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Und es gibt ihn doch

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Academic year: 2022

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ENICUM

Und es gibt ihn doch

Nichts nahm ich dem Samichlaus übler als die Tatsache, dass es ihn gar nicht gibt.

Geliebt hatte ich den alten Herrn in Rot- Weiss, der mich und meine Geschwister jedes Jahr besuchte. Er nahm nie die Rute, sondern verteilte nur freundliche Ermah- nungen und Süssigkeiten. So hatten es ihm seine Auftraggeber befohlen, die Ge- waltausübung durch mythische Gestalten ablehnten. Mit sechs Jahren schöpfte ich Verdacht, dass gewisse nächtliche Akti- vitäten meiner Eltern im Zusammenhang mit den Segnungen des Samichlauses ste- hen könnten. Neben seinem persönlichem Besuch am 6. Dezemer lieferte er einen Adventskalender, ein Zuckerhäuschen, Grittibänze am Nikolaustagmorgen und an jedem Adventssonntag Süssigkeiten in den Schuhen, ausserdem wurde er – nicht das Christkindli, welches nur strikt theolo- gische Aufgaben hatte – für die Gaben- tische am Heiligabend verantwortlich ge- macht. Ich fragte meine Mutter, ob meine Freunde Recht hätten, wenn sie sagten, dass es den Weihnachtsmann nicht gäbe.

Als Tochter eines Professors für Philoso- phie und Psychologie antwortete sie sibyl- linisch: «Für den, der an ihn glaubt, gibt es ihn.» Meine Beobachtungen hatten auch ergeben, dass der Samichlaus ab Ende November überall präsent war: zu Hun- derten in Einkaufspassagen und Waren- häusern, in Schokolade, Gips, Porzellan, auf Keks- und Coca-Cola-Dosen. Daher schwenkte ich die Ungläubigen im Kindsgi mit dem Argument wieder auf die Seite

der Glaubenden, dass die gesamte Er- wachsenenwelt ja wohl kaum überall Weihnachtsmänner dulde, wenn es ihn nicht doch als Prototyp gäbe. Als Kind rea- lisiert man eben nicht, wozu die Werbung fähig ist und was sie uns vorgaukelt … Die Coca-Cola-Company hatte 1931 den schwedischen Werber Naddon Sundblom beauftragt, einen Santa Claus in den Fir- menfarben Rot-Weiss zu kreieren, der die zuckrige braune Koffein-Brause trank, um sich damit für Kaminklettern und Ge- schenke verteilen zu dopen. Im Winter verkaufte sich das Getränk nämlich kaum noch – seit 1929 das Kokain im Gebräu weggelassen worden war. Ausserdem, so verkündete ich im Kindsgi, hätte ich ihn selbst gesehen und am Bart gezupft, der echt gewesen sei. Schon damals verfiel ich also in das Denkmuster von Medizinern, an das zu glauben, was wir sehen und einen echten Bart mit der Evidenz für die Existenz eines Phänomens zu verwech- seln. Inzwischen weiss ich zumindest, dass ich zu irrigen Meinungen und falschen Schlussfolgerungen neige und dass es schmerzen kann, wenn man entdeckt, dass es das gar nicht gibt, an was man lie- bend geglaubt hat. Diesen Schmerz kann man sich nur ersparen, wenn man ohne Glauben, Liebe und Vertrauen lebt. Man riskiert dann, real existierende Sachen zu Unrecht als nichtexistent abzutun. Mei- ner heiss geliebten, zehn Jahre älteren Schwester wollte ich als Sechsjähriger sowohl den Verlust des geliebten Sami-

chlaus wie den Schmerz darüber ersparen und bat meine Mutter, ihr nicht zu sagen, dass es ihn nicht gibt. Das war zwar lieb gemeint, aber falsch. Meine Schwester wusste nicht nur schon, dass es ihn nicht gibt, sondern sie gehörte der wissenden Verschwörergruppe an, die mich vorsätz- lich in Unkenntnis des wahren Sachverhal- tes gelassen hatte. Das fand ich nicht okay, bis meine Mutter mir darlegte, dass meine Schwester dies ja auch nur aus denselben edlen Motiven getan hatte, die mich bewegt hatten. Mein Sohn teilte mir jetzt mit, dass er seine Kinder ohne Sami- chlaus, Osterhase und andere Mythen erziehen wird. Anderenfalls mache er sich der Verarschung von minderjährigen Ab- hängigen schuldig. Engagiert verteidigte ich daraufhin das Recht auf Mythen und Märchen und schilderte mein Credo, lie- ber zu irren und den Irrtum schmerzhaft zu erkennen, als allem Wunderbaren zu misstrauen. Ausserdem gibt es den Weihnachtsmann. Glaube ich zumindest ...

Denn solange ein Samichlaus ein Kind zum Jubeln bringt und dessen Grossvater strahlen lässt und in ihm Erinnerungen an wunderbare Weihnachtszeiten weckt, solange gibt es den Samichlaus. Es geht hier um’s Prinzip des gütigen Schenkers.

Es ist so wertvoll und liebenswert, dass es von einem gemieteten Student mit ange- klebtem Bart oder von der schauspiele- risch begabten Nachbarin mit Altstimme verkörpert werden darf. Frohen Advent, frohe Weihnachten!

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