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Entwicklung sozialer Motive : pro- und antisoziales Handeln

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Academic year: 2022

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Entwicklung sozialer Motive:

pro- und antisoziales Handeln

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Gisela Trommsdorff

1 Einleitung: Soziale Motivation und Motive und deren Entwicklung

Dieses Kapitel behandelt pro- und antisoziales Verhalten aus motivationstheo- retischer und entwicklungspsychologischer Sicht. Nach einer kurzen Übersicht über motivationstheoretische Ansätze wird ausführlich die Entwicklung von prosozialem Verhalten und von Aggression sowie deren motivationale Grund- lagen als Beispiele für die Entwicklung sozialer Motive behandelt.

Motive sind überdauernde Dispositionen, die nach Heckhausen (I 989) die Initi- ierung, Richtung, Intensität und Dauer individuellen Verhaltens bedingen.

Motive lösen auf Grund bestimmter situativer Anregungsbedingungen eine Motivation und ein bestimmtes zielorientiertes Verhalten aus; sie wirken situa- tionsspezifisch als dynamische Prozesse. Soziale Motive werden vor allem durch soziale Situationen angeregt und beziehen sich auf soziale Handlungsziele und die Erwartung sozialer Handlungsergebnisse.

Das Motivsystem der einzelnen Person beinhaltet eine Vielzahl einzelner, mit- einander verbundener Motive, die wiederum auf Grund bestimmter kognitiver und emotionaler Faktoren in den Prozess der Bewertung der eigenen Person, der Situation, der Handlung und dessen erwartetem Ergebnis eingehen, um dann als Motivation für eine bestimmtes Verhalten wirksam zu werden. Motive und Motivation sind nicht direkt beobachtbar.

Für ihre wertvollen Hinweise zu einer früheren Fassung des Manuskripres danke ich Wolfgang FriedImeier und Hans-Joacbim Kornadr.

Konstanzer Online-Publikations-System (KOPS) URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:352-opus-83703

URL: http://kops.ub.uni-konstanz.de/volltexte/2009/8370/

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Motivationstheorien gehen von der Annahme aus, dass alles Verhalten, also auch alles soziale Verhalten, motiviert ist. Allerdings lässt sich nicht ohne weiteres von einem bestimmten Verhalten auf ein bestimmtes zu Grunde liegendes Motiv schließen. Ein Verhalten kann durch verschiedene Motive angeregt wer- den. So kann die eigene Anstrengung bei dem Versuch, eine schwierige Aufgabe zu lösen, durch das Leistungsmotiv angeregt sein und dem Ziel dienen, die Auf- gabe nach Exzellenzkriterien zu lösen; die Anstrengung kann auch durch das Motiv nach sozialer Anerkennung angeregt sein oder durch beides oder durch weitere Motive. So besteht in der Motivationsforschung u. a. das Problem der Konzeptualisierung und Abgrenzung von Motiven.

Eine zentrale Frage der Motivationsforschung ist, was die Dynamik mensch- lichen Handelns bedingt. Diese Frage war lange Zeit Gegenstand heftiger Kon- troversen, da einzelne theoretische Ansätze von ganz unterschiedlichen Men- schenbildern ausgingen: Der Mensch als Spielball seiner inneren Triebe versus der Mensch als aktiver Gestalter seiner Handlungen. Der Gegensatz zwischen

"drive" als biologisch verankertem Bedürfnis, bei dem die Person als passiv ge- sehen wird, und "Ziel" als kognitiv verankerter Motivation, bei der die Person aktiv die Richtung des Handeln bestimmt, ist lange nicht überwunden worden (vgl. "Push"- und "Pull"-Theorien) (Übersicht bei Heckhausen, 1989).

1.1 Zur Geschichte der Motivationsforschung

Zu Beginn der Motivationsforschung bestimmten relativ extreme theoretische Positionen die Diskussion. Dabei ist der psychoanalytische Ansatz von Freud (1916) besonders für die Aggressionsforschung relevant geworden. Die Trieb- theorie von HuU (1943) war zunächst auf biologisch verankerte Bedürfniszu- stände und Triebe (besonders Hunger und Durst) beschränkt und wurde dann durch die Annahme sekundärer oder erlernter Triebe erweitert. Die Triebtheorie hat die behavioristische Forschung (vgl. Skinner, 1974) stark beeinflusst, wurde jedoch von Lerntheoretikern auf Grund der Annahme kognitiver Prozesse (kog- nitiver Konflikt) in der Motivation und besonders durch die Aktivationstheorie (besonders Berlyne, 1960) abgelöst.

Neben Psychoanalyse und Behaviorismus hat ein drittes Paradigma die Motiva- tionsforschung geprägt, die Gestaltpsychologie. Lewin (1935) verbindet Ansätze von Hull und Freud, weist aber auch auf die Grenzen triebtheoretischer Ansätze hin und legt Grundlagen für eine kognitive Theorie der Motivation. Lewin hat mit seinem affekttheoretischen Ansatz die Person- und Umweltvariablen als Be- dingungen für Handeln präzisiert, die Valenz von Objekten in Bezug zu Bedürf- nissen der Person gesetzt und damit dynamische Personkonstrukte (Spannung, Bedürfnis, Quasibedürfnis) sowie dynamische Umweltkonstrukte (Valenz) ein-

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geführt. Damit konnte er zwischen verschiedenen Konflikten bei der Entstehung von Handlungszielen unterscheiden (Annäherungs-Annäherungs-, Annäherungs- Vermeidungs-, sowie Vermeidungs-Vermeidungs-Konflikte). Die Annahme dyna- mischer Verbindungen zwischen verschiedenen Bedürfnissen erlaubt, ein dyna- misches Modell menschlichen Handelns zu entwickeln. Lewin und seine Schüler haben die Motivationsforschung durch Einbeziehung von Konzepten wie dem Anspruchsniveau (und dessen Verschiebung), der Bewertung eigener Leistung (als Erfolg oder Misserfolg), der Aufgabenschwierigkeit und der subjektiven Er- folgswahrscheinlichkeit (einschließlich der Folgen der Zielerreichung) theore- tisch bereichert und Grundlagen einer strukturelle und dynamische Faktoren be- rücksichtigenden kognitiven Motivationsforschung gelegt.

McClelland (1961) und später Atkinson (1964) bauen auf Lewins Theorie (ins- besondere den Konzepten der Valenz und Wahrscheinlichkeit sowie der Abwä- gung von Werten und Erwartungen) auf und erweitern das Motivationskonzept von Lewin durch den bekannten Erwartungs-mal-Wert-Ansatz. Dieser Ansatz hat viele Teilgebiete der Psychologie (z. B. Entscheidungsforschung), besonders der Motivationsforschung (z. B. Vroom, 1964) und hier der Leistungsmotiva- tionsforschung (Atkinson, 1964; McClelland, 1961) beeinflusst.

Diese motivationstheoretischen Ansätze wurden in Deutschland weiter geführt durch Heckhausen (1989) sowie durch die handlungs- und volitionstheoretischen Ansätze von Heckhausen und Gollwitzer (1987), Gollwitzer (1996) und Kuhl (1998). Zum einen hat sich die Motivationsforschung auf der Grundlage all- gemeinpsychologischer Erkenntnisse über biologische, kognitive, und motiva- tionale Prozesse beim Handeln weiter entwickelt. Zum anderen sind durch so- zial- und entwicklungspsychologische Ansätze zur sozialen Motivation einzelne Bereiche der Motivation als spezifische Handlungsziele in ihrer Aktivierung und Deaktivierung, ihrer Wirksamkeit und ihrer Genese untersucht worden. Dort wird teilweise direkt auf die allgemein psychologischen Motivationstheorien mit ihren kognitiven, emotionalen und motivationalen Ansätzen Bezug genommen, um sie durch entwicklungspsychologische Aspekte zu erweitern wie dies in der Ag- gressionstheorie von Kornadt (1982a, b) erfolgte, die weiter unten skizziert wird.

1.2 Was sind soziale Motive und welche lassen sich unterscheiden? -

Untersuchungen zu sozialen Motiven setzen voraus, dass soziale Motive von nicht sozialen Motiven abgegrenzt werden können. Solche Abgrenzungen sind jedoch in der Literatur uneinheitlich. Soziale Motive können wie andere Mo- tive durch Erfahrung erworben, verändert und situationsspezifisch ausgeprägt und wirksam werden. Auch Motive, denen primäre Bedürfnisse zu Grunde lie- gen wie Hunger und Durst, werden im Laufe der Entwicklung durch Lern-

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erfahrungen überformt, so dass auch sie je nach sozialem Kontext wirksam wer- den. Soziale Erfahrungen sind schon vorgeburtlich wirksam. Aus evolutions- theoretischer Sicht werden auch nicht gelernte Motive wie das Bindungsmotiv (Bowlby, 1969) als soziale Motive gesehen, die auf Grund von frühkindlichen Erfahrungen und im gegebenen sozio-kulturellen Kontext die weitere soziale, emotionale und kognitive Entwicklung (u. a. vermittelt über das innere Ar- beitsmodell) beeinflussen (vgl. Schmidt-Denter & Spangier, in diesem Band;

Grossmann & Grossmann, in Druck). Aus extrem kulturpsychologischer Sicht sind alle Motive sozial verankert, und alles Verhalten ist durch soziale Motive bedingt (Miller, 1997a).

Eine engere Definition differenziert soziale Motivation nach den HandLungszie- Len. Danach sind soziale Motive je nach ihrer Zielsetzung differenzierbar. Sozi- ale Motivation bezieht sich auf die Aktivierung (und Deaktivierung) von ziel- gerichtetem sozialem Handeln durch soziale Situationen, d. h. Situationen, in denen die handelnde Person einen realen oder vorgestellten Bezug zu anderen Menschen oder sozialen Gruppen hat. Die Forschung zur sozialen Motivation befasst sich also mit bestimmten Teilmotiven, die durch soziale Situationen an- geregt werden und ein Verhalten auslösen, das sich auf soziaLe ZieLe bezieht.

Evolutionstheoretisch verankerte Motivationstheorien gehen von allgemeinpsy- chologischen Prozessen als universellen Grundlagen sozialer Motive aus. So werden im Zürcher Modell (Schmid Mast & Bischof, 1999) zentrale Kompo- nenten der sozialen Motivation angenommen, die in drei Systemen wirksam sind, dem Sicherheits-, Erregungs- und Autonomiesystem. Bei Appetenz erfolgt Anschlusssuche, Neugier oder Assertion (Durchsetzung des erstrebten sozialen Ranges); bei Aversion erfolgt Überdruss, Furcht oder Submission.

Sozial psychologische Ansätze zu sozialen Motiven wurden nach der kognitiven Wende vor allem in Zusammenhang mit Entscheidungs- und Einstellungsän- derungs-Theorien und der Forschung zur sozialen Beeinflussung sowie auch unter methodischen Fragestellungen seit den 196Üer Jahren entwickelt. So wur- den die Studien zum "approval motive" (Anerkennungsmotiv; Crown & Mar- lowe, 1964) unter der Perspektive der "sozialen Erwünschtheit" bei der Beant- wortung von Fragen in Testssituationen durchgeführt. Dies hat in Verbindung mit der Konformitätsforschung, einem klassischen Untersuchungsgegenstand der Sozialpsychologie in den 196Üer Jahren, zu wichtigen Erkenntnissen in Bezug auf das Zusammenwirken von situativen Bedingungen (Aufforderungscharak- ter bzw. "demand characteristics"; Gruppendruck) und Personenmerkmalen (Suggestibilität; Defensivität; Selbstwert) geführt. In der früheren Motivations- forschung standen die klassischen Motive der Hilfeleistung und der Aggression im Vordergrund (vgl. Übersicht bei Heckhausen, 1989). Zwischen pro- und anti sozialem Verhalten liegt jedoch ein breites Spektrum sozialer Interaktionen,

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denen soziale Motive zu Grunde liegen. Dazu gehören u. a. das Bindungsmotiv (Bischof, 1976; Bowlby, 1%9), das Anschlussmotiv (need for affiliation) (Murray, 1938), soziale Ängstlichkeit (Asendorpf, 1993), das Machtmotiv (McClelland, 1975). In der neueren Motivationsforschung werden diverse Einzelmotive unter- sucht, wie das Selbstaufwertungsmotiv (self-enhancement) (Heine & Lehmann, 1997), das Autonomie- und Verbundenheitsmotiv (Ryan & Deci, 2000), ohne dass dabei jedoch eine umfassende Theorie der sozialen Motivation entstand, oder soziale Motive in ihren verschiedenen Differenzierungen systematisiert wurden. In dem verbreiteten Lehrbuch für Sozialpsychologie von Frey und Irle (2002) werden unter dem Kapitel Motivationstheorien nur bearbeitet: Theorie der kognizierten Kontrolle, Theorien der modernen Ziel psychologie, Theorien ideologischer Systeme: Autoritarismus und soziale Dominanz, Theorien der Be- wältigung und Systemtheorie in der Sozialpsychologie.

Der anspruchsvolle integrative Ansatz von Fiske (2004) versteht soziale Motive als Anpassung an soziale Beziehungen und unterscheidet fünf zentrale Motive (Zugehörigkeit, Verstehen, Kontrolle, Selbsterhöhung und Vertrauen), die als universell angenommen werden.

Kulturpsychologische Motivationsforschung (auch wenn sie nicht ausdrücklich soziale Motive thematisiert) belegt die Wirkung sozialer Einflüsse und der so- zialen Komponenten des Handlungsziels (vgl. Miller, 1997a). So scheint das Leistungsmotiv zunächst kein soziales Motiv zu sein, wenn sich die aktivierte Motivation auf nicht soziale Gegenstände richtet. Aus kulturpsychologischer Sicht lässt sich jedoch zeigen, dass auf Grund bestimmter Entwicklungsbedin- gungen soziale Einflüsse in der Weise wirksam sind, dass das Leistungsmotiv mit dem Affiliationsmotiv verbunden wird und in bestimmten sozialen Situa- tionen nur in dieser Verknüpfung wirksam ist. Es richtet sich dann z. B. auf so- ziale Handlungsziele (z. B. das Ziel, zusammen mit den Mitgliedern der Eigen- gruppe ein bestmögliches Leistungsergebnis zu erreichen) (vgl. Übersicht bei Kornadt, Eckensberger & Emminghaus, 1980; Kornadt, 2002, 2003).

In der Entwicklungspsychologie wurden Motive lange nicht thematisiert, ob- wohl gerade in kognitiven Entwicklungstheorien durchaus implizit motivations- theoretisch argumentiert wird. Das angenommene Bedürfnis nach kognitivem Gleichgewicht (Äquilibrium), das nach Piaget durch "neue" Erfahrungen akti- viert wird und weitere kognitive Entwicklung bewirkt (durch Assimilation und Akkomodation) ist ein Beispiel dafür. Soziale Motive sind in der Entwick- lungspsychologie seit den 70er Jahren insbesondere in Theorien zur pro- und antisozialen Motivation, Bindung, Dominanz und Macht thematisiert worden.

Allerdings liegt bisher keine systematische Übersicht zu sozialen Motiven und ihrer Entwicklung vor. In neueren Lehrbüchern wird die Entwicklung von Mo- tivation z. B. in Zusammenhang mit der Entwicklung des Selbst, von Emotionen

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und Handlungsregulation behandelt (Oerter & Montada, 2002). So gehen in Theorien zur Entwicklung des Selbst oder zur moralischen Entwicklung An- nahmen über die kognitive und emotionale Entwicklung ein, die motivations- psychologisch fundiert sind; z. B. wird moralisches Denken und Handeln in Zusammenhang mit dem moralischen Selbst und der Entwicklung moralischer Motivation gesehen (vgl. Krettenauer & Montada, in diesem Band; Nunner- Winkler, 1996, 1998, 1999).

Entwicklungspsychologische Ansätze zur sozialen Motivation befassen sich mit der Genese und Funktion der Komponenten von sozialen Motiven im Verhalten.

Allerdings liegt bislang keine geschlossene Theorie zur Entwicklung sozialer Motive und sozialer Motivation vor, die es erlauben würde, soziale Motivation in ihren verschiedenen Aspekten zu erklären und vorherzusagen.

Bei der Untersuchung der Entwicklung sozialer Motive und sozialer Motivation geht es immer auch um Fragen der Persönlichkeitsentwicklung, weil einzelne Motive immer im Kontext anderer Motive betrachtet werden müssen (vgl.

Kornadt, 1990). Wenn man davon ausgeht, dass frühkindlich Erfahrungen mit der sozialen und mit der materiellen (Objekt-)Umwelt erfolgen, stellt sich die Frage, wie diese Erfahrungen integriert und im Entwicklungsprozess differenziert werden. Aus motivationspsychologischer Sicht lässt sich das Bindungsmotiv als frühkindlich wirksame Entwicklungsdynamik sehen, durch die Sicherheits-, Geborgenheits- und Neugierbedürfnisse befriedigt werden und die die weitere motivationale, soziale, emotionale und kognitive Entwicklung beeinflusst. Aus globalen Motiven entwickeln sich auf Grund bestimmter Bedingungen in der Persönlichkeitsentwicklung einige spezifische überdauernde Teilmotive. Diese werden in ihren kognitiven und emotionalen Aspekten ausdifferenziert und durch bestimmte Situationen aktiviert; sie sind auf bestimmte zunehmend differen- zierte Handlungsziele gerichtet und beeinflussen ihrerseits eine bereichsspezifi- sche Entwicklung von Motiven. Entwicklungsprozesse von sozialen Motiven sind daher in Zusammenhang mit anderen Motiven und Funktionsbereichen in der Persönlichkeitsentwicklungzu sehen. Zum Beispiel muss die Entwicklung des Leistungsmotivs sowohl aus bindungstheoretischer Sicht in Zusammenhang mit der Entwicklung des Explorationsbedürfnisses, des Neugiermotivs (und spä- ter der Interessen) als auch in Zusammenhang mit der Entwicklung des Selbst- konzepts und der Kontrollüberzeugungen (Stabilitäts- und Ursachendimensio- nen; Erfolgserwartungen) gesehen werden.

Aus entwicklungspsychologischer Sicht ergibt sich daraus die Frage, die Bedin- gungen der Genese der kognitiven, emotionalen und sozialen Komponenten der sozialen Motive, der Anregungsbedingung für das Auftreten der sozialen Motivation und ihrer jeweiligen thematischen (bereichsspezifischen) Ausrich- tung auf ein bestimmtes Handlungsziel sowie ihrer Funktion für tatsächliches

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Verhalten im Kontext der Persönlichkeits entwicklung zu untersuchen. Motiva- tionstheoretisch gesehen wird dabei die Entwicklung sozialer Motive in Bezug auf die Genese und die Funktion ihrer Komponenten und deren Zusammen- wirken in der aktuellen Situation untersucht.

In diesem Kapitel interessiert vor allem, welche sozialen Motive sich auf Grund welcher Bedingungen entwickeln und zu welchem Verhalten führen können.

Obwohl motivationstheoretische Ansätze lange Zeit in der Psychologie keine besondere Rolle spielten, sind in der Entwicklungspsychologie schon früh zwei Motivsysteme besonders fokussiert worden, die als zentrale soziale Motive gel- ten, da sie einerseits dem prosozialem (Hilfeverhalten) und andererseits dem antisozialen Verhalten (Aggression) zu Grunde liegen. Diese beiden Motiv- systerne sind von besonderer Bedeutung auch im Rahmen der Persönlichkeits- entwicklung und für die Analyse der Entwicklung von Sozialverhalten wie z. B.

sozialer Kompetenz. Die Untersuchungen zur Entwicklung von prosozialem Verhalten und von Aggression bei Kindern und Jugendlichen hat zur Differen- zierung und Erweiterung von entwicklungspsychologischen Theorieansätzen und Methoden und zu einer Fülle von empirischen (wenn auch nicht unbe- dingt einheitlichen) Befunden geführt.

Im Folgenden werden prosoziales Verhalten und Aggression als zwei zentrale Bereiche der Entwicklung sozialer Motive behandelt. Dabei wird auf relevante Theorien und vor allem auf motivationstheoretische Ansätze und empirische Studien eingegangen. Aus entwicklungspsychologischer Sicht ist von Interesse, wie die verschiedenen Komponenten der sozialen Motivation im Entwick- lungsprozess aufgebaut, miteinander verknüpft und dann verhaltenswirksam werden. Dies wird im Abschnitt über die Entwicklung von prosozialem Ver- halten ausgeführt und im Abschnitt zur Entwicklung von Aggression skizziert.

Abschließend werden Unterschiede und Gemeinsamkeiten in diesen beiden so- zialen Motiven in Verbindung mit anderen Motiven und im Rahmen umfas- senderer Ansätze der Persönlichkeitsentwicklung diskutiert.

2 Prosoziales Verhalten

2.1 Überblick über den Stand der Forschung

und

theoretische Ansätze

Im motivationstheoretischen Sinne wird prosoziales Verhalten verstanden als freiwilliges Verhalten, das intendiert ist, einem anderen etwas Gutes zu tun.

Prosoziales Verhalten ist intensiv erst seit den 1970er Jahren untersucht wor- den. Bis dahin stand eher die Erklärung aggressiven Verhaltens im Mittelpunkt.

Heute ist das Interesse an prosozialem Verhalten erneut gewachsen und auf

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einen größeren Bereich ausgeweitet, zu dem soziale Unterstützung, professio- nelle Hilfe und soziale Verantwortlichkeit gehören. Neuerdings wird prosoziales Verhalten als wichtige Komponente sozialer Kompetenz gesehen. üb dies eine gerechtfertigte Annahme ist, wird später diskutiert.

Bei der Untersuchung prosozialen Verhaltens steht man zunächst vor der Frage, ob man eher einen engen Bereich von freiwilliger intendierter Hilfe zur Ver- besserung des Wohlbefindens einer anderen Person oder einen darüber hinaus- gehenden weiteren Verhaltensbereich von positivem Sozialverhalten (wie Ko- operation, Austausch- und Aufteilungsverhalten; soziale Unterstützung; soziale Kompetenz) untersuchen will. Ich werde mich im Folgenden zunächst auf den engeren Bereich konzentrieren und das erweiterte Konzept der sozialen Kom- petenz gesondert behandeln.

Für die Erklärung prosozialen Verhaltens leisten verschiedene Ansätze einen Bei- trag. Historisch gesehen standen zunächst psychoanalytische, behavioristische und lerntheoretische Ansätze im Vordergrund. Diese wurden zunehmend von kognitiven Ansätzen und gegenwärtig von emotions- und motivationspsycho- logischen Ansätzen abgelöst.

Aus evolutiomtheoretischer und soziobiologischer Perspektive wird eine universelle biologische Grundlage für Altruismus und prosoziales Verhalten angenommen. Altruismus wird als eine angeborene Tendenz, ein "fest verdrahtetes Programm", gesehen, das über die Investition in genetisch verwandte Personen letztlich zur Erhaltung der Art beiträgt. Die Eltern investieren in ihre "hilflosen" Kinder, um damit das Überleben der eigenen Gruppe zu sichern ("Genegoismus"). Nach dem Zürcher Modell (vgl. Schmid Mast & Bischof, 1999) wird für die Hilfe zwischen Verwandten (inklusiver Altruismus) die bestehende Vertrautheit zwi- schen Verwandten vorausgesetzt. Demgegenüber unterstellt das Konzept des

"reziproken Altruismus" (Trivers, 1971), dass nicht verwandte Personen einander helfen, weil sie bereits voneinander Hilfe erhalten haben oder zukünftig Hilfe erwarten.

Die in den 1970er Jahren vorherrschenden sozialpsychologischen Ansätze haben dazu beigetragen, die Merkmale der handelnden Person und die situativen Be- dingungen, unter denen prosoziales Verhalten auftritt, zu spezifizieren. Unter anderem haben sich dabei Selbstkonzept, Attribuierungen, soziale Normen und andere kognitive Merkmale des Helfenden als einflussreiche Bedingungen für Hilfeleistung erwiesen (vgl. Zusammenfassung von Bierhoff, 2002). Diese Stu- dien haben vor allem kognitive Faktoren aufgeklärt, jedoch die emotionalen und motivationalen Bedingungen prosozialen Verhaltens zunächst vernachläs- sigt. Entwicklungspsychologische Studien an Kleinkindern haben die Bedeu- tung von Emotionen für prosoziales Verhalten erkannt.

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Auch für die Aufklärung interindividueller Differenzen sind entwicklungspsy- chologische Studien erforderlich. Sie fragen nicht nur nach den Bedingungsfak- toren prosozialen Verhaltens in spezifischen Situationen, sondern auch nach den Bedingungen für die Entwicklung interindividueller Unterschiede in der Stärke prosozialer Motive und ihres Zusammenwirkens. Diese Frage wird je nach theo- retischer Perspektive unterschiedlich beantwortet.

Aus lern theoretischer Sicht wird angenommen, dass prosoziales Verhalten erfah- rungsbedingt entwickelt wird und je nach Lernumwelt (in der Familie und außerhalb) interindividuelle Differenzen entstehen. Aus Sicht kognitiver Ent- wicklungstheorien ist zumindest die Fähigkeit zur Perspekrivenübernahme und des moralischen Denkens eine Voraussetzung für die Wahrnehmung von Be- dürfnissen einer anderen Person (Batson, 1991; Eisenberg, 1986; Hoffman, 1982;

Staub, 1979). Diese kognitiven Fähigkeiten reichen aus motivationstheoreti- scher Sicht aber nicht aus, um prosoziales Verhalten anzuregen. Es muss auch die Bereitschaft zum Hilfeverhalten im Sinne einer prosozialen Motivation ak- tiviert werden (Feshbach, 1978). Diese Bereitschaft kann von Individuum zu Individuum variieren und hängt von Bedingungen ab, in die auch emotionale Faktoren wie Mitgefühl, Schuld und Scham eingehen (Eisen berg, 1986; Tromms- dorff,1995).

Verhaltensgenetische Ansätze versuchen, interindividuelle Differenzen in prosozi- alem Verhalten auf der Grundlage der Wirksamkeit genetischer Dispositionen aufzuklären. Die dazu durchgeführten Untersuchungen an ein- und zweieiigen Zwillingen zeigen, dass etwa 50 % der Varianz des selbstberichteten Hilfeverhal- tens erwachsener Zwillinge durch genetische Faktoren und die restlichen 50 % der Varianz durch Besonderheiten der Umweltwirkung, nicht aber durch von Ge- schwistern geteilte Umweltwirkungen ("shared environment") aufgeklärt werden (vgl. Asendorpf, in Druck; Eisenberg & Fabes, 1998). Bei Kleinkindern konnte ein deutlicher genetischer Anteil sowohl für Empathie als auch für prosoziales Verhalten nachgewiesen werden (Zahn-Waxler, Robinson & Emde, 1992).

Problematisch ist allerdings bei diesen verhaltensgenetischen Ansätzen, dass zwar das Auftreten und das Ausmaß genetischer Faktoren eingeschätzt werden kann, jedoch unklar bleibt, wie die Prozesse der Interaktionen zwischen Umwelt- und Anlagebedingungen funktionieren (Plomin, 2000).

Neuere neuropsychologische Studien stützen die biologisch fundierten Ansätze zur Erklärung von bestimmten Komponenten des Motivsystems, welche die ent- sprechende Motivation und das damit verbundene prosoziale Verhalten anre- gen können. Danach bestehen universelle Grundlagen in hirn physiologischen Besonderheiten wie in der biologisch fundierten Imitations- und Empathie- fähigkeit. Diese Sichtweise wurde durch Beobachtungen gestützt, dass Neuge-

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borene (Martin & Clark, 1982) oder etwa 12 Monate alte Kleinkinder (Zahn- Waxler, Radke-Yarrow, Wagner & Chapman, 1992) weinen, wenn ein anderes Kind weint. Dies mechanistisch-reaktive Verhalten spricht zumindest für eine neuronale Basis der Imitation. Neuere Untersuchungen an Spiegelneuronen legen darüber hinaus nahe, dass diese die biologische Grundlage für Empathie sind (Gallese, 2001). Wenn man annimmt, dass die Empathie als eine zentrale Komponente der prosozialen Motivation eine Voraussetzung für die Entwick- lung von prosozialem Verhalten ist, wäre hier eine biologische Basis gegeben.

Auch wenn man eine universelle Disposition für die Entwicklung von prosozi- aler Motivation annehmen kann, stellt sich die Frage, welche Merkmale das prosoziale Motivsystem umfasst und wie deren Entwicklung erfolgt. Aus moti- vationstheoretischer Sicht ist daher u. a. zu fragen, ob Empathie eine notwendige Vorraussetzung für prosoziales Verhalten ist. Damit hängt die Frage zusammen, ob prosoziales Verhalten unterschiedlich, nämlich "egoistisch" oder "altruis- tisch" motiviert sein kann (Batson et al., 1988; Borkenau, 1991). Entsprechend unterscheidet Batson (1991) in seinem Modell des Helfens drei Varianten: die beiden egoistischen Formen von Belohnungssuche ("reward-seeking") und Er- regungsreduktion ("arousal-reducing") und die altruistische Form der empa- thiebasierten Hilfe. Im Zürcher Modell (Schmid Mast & Bischof, 1999) wird u. a. zwischen Fürsorge im Sinne des inklusiven Altruismus und Diensdeitung im Sinne des reziproken Altruismus unterschieden. Aus entwicklungspsycholo- gischer Sicht stellt sich darüber hinaus die Frage, ob und welche individuellen Differenzen hier entstehen können, welche Prozesse für die Verhaltenswirksam- keit relevant sind, und unter welchen Bedingungen diese in der Entwicklung wirksam werden. Diese Fragen werden durch die skizzierten biologisch fun- dierten Ansätze bisher nicht beantwortet, aber auch nicht durch die klassischen psychoanalytischen und lerntheoretischen Ansätze.

Aus motivationstheoretischer Perspektive ist für die Erklärung prosozialen Ver- haltens relevant, die in der Entwicklung aufgebauten und die situativ ange- regten Emotionen und die sie begleitenden kognitiven Prozesse sowie die damit verbundenen Handlungsziele als Teil des Motivsystems zu untersuchen. Die dabei wirksamen entwicklungsaltersabhängigen kognitiven Prozesse der Wahr- nehmung und Beurteilung der Situation, aber auch die Fähigkeit der Regulation von Emotionen tragen ihrerseits zur Vorhersage bei, ob die Person ein proso- ziales Ziel wählt und entsprechend handelt. Diese Vorhersage über den aktual- genetischen Verlauf des Handelns hat Implikationen für die Vorhersage und die Erklärung der Genese prosozialer Motive.

Im Folgenden werde ich auf einige relevante Bedingungen eingehen, die im

Verlauf der Entwicklung der prosozialen Motive, d. h. auch ihrer emotionalen, 1

kognitiven und sozialen Komponenten, wirksam werden können. ]

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2.2 Entwicklung von prosozialen Motiven und ihrer

Komponenten: Emotionale und kognitive Entwicklung und deren Funktion für prosoziales Verhalten

2.2.1 Funktion von Emotionen

Empathie und andere Emotionen. Lange Zeit wurde davon ausgegangen, dass prosoziales Verhalten eine gewisse kognitive Entwicklung u. a. der Perspektiven- übernahme, der Intentionsattribuierung und des moralischen Urteils (im Vor- schulalter) voraussetzt. Untersuchungen an Kleinkindern, deren kognitive Ent- wicklung noch rudimentär ist, und die weinen, wenn sie andere Kinder weinen hören, belegen jedoch Vorläuferbedingungen für die Entwicklung prosozialen Verhaltens (Zahn-Waxler, Radke-Yarrow et al., 1992). Neuerdings werden in emotionalen Faktoren, wie in der Empathie, wichtige Komponenten für die Ent- wicklung von Sozialverhalten und insbesondere des prosozialen Motivs gesehen (vgl. Hoffman, 1982; Staub, 1979; Krettenauer & Montada, in diesem Band).

Empathie ist eine affektive Reaktion auf die Wahrnehmung des emotionalen Zustandes einer anderen Person und entspricht dem, was die andere Person fühlt. Empathie hat eine zentrale Funktion für Sozialverhalten und dessen Ent- wicklung, insbesondere der Entwicklung von prosozialem Verhalten. Die Ent- wicklung von Empathie erfolgt nach Hoffman (1982) in vier Stufen, die auch die Veränderung der sozial-kognitiven Entwicklung, insbesondere die Perspek- tivenübernahme, beeinflussen. Auf der ersten Stufe steht emotionale Ansteckung ("emotional contagion", die angeborene oder sehr früh gelernte Ansteckung vom Unwohlsein ["Distress"] einer anderen Person) im Vordergrund. Erste Hin- weise auf die Entwicklung des prosozialen Motivs ergaben sich in Beobach- tungsstudien, die belegen, dass bereits Neugeborene emotionale Ansteckung zeigen; sie schreien, wenn ein anderes Kind schreit (reaktives Schreien; Sagi &

Hoffman, 1976; Zahn-Waxler, Radke-Yarrow & King, 1979). Dieses durch die Beobachtung der Emotion eines anderen aktivierte Gehirnareal wird heute als die biologische Grundlage für die neurophysiologisch bedingte Empathie ge- sehen (Gallese, 2001).

Auf Grund seiner weiteren kognitiven Entwicklung kann das Kind auf der zwei- ten Stufe, mit etwa 18 bis 24 Monaten, Empathie erleben, weil es zwischen eige- nen Emotionen und denen einer anderen Person unterscheiden kann. Dies hängt mit der Entwicklung des globalen Selbstkonzeptes und damit der Selbst-An- dere-Differenzierungzusammen (Bischof-Köhler, 1994). Gemäß Hoffmans Mo- dell entwickelt sich auf dieser Stufe die egozentrische Empathie ("egocentric empathy"): die emotionalen Reaktionen des Kindes werden mit den wahrge- nommenen negativen Emotionen des anderen vermischt, und sowohl Empathie

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als auch Distress können entstehen. Distress wird als affektive Reaktion auf den beobachteten emotionalen Zustand eines anderen verstanden, aber anders als bei Empathie ist Distress durch Unsicherheit, Spannung und Unwohlsein cha- rakterisiert. Im weiteren Entwicklungsverlauf wird auf der dritten Stufe die Fä- higkeit ausgebildet, negative Emotionen wie Distress zu vermeiden; auf Grund von kognitiven Prozessen der Perspektivenübernahme können empathische Re- aktionen entstehen, auch wenn die betroffene Person nicht anwesend ist. Auf der vierten Stufe schließlich können sich empathische Reaktionen auf den all- gemeinen Zustand anderer Personen oder Personengtuppen beziehen.

Empathie wird keineswegs nur durch negative Emotionen anderer aktiviert;

vielmehr kann Empathie auch die empathische Freude im Sinne von Mitgefühl mit den Emotionen einer anderen Person umfassen. Bei prosozialem Verhalten ist Empathie meistens als Mitgefühl mit dem Unwohlsein einer anderen Person wirksam.

Die emotionalen Reaktionen von Kindern auf das Missgeschick oder Unglück einer anderen Person sind allerdings ganz unterschiedlich: Die einen sind eher betroffen und lassen Zeichen von eigenem Distress erkennen; die anderen rea- gieren mit Mitgefohl und wenden sich dem Opfer teilnahmsvoll empathisch zu.

Bereits bei Kindern im Alter von zwei Jahren lassen sich diese beiden emotio- nalen Reaktionen im nonverbalen Verhalten der Kinder deutlich unterschei- den. Bei erlebtem Distress im Vergleich zu empathischem Mitgefühl verändert sich der Hautwiderstand. Distress impliziert negative Emotionen mit hoher Selbstfokussierung (Eisenberg, Fabes, Schaller, Carlo & Miller, 1991).

Darüber hinaus haben unsere Beobachtungsstudien2 (vgl. Friedlmeier, 1993;

Kienbaum, 1993; Kobayashi, 1995; Trommsdorff, 1993, 1995; Trommsdorff

& Friedlmeier, 2001) gezeigt, dass weitere emotionale Reaktionen bei der Ak-

tualgenese prosozialen Verhaltens auftreten, und dass sich diese im Entwick- lungsverlauf ändern können. Die mit Distress reagierenden Kinder weisen kei- neswegs qualitativ gleiche Distress-Reaktionen auf Bei einigen Kindern sind Distress-Reaktionen mit einer Abwendung von dem Unglück und dem Opfer erkennbar. Bei anderen Kindern sind die Distress-Reaktionen durch gebannte Fokussierung auf das Opfer gekennzeichnet (Friedlmeier & Trommsdorff, 2002a;

Trommsdorff, 1995; Trommsdorff & Friedlmeier, 2001).

Diese verschiedenen Distress-Reaktionen weisen auf eine unterschiedliche Ver- arbeitung des miterlebten Unglücks der anderen Person hin. Mit dem "abge-

2 Von der DFG gefördertes Projekt .,Rolle von Emotionen beim prosozialen Verhalten" (Tr 169/4- 1,2,3).

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wandten Distress" versucht das Kind offensichtlich, die eigenen negativen und störenden Emotionen zu regulieren. Hier liegt nahe anzunehmen, dass im Ver- lauf der Handlung sogar Empathie-Reaktionen entstehen können, oder dass das Kind versucht, "aus dem Felde zu gehen". Bei dem "zugewandten Distress"

verstärkt das Kind durch die Fokussierung auf das Unglück des Opfers das eigene Unwohlsein und verliert sich in dem zunehmenden Distress. In experi- mentellen Versuchen konnten wir zeigen, dass bei Distress eine induzierte Auf- merksamkeitsablenkung das prosoziale Verhalten weniger blockiert (Tromms- dorff & Friedlmeier, 1999).

Die emotionalen Reaktionen beeinflussen gerade bei jüngeren Kindern das Hilfeverhalten. Bei hohem Mitgefühl ist helfendes Eingreifen eher und bei hohem Distress weniger wahrscheinlich. Eigene Beobachtungsdaten an Kin- dern im Vorschulalter bestätigen: Je mehr Mitgefühl (Empathie) Kinder für ein Opfer zeigen, desto eher und desto ausdauernder und intensiver helfen sie.

Andererseits: Je mehr Distress Kinder als emotionale Reaktion auf das beob- achtete Unglück einer anderen Person zum Ausdruck bringen, desto weniger prosoziales Verhalten zeigen sie. Der letztgenannte negative Zusammenhang wird allerdings umso schwächer, je besser die Emotionsregulation ausgebildet ist, also je geringer selbstfokussierter Distress ist (vgl. Trommsdorff, 1995; Tromms- dorff & Friedlmeier, 2001). Die bei den Arten von Distress haben jeweils un- terschiedliche Funktionen für das Auftreten von Hilfeverhalten: Bei "selbst- fokussiertem Distress" sind Hilfeleistungen weniger wahrscheinlich als bei

"opferfokussiertem Distress". Dies spricht für die Funktion verschiedener kog- nitiver Prozesse in der Emotionsregulation bei Distress. Im Fall von Distress stellt sich auch die Frage, ob Kinder helfen, um die eigenen negativen Emotio- nen zu überwinden (egoistische Motivation), oder ob sie deshalb nicht helfen, weil sie mit ihren eigenen Emotionen beschäftigt sind und es vorziehen, der Unglückssituation psychologisch oder physisch auszuweichen ("aus dem Felde gehen").

Die Wirksamkeit von emotionalen Reaktionen hängt also von deren Qualität (Empathie, Distress) ab, und diese wiederum wird teilweise von der Emotions- regulation beeinflusst. Während die Zusammenhänge zwischen Emotionen wie Empathie und prosozialem Verhalten positiv und relativ hoch sind, sind die Zusammenhänge zwischen negativen Emotionen (bzw. negativer Emotio- nalität) wie Distress und prosozialem Verhalten eher widersprüchlich. Dies hängt u. a. zusammen mit der Art und Intensität von erlebten negativen Emo- tionen und den Methoden für deren Erfassung (Beobachtungen, Selbstberichte).

Bei Kindern (nicht aber bei Erwachsenen) stehen negative Emotionen wie Furcht, Angst, Ärger und Traurigkeit überwiegend in negativem Zusammen- hang mit prosozialem Verhalten (Zusammenfassung bei Eisenberg & Fabes, 1998).

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Zusammenfassend lässt sich für die Frage der Funktion von emotionalen Reak- tionen für prosoziales Verhalten belegen, dass zumindest in der frühen Entwick- lung Empathie eine förderliche und Distress eine hemmende Bedingung für prosoziales Verhalten ist. Empathisch reagierende Kinder verhalten sich im Allgemeinen eher prosozial. In der weiteren Entwicklung zeigen sich allerdings zunehmend interindividuelle Unterschiede u. a. auf Grund der weiteren emo- tionalen, kognitiven und sozialen Entwicklung und der mit ihr verbundenen Emotionsregulation. Diese Entwicklung beeinflusst auch die Art der Zusam- menhänge zwischen emotionalen Reaktionen und Hilfeverhalten (Friedlmeier, 1996; Trommsdorff & Friedlmeier, 2001).

2.2.2 Emotionsregulation beiprosozialer Motivation

Auch wenn empathische Reaktionen auf Grund ihrer neurophysiologischen Ver- ankerung universell sind, ist damit keineswegs eine mechanistische Verknüpfung zwischen Empathie und prosozialem Verhalten anzunehmen. Das spontane, durch Mitgefühl ausgelöste Hilfeverhalten nimmt im weiteren Entwicklungs- verlauf eher ab. Daher ist zu fragen, welche Faktoren beim prosozialen Verhalten über die Aktivierung von Empathie hinaus dann wirksam werden. Aus motiva- tions- und entwicklungspsychologischer Sicht müssten zunehmend komplexere emotionale, soziale und kognitive Prozesse die prosoziale Motivation und das prosoziale Verhalten beeinflussen. Dies soll im Folgenden betrachtet werden.

Offenbar wird schon früh ein allgemeiner Erregungszustand bei Beobachtung des Unglücks einer anderen Person mit qualitativ verschiedenen Bedeutungen verbunden: mit Mitgefühl oder mit verschieden Arten von Distress. Während beim Mitgefühl sich die Emotionen ganz auf die andere Person beziehen, be- deutet Distress eigenes Unwohlsein. Allerdings kann auch Distress in unter- schiedlicher Form auftreten. Distress kann eher an dem eigenen Unwohlsein (selbstbezogener Distress) oder dem Unwohlsein des anderen (opferbezogener Distress) orientiert sein. Diese verschiedenen Orientierungen hängen mit dem kognitiven Entwicklungsstand (verschiedene Bedeutungszuweisungen der wahr- genommenen Situation und Selbstkonzept) sowie mit den sozio-emotionalen Erfahrungen (z. B. Bindungssicherheit) zusammen.

Je nach Wahrnehmung und Bewertung der Situation sowie der eigenen Person und der Person des Opfers kann die allgemeine unspezifische Erregung ver- schiede emotionale Reaktionen auslösen, die ihrerseits auf Grund kognitiver Prozesse (u. a. Attribuierung der Kontrollierbarkeit/Verursachung der Hilfsbe- dürftigkeit auf die hilfsbedürftige Person oder auf externe Umstände) reguliert werden und in die Aktualgenese prosozialer Motivation eingehen, um dann ver- haltenswirksam zu werden. So kann die Zuschreibung von Kontrollierbarkeit

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der Hilfsbedürftigkeit durch den anderen die eigene Empathie und das eigene Hilfeverhalten reduzieren.

Im weiteren Entwicklungsverlauf können komplexere Emotionen wie Schuld- gefühle entstehen und Hilfehandeln beeinflussen. Für die Entwicklung von Schuldgefühlen ist Empathie eine wichtige Voraussetzung (Hoffman, 2000).

Des Weiteren werden Emotionen und deren Verhaltenswirksamkeit zuneh- mend durch die Entwicklung von sozial-kognitiven Kompetenzen beeinflusst.

Dazu gehört vor allem die Entwicklung der Emotionsregulation.

Welche Emotion auftritt (z. B. Empathie oder Distress), hängt von der emo- tionalen Erregung ab sowie auch von der Fähigkeit des Kindes, seine Emotio- nen zu regulieren (Eisenberg & Fabes, 1990; Friedlmeier & Trommsdorff, 2002a; Trommsdorff, 1995). Zahlreiche Studien weisen Zusammenhänge zwi- schen prosozialem Verhalten, Emotionsregulation und geringer Impulsivität auf (Eisenberg & Mussen, 1989; Strayer & Roberts, 1989). Im Fall von Dis- tress sind Emotionsregulationsfähigkeiten besonders erforderlich.

Die Fähigkeit zur Regulation von Emotionen ist besonders wichtig, um ne- gative und belastende Emotionen so zu kontrollieren, dass man Bedürfnisse anderer Personen noch erkennen und darauf eingehen kann. Wenn Kinder in Hilfesituationen hohe Erregung erleben, führt dies eher zu Distress und selbst- bezogenen negativen Emotionen und weniger zu Empathie; bei relativ mo- derater Erregung hingegen entsteht eher Empathie im Sinne eines begrenzten stellvertretenden Miterlebens. Damit wächst auch die Bereitschaft zu helfen (Eisenberg et al., 1994; Friedlmeier & Trommsdorff, 2002a; Hoffman, 1982).

Einige Studien berichten Zusammenhänge zwischen mangelnder Regulations- fähigkeit von Kindern und ihrer geringen Empathie unabhängig von dem Grad von erlebter Emotionalität, während für Kinder mit höherer Emotionsregula- tion das Ausmaß von Empathie bei Zunahme an emotionaler Intensität höher ist (Eisenberg et al., 1996). Diese Zusammenhänge sprechen dafür, dass nicht allein die situativ angeregte Intensität emotionalen Erlebens für die Aktivierung von prosozialer Motivation entscheidend ist, sondern dass die Emotionsregula- tionsfähigkeit diese Zusammenhänge beeinflusst.

Allzu selten werden mikrogenetische Analysen durchgeführt. Diese belegen inter- individuelle Differenzen im Umgang mit negativen, belastenden Emotionen, die auf unterschiedliche, auch entwicklungsabhängige Fähigkeiten der Emo- tionsregulation in der Aktualgenese von prosozialem Handeln schließen lassen (Friedlmeier & Trommsdorff, 1999, 2001). In der Entwicklung von anfäng- licher interindividueller Regulation (mit Unterstützung der Mutter) zu späterer intraindividueller (selbstgesteuerter) Regulation (vgl. auch Salisch & Kunzmann, in diesem Band) treten interindividuelle Unterschiede auf, die sich auf die

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Aktivierung von Hilfeverhalten auswirken können. Unsere mikrogenetischen Untersuchungen zum Handlungsablauf prosozialen Verhaltens unter Einbezie- hung der emotionalen Reaktionen und ihrer Veränderung in der Situation und im Entwicklungsverlauf geben empirischen Aufschluss über den Prozess des prosozialen Handelns und der dabei wirksamen Motivationsbedingungen (vgl.

Friedlmeier & Trommsdorff, 1999,2001). Im Verlaufe der weiteren Entwick- lung werden neben emotionalen Faktoren u. a. die Perspektiven übernahme, die Sprachentwicklung, moralisches Denken und das Selbstkonzept im prosozialen Handeln wirksam (vgl. Hoffman, 2000).

2.2.3 Perspektiven übernahme bei prosozialer Motivation

Kognitive Fähigkeiten können die Fähigkeit zur Wahrnehmung von Bedürf- nissen einer anderen Person fördern. Jedoch ist die kognitive Entwicklung nicht per se förderlich für die Ausbildung von prosozialer Motivation. So sind die Zu- sammenhänge zwischen prosozialem Verhalten und solchen kognitiven Fähig- keiten wie Intelligenz und Schulleistung uneindeutig (vgl. Eisenberg & Fabes,

1998). Vielmehr hat sich die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme und des moralischen Denkens als eine wesentliche Voraussetzung für prosoziales Ver- halten erwiesen (Batson, 1991; Eisenberg, 1986; Hoffman, 1982; Staub, 1979;

Krettenauer & Montada, in diesem Band). Eine Zunahme der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme kann zunächst die Fähigkeit von Kindern fördern, zwi- schen eigenem Distress und dem Distress von anderen Personen zu unterschei- den und die emotionalen Reaktionen des anderen als solche zu erkennen. Diese Fähigkeit wird häufig als Voraussetzung für prosoziales Verhalten gesehen (vgl.

Hoffman, 1982). Eine Reihe von empirischen Studien belegen mit wenigen Ausnahmen, dass Perspektivenübernahme mit prosozialem Verhalten positiv korreliert (vgl. die Literaturübersicht von Underwood & Moore, 1982, sowie Eisenberg & Fabes, 1998).

Allerdings ist zu berücksichtigen, dass nicht jedes prosoziale Verhalten notwen- digerweise mit der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme zusammenhängen muss, wie z. B. prosoziales Verhalten in eindeutigen Notsituationen, in denen die Hilfsbedürftigkeit des anderen unübersehbar ist, oder keinen besonderen AufWand bedeutet. Prosoziales Verhalten kann auch rein sozial erwünscht und normorientiert erfolgen, ohne dass die handelnde Person die Perspektive des anderen einnehmen muss (vgl. Übersicht bei Bierhoff, 2002).

Die Entwicklung der kognitiven Fähigkeit zur Perspektivenübernahme reicht also aus motivationstheoretischer Sicht nicht aus, um prosoziales Verhalten zu erklären. Es muss auch die Bereitschaft zum prosozialen Verhalten aktiviert wer- den. Diese Bereitschaft ist das Resultat der prosozialen Motivation, die wiede-

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rum von verschiedenen Bedingungen abhängt, u. a. auch von der moralischen Entwicklung und einem Selbstkonzept, mit dem prosoziale Werte und Normen, sowie die Wahrnehmung eigener Kompetenz verbunden sind.

2.2.4 Sprache und verbale Kommunikation bei prosozialer Motivation

Ein weiterer wichtiger, wenngleich auch kaum empirisch untersuchter Faktor für die Entwicklung der prosozialen Motivation ist die Entwicklung der Spra- che und des Kommunikationsverhaltens. Zwar liegen Hinweise zu theoretisch anzunehmenden Zusammenhängen zwischen Sprachentwicklung und Entwick- lung von Empathie und prosozialem Verhalten vor (Perspektivenübernahme und "angepasstes" Sprachverhalten, vgl. Tough, 1977). Empirische Untersu- chungen fehlen jedoch weit gehend. In eigenen Beobachtungsstudien haben wir Kinder (3 Jahre) in Bezug auf die Ausprägung von Empathie und Distress gruppiert. Dabei zeigten hoch empathische Kinder über verschiedene Situatio- nen hinweg insgesamt mehr sprachliche Äußerungen und produzierten mehr Äußerungen mit sozial angepasster Sprachfunktion im Vergleich zu weniger empathischen Kindern (Trommsdorff & Friedlmeier, 2001).

In weiteren Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen Sprachverhalten (in neutralen Situationen) und dominanten emotionalen Reaktionen bei älteren Kindern (8 Jahre) zeigten empathische Kinder im Vergleich zu Kindern mit hoher Ausprägung von Distress (und tendenziell auch im Vergleich zu unbetroffenen Kindern) weniger egozentrischen Sprachgebrauch. In der Unglückssituation ver- schwand dieser Unterschied, weil der Anteil egozentrischen Sprachgebrauchs bei den "Distress-Kindern" deutlich abnahm; allerdings nahm in dieser Situation der Unterschied zwischen den empathischen und unbetroffenen Kindern deutlich zu, weil die unbetroffenen Kinder mehr egozentrischen Sprachgebrauch aufwie- sen (Trommsdorff & Friedlmeier, 2001). Diese Befunde belegen, dass sich unter- schiedlich altruistisch motivierte Kinder nicht nur in ihren emotionalen Reak- tionen, sondern auch in ihrem Sprachverhalten unterscheiden. Diese Befunde können nicht kausal interpretiert werden, weil dazu Längsschnittstudien fehlen;

sie rücken jedoch die klassische Frage nach dem Zusammenhang von Sprache und Denken in ein anderes Licht und legen die Frage nach Zusammenhängen von sprachlicher, emotionaler und motivationaler Entwicklung nahe.

2.2.5 Moralisches Denken und moralische Motivation

Mit der kognitiven Entwicklung geht die Entwicklung moralischen Denkens einher, die ihrerseits häufig in Zusammenhang mit der Entwicklung der Qua- lität von sozialem Verhalten und sozialer Kompetenz gesehen wird (vgl. Krette-

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nauer & Montada, in diesem Band; Hoffman, 1982; Staub, 1979). Während Blasi (1980) und Underwood und Moore (1982) in ihrer Literaturübersicht relativ eindeutige Zusammenhänge zwischen moralischem Denken und proso- zialem Verhalten berichten, sich dabei aber nur auf Studien von Erwachsenen beziehen, zeigen Studien an Kindern inkonsistente Zusammenhänge (vgl. Über- blick von Eisenberg, 1986).

Die kognitive Einsicht, dass moralische Regeln universelle Gültigkeit und innere Verbindlichkeit besitzen, bewirkt offenbar keineswegs automatisch moralisches Verhalten und auch keine moralische Motivation. Kinder können durchaus (ohne Schuldgefühle) moralische Regeln übertreten, wenn die Regeln ihren ak- tuellen Bedürfnissen zuwiderlaufen und wenn sie keine sozialen Sanktionen be- fürchten. Auf der anderen Seite kann altruistisches Verhalten, wie dies bereits für jüngere Kinder beobachtet wurde, durchaus ohne vorausgehende kognitive Einsicht in die Gültigkeit moralischer Regeln erfolgen; es ist dann allerdings nur beschränkt auf spontane Hilfe. So zeigen die oben genannten Beobachtungs- studien der Altruismusforschung, dass Kinder schon in den ersten Lebensjah- ren spontan und uneigennützig bereit sind, andere zu trösten, mit anderen zu teilen und ihnen zu helfen (Zahn-Waxler, Radke-Yarrow et al., 1992).

Die inkonsistenten Befunde zum Zusammenhang von moralischem Denken und prosozialem Verhalten lassen sich aufklären, wenn man mit Nunner-Winkler (1996, 1998, 1999) zwischen (a) moralischem Wissen (Kenntnis von morali- schen Normen und deren Begründung), (b) moralischer Motivation (Bereit- schaft, moralisches Wissen dem eigenen Handeln zu Grunde zu legen) und (c) spontanen Neigungen unterscheidet und beachtet, dass diesen Bereichen unterschiedlichen Entwicklungsprozesse zu Grunde liegen. Die Ergebnisse ihrer Studien belegen, dass die moralische Motivation ein wichtiger Prädiktor für tatsächliches Verhalten von Kindern auch in realen Situationen ist, z. B.

in Konßikt- und Verteilungssituationen. Bei hoher moralischer Motivation sind Kinder eher bereit, auf egoistische Durchsetzung eigener Interessen zu verzichten.

Nach Nunner-Winkler (1998) erfolgt die Entwicklung der moralischen Moti- vation nach anderen Regeln als die des moralischen Urteils. Diese Motivation ist komplex, u. a., weil hier persönliche und zugleich moralische Ziele sowie wil- lentliche Widerstände gegen Versuchungen zur Moralübertretung mit mora- lischen Handlungskompetenzen integriert werden müssen. Wenn man daher annimmt, dass die beiden Komponenten der moralischen Entwicklung, Moti- vation und Urteil, nicht zeitgleich erfolgen, sind die bisherigen empirischen Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen moralischer Entwicklung und prosozialem Verhalten, die diese beiden Entwicklungsstufen nicht getrennt er- fassen, nur in Grenzen brauchbar.

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In eigenen Untersuchungen an 8-jährigen Mädchen (vgl. Trommsdorff & Friedl- meier, 2001) konnten wir sowohl Zusammenhänge zwischen moralischen Ur- teilen und empathischen Reaktionen (Verhaltens beobachtung) sowie auch mit prosozialem Verhalten nachweisen. Mit der weiteren kognitiven Enrwicklung entsteht vermutlich eine nicht hedonistische pragmatische prosoziale Motivation (gemessen durch Anrworten zu Dilemma-Geschichten), die mit dem Ausmaß von Empathie und prosozialem Verhalten (gemessen durch Verhaltensbeobach- tung) bei wahrgenommener Hilfsbedürftigkeit einer anderen Person zusam- menhängt.

Es ist empirisch noch nicht ausreichend geprüft, ob bei hohem Mitgefühl (Em- pathie) kognitive Prozesse wie moralisches Denken weniger relevant sind, oder gar umgekehrt, ob bei hoher Empathie moralisches Denken weiter enrwickelt ist und dadurch komplexere Emotionen wie Schuldgefühle entstehen, die ihrer- seits zur prosozialem Verhalten beitragen (Trommsdorff & Fried1meier, 2001).

Diese Zusammenhänge werden von weiteren Faktoren beeinflusst. 8-jährige Mädchen auf einer "niedrigeren moralischen" Enrwicklungsstufe reagierten weniger empathisch gegenüber einem gleichaltrigen Opfer. Sie zeigten auch weniger prosoziales Verhalten gegenüber einem erwachsenen Opfer. Bei relativ

"höherer moralischer" Enrwicklungsstufe zeigten 8-jährige Mädchen mehr Em- pathie gegenüber einem gleichaltrigen und mehr prosoziales Verhalten gegen- über einem erwachsenen Opfer. Dabei wirkt der moralische Enrwicklungsstand in der Situation mit dem erwachsenen Opfer als Moderator (Trommsdorff &

Friedlmeier, 2001). Auch wenn der moralische Enrwicklungsstand mit der Em- pathie zusammenhängt, aktiviert er nicht unbedingt empathische Reaktionen, kann aber empathische Reaktionen über den Enrwicklungsverlauf hinweg sta- bilisieren, bzw. umgekehrt können empathische Reaktionen den Übergang zur Enrwicklung einer höheren moralischen Stufe fördern.

Die Frage, ob prosoziales Verhalten unter Gleichaltrigen eher empathiebasiert und weniger normorientiert ist als prosoziales Verhalten gegenüber Erwachsenen, ist differenziert zu beanrworten. Gegenüber einem gleichaltrigen Opfer zeigten die Mädchen einer relativ niedrigeren Enrwicklungsstufe signifikant mehr pro- soziales Verhalten als gegenüber einem erwachsenen Opfer, während sich die Mädchen einer relativ höheren Enrwicklungsstufe dem gleichaltrigen und erwach- senen Opfer gegenüber gleichermaßen prosozial verhielten. Dabei sind die Art der Situation und des mit der Hilfe verbundenen Aufwandes (Kosten) relevant.

Moralisches Denken wird eher angeregt, wenn interne Konflikte erzeugt werden und eine Entscheidung für oder gegen Hilfeleistung erforderlich ist. Entspre- chende Enrwicklungsbedingungen können z. B. im Schulkontext bei Interaktion zwischen Gleichaltrigen auftreten, wenn Annäherungs- und Vermeidungstenden- zen als interne Motivkonflikte auftreten und auf Grund subjektiver Reflektion schließlich eine Entscheidung für oder gegen Hilfeverhalten erfolgt.

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Zusammenfassend ist zu sagen, dass die aus motivationstheoretischer Sicht ge- stellte Frage nach der Wirksamkeit von moralischem Denken für prosoziales Verhalten zunächst eine Klärung der Bedeutung prosozialer Werte und Normen für die handelnde Person erfordert. Wenn moralische Überzeugungen hand- lungswirksam werden, sind sie eher verbunden mit moralischen Emotionen und der Verbindlichkeit der Norm für das eigene Selbstkonzept, bei gleich- zeitiger Fähigkeit, selbstbezogene Bedürfnisse zurückzustellen (vgl. Nunner- Winkler, 1996). Dies geht weit über spontanes, durch empathisches Mitgefühl aktiviertes Hilfeverhalten hinaus. Ja, hier liegt nahe anzunehmen, dass bei mo- ralischer Motivation die Fähigkeit aufgebaut ist, zu spontanen altruistischen Impulsen Stellung zu nehmen und nur dann gemäß diesen Impulsen zu han- deln, wenn dies mit den moralischen Normen und deren Verbindlichkeit für die eigene Identität übereinstimmt. Damit hängt die nächste Frage nach der Entwicklung des Selbstkonzeptes und der persönlichen Verbindlichkeit von prosozialen Werten für das Selbstkonzept und für die Identität sowie die Fähig- keit zur Emotionsregulation zusammen.

2.2.6 Selbstkonzept, Selbstwirksamkeitsüberzeugung, Geselligkeit und Schüchternheit

In der Entwicklung von prosozialer Motivation spielen auch andere Funktionsbe- reiche eine Rolle. Zusammenhänge zwischen prosozialem Verhalten und dem Selbstkonzept sind vielfältig und gehen auf die ganz frühe Entwicklung und die Vorläuferbedingungen prosozialen Verhaltens zurück. Danach ist zum einen em- pirisch nachgewiesen, dass prosoziales Verhalten und Mitgefühl (Empathie) erst auftreten können, wenn das Kind die kognitiven Voraussetzungen für ein Selbst- konzept entwickelt hat. Dies ist zum Ende des zweiten Lebensjahres der Fall, wenn eine Selbst-Andere-Differenzierung erfolgt (Bischof-Köhler, 1989). Zu fra- gen ist, ob das Selbstkonzept und damit zusammenhängende Überzeugungen eigener Selbstwirksamkeit sowie auch andere soziale Motive wie Dominanz für das prosoziale Verhalten eher eine hemmende oder eine förderliche Funktion haben.

Zum Zusammenhang zwischen Selbstkonzept und prosozialem Verhalten liegen inkonsistente Befunde vor. Dies hängt u. a. damit zusammen, dass jüngere Kin- der noch kein stabiles Selbstkonzept entwickelt haben und vor allem noch nicht zuverlässig über ihr "Selbstkonzept" Auskunft geben können. Im Übrigen wer- den in der Literatur sehr unterschiedliche Verfahren zur Erfassung des Selbst- konzeptes auf Grund unterschiedlicher theoretischer Konzeptionen verwendet (vgl. Filipp & Mayer, in diesem Band).

Friedlmeier (1993), der das Selbstwertgefühl von Kindern mit Rosenberg's Selbstwertskala erfasst hat, konnte deutliche Zusammenhänge zwischen Selbst-

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wertgefühl (Vergleich von Extremgruppen) und Empathie als Aspekt der pro- sozialen Motivation bei 8- und lI-jährigen Jungen feststellen. Je höher das Selbstwertgefühl, desto geringer die empathischen Reaktionen. Hingegen besteht kein Zusammenhang zwischen der Selbstaufmerksamkeit (als Disposition) und der prosozialen Motivation von Jugendlichen (Trommsdorff & Friedlmeier, 2001).

Den Einfluss von Selbstwirksamkeitsüberzeugungen belegen auch Srudien, nach denen bei älteren Kindern eine positive Selbsteinschätzung eher mit pro- sozialem Verhalten zusammenhängt. Dies entspricht den zahlreichen Befunden sozial psychologischer Srudien zum Zusammenhang zwischen positiver Selbst- bewertung und Hilfsbereitschaft (vgl. Überblick von Bierhoff, 1990, 2002).

Wenn sich Personen wohl und zufrieden fühlen, können sie sich eher mit den Bedürfnissen von anderen beschäftigen. Außerdem ist dann die Überzeugung eigener Kompetenz (Selbstwirksamkeit), erfolgreich helfen zu können, eher höher.

In diesem Zusammenhang ist zu fragen, ob andere, in der sozialen Entwicklung ausgebildete Persönlichkeitsmerkmale wie Geselligkeit und Schüchternheit (z. B. Rubin & Rose-Krasnor, 1992) eine förderliche oder hemmende Funktion für prosoziales Handeln hat. Geselligkeit ("sociability") fördert prosoziales Ver- halten von Kindern (im Vorschul- und Schulalter), u. a. wenn es darum geht, spontan und ohne Aufforderung Hilfe zu leisten, oder einer unvertrauten an- statt einer vertrauten Person zu helfen. Schüchterne Kinder zeigen weniger Hilfe, bzw. greifen sie eher weniger häufig ein, insbesondere wenn soziale Inter- aktion mit Helfen verbunden ist. Schüchterne Kinder sind sozial gehemmt; sie würden gerne Kontakt aufnehmen, wagen dies aber nicht (Asendorpf, 1998).

Ungesellige Kinder suchen von sich aus weniger Kontakt zu anderen auf und kommunizieren weniger, während schüchterne Kinder ihr Kommunikations- verhalten in bestimmten Situationen, z. B. bei Anwesenheit von Fremden redu- zieren.

Asendorpf (1993) unterscheidet zwei Formen von Schüchternheit: Gehemmt- heit gegenüber dem Unbekannten und Gehemmtheit aus Angst vor Ablehnung durch Gleichaltrige. Die erste Form beruht nach Kagan (2000) aufTempera- mentunterschieden, die schon ab dem 2. Lebensjahr festgestellt werden können und relativ stabil sowie relativ unabhängig vom elterlichen Erziehungsstil und Ausmaß von sozialen Kontakten auch mit Gleichaltrigen sind. Es liegen auch Hinweise für eine neurophysiologisch nachweisbare individuelle Sensibilität gegenüber unbekannten Reizen vor. Die zweite Form von Schüchternheit be- ruht auflernerfahrungen, die eine Bewenungsangst und Furcht vor Ablehnung durch andere bewirken. Für Prognosen über die weitere Entwicklung muss zwi- schen diesen beiden Formen differenziert werden. Schüchternheit in Bezug auf

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unbekannte soziale Situationen und Interaktionspartner ist ein relativ stabiles Persönlichkeitsmerkmal und kann langfristige Folgen haben (vgl. Kerr, 2000). Die andere Variante der Schüchternheit (Bewertungsangst) kann bei veränder- ter Umgebung (z. B. Wechsel der Kindergruppe) vermindert werden und die andernfalls zu erwartenden Folgen für das Selbstwertgefühl können ausbleiben.

Sozial kompetente Kinder können jedoch Techniken entwickeln, mit den Aus- lösebedingungen für Schüchternheit oder ihrer Schüchternheit angemessen umzugehen.

Zu klären ist des Weiteren, ob und inwieweit sich Kinder prosoziale Werte zu Eigen machen und als Teil ihres Selbstkonzeptes übernehmen (internalisieren).

Die persönliche Norm und Verantwortung, anderen zu helfen, sind Bedingun- gen für Altruismus (Schwartz & Howard, 1984; Staub, 1978). Für Erwachsene nehmen Colby und Damon (1992) zwei relevante Bedingungen an: (a) per- sönliche Sicherheit und Klarheit über die eigenen Überzeugungen und die per- sönliche Verantwortung, in Übereinstimmung mit solchen Überzeugungen handeln zu müssen, und (b) die Einheit von Selbstkonzept und moralischen Zielen; damit ist die Integration von moralischen und persönlichen Zielen in die eigene Identität gemeint. Dies wird während der Identitätsentwicklung, der Entwicklung moralischen Denkens und prosozialer Motivation im Jugendalter relevant (vgl. Fuhrer & Trautner, in diesem Band).

Für eine motivationstheoretische Analyse prosozialen Verhaltens ist daher die Art des Selbstkonzeptes, einschließlich der wahrgenommenen Selbstwirksam- keit, die Internalisierung von prosozialen Werten und die Entwicklung von mo- ralischem Denken zu berücksichtigen.

2.2.7 Stabilitätprosozialer Motivation im Entwicklungsverlauf

In der Motivationstheorie geht man von überdauernden Motiven ("motives") aus, die durch bestimmte Situationen angeregt werden können ("motivation") (vgl. Atkinson, 1958). Für die Frage der Stabilität von prosozialer Motivation über die Lebensspanne sind verschiedene Fragen zu behandeln: Was sind die Komponenten prosozialen Verhaltens, wie entwickeln sie sich, wie hängen sie untereinander und mit anderen Personenmerkmalen zusammen, und wie wer- den sie verhaltenwirksam? üb eine solche Disposition aufgebaut worden ist, kann nur durch Längsschnittstudien geprüft werden, in denen das Verhalten in möglichst verschiedenen Situationen beobachtet wird.

Situationsübergreifende Stabilität. Zunächst wäre zu fragen, wie konsistent und stabil ein Motiv über bestimmte Situationen hinweg ist (z. B. altruistisch moti- viertes prosoziales Verhalten, vgl. Yarrow et al., 1976) und mit welchen Perso-

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nenmerkmalen dies zusammenhängt. Entsprechend wäre zu fragen, welche kog- nitiven und emotionalen Merkmale für prosoziale Motivation eine Rolle spie- len und mit welchen anderen Personen merkmalen diese zusammenhängen, z. B. mit bestimmten Werthaltungen, Normen und moralischen Urteilspräfe- renzen, Attribuierungsstilen, mit dem Selbstkonzept einer prosozialen Person, mit der Überzeugung von hoher Selbstwirksamkeit für Hilfeverhalten oder mit Emotionsregulationsfähigkeiten.

In sozialpsychologischen Studien, in denen systematisch Einflüsse von situativen Bedingungen auf Hilfeverhalten variiert werden, besteht weniger Interesse an Fragen der Stabilität von Verhaltensmustern bei den jeweiligen Personen, son- dern an förderlichen und hinderlichen Bedingungen für prosoziales Verhalten, wobei teilweise auch Personenmerkmale wie Alter und Geschlecht mit berück- sichtigt werden. Aus entwicklungspsychologischer Sicht ist jedoch die Frage relevant, ob situative Bedingungen wie das Ausmaß des Unglücks, Alter und Status der Unglücksperson prosoziales Verhalten von Kindern je nach deren Entwicklungsalter beeinflussen (Trommsdorff & Friedlmeier, 1999,2001).

Dazu haben wir verschiedene experimentelle Studien an Kindern durchgeführt.

So haben wir Veränderungen der Aufmerksamkeitsfokussierung bei erlebtem Unglück einer anderen Person induziert. Es zeigte sich, dass sich die Kinder der verschiedenen Bedingungen weder in ihren emotionalen Reaktionen noch in ihrem Hilfeverhalten unterschieden. Jedoch beeinflusste die Ablenkungsbedin- gung die Zusammenhänge zwischen emotionalen Reaktionen und Hilfever- halten: Die positiven Zusammenhänge zwischen Empathie und prosozialem Verhalten und die negativen zwischen Distress und prosozialem Verhalten wur- den jeweils deutlich abgeschwächt. In anderen Studien haben wir den Status der Unglücksperson variiert: 8-jährige Kinder zeigten angesichts des Unglücks eines Gleichaltrigen und eines Erwachsenen ähnlich hohe Empathie; jedoch halfen sie dem gleichaltrigen Opfer mehr und gaben dem Erwachsenen mehr Ratschläge. Sie passten also ihr prosoziales Verhalten dem Bedürfnis (bzw. der Lage) des jeweiligen Opfers an. Diese Befunde lassen sich als situationsüber- greifende Effekte von prosozialer Motivation interpretieren. In weiteren Studien wurde die Dramatik des Unglücks variiert. Das Ausmaß des Unglücks hatte je- doch keinen Einfluss auf die emotionalen Reaktionen und das Hilfeverhalten der Kinder. Das wiederholte Erleben von Hilfsbedürftigkeit (unabhängig von der Art des Unglücks) reduzierte jedoch die Hilfsbereitschaft der Kinder.

Diese Experimente belegen, dass Situationen nicht also solche "objektiv" wirken, sondern je nachdem, wie sie wahrgenommen und verarbeitet werden, in unter- schiedlicher Weise die prosoziale Motivation beeinflussen. Dabei übernehmen die verschiedenen emotionalen und kognitiven Komponenten des prosozialen Motivs eigene Funktionen. So ist die Selbstwahrnehmung (einschließlich der

(24)

Beurteilung eigener Kontrolle und Wirksamkeit) in Relation zur hilfsbedürftigen Person eine wichtige Komponente in der Aktualgenese prosozialer Motivation, die jedoch in der Ontogenese ausgebildet wird.

Stabilität über den Entwicklungsverlauf Gewisse Konsistenzen im prosozialen Verhalten lassen sich also über verschiedene Situationen nachweisen. Was ist aber mit den Stabilitäten über verschiedene Zeitpunkte? Sie sind umso gerin- ger, je jünger die Kinder sind (Dunn & Munn, 1986; Friedlmeier, 2000; Strayer

& Roberts, 1989). Im Schulalter werden die Stabilitäten deutlicher, insbeson- dere wenn sich das prosoziale Verhalten auf ähnliche Ziele richtet und wenn prosoziales Verhalten über viele einzelne Verhaltensweisen aggregiert wird. Bei Jugendlichen sind die Zusammenhänge von prosozialem Verhalten und Empa- thie über verschiedene (auch natürliche) Situationen sowie auch über verschie- dene Maße (peer-ratings, Beobachtungen) sehr hoch (vgl. Übersicht von Eisen- berg & Fabes, 1998).

Zu bedenken ist aus motivationstheoretischer Sicht, dass als "prosozial" erschei- nendes Verhalten ganz unterschiedlich motiviert sein kann, nämlich egoistisch, altruistisch oder normorientiert (vgl. Karylowsky, 1982). Ein Verhalten kann auch situationsüberdauernd prosozial erscheinen, aber je nach Situation unter- schiedlich motiviert sein (z. B. durch Machtmotiv, Dominanzmotiv, Mfiliations- motiv). Betrachten wir im Folgenden das empathiebasierte, altruistisch moti- vierte prosoziale Verhalten.

In unserer eigenen Längsschnittstudie an Kindern haben wir erhebliche in- terindividuelle und intraindividuelle Differenzen im Entwicklungsverlauf von prosozialem Verhalten und den ihm vorausgehenden emotionalen Reaktionen beobachtet sowie in den Zusammenhängen zwischen beiden (Friedlmeier &

Trommsdorff, 2002b; Trommsdorff & Friedlmeier, 2001). Einer der zentralen Befunde unserer Längsschnittstudien war eine deutliche Zunahme an Empathie und eine Abnahme von Distress bei den von uns über vier Zeitpunkte hinweg untersuchten Mädchen (im Alter von 2, 3, 5, und 8 Jahren). Allerdings beruhte dieser Befund auf Analysen von Mittelwerten über die Kinder. Bei genauerer Betrachtung zeigten sich jedoch Veränderungen in den Entwicklungsverläufen der Emotionen bei einzelnen Kindern. Dabei war der Zeitpunkt der Verände- rung für die einzelnen Kinder unterschiedlich. Erstaunlicherweise zeigten sich für prosoziales Verhalten hingegen keine signifikanten Veränderungen über den Entwicklungsverlauf.

Diese Befunde weisen daraufhin, dass emotionale Reaktionen als Komponenten der prosozialen Motivation durchaus deutlichen Veränderungen im Entwick- lungsverlauf unterliegen. Das prosoziale Verhalten hingegen wies eine erhebliche Stabilität im Sinne eines Personenmerkmals auf. Das galt auch für die einzelnen

(25)

Aspekte des Verhaltens, wie Persistenz und Variabilität von Hilfeverhalten. Dies ist umso erstaunlicher, weil das Kind im Entwicklungsverlauf deutliche Verän- derungen des Kontextes erfährt. So ist das Verhalten der Mutter (Feinfühlig- keit) nicht stabil über die Zeit (Volland & Trommsdorff, 2003); auch außerhalb der Familie, in den Beziehungen mit Gleichaltrigen, erlebt das Kind Verände- rungen (Friedlmeier, 2000). In unserer Längsschnittstudie zeigten sich allerdings deutliche Langzeitwirkungen mütterlicher Feinfühligkeit auf die Entwicklung von prosozialem Verhalten des Kindes im Vorschulalter (Volland & Tromms- dorff, 2003).

Besonders aufschlussreich waren unsere im Längsschnitt gewonnenen Befunde zur entwicklungsabhängigen Veränderung des Zusammenhanges von emo- tionalen Reaktionen und prosozialem Verhalten. Das Ausmaß der Empathie bestimmte die Intensität des prosozialen Verhaltens in allen vier Altersgruppen (2-, 3-, 5-, 8-Jährige). Bei lI-jährigen Mädchen nahm der Zusammenhang zwischen emotionalen Reaktionen und Hilfeverhalten deutlich ab, wenngleich noch Zusammenhänge zwischen Empathie und Hilfeverhalten bestanden.

Diese Befunde belegen eine hohe Stabilität von altruistischer, empathiebasier- ter prosozialer Motivation mit Beginn in der frühen Kindheit (Trommsdorff &

Friedlmeier, 2001).

Zusammenfassung. Die geringe Stabilität von prosozialer Motivation und ihrer Komponenten in den ersten Lebensjahren ist nicht besonders überraschend, wenn man davon ausgeht, dass über emotionale Faktoren hinaus kognitive Pro- zesse (u. a. moralisches Denken, Selbstkonzept) wirksam werden, die erst im weiteren Entwicklungsverlauf und teilweise erst im Jugendalter zum Tragen kommen. Andererseits liegt die Annahme eines stabilen bzw. sich stabilisieren- den prosozialen Motivs als überdauernde Disposition nahe, wenn man die sich selbst verstärkenden Prozesse im Entwicklungsverlauf berücksichtigt, die u. a.

eine Stabilisierung von Handlungszielen und Verhaltensgewohnheiten bei ent- sprechender Passung mit selegierten Interaktionspartnern und sozialen Situa- tionen bewirken.

3 Entwicklung von Aggressivität 3.1 Konzept und Fragestellungen

Antisoziales Verhalten umfasst vielfältiges negatives Verhalten, das physische oder mentale Verletzungen oder Eigentumsverlust mit einschließt. Dieses Verhalten kann aber muss nicht eine Verletzung der Rechtsnormen beinhalten (Coie &

Dodge, 1998). Es umfasst Delinquenz und Kriminalität, sowie Verhalten das nur störend wirkt, das aber auch destruktive Wirkung hat.

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