg, weil etwas wirklich schief geht: Die Reformation droht wegen Übereifer zu scheitern. Wie reagiert Luther als Auslöser dieser Bewegung? Er erfindet nicht die Dienstaufsicht, er setzt keine Arbeitsgruppe ein, er feuert nicht die Verantwortlichen. Stattdessen predigt er acht Tage lang, leitet Kirche durch Verkündigung, gewinnt Menschen für eine nachhaltige Reform durch einen achtteiligen Glaubenskurs.

Gleich in der ersten dieser berühmten Invokavit-Predigten schlägt er einen missionarischen Ton an: Wer etwas vom Glau- ben verstanden hat, soll diejenigen mitnehmen, die diese Schritte noch vor sich haben. Sein Beispiel: Wenn eine Mutter ein Neuge- borenes sofort mit harter Speise füttern würde, ginge alles schief.

Zuerst muss das Baby Milch bekommen, dann Brei, dann Eier und weiche Speise, Festes erst viel später. Warum diese Geduld mit anderen? „Wir sollen nicht allein zum Himmel fahren, sondern unsere Brüder, die jetzt nicht unsere Freunde sind, mitbringen.

Würden alle Mütter ihre Kinder wegwerfen, wo wären wir geblie- ben? Lieber Bruder, wenn du genug gesäugt bist, schneide ja nicht zu schnell die Zitzen ab, sondern lass deinen Bruder auch saugen, wie du gesogen hast“.1

Wer einen Zugang zum Glauben an Christus hat, ist mit verant- wortlich für andere, die diesen Zugang noch nicht haben. Ohne die Geduld der Liebe geht das nicht. Viele Menschen brauchen Zeit, um auf den Weg des Glaubens zu kommen, sie beginnen eine lange geistliche Reise. „Wie finden Menschen zum Glauben?“

– im Durchschnitt dauert das bei uns sechs Jahre, sagt eine Studie der Uni Greifswald2. Menschen können das, was neu ist, zunächst nur in ihrem vertrauten Referenzrahmen einordnen. Alle Verän- derung braucht Zeit – und um bisheriges Denken zu verwandeln, muss es ernst genommen und begleitet werden.

1. Erste Invokavitpredigt, hier zitiert nach Luther Werke, hg. Bornkamm/

Ebeling 1, Frankfurt 1982, 273 2. Johannes Zimmer- mann/Anna-Konstanze Schröder (Hg.), Wie finden Erwachsene zum Glauben?

Einführung und Ergeb- nisse der Greifs walder Studie, Aussaat 2010, 72

(4)

Dietrich Bonhoeffer, Mitten im Leben

„Es ist mir wieder deutlich geworden, dass man Gott nicht als Lückenbüßer unserer unvollkommenen Erkenntnis figurieren lassen darf; wenn nämlich dann – was sachlich zwangsläufig ist – sich die Grenzen der Erkenntnis immer weiter heraus- schieben, wird mit ihnen auch Gott immer weiter weggescho- ben und befindet sich demgemäß auf einem fortgesetzten Rückzug. In dem, was wir erkennen, sollen wir Gott finden, nicht aber in dem, was wir nicht erkennen; nicht in den un- gelösten, sondern in den gelösten Fragen will Gott von uns begriffen sein. (…) Gott ist auch hier kein Lückenbüßer; nicht erst an den Grenzen unserer Möglichkeiten, sondern mitten im Leben muss Gott erkannt werden; im Leben und nicht erst im Sterben, in Gesundheit und Kraft und nicht erst im Leiden, im Handeln und nicht erst in der Sünde will Gott erkannt wer- den. Der Grund dafür liegt in der Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Er ist die Mitte des Lebens, und ist keineswegs ‚dazu gekommen’, um ungelöste Fragen zu beantworten.“5

„Wozu braucht die Kirche mich?“ wird mitten im Leben gefragt, verborgen dahinter ist die Frage zu ahnen: „Wozu braucht Gott mich – falls es ihn gibt und er ein Interesse an mir hat?“ Eine Frage der Stärke, nicht der Schwäche, des Interesses, nicht der Ausweglosigkeit. Gott liebt seine Menschen mitten im Leben, mit ihren Schwächen und ihren Stärken. Es heißt von dem messia- nischen Gottesknecht sowohl, dass er unsere Krankheiten und Schmerzen getragen hat, als auch, dass er die Starken zum Raube haben soll.6 Dieser Gottesknecht ist kein Lückenbüßer für offene Fragen, sondern Arzt der Kranken und Gewinner der Starken zu- gleich.

5. Dietrich Bonhoeffer, Wider- stand und Ergebung (Brief vom 29.5.44) in: DBW 8, 454f 6. Jesaja 53, 4.12

Skandale, nur: „Ich kann diese Frage nicht beantworten. Ich weiß auch nicht einmal, warum ich nicht Mitglied der Kirche werde.

Ich weiß es nicht, weil ich nicht weiß, was mich daran locken sollte … Ich brauche (…) Kirche für meinen Glauben, für mein Christsein nicht.“ So schloss er sein Votum mit der Rückfrage: „Ich frage mich und ich frage Sie, denn Sie sind die Evangelische Kir- che in Deutschland: Wofür braucht denn die Kirche mich?“3 Wofür braucht denn die Kirche mich? Eine Frage wie ein unbe- wusstes Echo auf das Vorgehen Jesu: Jesus hat Menschen nicht ihre Gottesbedürftigkeit nachgewiesen, er hat sie berufen. „Folge mir nach“ heißt doch auch: Ich brauche dich, du bist von Be- deutung, du hast Wert für Gott. Können wir den Menschen der Postmoderne sagen, wofür wir sie brauchen, weil sie nicht mehr getaufte Beitragszahler mit der Option auf Dienstleistungen an den Wendepunkten ihres Lebens sein wollen? Mitglied sein und gelebter Glaube sind ja keine Alternativen, sondern gehören un- lösbar zusammen. Kirchenmitgliedschaft ist nicht automatisch identisch mit Christsein, aber ein selbstdefiniertes Christsein außerhalb von Taufe und Kirche als Gemeinschaft hat auch wenig mit dem Leib Christi zu tun, der Menschen aufeinander verweist. Nur: Damit die Sehnsucht nach einer gelingenden Got- tesbeziehung, nach der Erfahrung lebendiger Gemeinschaft mit Schwestern und Brüdern entsteht, muss anderes passieren.

Dietrich Bonhoeffer hat – 1944 aus dem Gefängnis heraus – einen Ansatz bei den ungelösten Fragen von Wissenschaft oder von Tod, Leiden und Schuld abgelehnt. Er sagt: Menschen werden

„auch ohne Gott mit diesen Fragen fertig, und es ist einfach nicht wahr, dass nur das Christentum eine Lösung für sie hätte“(…)

„Gott ist auch hier kein Lückenbüsser; nicht erst an den Grenzen unserer Möglichkeiten, sondern mitten im Leben muss Gott er- kannt werden“.4

3. Pavel Richter, Kurz- statement, in epd-Doku 50/2011, 18–20, Zitat 20 4. Dietrich Bonhoeffer, Wider- stand und Ergebung (Brief vom 29.5.44) in: DBW 8, 455

(5)

Bis heute kann ich mich nicht entscheiden, die Neubildung ‚mis- sional’ zu verwenden7: Zu gering scheint mir der versprochene inhaltliche Fortschritt gegenüber der üblichen Sprachform ‚mis- sionarisch’, zum Teil ahne ich eine Umetikettierung, die notwen- digen innerkirchlichen Klärungen aus dem Wege gehen will. Ich stehe für die Notwendigkeit, eine missionarische Bewegung mei- ner Kirche in der Postmoderne theologisch zu begleiten. Aber ich gestehe, dass mir Label und Etiketten herzlich gleichgültig sind, sobald die Herausforderungen verstanden und die Impulse aufge- nommen werden.

Lassen Sie sich im ersten Teil mitnehmen in eine Analyse unserer postmodernen Gesellschaft: Die nachchristliche Situation ver- langt völlig neue Wege das Evangelium zu kommunizieren. Im zweiten Teil analysieren wir die missionarischen Chancen der herkömmlichen Volkskirche, ohne ihre Schwächen zu ignorieren.

Der dritte Teil bildet den theologischen Kern: Eine kurze Missions- theologie für die evangelische Kirche hier und heute. Danach stel- len wir die Qualitätsfrage: Was ist gute Mission und was nicht?

Im fünften Abschnitt finden Sie einige exemplarische Umsetzun- gen von Mission für Gemeinde und Region. Der sechste Teil zeigt Konsequenzen für eine gemeinsame Mission in der Region.

Über Ihre Reaktionen freuen wir uns. Sie finden uns unter www.zmir.de

7. Überblick bei: Martin Rep- penhagen, Auf dem Weg zu einer missionalen Kirche. Die Diskussion um eine „missio- nal church“ in den USA, BEG 17, Neukirchen-Vluyn 2011

Klärungen

Mission in der Spur Gottes stellt Menschen in Frage: Menschen der Kirche in ihren Gewohnheiten, im gewöhnlichen Gemein- dealltag, Menschen am Rande der Kirche oder außerhalb, mitten im Leben, mitten in ihren Stärken. Dieser Text fasst einiges zu- sammen, was in den letzten Jahren im Kontext des EKD-Zentrums für Mission in der Region (ZMiR) über Mission diskutiert und erarbeitet wurde. Der Inhalt wird vom Verfasser verantwortet, aber mit großem Dank für die außergewöhnliche und intensive Arbeitsgemeinschaft mit Kolleginnen und Kollegen im Team des ZMiR, mit interessierten Begleitenden aus EKD, Landeskirchen, Projekten und Beirat. Meine Kollegen Prof. Heinzpeter Hempel- mann (Schömberg) und Daniel Hörsch (Stuttgart) sowie Prof. Mi- chael Herbst (Greifswald) haben sich die Mühe gemacht, den Text kritisch gegenzulesen; für ihre Anmerkungen, Widersprüche und Ergänzungen danke ich sehr – für mögliche Fehlschlüsse sind sie keinesfalls verantwortlich.

Im Folgenden wird der Begriff ‚Mission’ als Kürzel für die liebende Zuwendung des dreieinigen Gottes zum Menschen und für den Sendungsauftrag der Kirche verwendet. Ich bin mir bewusst, dass er gesellschaftlich wie innerkirchlich durchaus umstritten ist.

Dennoch sehe ich keine sinnvolle Alternative, zumal ‚Mission’

in Wissenschaft, Wirtschaft, Medien, Beratung, Universität oder Werbung probemlos als Schlüsselwort für Auftrag, Ziel oder Fo- kus genutzt wird. Beispiele dafür begleiten als Bilder diesen Text:

Weite Teile der Gesellschaft reden längst unbefangener von ihrer jeweiligen Mission als die Kirche Jesu.

(6)

zu tun haben. Hier verläuft mit Sicherheit die missionarische Grenzlinie unserer Zeit, die uns am stärksten herausfordert.“11 Zu atheisierenden Strömungen in der Postmoderne gehören Irrelevanz (Ignoranz) und Widerstand (Aggression). Interessan- terweise herrscht Ignoranz v. a. im ehemaligen Ostdeutschland – Gott und Glaube, Kirche und Religion sind weder bekannt noch wichtig. Die Vertreter des aggressiven Atheismus kommen häufig aus dem ehemaligen Westdeutschland: Sie wollen – etwa mit der lautstark auftretenden Plattform der Giordano-Bruno-Stiftung – Kirchen und Religionen aktiv zurückdrängen12. Für die bei weitem größte Herausforderung halte ich die Irrelevanz-Sicht auf den Glauben, die sich mehrheitlich ausgebreitet hat: Sie hat kaum noch Interesse an Begegnung oder Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben. Alle Kirchen stehen vor der Herausforde- rung, das Evangelium einer desinteressierten Gesellschaft frisch und entdeckungsoffen zu sagen.

Ein distanzierter Freund ließ sich zu offenen Gottesdiensten ein- laden. Sie gefielen ihm gut, er kam bald regelmäßig. Nach einigen Gottesdiensten sagte er zu meinen Predigten: „Das ist ja gut, aber warum zitierst du immer einen Bibeltext?“ Ja, warum eigentlich?

Wir sind es gewohnt, wir wissen warum. „Das ist so üblich“ reicht nicht. Ich musste mir die Mühe machen für den Neueinsteiger verständlich zu formulieren, warum die Bibel unsere Referenz, die Begründung für alle unsere Aussagen ist. Ich habe ihm etwa so geantwortet: Diese Texte sind für uns beide Angebot und Her- ausforderung. Sie bieten uns an unser Leben mit Gott zusammen zu bringen. Deshalb verpflichten sie mich, nicht meine Gedanken auszubreiten, sondern von ihnen her Gottes Geschichte mit den Menschen zu erzählen.

11. Leslie Newbigin, Den Griechen eine Torheit, Neukirchen-Vluyn 1989, 23 12. Vgl. als Überblick über neue atheistische Bewegungen Heinzpeter Hempelmann, Der neue Atheismus und was Christen von ihm lernen können, Gießen 2010. Zur Giordano- Bruno-Stiftung dort 35ff

1. postmoderne:

regional gültige schwerkraft

Antoine de Saint-Exupery lässt seinen kleinen Prinzen einzelne Planeten besuchen, jeder ist von einer jeweils eigenen kleinen Wahrheit bewohnt. Da ist etwa ein König, der unbedingt Unter- tanen braucht. Ein Eitler, der von Bewunderung lebt. Oder ein Geschäftsmann, der die Sterne zählt, weil er glaubt sie dadurch zu besitzen8. Ein prophetisches Bild der Postmoderne: Wahrheit gilt nur individuell, sie hat regional gültige Schwerkraft. ‚Postmo- derne’ steht hier als unscharfe Chiffre9 für gravierende Aspekte der Veränderung von Kultur und Gesellschaft in der westeuropäi- schen Welt seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts. Das Ge- setz der Postmoderne heißt: Wir formen uns unsere eigene Welt- sicht, und sie basiert auf unserer Erfahrung. Was uns berührt, was sich uns als wahr erweist, gilt für uns.10

1.1. Nachchristliches Denken

Postmodernes Denken ist entstanden in nachchristlichem Kon- text und in Abwendung von der christlichen Tradition: Die westliche, v. a. die europäische Kultur meint, sie kenne das Chris- tentum und könne es hinter sich lassen, obwohl sie es gar nicht richtig kennen gelernt hat. Der Mitte der 80er Jahre nach langen Jahrzehnten in Indien zurückgekehrte Missionar und Bischof Lesslie Newbigin empfand sein Heimatland Großbritannien bis in die Wurzeln verändert. Als kultursensibler Missionar analysier- te er die ihm inzwischen fremd gewordene westeuropäische Kul- tur: „Das Ergebnis ist nicht, wie wir uns einmal einbildeten, eine säkulare Gesellschaft. Es ist eine heidnische Gesellschaft, und ihr Heidentum, erwachsen aus der Ablehnung des Christentums, ist gegenüber dem Evangelium weitaus resistenter als das vorchrist- liche Heidentum, mit dem die kulturüberschreitenden Missionen

8. Der kleine Prinz, Kapitel X–XV 9. Eine ausgeuferte Theorie- diskussion hat den Begriff schon längst wieder in Frage gestellt. In aller Unvollkom- menheit soll er hier dennoch als Platzhalter für eine veränderte geistige und welt- anschauliche Lage dienen.

10. In Anlehnung an John Finney, Wie Gemeinde über sich hinauswächst. Zukunfts- fähig evangelisieren im 21. Jahrhundert, BEGPraxis, Neukirchen-Vluyn 2007, 47ff.

Schild am Ortseingang von Otzenrath nach einem dpa-Bild aus der Westdeutschen Zeitung vom 2. 6. 2013

(7)

esse stießen in den letzten Jahre Vermächtnisse von Todkranken.

Z.B. der Bestseller des Journalisten Mitch Albom über die Besuche bei seinem sterbenskranken Lehrer Morrie Schwartz – allein die deutsche Lizenz hatte 17 Auflagen von 1997 bis 200213. Oder die Abschiedsvorlesung des krebskranken Informatikers Randie Pausch: Weltweit 14 Millionen Aufrufe für eine einstündige Vorle- sung, dazu diverse Buchausgaben14. Oder die Rede des krebskran- ken Steve Jobs 2005 vor Princeton-Absolventen – weit über 12 Mill Aufrufe bei Youtube, dazu Abdrucke in vielen Zeitungen. Keiner ist erkennbar Christ, sie vermeiden Aussagen, was nach dem Tod kommt, aber immer wieder geht es um die Frage, was das Leben erfüllt, was im Leben wirklich zählt – und dies stößt weltweit auf enormes Interesse.

Ich kann das nur deuten als eine tiefe Sehnsucht nach Wesentli- chem, als eine säkulare Spiegelung des biblischen Gedankens von der Ewigkeit, die Gott unauslöschbar in unser Herz gepflanzt hat (Pr 3,11). Letzte Wahrheiten, die von Autoritäten oder Institutio- nen verwaltet werden, sind völlig out, aber die Sehnsucht nach Bleibendem nicht. Die Dichterin Nelly Sachs sagt: „Alles beginnt mit der Sehnsucht“15.

13. Mitch Albom, Diens- tags bei Morrie. Die Lehre eines Lebens, Goldmann 14. Bei youtube unter:

pausch last lecture 15. Nelly Sachs, „Sehnsucht“

in: Nelly Sachs, Kommen- tierte Ausgabe, Band 3: Szeni- sche Dichtungen. Berlin 2011

Eigentlich sollte uns das nicht überraschen: Unsere Gesellschaft und Kultur haben ein Gefälle, die Wirklichkeit ohne Gott zu den- ken. Mehr als wir ahnen beeinflusst es uns, Kirche ohne Gott zu planen und Reform ohne Gott umzusetzen. Natürlich gibt es Andachten, Bibelarbeiten, Gottesdienste etc. Wir garnieren unse- re Leitgedanken gerne mit biblischen Texten – aber wir tun uns schwer, radikal von Gott her zu denken. Vielleicht ruft Gott des- halb zuerst die Kirchen und ihre Engagierten zur Umkehr.

1.2. Wesentlich.

In Gottes Geschichte verstrickt werden

In der Postmoderne verlieren die großen Erzählungen unserer Kultur an Einfluss, egal ob Christentum, Marxismus, Aufklärung oder soziale Marktwirtschaft. Aber die kleinen Erzählungen des Lebens werden sehr aufmerksam gehört. Ein Brandenburger De- legierter der EKD-Synode erzählte mir von seinem Weg zum Glau- ben. Sein Vater war Kommandant der Stasi-Wache in Wandlitz, er wuchs in einem privilegierten DDR-Kontext auf, zusammen mit den Kindern höchster Funktionäre. Im Studium, an der Leipziger Jurafakultät, traf er überhaupt die ersten Christinnen und Chris- ten, kam zum ersten Mal in eine Kirche, sein Interesse wuchs, er nahm an den Montagsgebeten teil. Er sagte: „Als ich 1989 mit anderen aus der Kirche auf den Leipziger Ring ging, obwohl wir wussten, dass Truppen bereit standen, das mit Waffen zu verhin- dern, da habe ich zum ersten Mal gebetet: Wenn das hier möglich ist, dann gibt es dich, Gott“. Zu seiner geistlichen Reise gehören weitere Stationen, u.a. ein pensionierter Superintendent als ge- duldiger Wegbegleiter. Die Taufe des Erwachsenen kam lange danach auf seiner geistlichen Reise hin zu Gott. Für den Glauben gewonnen wurde er durch gelingende Beziehungen und durch wesentliche Erfahrungen Gottes.

Die Frage nach Wesentlichem ist in der Postmoderne nicht ver- schwunden, sie ist nur anders da. Auf erstaunlich starkes Inter-

(8)

Der Sehnsucht der Postmoderne müssen wir Geschichten erzäh- len: Geschichten vom Scheitern ebenso wie vom Aufbruch. Ein Christ erzählt, was für ihn wirklich zählt, eine Christin von ihrer Sehnsucht nach dem Himmel? Sie werden gehört. Und lasst uns mit biblischen Geschichten beginnen: „Gut erzählte biblische Geschichten sind ein Angebot, die Welt mit Gottes Augen zu se- hen“18.

1.3. Wahrheit als Begegnung

Die Postmoderne hat die herkömmliche Wahrheit als lästige Hin- terlassenschaft aufgegeben: jede einzelne Wahrheit ist nur noch

„ein Text unter Texten in einer Welt ohne Tiefe“, sagt der Jour- nalist Thomas Assheuer am Beispiel der Kunst: „Es war der itali- enische Schriftsteller Umberto Eco, der diesen Wahrheitsbegriff in seinem Roman Im Namen der Rose beispielhaft ins Bild gesetzt hat. Was Adorno einmal die ästhetische Wahrheit nannte, das verschwand bei Eco in einem dunklen Labyrinth aus Fiktionen und Allegorien (…). Die Kunst erschien als ein Maskenball; ihre Wahrheit bestand in dem Nachweis, dass es keine Wahrheit gibt, weil sich hinter jeder Maske stets nur eine andere Maske verbirgt.

Wenn aber die Kunst weder auf Wahrheit noch auf Erkenntnis zielt, dann bleibt ihr nur eines: die Erzeugung von Emotionen.“19 Eines der postmodernen Axiome ist: Wahrheit gilt nur in Bezie- hungen – jeder allgemeine, für alle gültige Wahrheitsanspruch steht unter Ideologieverdacht. Darin liegt eine schlechte und eine gute Nachricht für die Christenheit. Schlecht: Wir sind – bis in die Grundmuster von Denken und Kirchenstruktur – auf eine Wahrheit gepolt, die zu proklamieren und anzunehmen ist. Das wirkt in der Postmoderne nicht mehr, denn sie wehrt sich gegen Absolutheiten und unhinterfragbare Institutionen. – Gut ist:

Wenn eine christliche Grundstruktur „Wahrheit als Begegnung“20 deutet, dann kann uns die Postmoderne herausfordern, den Be- ziehungsanteil der biblischen Wahrheit neu zu entdecken. Die

18. Mathias Clausen, in idea- Spektrum: Ausgabe 13.2011, 18. Sachlich ähnlich und ausführlicher in: Ders., Evangelistisch predigen im Horizont der Postmo- derne, in: M. Reppenhagen, M. Herbst (Hg): Kirche in der Postmoderne (BEG 6), Neukirchen-Vluyn 2008 19. Thomas Assheuer, ZEIT 15.9.2011 20. Ein Buchtitel von Emil Brunner

Nelly Sachs: Sehnsucht Sehnsucht

Alles beginnt mit der Sehnsucht, immer ist im Herzen Raum für mehr, für Schöneres, für Größeres.

Das ist des Menschen Größe und Not:

Sehnsucht nach Stille, nach Freundschaft und Liebe.

Und wo Sehnsucht sich erfüllt, dort bricht sie noch stärker auf.

Fing nicht auch Deine Menschwerdung, Gott, mit dieser Sehnsucht nach dem Menschen an?

So lass nun unsere Sehnsucht damit anfangen, Dich zu suchen,

und lass sie damit enden, Dich gefunden zu haben.

Kleine Erzählungen aus gelingenden Beziehungen wirken in der Postmoderne missionarischer als die vergangenen alten Erzäh- lungen der Kirchentradition wie etwa ‚Familie als Hausgemein- de’, ‚Volkskirche als Mehrheitskirche’, tradierte kirchliche Ge- wohnheiten, durchsetzbare biblische Werte für eine Gesellschaft.

Ein gemeinsamer Erzählprozess auf allen kirchlichen Ebenen und gemeinsam mit Nachbarkirchen kann die kleinen Geschichten des Alltags mit den großen Geschichten der biblischen Tradition wieder so verschränken, dass das Wort Gottes darin wirken kann.

Die verfestigten Großbegriffe der Tradition wie Sünde, Rechtfer- tigung, Schöpfung etc. „sind zu abstrakten Begriffen geworden, die in der Regel nicht mehr verstanden werden“ – sie müssen

‚zerbrechen’ um neu zur Sprache zu kommen16. Sprachfähigkeit des Glaubens entsteht im Erzählen von Gottes Geschichten in unserem Leben. Wenn Gottes Geschichte in seinen (biblischen) Geschichten gegenwärtig ist, können „die Hörer dieser Geschich- ten auch heute in Gottes Geschichte verstrickt werden“.17

16. Gunda Schneider-Flume, Grundkurs Dogmatik, 2.

Aufl. Göttingen 2008, 25 – in Aufnahme einer Denkfigur von P. Ricoeur 17. aaO. 22

(9)

ben uns z.B. gewöhnt an den Skandal, dass viele Konfirmierte aus der Gemeinde verschwinden. Sie stimmen nach der Konfirmation mit den Füßen ab, wie attraktiv sie die Gottesdienste finden, die sie vorher kennen gelernt haben.23

ó irrelevanz. Wenn es für mich keine Bedeutung hat, dann brauche ich es nicht. Die Postmoderne fragt: Was habe ich davon?

Was geht es mich an?

ó erfahrungsarmut. Was nicht erlebbar oder nachvollziehbar ist, hat einen schwächeren Stand: Erfahrung schlägt Argument.

Eine Gemeindeälteste argumentierte für das m. E. völlig unbeleg- te Konzept von Bachblüten-Medizin gegen meine Skepsis mit der unwiderlegbaren Frage: „… aber wenn es wirkt?“

ó absolute wahrheiten. Richtig und falsch haben ausgedient – wir entwickeln uns unsere eigene Ethik und brauchen dazu weder große Brüder noch Schwestern. Das Fundamentalismus- Etikett wird gerne und schnell verteilt. Aber ab wann eine Person oder ein Gedanke darunter fällt, ist immer eine Frage des Stand- punktes.

ó monokausalität. Angesichts einer immer komplexer werden- den Wirklichkeit sind alle einlinigen Antworten verdächtig, weil sie die Wirklichkeit zu verzerren drohen. Das trifft vor allem Wis- senschaft und Technik, trifft aber auch viele rationale Argumen- tationen christlicher Verkündigung, die unverzichtbar sind.

ó dekontextualisierung. Was den Kontext nicht ernst nimmt, floppt. Viele Modekonzerne jagen den aktuellsten Trends nach, um im Kontext Gewinne machen zu können. Aber nicht jeder Kontext ist allen einfach zugänglich, jeder unterliegt Zugangsbe- dingungen. Ein Erwachsener, der Jugendsprache benutzt, wirkt meist nur peinlich: Man kann sich nicht einfach in einen fremden Kontext einschleichen.

23. So ist ein beunruhigendes Ergebnis einer großen europa - weiten Konfirmandenstudie:

„Der Gottesdienst als der Ort, wo christliche Gemeinschaft ihren dichtesten Ausdruck finden sollte, wird von den befragten Konfirmanden mehrheitlich als ein Ort der Langeweile erfahren.“

Henrik Simojoki/Wolfgang Ilg/Friedrich Schweitzer, Europäische Impulse für die Konfirmandenarbeit. Empi- rische Befunde aus einer internationalen Studie, Deut- sches Pfarrerblatt, 4/2011

biblischen Worte für Wahrheit, das griechische Wort ‚aletheia’

(Enthüllung, Aufdeckung ) und das hebräische Wort ‚emet’ (erfah- rene Zuverlässigkeit, Tragfähigkeit) sind Erfahrungsworte, sind prozessual und nicht distinktiv zu verstehen. „Nach biblischem Verständnis ist Wahrheit das, was trägt, Treue, Beständigkeit, Verlässlichkeit. ‚Wahr ist, worauf man sich verlassen kann’“21. Das Deutsche kennt übrigens gar kein Verb zu ‚Wahrheit’ – deshalb ist z. B. eine hebräisch denkende Stelle im NT wie Eph 4, 15 (wörtlich:

„in Liebe wahrheiten“) im Deutschen schwer zu übersetzen.

Wahrheit ist biblisch gesehen nicht relativ, aber ‚relational’:

Gottes Wort wird Mensch voller Gnade und Wahrheit (Joh 1,14), es braucht Beziehungen (lat. Relationes), um mitgeteilt, ausge- sprochen, entdeckt, angenommen und umgesetzt zu werden. So sind die drei Selbstprädikationen Jesu in Joh 14,6 (Weg, Wahrheit, Leben) in der Postmoderne missionarisch als sich gegenseitig tragend und sich voraussetzend zu interpretieren: Es gibt keine Wahrheit ohne einen gemeinsamen Weg, keine Wahrheit, die nicht ins Leben will, es gibt keinen Weg zu Gott abgesehen von der Selbsterschließung der Wahrheit in Jesus, niemand findet zum Leben in Christus ohne gemeinsame wahrhaftige Wege. Zum wichtigen Grundelement fruchtbarer Mission in der Postmoder- ne wird die gemeinsame geistliche Reise („spiritual journey“)22: Ein Weg zum Leben als Begegnungen mit der Wahrheit in Jesus Christus, die alle Beteiligten verändert.

1.4. Die Todsünden der Postmoderne

Die Postmoderne kennt wie jede Zeitströmung bestimmte Tod- sünden, die sie kaum verzeiht. Dazu gehören

ó langeweile. In einer Zeit, die ständige Aufmerksamkeit ver- langt bei gleichzeitiger Überflutung durch Reize, Impulse und Möglichkeiten, gibt es instinktive Filter: Was mich langweilt, wird als erstes ausgefiltert, wenn ich ihm entgehen kann. Wir ha-

21. Gunda Schneider-Flume, Realismus der Barmherzig- keit. Über den christlichen Glauben, Stuttgart 2012, 24 (unter Verwendung einer Formulierung von E. Jüngel)

22. Ein Überblick zur Meta- pher der geistlichen Reise z. B. in M. Herbst (Hg.), Emmaus: Auf dem Weg des Glaubens. Handbuch, 2. Aufl.

Neukirchen-Vluyn 2006, 16-18

(10)

Was die Langeweile betrifft, so wäre nichts verloren, wenn sie in der evangelischen Kirche verschwindet; Langeweile ist – anders als etwa Liebe – kein Wert des Reiches Gottes. Und sie wider- spricht der Freude an der Entdeckung Gottes.

Übrigens: Eine offene Wehrlosigkeit, die Widersprüche und Unge- reimtheiten akzeptiert, wird in der Postmoderne meist nicht als Schwäche gedeutet, sondern als Ehrlichkeit geschätzt. Gesucht wird nicht zuerst das Gegenargument, sondern das überzeugende Leben samt allen seinen Brüchen und Fehlern. Es gibt also in einer unübersichtlichen Situation eine attraktive Ohnmacht des Glau- bens. Sie findet Gehör, weil sie nicht rechthaberisch als Verwal- terin ewiger Wahrheiten auftritt, sondern ehrlich als Begleiterin eines eigenen Weges zu Jesus Christus.

Weite und Offenheit bedeuten nicht Beliebigkeit und Unfass- barkeit. Deshalb bleibt als unersetzliche kritische Funktion des christlichen Glaubens gegenüber einer Postmoderne, die sich aus ihren Beliebigkeiten feste Burgen von unhinterfragbaren Ichs bauen will: Gottes Offenbarung ist auch für die Postmoderne eine Infragestellung aller Lebensentwürfe ohne, neben oder an Jesus Christus vorbei. Michael Welker spitzt zu: „Das Johanneswort ‚Im Hause meines Vaters sind viele Wohnungen’ (Joh 14,2) ist Aus- druck einer weit reichenden Einladung Gottes. Diese Einladung hat ihre Grenzen nicht unbedingt dort, wo manche das Heil gern monopolistisch verwaltende Kirchen sie ziehen (..). Sie besagt aber auch nicht, dass jedes selbst gebastelte religiöse Eigenheim schon im Reich Gottes gebaut ist.“25

25. Michael Welker, Gottes Offenbarung. Christologie, Neukirchen-Vluyn 2012, 53

Diese Todsünden der Postmoderne bedeuten neue Herausforde- rungen für Mission. Manche Christen erleben sie als Ohnmacht:

Alles gilt gleich – und wir stehen da mit einer absoluten Wahr- heit. Alles geht ethisch, wenn es sich rechnet – und wir reden von Grenzen, die Gottes Gebote stecken. Ist die christliche Botschaft auf dem Rückzug, nur noch mühsame Verteidigung eines gefähr- deten Deiches, aber schon lange keine Gewinnung von Neuland?

Ich wehre mich gegen solch eine Sicht: Die Postmoderne bietet genauso viel offene Türen und Kontaktpunkte wie jede andere Zeit. Die Todsünden der Postmoderne als zeitgeistige Grenzzie- hungen sind nicht kategorisch unbiblisch, sie haben Gutes wie Schlechtes an sich.

Die Bibel z. B. leistet sich an vielen Stellen durchaus Ungereimt- heiten, die ebenfalls jeder Einlinigkeit widersprechen. Das Buch Jona und das Buch Nehemia etwa, die aus einer ähnlichen Zeit stammen, geben sehr unterschiedliche Antworten auf die Frage, wie man mit Nichtglaubenden oder Fremdreligionen umgehen soll: Auf sie zugehen und unter Gottes Einladung zur Lebenswen- de Überraschungen erleben (Jona)? Oder die Identität der Ge- meinde wieder herstellen und klare Grenzen bauen (Nehemia)?

Beide Antworten haben je nach Situation ihr Recht.

Unsere Botschaft hat absolute Inhalte, unser Gottesbegriff hat monokausale Anteile. Aber wie bringen wir das einladend unter die Leute? Wer z. B. in der Postmoderne Joh. 14,6 als Aufforderung zum Gehorsam predigt („So ist es eben – glaub es oder lass es“) wird damit nichts erreichen. Wir können dieses Ich-bin-Wort aber einladend als Aufforderung zu einer geistlichen Entdeckungsreise auslegen (s. o. 1.3). Jesus als Wahrheit erschließt sich auf einem Weg – der christliche Glaube wird etwa in der Apostelgeschichte zusammengefasst als „der Weg“ beschrieben24 – und zum Leben dringt durch, wer der Wahrheit begegnet. Jesus Christus als die Wahrheit Gottes lebt unter uns, um uns das Leben zu bringen – und lädt uns ein zu einem geistlichen Weg.

24. Z. B. Apg 9,2 u.ö.

(11)

ó relevanz. Eine Schlüsselfrage der Postmoderne heißt: Was habe ich davon? Die Frage ist nicht so egoistisch, wie sie pro- testantische Christen verdächtigen, sondern sie fragt: Betrifft es mich? Nützt es mir in eine komplizierten Umwelt? Habe ich etwas davon für ein hektisches und anspruchsvolles Leben? Was mich betrifft, bekommt Zugang zu mir: Relevanz bedeutet nicht immer Verwertbarkeit (ökonomischer Faktor), sondern häufig Bedeutung und Umsetzbarkeit (Lebensnähe-Faktor). Wer fragt:

Was habe ich vom Glauben?, stellt eine biblisch legitime Frage (vgl. Mt 19, 27–30). Wir erleben eine Verschiebung der Werte – von der Wahrheit hin zur Relevanz. Wahr muss nicht einfach nur rich- tig sein, sondern auch wichtig. Und bevor wir zu schnell die Gel- tung ewiger Wahrheiten reklamieren, sollten wir wahrnehmen, dass Jesus sich um der Menschen willen oft auch für die Relevanz entschieden hat, etwa bei den Diskussionen um das Sabbatgebot.

Richtig ist, dass es ein Gebot gibt, wichtig ist aber dessen Rele- vanz für den Menschen, nicht nur der Buchstabe.27

ó erfahrung. Kann ich es erleben? Kann ich ein bisschen aus- probieren? Funktioniert es? Damit ist die Postmoderne nahe an biblischem Denken: Gott ist zuerst ein Erfahrungsbegriff und erst danach ein Wissensbegriff. Nach Joh 1,14 wohnt (wörtlich „zel- tet“) das göttliche Wort in unserer menschlichen Existenz, 1. Joh 1,1–4 redet von den sinnlichen Erfahrungen der Zeuginnen und Zeugen. Möglicherweise sind wir da mehr Kinder der Aufklärung als wir ahnen: Unsere Skepsis gegen Erfahrungen gründet in dem Abschütteln der Eierschalen des Mittelalters, weil die Neu- zeit dem Verstand zu trauen lernen musste. Aber der Verstand erreicht ebenfalls nur einen Teilaspekt der Wirklichkeit. Der be- rühmte Satz von Karl Barth „Es gibt keinen intimeren Freund des gesunden Menschenverstandes als den Heiligen Geist“28 ist zu ergänzen: der Heilige Geist ist ein ebenso intimer Freund der Er- fahrung. Die Postmoderne mit ihrer Skepsis gegen große Theorien und reine Verstandesorientierung akzeptiert die Erfahrungen der kleinen Biographien: Wer etwas erfahren hat, wird ernst genom- men.

27. Klassisch z. B im Markus 3,1–6 oder Lukas 13,10–17 28. Karl Barth, KD IV/4,31

1.5. Offene Türen zu postmodernem Denken

Wer postmodernes Denken mit dem Evangelium erreichen will, bekommt von ihm auch Unterstützung: Einige Werte sind stim- mig sowohl mit der Postmoderne wie mit einladender Verkündi- gung, sie eröffnen Zugänge zu Menschen.

ó kreativität. Was originell ist, witzig, auffällig, innovativ, wird gesucht. Wir profitieren von einer Änderung des Denkens, die in der Mitte des letzten Jahrhunderst begann. Mit der berühmten These „Jeder Mensch ist kreativ“ hat Joy Guilford, der Präsident der APA (American Psychological Association), der Kreativitäts- forschung eine Tür geöffnet.26 Kreatives Denken hat enge Berüh- rungen mit der neutestamentlichen Gabenlehre, die Menschen durch den Geist ihre persönlichen Gaben zuspricht (1. Kor 12 u.ö.).

Es berührt sich mit der biblischen Anthropologie: der Mensch ist nach Gen 1,27 Ebenbild des Schöpfers (lat.: creator). Wer kreativ verkündigt, bekommt mehr Aufmerksamkeit als jemand, der nur Richtigkeiten wiederholt oder Banalitäten aufreiht. Als Predigthö- rer ertappe ich mich manchmal bei dem Gedanken: Darauf wären wir auch ohne dich gekommen, aber was ist das Besondere des Textes? Wir glauben an den Kreativen schlechthin, an den Schöp- fer – seine Kreativität darf sich in unserer spiegeln.

ó humor. Humor ist eine klassische Form der Relativierung, der Versuch mit Absolutheiten in einem begrenzten Alltag umzuge- hen. Witz oder Humor öffnen Emotionen und den Verstand, ich kenne kaum einen besseren Türöffner. Ich leide unter jedem ver- kniffenen Christenmenschen, der in Talkshows verbiestert Werte verteidigt: Möglicherweise hat er Recht, aber er gewinnt damit niemanden. Selbstironie wirkt als Selbstrelativierung absolut ge- winnend: Wer die Grenzen seiner eigene Erkenntnis ahnt (1. Kor 13,9), überlässt letzte Wahrheiten getrost dem Einen, der allein die Wahrheit ist.

26. Den Hinweis verdanke ich den Mainzer Kreati- vitätsforschern Prof. Dr.

Jörg Mehlhorn und Prof.

Dr. Ulrich Kroppenberg

(12)

und Bewahrung, Ortsgemeinden und freie Initiativen, synodale Kirchenleitung und kleine Gruppen können sich wechselseitig als Erscheinungsformen der einen Kirche Jesu wertschätzen, weil sie sich jeweils auch benötigen.

Damit wird die sichtbare Kirche nicht nebensächlich, denn sie bil- det den ‚irdischen Raum’ für die Gemeinschaft der Heiligen. Wil- fried Härle argumentiert30: Die Bekenntnisse der evangelischen Tradition unterscheiden zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche, ohne das Sichtbare der Kirche (wie Feiern, Texte, Personen, Zeiten und Räume oder Ordnungen wie Berufung und Visitation) gering zu schätzen. Das ‚leibliche Wort’, also Evangelium und Sa- kramente (CA VII) als äußere Kennzeichen sind notwendig, damit Glaube und Kirchen entstehen können. Diese äußeren Kennzei- chen beziehen sich auf die sichtbare Kirche. Sie „dienen nicht dazu, die sichtbare von der verborgenen Kirche zu unterscheiden, sondern dazu, die rechte, d. h. evangeliumsgemäße Kirche von der falschen, d. h. evangeliumswidrigen ‚Kirche’ zu unterscheiden“.31

„Die sichtbare Kirche umfasst und enthält also all das, was not- wendig ist, damit in unserer Welt und Zeit die verborgene Kirche als die Gemeinschaft der Glaubenden entstehen und erhalten werden kann.“32

Ohne die sichtbare Kirche also auch keine verborgene Kirche:

„Aus dem Wesen der geglaubten, verborgenen Kirche als ‚Ge- meinschaft der Heiligen’ (..) folgt die rechte Gestalt der sichtbaren Kirche, die eine (zwar für sich genommen nicht hinreichende, aber) notwendige Bedingung für die Existenz der verborgenen Kirche ist. Sie bildet den ‚irdischen Raum’ der communio sanc- torum, und zwar keinen leeren oder lediglich durch Menschen erfüllten Raum, sondern den durch Zeichen des Evangeliums und des Glaubens erfüllten Raum, in dem die geglaubte Kirche ent- steht, wächst, lebt und sich entwickelt.“33

30. Wilfried Härle, Creatura Evangelii. Die Konstitution der Kirche durch Gottes Offenbarung nach lutheri- scher Lehre, in: Eilert Herms/

Lubomir Zak (Hg), Grund und Gegenstand des Glaubens nach römisch-katholischer und evangelisch-lutherischer Lehre. Theologische Studien, Tübingen 2008, S. 482-502.

Mit der Formel ‚irdischer Raum’ nimmt Härle auf: H.-P.

Großhans, Die Kirche – irdi- scher Raum der Wahrheit des Evangeliums, Leipzig 2003 31. aaO 495

32. W. Härle, Kirche nach lutherischem Verständnis (Lemgo, 22. April 2013). Zit.

nach https://lippe-lutherisch.

de/wissenswert/news/

vortrag-haerle/2013/04/23 33. Härle aaO 7f

2. volkskirche als missionarisches forum

Die Spannung zwischen der vorfindlichen institutionellen Kir- che, etwa in Struktur und Ordnung der Landeskirchen, und den charismatischen Gemeinden der neutestamentlichen Zeugnisse (ekklesia), zwischen den Kirchen als Organisation und den in und neben ihnen stattfindenden Aufbrüchen geistlicher Bewegungen spiegelt eine Herausforderung, die die christliche Kirche seit ih- ren ersten Tagen begleitet. Sie relativiert die zeitgebundene Form der vorfindlichen Kirchen, weil das Reich Gottes weiter ist als jede Kirche, und sie nimmt zugleich geschichtlich entwickelte Formen ernst, weil Gott sich in der vorhandenen Widersprüchlichkeit der sichtbaren Kirche Jesu Christi schenken will. Es gibt deshalb im Rahmen der verfassten Kirche keine fruchtbare Kirchenkritik ohne Solidarität mit der vorhandenen Kirche – und keinen Traum von einer anderen Kirche, der nicht auch die Reform der vorhan- denen für möglich und sinnvoll hält.

Bis heute geben die charismatischen Gemeinden der neutesta- mentlichen Zeit in all ihrer Unterschiedlichkeit die DNA jeder Kirchenreform vor: Sie haben dem Geist Gottes Raum gelassen, die Gaben vieler integriert und im Rückblick auf die Schätze der Überlieferung gefragt, wo diese neu interpretiert oder wo sie zurückgelassen werden müssen. Hans-Joachim Kraus hat bereits 1975 vorgeschlagen, die institutionelle Kirche als „Form und Er- möglichungsgrund für das Ereignis charismatischer Gemeinde“

zu verstehen: „Die institutionelle Kirche ist geradezu das missio- narische Forum, in dem und aus dem ekklesia werden kann. Sie ist das Kontinuum, in dem – oder in dessen Nachbarschaft – cha- rismatische Gemeinde sich ereignen kann. In ihr wird Tradition bewahrt, aktualisiert und weitergegeben, eine organisatorische Verbindung der Gemeinden vollzogen und eine ökumenische Zusammenarbeit der Kirchen versucht“.29 Mit der Formel institu- tionelle Kirche als missionarisches Forum können falsche Alterna- tiven vermieden werden: Tradition und Aufbruch, Neugestaltung

29. Hans-Joachim Kraus, Reich Gottes:

Reich der Freiheit. Grundriss systematischer Theologie, Neukirchen-Vluyn 1975, 376.

(13)

ist noch zersetzender: Wir selber sind schuld. Wir haben nicht ge- nug gebetet, gepredigt, geliebt. Hätten wir effektiver strukturiert, härter gearbeitet, klarer geglaubt, wären wir noch ein christliches Land und die Kirchen voll. Aber mit der Selbstanklage zersetzt die Säure der Hoffnungslosigkeit das Herz der Kirche. Sie verklärt die Vergangenheit zum goldenen Zeitalter, sie übersieht alles aufbre- chende Hoffnungsvolle – und sie blickt mehr auf die Kirche als auf Jesus. Als hätte es nicht globale Veränderungen und enorme Umbrüche gegeben, als seien der Wind und der Sturm auf dem See Genezaret die Schuld der Jünger im Boot.

Für viel überzeugender hält Croft die andere Deutung der Kir- chenkrise: die Kirche Jesu geht genau wie die gesamte Gesell- schaft durch einen ungeheuren Wandel („change“). Wir durch- schauen ihn nur ansatzweise, aber er hat Auswirkungen auf jeden Teil unserer Gesellschaft, auf jede Gemeinde und auf die Kirche als Ganze. Die Deutung ‚Wandel’ ist nicht blind für kirch- liches Versagen, aber sie führt zu einer anderen Bewegung. Sie sucht nach einem Weg in die Zukunft, sie motiviert dazu, sich ge- genseitig zu unterstützen, sie lässt uns nach hilfreichen Lösungen in der Schrift, in der Kirchengeschichte oder in anderen Kirchen suchen. Die Deutung ‚Wandel’ fragt nach der Inspiration für den Kern unseres Glaubens, sucht nach einem von Gott gewiesenen Aufbruch in die Zukunft.

Croft warnt: Jedes Denken, das uns zu Rettern der Kirche ernennt, ist gefährlich, wir können das nicht, wir verheben uns gewaltig.

Es führt zu einer schleichenden Resignation des Versagens, als könnten wir nur immer weiter herunter kürzen und der letzte mache dann das Licht aus. Die Deutung ‚Wandel’ hat andere Folgen: sie entwindet uns viele der bisherigen Antworten, damit wir neu nach Gottes Absichten fragen, neu seinen Geist erbitten, neue Schläuche für neuen Wein finden. Herkömmliche Antwor- ten müssen häufiger als früher auf den Prüfstand: Nicht alle sind falsch, aber eine geistliche Krisendeutung darf sich nicht auf den Antworten von gestern ausruhen.

2.1. Geistliche Krisendeutung

Die evangelischen Kirchen und Gemeinden stecken seit Jahren in einem Umgestaltungsprozess, der die Verhältnisse von Organisa- tion und Bewegung, von Leitungsverantwortung und Basis, von Theologie und Praxis, von Veränderung und Bewahrung durch- einander wirbeln und neu ausrichten wird. Wolfgang Huber hat als Bischof von Berlin-Brandenburg die Orientierungskrise als die zentrale Krise der evangelischen Kirche bezeichnet. Orientierung (aus dem Lateinischen) meint: „Ausrichtung nach Osten, zum Ort der Kreuzigung und Auferweckung Jesu, also Ausrichtung auf den Ursprung und Kern des Glaubens“.34 Der Ansatzpunkt für die Erneu- erung der Kirche liegt für Huber darin, dass sie ihre eigene Botschaft wieder ernst nimmt. Diese Orientierungskrise spiegelt sich auch in heftigen Diskussionen über die vorgeschlagenen oder begonnenen Reformen, vor denen alle Verantwortlichen sich befinden. Niemand weiß schon präzise, wohin es geht und wo die sinnvollen Schwer- punkte zu legen sind, vieles ist eher tastend und versuchend – all dies sind klassische Zeichen einer längeren Übergangsphase.

Steven Croft war, bevor er Bischof von Sheffield wurde, einer der größten anglikanischen Diözesen in England, verantwortlich für den gemeinsamen missionarischen Prozess der Church of Eng- land. Er sagt, seine Kirche habe im Grunde zwei konkurrierende Deutungen ihrer Kirchenkrise („two narratives“35).

Die eine redet von Versagen, Scheitern, Versäumnissen („fai- lure“): Wir tragen die Verantwortung für den Abbruch, für ab- nehmende Zahlen und sinkenden gesellschaftlichen Einfluss.

Diskutiert wird bei dieser Deutung nur noch, wer an dem Ver- sagen schuld ist. Variante A sagt: Die Anderen in der Kirche. Die Kirchenleitungen, die Liberalen, die Evangelikalen. Wären wir nicht so lax und indifferent, sähe die Kirche anders aus. Oder umgekehrt: Wären wir nur endlich toleranter und offener. Diese Variante hat nur wachsende Zersplitterung zur Folge: Wir werfen anderen die Lage unserer Kirche vor. Variante B dieser Deutung

34. W. Huber, Kirche in der Zeitenwende, TB-Ausgabe, Gütersloh 2000, 13 und 264.

35. Steven Croft, Jesus People, London 2009, 2–7.

Deutsch: Steven Croft, Format Jesus. Unterwegs zu einer neuen Kirche, Neukirchen-Vluyn 2012, 14–19

(14)

Welt und Selbstorganisation. Aus der Auswertung der Diskus- sion in den Landeskirchen entstanden Prioritäten, die zu einer Zukunftswerkstatt aller Landeskirchen (Kassel 2009) sowie der Einrichtung von EKD-Reformzentren zu den Reformprioritäten Gottesdienst und Predigt, Mission in der Region und Leitung führ- ten. 37

Die EKD-Synode im Magdeburg 2011 fragte: „Was hindert’s, dass ich Christ werde?“ Dieses Thema mit deutlichem Anklang an die Tauffrage des Schatzmeisters aus Apg 8,36 sagt viel über den Paradigmenwechsel: Wir dürfen nicht nur Mission wieder ins Zentrum der Diskussion bringen, wir dürfen nicht nur für eine einladende und attraktive Kirche arbeiten, – wir dürfen auch zum Christwerden, zum Glauben an den in Jesus zu uns gekommenen Gott einladen.

Natürlich ist damit noch kein flächendeckendes missionarisches Handeln geschaffen, es gibt genauso viel Baustellen wie vor 20 Jahren, längst nicht alle stimmen mit dieser Akzentuierung über- ein, und Synodenbeschlüsse sagen wenig über die Lage an der Basis. Der Missionspraktiker Klaus Teschner hat schon um 2000 gespottet: „Die Papierlage der Mission war noch nie so gut“, also gilt der alte Satz des Fußball-Trainers Adi Preißler auch für Missi- on: „Grau is alle Theorie – entscheidend is auf’m Platz“.

2.3. Missionarische Volkskirche:

Chancen und Spannungen

Volkskirche als eine große Teile der Bevölkerung umfassende Kirche gibt es so schon lange nicht mehr. In den östlichen, früher weitgehend evangelischen Bundesländern gehören nur noch rund 20% der Bevölkerung zur evangelischen Kirche. In den west- lichen Bundesländern liegt der Anteil z. T. höher, aber Großstädte wie Hamburg, Frankfurt oder Stuttgart zeigen die Tendenz: Der Anteil der Evangelischen sinkt, v.a. durch den demographischen

37. Das Zentrum für Qualitäts entwicklung im Gottesdienst (Hildesheim), das Zentrum für evangeli- sche Predigtkultur (Witten- berg) sowie das Zentrum für Mission in der Region (ZMiR Dortmund, Stuttgart, Greifswald). Ein Zentrum für Leitung wurde erst 2012 im Kontext der Führungsakade- mie für Kirche und Diakonie in Berlin (FAKD) gestartet.

2.2. Evangelische Kirche:

Mission auf der Tagesordnung

Zweimal in den letzten Jahren hat sich die EKD-Synode als Parla- ment der evangelischen Kirche mit Mission beschäftigt, 1999 in Leipzig und 2011 in Magdeburg. Dazwischen begann der Reform- prozess der EKD, ausgelöst durch das Impulspapier des Rates „Kir- che der Freiheit“.

Die Synode 1999 hat das Thema Mission wirkungsvoll auf die Agenden der evangelischen Kirche gesetzt36. In Leipzig gab es eine bewusst elementare Zusammenfassung des Evangeliums in drei kurzen Gedanken: „Du bist ein wunderbares Wesen – du bist nicht verloren – du bist zur Freiheit befreit“. Daneben stand die Absicht: „Kirche will wachsen“, und es gab die Suche nach einer

„Mission in Demut und Lernbereitschaft“. Die Synode setzte das Glaubensthema und den missionarischen Auftrag an die erste Stelle, als Mission in Vielfalt, Kooperation und gegenseitiger Er- gänzung. – Eine Schlüsselrolle für die theologische Begründung von Mission und Evangelisation spielte das begleitende Grund- satzreferat von dem Tübinger Theologen Prof. Dr. Eberhard Jün- gel.

Das Impulspapier des Rates der EKD „Kirche der Freiheit“ (2006) fragte: Können wir uns erlauben, einfach weiter wie bisher zu machen? Ohne aktiven Umbau, Neugestaltung und Zukunftsin- vestition wären das Schrumpfen und die Marginalisierung der evangelischen Kirche absehbar, weil ihr die Gestaltungsfähig- keit sowie die Möglichkeit genommen sind, ihre Grundaufga- ben zu erledigen. Kirche der Freiheit will deshalb Reform unter vier Zielen: geistliche Profilierung statt undeutlicher Aktivität, Schwerpunktsetzung statt Vollständigkeit, Beweglichkeit in den Formen statt Klammern an Strukturen, Außenorientierung statt Selbstgenügsamkeit. Am heftigsten diskutiert wurden die Hand- lungsperspektiven der zwölf Leuchtfeuer in den vier kirchlichen Handlungsfeldern Kernangebote, Mitarbeitende, Handeln in der

36. Reden von Gott in der Welt. Der missionarische Auftrag der Kirche, hg. vom Kirchenamt der EKD im Auftrag des Präsidiums der Synode, Frankfurt 2000 Wolfgang Huber hat als

Ratsvorsitzender den Reformprozess angestoßen.

Foto: ekd.de

(15)

Austrittsstandby sind, neuerlich an die Urgratifikation des Evan- geliums und auf diesem Weg an die Kirche als Gemeinschaft des Evangeliums zu binden“43. So sehr jeder Abbau von Irritationen notwendig ist: „Es braucht vor allem rasch eine Stärkung der Gra- tifikationen“, bisher hat man „nur wenig getan, um frei wählbare Bindungen zu fördern“.44 Das bestätigen die Untersuchungen der Motive von Eintretenden in Deutschland: Sie wollen „wieder zur Kirche dazugehören“, v.a. wenn die Kirche mehr auf die Men- schen zugeht und wenn bei konkreten Anlässen (wie z.B. Kasua- lien) die „konkrete Lebensgeschichte und der Schatz überlieferter Glaubenserfahrungen miteinander in Berührung“ kommen.45

‚Volkskirche’ als Verkündigerin der Ur-Gratifikation behält auch als Minderheitskirche bleibend ihren Auftrag als Kirche für das Volk, Kirche durch das Volk und Kirche im Volk: Sie soll die Bot- schaft von der freien Gnade Gottes ausrichten an alles Volk46. Darin liegt zugleich ihre Freiheit: Jede Kirche muss in diesem Sinn Volkskirche sein wollen – oder sie verleugnet ihren Auftrag, die große Freude auszubreiten, die seit Weihnachten allem Volk ver- heißen ist (Luk 2,10). Die Evangelische Kirche würde dem Evan- gelium untreu, zöge sie sich zurück auf Inseln noch vorhandener Kirchlichkeit, ohne ihren Auftrag an alles Volk ernst zu nehmen.

43. Zulehner 47f 44. Zulehner 49

45. Michael Wohlers, Kirchen- eintritt: Motive, Anlässe, Aus- wirkungen, in: J. Hermelink/T.

Latzel (Hg), Werkbuch Kirche empirisch, Gütersloh 2008, 117ff, Zitat 122.

46. So die VI. These der Barmer Theologischen Erklärung.

Wandel, aber auch durch Austritte oder durch stärkeren Zuzug aus nichtevangelischen Ländern. Die einzigen direkt beeinfluss- baren Faktoren dabei sind die Motivationen der Menschen, die zum Austritt tendieren sowie der Ausgetretenen, die über eine Rückkehr zur Kirche nachdenken. Die evangelische Kirche zu ver- lassen hat viele Ursachen, aber drei Motive dominieren immer wieder: Die fehlende Lebensrelevanz von Kirche und Glaube, die Einstellung, Glauben ist auch ohne Kirche möglich sowie das Ein- sparen der Kirchensteuer.38

Der Wiener Theologe Paul Zulehner fokussiert als Ergebnis einer landesweiten Studie in Österreich den Zusammenhang zwischen Kirchenaustritt und Kirche unter dem Thema ‚Lebenshilfe’: „Wer an Kirchenaustritt denkt und dennoch bleibt, den motiviert die Kirche als Lebenshilfe (40%) deutlich mehr als den, der geht (20%).“ Der Schlüssel für die Kirchenmitgliedschaft ist „eine posi- tive Beziehung zwischen Kirche und Leben“39. Trennend wirken

‚Irritationen’ wie „So wie die Kirche heute ausschaut, ist sie keine Hilfe für mein Leben“, „die christlichen Großkirchen stehen mehr für Macht denn für Heil“ oder „die Kirche hütet ihr eigenes Ver- mögen, anstatt sich um Notleidende zu kümmern“.40 Bindend wirken ‚Gratifikationen’ (ein Wortspiel Zulehners mit ‚gratia’, Gnade), also gute Erfahrungen, die sich auf Gott, den Glauben, die Religion sowie die Kirche beziehen, wie z.B. „ich glaube, dass es einen Gott gibt, denn irgendjemand muss die Welt erschaffen haben“ oder „ohne die christlichen Kirchen wäre unser Land sozi- al ärmer“.41

Diese Untersuchung zeigt: Mitgliedschaft ist am stabilsten „bei denen, die starke Gratifikationen und kaum Irritationen erle- ben“. Zunehmende Irritationen können die „austritthemmende Wirkung der Bindungskräfte untergraben“, die Tendenz zum Austritt steigt v.a. bei denen, die weder Irritation noch Gratifika- tion spüren, also kann „das Fehlen von Gratifikation allein schon austrittsbereit machen“42. Zulehner lenkt den Blick auf „vermeid- bare“ Kirchenaustritte, wenn es gelingt, „Personen, die schon im

38. Ein schneller Über- blick bei Jan Hermelink, Kirchenaustritt:

Bedingungen, Begründungen, Handlungsoptionen, in:

J. Hermelink/T. Latzel (Hg), Werkbuch Kirche empirisch, Gütersloh 2008, 95ff 39. Paul M. Zulehner, „Seht her, nun mache ich etwas Neues“. Wohin die Kirchen sich wandeln müssen, Ostfildern 2011, 25 40. Zulehner, aaO 27.

41. Zulehner aaO 26.

42. aaO 28. Zulehner fragt in dem Zusammenhang an, ob „die weit modernitäts- verträglichere Evangelische Kirche“ mit ihren ebenfalls hohen Austrittszahlen hier die Ursache für Kirchenaus- tritte noch klarer ans Licht bringt: „den Mangel an attraktiven Bindungskräften, also an ‚Gratifikationen’, und das gerade unter den Bedingungen modernen Lebens“ (47). Zugleich weist er darauf hin, dass die Urgra- tifikation der Liebe Gottes in Jesus Christus irritierend bleiben wird: Wer sich dem Evangelium aussetzt, begibt sich in die ‚Gottesgefahr’

der Veränderung (49–52).

Aus der Homepage der bayrischen Landeskirche

(16)

Mission und Volkskirche bilden eine spannungsvolle Nachbar- schaft. Zu lange sind diese Begriffe als Alternativen verstanden worden, aber sie können wechselseitig füreinander hilfreich sein.

Mission erinnert Volkskirche an ihren Auftrag (Frage-Funktion), Volkskirche bewahrt Mission vor Irrelevanz (Erdungs-Funktion).

So haben mehrere Landeskirchen begonnen ihren Weg in die Zukunft als ‚missionarische Volkskirche’ unter beide Begriffe zu stellen47. Die Vision solch einer Kombination ist die gegenseitige Befruchtung der Begriffe. „Missionarische Volkskirche“ ermög- licht eine Doppelbewegung: Wir können einerseits die ‚alten’

Möglichkeiten der Volkskirche missionarisch nutzen, andererseits den Umbau zur Zukunftsgestalt der Kirche parallel vorantreiben, ihre Chancen nutzen, können ihre Spannungen weiterentwickeln statt sie theologisch zu verklären.

Zu den Chancen der Volkskirche zähle ich

ó menschennähe. Mit Kasualien, Diakonie und grundlegenden Angeboten wie Kindergärten erreicht die Volkskirche eine Fülle von distanzierten und suchenden Menschen, ebenfalls mit den Angeboten des Kirchenjahres (z. B. Weihnachten).

ó öffentlichkeitsrelevanz. Die Evangelische Kirche hat erheb- liche Kommunikationsmöglichkeiten, sie wird anders wahrge- nommen und gehört als z.B. ein Verbund unabhängiger örtlicher Gemeinden.

ó „ansprechende indirektheit“48 als Einladung zum Glauben:

Das regelmäßige Gotteslob, die präsenten Kirchengebäude als ar- chitektonische Hinweise auf Gott, christliche Schulen, der Sonn- tag als Atempause der Schöpfung, christliche Kultur etc.

ó Pluralität als gewinnende offenheit: Menschen sind willkom- men, müssen weder am Eingang Bekenntnisse ablegen noch sich für ihre Distanziertheit entschuldigen. Ich erlebe in der Begeg- nung mit Suchenden, dass sie zu einer geistlichen Reise bereit sind, wenn Fragen und Zweifel erlaubt sind.

47. Z.B. die Evangelische Kirche im Rheinland, vgl. den Synodenbeschluss 2010 „Mis- sionarisch Volkskirche sein“, unter http://www.ekir.de/

www/service/missionarisch- volkskirche-sein-10730.php.

Ähnliche Formulierungen auch in anderen Landes- kirchen, vgl. den Überblick bei Hans-Hermann Pompe, Die Leute holen. Missio- narische Prozesse in den Landes kirchen seit 2000, in:

Lesebuch zur Vorbereitung auf das Schwerpunktthema

„Was hindert’s, dass ich Christ werde?“ (EKD-Synode 2011), 87ff, unter: http://

ekd.de/synode2011/schwer- punktthema/index.html 48. Eine Formulierung von Eberhard Jüngel bei der EKD-Synode Leipzig 1999, in: Reden von Gott in der Welt. Der missionarische Auftrag der Kirche, hg. vom Kirchenamt der EKD im Auftrag des Präsidiums der Synode, Frankfurt 2000, 31ff

(17)

den objektiven und inhaltlichen Glauben „geradezu systematisch verdrängt“50. Verloren geht die Erkenntnis, „dass wir uns mit unserer Moral alleine nicht schützen können gegen ideologische und andere Bedrohungen“.51

ó Fehlendes kirchengefühl. Weitverbreitet ist die Meinung:

„Wozu braucht ein Protestant die Gemeinde oder die Kirche?

Ich kann doch so glauben“. Gelegentlich wird dies sogar theolo- gisch noch als Ausweis evangelischer Freiheit legitimiert. Dieser

‚folgen schwere Irrtum’ ignoriert, dass Glaube von der Gemein- schaft lebt und sich in praktizierter Solidarität zeigt.52

Der Soziologe Michael Ebertz hat für katholische Kirche Blocka- den analysiert53 – manche sind spezifisch römisch-katholisch, andere gelten auch für die evangelische Kirche, z. B.

ó kurzschluss: Wir wollen alle erreichen, aber wir tun das im Wesentlichen mit einem einzigen Format, der klassischen Ortsge- meinde.

ó binnenorientierung: Wir werden eh weniger, also lieber den Rest sammeln als den Sendungsauftrag neu hören.

ó milieukonflikte: Die ‚Stammkunden’ wollen, dass alles weiter so gemacht wird wie sie es gewohnt sind. Ihre Innovationsresis- tenz lässt wenig Raum für neue Wege.

Ebertz nennt weitere Blockaden: die zunehmende Komplexität oder die Rekrutierung der Führungskräfte der Kirche aus wenigen Milieus. Heinzpeter Hempelmann zählt zu solchen Rezeptions- blockaden auch

50. Michael Welker, Selbst-Säkularisierung und Selbst-Banalisierung, brennpunkt gemeinde 1/2001,15–21 (17). Ähnlich über die fatalen Folgen einer neuprotestantischen Sub- jektivierung des Glaubens in: Michael Welker, Gottes Offenbarung. Christologie, Neukirchen-Vluyn 2012, 44f 51. Welker aaO 19.

52. Huber, aaO 251f 53. M. Ebertz, Umsetzungs- blockaden, in: Milieusensible Kirche. Dokumentation des Fachgespräches am 18/19.6.2012, zmir:doku 3–12, Dortmund 2012, 7–10

Zu den Spannungen der Volkskirche zähle ich

ó den mitgliedschaftsbegriff. Wer getauft ist und seine Kirchen- steuer bezahlt, ist dabei – der ‚Anspruch des Evangeliums’ stört dabei möglicherweise. Sind dies wirklich die einzigen bzw. sind es die wichtigsten Messgrößen? Ökumenische Partnerkirchen etwa fragen zuerst nach Gottesdienst oder Beteiligung.

ó Kasualien und nachfolge. Wir schätzen Taufe als Zuspruch der bedingungslosen Gnade zu Recht. Aber viele Verantwortliche ken- nen das beunruhigende Gefühl nach dem Taufgespräch, wenn ein Taufvater christliche Erziehung verspricht, die für ihn mög- licherweise ein Fremdwort geblieben ist. Wir stellen ein Paar bei der Trauung unter den Segen Gottes, aber trotz aller Mühe blieb ihnen häufig verborgen, was die Trauung nun – abgesehen von Kirche, Kleid und Blumenkinder – vom Standesamt unterscheidet.

ó Pluralität als indifferenz. Öffentlich wird das oft so wahrge- nommen: Katholische Positionen sind zwar von vorgestern, aber klar. Evangelisch heißt: Sehr zeitnah, aber alles ist möglich und sehr wenig eindeutig.

Die evangelische Kirche leidet unter Krisen-Symptomen, die seit längerem unter bestimmten Schlüsselworten diskutiert werden.

ó selbstsäkularisierung. Wolfgang Huber argumentiert: Die evangelische Kirche hat „auf den Prozess gesellschaftlicher Differenzierung mit einer entsprechenden Differenzierung der kirchlichen Tätigkeiten geantwortet; dadurch hat sie die gesell- schaftliche Säkularisierung in gewissem Umfang als Selbstsäku- larisierung in sich aufgenommen“.49 Die Folge: Wir drohen uns in der Kernkompetenz, dem Reden von Gott, überflüssig zu machen.

ó selbstbanalisierung. Man kann „evangelisch töpfern“ oder eine Tagung über „die Theologie des Tautropfens“ buchen, aber wie relevant für die Menschen sind wir wirklich? Kirchliche Selbstbanalisierung ist nach Michael Welker eine direkte Folge einer Reduktion des Glaubens „auf Innerlichkeit und Gefühl“, die

49. Wolfgang Huber, Kirche in der Zeitenwende.

Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung der Kirche, Gütersloh 1999, 10

(18)

2.4. Weitsicht in Zeiten des Übergangs

Zeiten des Übergangs in der Kirche sind gekennzeichnet von Un- sicherheiten: Altes ist noch vorhanden, parallel bricht Neues auf.

Aus Gewohnheiten werden Suchbewegungen, sichere Routinen laufen leer, ohne sofort von neuen Routinen abgelöst zu werden.

Fragen nehmen zu, eine Fülle möglicher Antworten verwirrt mehr als dass sie hilft. Menschen reagieren unterschiedlich: Man- che sehnen sich zurück nach dem Herkömmlichen und halten am Alten fest, andere verlieren den Boden unter den Füßen und stür- zen in Verwirrung, einige nehmen den Wandel an und beginnen ihn zu gestalten.

Zeiten des Übergang sind gekennzeichnet durch eine Gleichzei- tigkeit des Ungleichzeitigen: Widersprüchliche Themen, Verhal- tensmuster, Erfahrungen und Werte existieren parallel, Kirchen- leitung kann nur schrittweise reagieren, fördern oder zulassen, unterschiedliche Propheten reklamieren widersprüchliche Lö- sungen. Es kommt zu einer Art von toleranter Marktsituation, die dem Wirken des Geistes Gottes überlässt, was sich als zukunfts- fähig erweisen wird. Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in der Evangelischen Kirche bedeutet z.B.

ó parallele ekklesiologien. Evangelische Kirche wird in ihren Formen und Farben noch vielfältiger, sie wird in der Region sehr unterschiedliche Profile von Gemeinden anbieten. Der Osnabrü- cker Landessuperintendent Burghard Krause etwa sieht neben- einander „die pastoral versorgte Betreuungskirche und die von ehrenamtlichem Engagement geprägte Beteiligungskirche“, die den Mut zu einer ‚doppelten Ekklesiologie“ erfordern. Es wird regional unterschiedliche Mischformen von Versorgung und Betreuung geben. Allerdings ist jedes Nebeneinander eine Gestal- tungsaufgabe: „Mit Fantasie und Entschiedenheit muss (…) an der Verbreiterung von Korridoren zwischen der Versorgungs- und der Beteiligungskirche gearbeitet werden. Wie kann es geschehen, dass aus nur Betreuten aktive und geistlich engagierte Glieder ó die vor Ort und in Leitungsgremien dominanten und durchaus

unterschiedlichen Milieus sowie

ó den Zusammenstoß unterschiedlicher mentaler Ausrichtun- gen: „In kirchlichen Institutionen stoßen wir auf eine Machtlogik, die auf Selbsterhalt abzielt, in der Milieuperspektive auf Marktlo- gik, die auf Ausbreitung abzielt. Beides ist nicht unproblematisch, beides hat sein begrenztes Recht. Beides zusammen zu führen, darin besteht die Herausforderung.“54

Viele Widerstände stecken auch in

ó innovationsverzögernden Elementen der synodalen Struktur.

Sie ist uns lieb und wert, entspricht dem Priestertum aller Glau- benden, ist – anders als ein Lehramt – demokratisch und teil- habeoffen. Aber sie muss Mehrheiten organisieren, will Viele beteiligen und hat damit eine deutlich verzögerte Reaktionszeit – in Krisenzeiten und vor schmerzhaften Reformen keine idealen Voraussetzungen.

Es wird vieles davon abhängen, wie die evangelische Kirche auf allen Ebenen ihre Blockaden wahrnehmen, annehmen und mit Energie und Konsequenz überwinden kann. Im Prozess ihrer Umgestaltung und Reform erlebt die Evangelische Kirche damit alle Probleme einer Institution, die zugleich Organisation ist und auch noch Bewegung sein will. Eberhard Hauschildt hat der evangelischen Kirche bei der EKD-Synode 2007 vorgeschlagen, als

‚Institution der Freiheit’ die beiden Bilder von Missionskirche und Volkskirche in der Praxis konsequent zu verknüpfen, soz. als Kom- bination des ganz Verschiedenen „einen Hybriden aus Institution und Organisation (zu) bilden“. Sie „tut gut daran, mit beiden Mo- toren zu fahren. So kommt sie zur Zeit am weitesten“.55 Das Bild hilft, das Übergangsstadium anzunehmen und nicht einseitig nur auf eine Antwort zu setzen.

54. Heinzpeter Hempel- mann, Gott im Milieu. Wie Sinusstudien der Kirchen helfen könne, Menschen zu erreichen, Gießen 2012, 177 55. Eberhard Hauschildt, Organisation der Freiheit – „Evangelisch Kirche sein“

verändert sich. Referat zum Schwerpunktthema (EKD- Synode 2007), in: Kirchenamt der EKD (Hg.), Kirche im Aufbruch. Schlüsseltexte zum Reformprozess, KiA 7, Leipzig 2012, 215ff (Zitate 225f)

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Vielleicht lesen Sie, liebe Leserin, lieber Leser, Ihr Horoskop auch ganz gezielt. Ihnen ist es ernst mit seinem Inhalt. Sie befragen es vor wichtigen Entscheidungen. Sie

Hier steht sie nun – wir konnten nicht anders Woher, so kann man sich zu Recht fragen, haben die Menschen des Dorfes und der Region immer wieder die Kraft bekommen, diese Kirche

AX WLAN Access Point: Mit dem neuen WLAN Standard AX oder Wifi6 beginnt eine neue Ära des WLAN.. Einschrän- kungen des AC Standards wurden beseitigt, aus dem LTE Bereich hat das

Fit zu sein ist aber keine reine Glückssache oder Veranlagung, sondern auch eine Frage der Einstellung: Wir alle können selbst etwas dafür tun, dass es gelingt!. Zum Beispiel, indem

Über Sohlen mit Sensoren lassen sich auch andere Erkrankungen wie Minderdurchblutung oder das Charcot-Fußsyndrom (da- bei brechen wegen fehlenden Schmerzempfi ndens unbemerkt

Wir leben in einer Zeit, in der das Potenzial eines jeden Menschen ins Leben kommen will und jeder Mensch seine Einzigartigkeit entdeckt. Mit dem Hochdrängen dieser inneren Gaben

„Sukzessive wird man sol- che Chancen erkennen und nutzen, um für alle Bürger der Region etwas auf die Beine zu stellen, über Gemeindegrenzen hinweg, letztlich auch um Kosten

Denk anders und dabei entspannter, freudvoller und länger leben Wie wir unserem Gehirn die Flausen austreiben ZEIT FÜR EIN GUTES LEBEN.