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AUFKLÄRUNG. Interdisziplinäre Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte

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AUFKLÄRUNG

Interdisziplinäre Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. Jahrhunderts

und seiner Wirkungsgeschichte

In Verbindung mit der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts

Herausgegeben von Günter Birtsch, Karl Eibl, Norbert Hinske unter Mitwirkung von Klaus Gerteis und

Rudolf Vierhaus sowie Carsten Zelle

Jahrgang 11, Heft 1, 1996

Thema:

Die Bestimmung des Menschen

Herausgegeben von

Norbert Hinske

F E LI X M EI N E R V E R L AG

H A M BU RG

(3)

Unverändertes eBook der 1. Aufl. von 1999.

ISBN 978-3-7873-1397-6· ISBN eBook 978-3-7873-3484-1 · ISSN 0178-7128

© Felix Meiner Verlag 1998. Das Jahrbuch und alle in ihm enthaltenen Beiträge sind urheber- rechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsge- setzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. www.meiner.de/aufklaerung

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INHALT

Einleitung. Eine antike Katechismusfrage. Zu einer Basisidee der deutschen

Aufklärung. Von Norbert Hinske . . . 3

Abhandlungen

Clemens Schwaiger: Zur Frage nach den Quellen von Spaldings Bestimmung

des Menschen. Ein ungelöstes Rätsel der Aufklärungsforschung . . . 7 Giuseppe D' Alessandro: Die Wiederkehr eines Leitworts: Die ,,Bestimmung

des Menschen" als theologische, anthropologische und geschichtsphilosophische Frage der deutschen Spätaufklärung . . . 21 Karl Eibl: Goethes Faust als poetisches Spiel von der Bestimmung des Menschen 49

Kurzbiographie

Horst Schröpfer: Christian Gottfried Schütz (1747-1832) . . . 67

Textedition

Johann Joachim Spalding: Die Bestimmung des Menschen

Diskussionen und Berichte

Norbert Hinske: Wolffs empirische Psychologie und Kants pragmatische Anthropologie. Zur Diskussion über die Anfänge der Anthropologie im

69

18. Jahrhundert . . . 97 Hans Reiss: Ueber die Buchmacherey. Zu Kants letzter Schrift und dessen Kritik an

Möser und Nicolai, mit einer Korrektur eines Details in Kant und Möser von

Reinhard Brandt . . . 109 Horst Schröpfer: Eine kleine Sammlung von Silhouetten aus Jenas klassischer Zeit 11 S Martin Mulsow: Polyhistorie und Litterärgeschichte im frühen 18. Jahrhundert:

Jakob Friedrich Reimmann (1668- 1743). Ein Tagungsbericht . . . 123 Cecilia Campa: Legge, poesia e mito. Giannone, Metastasio e Vico fra 'tradizione'

e ,trasgressione' nella Napoli degli anni Venti de! Settecento. Internationaler

Kongreß in Neapel, 3.-5. März 1998 . . . 129 Rezensionen . . . 131

Aufkllnlng ISSN 0178·7128, Jaluiang 11 , Heft 1. 1996. ISBN 3-7873-1397-4 lnterdisziplintre Halbjahresschrift zur Erfol$Cbuog des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte.

In Verbindung mit der Deutschen Gesellschaft fllr die Erforschung des 18. Jahrhunderts herausgegeben von GOnter Birtsch, Karl Eibl und Norbert Hinske. - Redaktion: Dr. Marianne Willems, Ludwig-Muimilians-Universitlt Manchen, Institut Rlr deutsche Philologie. Schellingstra8t 3, D-80799 MOnchen, Telefon (0 89) 21 80-62 20

C> Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1999. Printed in Germany. - Gedruckt mit UnterstOtzung der Deutschen For-

schungsgemeinschaft. - Die Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen Bcitrtge sind urheberrechtlich geschDttt. Jede Verwer- tung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzullssig und strafbar.

Das gilt insbesondere Rlr Vervielflltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Der Satz von der moralischen Bestimmung unserer Natur, nur allein in einem ins Unendliche gehenden Fortschritte zur völligen Angemessenheit mit dem Sitten- gesetze gelangen zu können, ist von dem größten Nutzen

Einern vernünftigen, aber endlichen Wesen ist nur der Progressus ins Unendliche, von niederen zu den höheren Stufen der moralischen Vollkommenheit, möglich

Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Riga 'l 788, 220 (Wyttenbach, I 346 f.)

in intellectueller und moralischer Rücksicht ist der Mensch ohne alle Widerrede eines unendlichen Progresses fähig

Von allen Wesen, die wir kennen, ist der Mensch das einzige, bestimmt ewig nach einem unerreichbaren Ziele zu streben, ewig unvollkommen zu seyn, und immer vollkommener zu werden

Johann Ith, Versuch einer Anthropologie oder Philosophie des Menschen nach seinen körperlichen Anlagen,

Winterthur 21803 (11794f.), 539 (Wyttenbach, I 347f.)

Nennt man nun jene völlige Uebereinstimmung mit sich selbst Vollkommenheit, in der höchsten Bedeutung des Worts, wie man sie allerdings nennen kann: so ist Vollkommenheit das höchste unerreichbare Ziel des Menschen; Vervollkommnung ins unendliche aber ist seine Bestimmung

Johann Gottlieb Fichte, Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, Jena und Leipzig 1794, 18 (Wyttenbach, I 349)

(6)

EINLEITUNG

NORBERT HINSKE Eine antike Katechismusfrage Zu einer Basisidee der deutschen Aufklärung

Zu den facetten-, quellen- und aufschlußreichsten Textauswahlen der deutschen Aufklärung zählen die drei Sammelbände Aussprüche des reinen Herzens und der philosophirenden Vernunft über die der Menschheit wichtigsten Gegenstände von Wyttenbach (dem späteren Lehrer von Karl Marx) und Neurohr.' Wie die rasch folgende zweite, „vennehrte und verbesserte" Auflage zeigt, waren sie zu ihrer Zeit fast schon so etwas wie ein Erfolgsbuch. Aber auch heute noch sind sie eine wahre Fundgrube. Wer sich über das Ideenensemble der deutschen (Spät-)Auf- kJärung orientieren will, wird sie mit Gewinn zur Hand nehmen. Denn sie ordnen die Texte nach großen Leitideen, teilweise nach sozusagen zeitlosen Stichwörtem (Mensch, Freiheit, Pflicht, Tugend, Wahrheit usw.) und teilweise nach solchen, in denen das spezifische Gedankengut der Aufklärung zum Ausdruck kommt. Die tragenden Grundideen der deutschen Aufklärung sind da zu einem guten Teil ver- sammelt, ihre Programmideen (Aufklärung, Erziehung) und Kampfideen (Schwär- merei) ebenso wie ihre Basisideen.2 Zu den letzteren zählt auch die Idee der Bestimmung des Menschen. 3 Bereits im Vorwort zur zweiten Auflage heißt es:

„Ueberall lagen sie" - die ,,Aussprüche des natürlichen moralischen Gefühls, die- ser verschleierten Anzeige des göttlichen Gesetzes der Sittlichkeit" - ,,zum Grun- de, und ließen den Menschen, auch bey allen seinen Verirrungen, nie ganz die Bahn zu seiner erhabenen Bestimmung verfehlen. "4 Deutlicher kann man die Schlüsselrolle der Idee der Bestimmung des Menschen kaum noch betonen.

' Johann Hugo Wynenbach und Johann Anton Neurohr, Aussprüche des reinen Herzens und der philosophirenden Vernunft Ober die der Menschheit wichtigsten Gegenstände. Zusammen getragen aus den Schriften älterer und neuerer Denker, 3 Bde„ Leipzig 21801 f. Der Titel der ersten Auflage lautete:

Aussprüche der philosophirenden Vernunft und des reinen Herzens Ubcr die der Menschheit wichtigsten Gegenstände mit besonderer Rocksicht auf die kritische Philosophie, Bd. 1, Wien 1797, Bel 2 und 3, Jena 1798 ff.

2 Vgl. Norbert Hinske, Die tragenden Grundideen der deutschen Aufl<lArung. Versuch einer Typo- logie, jetzt in: Raffaele Ciafardone, Die Philosophie der deutschen Auflc!Arung. Texte und Darstellung, Deutsche Bearbeitung von Norbert Hinske und Rainer SJ>C(;ht, Stuttgart 1990, 407-458. -Während das Heft 1/ 1 (1986) dieser Zeitschrift „Eklektik, Selbstdenken, MOndigkeit" einer Programmidee der deut- schen Aufklärung und das Heft 3/ 1 (1988) ,,Die Auflc!Arung und die Schwl!rmer'' einer ihrer Kampf- ideen gewidmet ist, hat das vorliegende Heft eine ihrer großen Basisideen zum Thema.

3 Vgl. Aussprüche (wie Anm. 1), Bd. 1, 342- 407.

• Ebd. Bd. I, Vllf.

Aufklärung 11/I 0 Felix Meiner Verlag, 1999, ISSN 0178-7128

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4 Norbert Hinske

Exzerpiert werden unter diesem Stichwort nun aber nicht etwa nur Texte des 18. Jahrhunderts. Obwohl die Karriere des Begriffs ja offenkundig mit Spaldings immer wieder aufgelegter Betrachtung über die Bestimmung des Menschen von 17485 ihren Anfang nimmt, nennt die Sammlung von Wyttenbach und Neurohr - wie bei zahlreichen anderen Stichwörtern auch - zunächst ganz andere Autoren.

Zu ihren Gewährsmännem zählen allen voran Konfuzius, Zoroaster, Aristoteles, Cicero, Epiktet, Persius (und zwar mit der gleichen Passage, der auch Spalding sein Motto entnimmt6) und Marc Aurel. Eben das erklärt auch die Formulierung des Untertitels: ,,Zusammen getragen aus den Schriften älterer und neuerer Den- ker''. Offenbar haben Wyttenbach und Neurohr in der Frage nach der Bestimmung des Menschen, die dem heutigen Leser fast wie eine Katechismusfrage der christ- lichen Theologie vorkommen mag, so etwas wie ein zeitloses Thema gesehen.

Ähnliches gilt offenkundig auch für Spalding, der seine Schrift ja nicht von unge- tahr mit einem Persius-Zitat beginnt.7

Bemerkenswert ist nun aber die Art und Weise, in der Wyttenbach und Neurohr mit jenen Gewährsmännem aus der Antike umgehen. Am Beispiel Ciceros läßt sich das aufs plastischste illustrieren. Zitiert wird aus De officiis: „Unsre Bestim- mung ist ernsthaft; unsre Geschäfte sind groß und wichtig. - In der That, wenn wir bedenken, was der Mensch sey, welche Kräfte in seiner Natur liegen, zu welcher Vortrefflichkeit er gelangen könne: so werden wir [ ... ]"s. Das stammt wortwört- lich aus Garves berühmter Übersetzung.9 Im Text des Originals dagegen sucht man den Begriff der Bestimmung bzw. ein lateinisches Pendant dazu vergeblich. Dort heißt es statt dessen: „Neque enirn ita generati a natura sumus, ut ad ludum et io- cum facti esse videamus, ad severitatem potius et ad quaedam studia graviora at- que maiora."10 „Atque etiam, si considerare volemus, quae sit in natura <nostra>

exce//entia et dignitas, intellegemus, quam sit turpe diftluere luxuria et delicate ac molliter vivere, quamque honestum parce, continenter, severe, sobrie."11 Die Frage nach der Bestimmung des Menschen steht für Wyttenbach und Neurohr also in der Tradition der Frage nach der „natura" bzw. der „excellentia et dignitas" des Men- schen.

s Vgl. die Neuausgabe der Auflage von 1768 mit den Varianten der ersten Auflage von 1748 unten 69ff., sowie zu den tiefgreifenden Umarbeitungen der verschiedenen Auflagen: Norbert Hinske, Das stillschweigende Gespräch. Prinzipien der Anthropologie und Geschichtsphilosophie bei Mendelssohn und Kant, in: Michael Albrecht, Eva Engel und Norbert Hinske (Hg.), Moses Mendelssohn und die Kreise seiner Wirksamkeit, TObingen 1994, 139 f.

' Vgl. den Beitrag von Clemens Schwaiger, Zur Frage nach den Quellen von Spaldings Bestim- mung des Menschen. Ein ungelöstes Rätsel der Aufklärungsforschung, unten 13.

1 Die von Wolfgang Erich MOller besorgte Neuausgabe: Johann J. Spalding, Die Bestimmung des Menschen. Die Erstausgabe von 1748 und die letzte Auflage von 1794 [Theologische Studien-Texte, Bd. 1), Waltrop 1997, verhunzt das Motto, das ja gewissennaßen den Schlüssel zum Ganzen an die Hand gibt, gleich zweimal; S. 3 liest man: „Quid samus?", S. 36: „Quidfamus?".

1 Aussprilche (wie Anm. 1 ), Bd. I, 342 f.

9 Abhandlung tlber die menschlichen Pflichten in drey Büchern aus dem Lateinischen des Marcus Tullius Cicero übersetzt von Christian Garve, Breslau 21784 (11783), 78 und 80.

10 M. Tullius Cicero, De officiis, 1 29, 103.

II Ebd. 130, 106.

(8)

Einleitung 5

Fast noch aufschlußreicher ist das - möglicherweise von Spalding inspirierte - Persius-Exzerpt. Zwar bringt die Frage:

Wer sind wir, Sterbliche? zu welchen Pflichten, Zu welchem Stand, nach wessen Plan gebohren?12

Quid sumus, et quidnam victuri gignimur?l3

aufs treffendste das Problem der Bestimmung des Menschen zum Ausdruck. Auch hier aber sucht man den entsprechenden Begriff vergebens. Statt dessen liest man:

Wozu hat mich die Gottheit auserkohren?

Und welchen Posten hat sie mir vertraut?

Dem forschet nach. 14

[ ... ) quem te Deus esse

Jussit, et humana qua parte locatus es in re?

Disce [ ... ) u

Die begriffsgescbichtlicbe, am Auftreten eines bestimmten Terminus orientierte Methode stößt hier an ihre Grenzen. Sie bedarf offenkundig der Ergänzung durch problem- und ideengeschicbtliche Fragestellungen, ohne die die geschichtlichen Hintergründe nicht zureichend zu erhellen sind.

Was die Vertreter der deutschen Aufklärung angeht (von den Franzosen werden in diesem Abschnitt nur Bonnet und Condorcet mit einbezogen, bei denen der Be- griff der Bestimmung bezeichnenderweise nicht auftritt16), so ist es für die drei Bände insgesamt charakteristisch, daß sie die unterschiedlichsten Autoren und Traditionen unbekümmert nebeneinander stellen. Gleich zu Beginn des ersten Ban- des stößt man als Motto des Ganzen auf zwei Zitate, das erste von Carl Christian Erhard Schmid, das zweite von Johann Gottlieb Fichte (Fichte war von 1794 bis 1799 gleichfalls Professor in Jena). Die beiden erbitterten Antipoden, die zu die- sem Zeitpunkt bereits heillos zerstritten waren, sind hier also noch auf einer und derselben Seite traulich vereint. Auch der Abschnitt über die „Bestimmung des Menschen" schöpft demgemäß aus den verschiedenartigsten Quellen der Literatur und Philosophie: Mendelssohn und Kant, Lessing, Goethe und Schiller, Fichte und Schelling, aber ebenso Frühkantianer wie Karl Ludwig Pörschke, Karl Hein- rich Heydenreich oder Sebastian Mutschelle, und viele andere mehr. Einige dieser Texte sind in den Seitenfüllsein des vorliegenden Heftes abgedruckt. Sie doku- mentieren zugleich auch die Vielschichtigkeit der Thematik, die im Rahmen eines

11 Aussprüche (wie Anm. 1), Bd. l, 343.

13 A. Persius Flaccus, Satirae IU 67.

14 Aussprüche (wie Anm. 1), Bd. 1.

" Persius, Satirae III 17 ff.

16 Ein durchaus anderes Bild bietet z.B. gleich anschließend der Abschnitt "Erziehung", Aussprüche (wie Anm. 1), 408-460. Obwohl nicht unerheblich ldlrur, finden sich hier immerhin fllnfTexte fran- zösischer und drei englischer Provenienz. Auch das ist ein Beleg daftlr, daß es sich bei der Basisidee der Bestimmung des Menschen um ein Charalcteristilcum der deutschen Auflcllrung handelt.

(9)

6 Norbert Hinske

Zeitschriftenheftes immer nur schlaglichtartig zu beleuchten ist. Eine umfassende Darstellung der Probleme steht bis heute aus.17

Das gilt auch für ihre lange Vorgeschichte. Der Hinweis auf die antiken Autoren ist jedoch alles andere als eine bloß historische Arabeske. Er ist vielmehr zugleich von hohem sachlichen Interesse. Er führt aufs anschaulichste vor Augen, daß die Antwort auf die Frage nach der Bestimmung des Menschen zuerst und zunächst nicht etwa im Felde der Offenbarungstheologie, so wichtig diese auch sein mag, zu suchen ist. Die Antwort hat sich vielmehr zunächst auf die Bauform des Men- schen zu gründen, auf charakteristische Merkmale seiner Existenz, die sich durch die verschiedensten Epochen in dieser oder jener Form durchhalten. Diese Merk- male zeichnen die Grundlinien vor, in denen sich die Suche nach einem erfüllten Leben zu bewegen hat, und schließen bestimmte Existenzentwürfe a limine aus.

Wer das nicht wahrhaben will, überschätzt oder mißversteht die Möglichkeiten menschlicher Selbstbestimmung und unterliegt einem anthropologischen Mißver- ständnis. Der Machbarkeitswahn, eine der großen Illusionen unserer vorgeblich so illusionslosen Gegenwart, betrifft ja nicht etwa nur die technischen oder gesell- schaftlichen Möglichkeiten des Menschen. Er tangiert auch die individuelle Lebensgestaltung, die sich nicht ungestraft über bestimmte anthropologische und individuelle Vorgaben hinwegsetzt. Der Mensch hat nicht die Freiheit, aus seinem Leben zu machen, was er gerade will. Das gilt, wie insbesondere Mendelssohn be- tont hat, ebenso für das Spezifische der conditio humana wie für das Individuelle.

Wo Einsichten dieser Art verlorengehen, ist der Weg zum Psychotherapeuten nicht weit. Eben deshalb stellt sich auch die Frage, ob die mangelnde Aktualität der Thematik, zumindest was die deutsche Bewußtseinslage 1999 angeht, tatsächlich ein zureichender Beweis dafür ist, daß die Frage nach der Bestimmung des Men- schen inzwischen der Sache nach obsolet geworden sei. Für das Selbstverständnis der deutschen Aufklärung und ihre Anthropologie ist sie jedenfalls von grund- legender Bedeutung.

freilich ist Spaldings Erfolgsbuch über Die Bestimmung des Menschen von 1748 nur einer der großen Impulse, der die beginnende Karriere der philosophi- schen Anthropologie im 18. Jahrhundert maßgeblich prägt. Ein zweiter, gewiß nicht weniger wichtiger Impuls geht von Christian Wolffs Psychologia empirica des Jahres 1732 aus, die schon bald eine ganze Flut von ähnlich gearteten Psycho- logien oder Erfahrungsseelenlehren nach sich zieht. Eben deshalb enthält dieses Heft im Rahmen der „Diskussionen und Berichte" sozusagen als Merkposten auch einen eigenen Beitrag über „Wolffs empirische Psychologie und Kants pragmati- sche Anthropologie". Erst wenn man beide Traditionslinien zusammenfügt, erhält man ein halbwegs repräsentatives Bild von der philosophischen Anthropologie des 18. Jahrhunderts.

11 Zu einzelnen Aspekten vgl. Hans M. Wolff, Die Weltanschauung der deutschen Aufklärung in geschichtlicher Entwicklung, Bern und München 21963 ('1949), 13ff.; Norbert Hinske, Mendelssohns Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? oder Über die Aktualität Mendelssohns, in: ders. (Hg.), Ich handle mit Vernunft ... Moses Mendelssohn und die europäische Aufklärung, Hamburg 1981, 93 ff.:

Mendelssohns Verankerung der Aufklärung in der Idee der Bestimmung des Menschen. Dort auch wei- tere Literaturhinweise.

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ABHANDLUNGEN

CLEMENS SCHWAIGER

Zur Frage nach den Quellen von Spaldings

Bestimmung des Menschen

Ein ungelöstes Rätsel der Aufklärungsforschung

Die Philosophie der Aufklärung zeichnet sich nicht zuletzt dadurch aus, daß sie die uralte Frage des Menschen nach sich selbst mit neuer Entschiedenheit stellt und zu beantworten sucht. „Was ist der Mensch?" - so faßt bekanntlich der späte Kant sein philosophisches Fragen überhaupt zusammen.1 Diese einfache und doch ein- dringliche Fonnulierung ist aber keineswegs erst eine Erfindung Kants. Wie in vie- len anderen Fällen geht auch bei der Frage nach dem Wesen des Menschen der klassisch gewordenen Prägung durch Kant schon eine jahrzehntelange Diskussion in der deutschen Aufklärung voraus. So heißt es wortwörtlich bereits im Jahre 1748 bei dem reformierten Theologen August Friedrich Wilhelm Sack, dem Nestor der neologischen Bewegung: „Was ist der Mensch? woher kommt er? wozu ist er bestimmt? und welche sind die Mittel, die ihn zu seiner Bestimmung bringen kön- nen?"2 In der gleichzeitig erscheinenden Betrachtung über die Bestimmung des

Menschen

des lutheranischen Neologen Johann Joachim Spalding wird dieselbe Frage in prima persona aufgeworfen: „was bin ich?" „Es ist doch einmal der Mühe wert zu wissen, warum ich da bin und was ich vernünftigerweise sein soll."3 Der Titel dieser wieder und wieder aufgelegten Abhandlung liefert der deutschen Auf- klärung das Stichwort für eine ihrer markantesten Basisideen. Daß der Mensch über seine Bestimmung Klarheit gewinnt, gilt dem 18. Jahrhundert als eigentlicher Sinn aller Bildung. Obwohl dieses Problem von Beginn der Aufklärung an im Zen- trum ihres Interesses stand, bürgerte sich der Ausdruck 'Bestimmung des Men- schen' erst im Anschluß an Spaldings so benanntes Bändchen ein. Spätestens aber

1 Vgl. Logik Jlsche IX,251-io; Logik POlitz [Metaphysik L2) XXVlll,S33:w-S34,; Brief an Carl Friedrich St!udlin vom 4. Mai 1793 (XI,42910-16; alle Stellen zitiert nach: Kant's gesammelte Schrif- ten, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften [und Nachfolgern), Berlin [und Leipzig]21910tT. [IJ900tT.)); Marginalie des Rostocker Anthropologiemanuskriptes (Immanuel Kant, Werke in zehn Binden, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd.10, Darmstadt 41983 ['1964), 623). - Zum relativ seltenen und splten Auftauchen der Frage bei Kant siebe auch Reinhard Brandt, D' Artagnan und die Urteilstafel. Über ein Ordnungsprinzip der europäischen Kulturgeschichte (1 , 2, 3/4), Stuttgart

1991, 129.

2 August Friedrich Wilhelm Sack, Vertheidigter Glaube der Christen. Fllnftes Stilck, Berlin 1748, 6.

3 Johann Joachim Spalding, Die Bestimmung des Menschen. Die Erstausgabe von 1748 und die letzte Auflage von 1794, hg. von Wolfgang Erich Müller, Waltrop 1997, 16 und 3.

Aufklärung 1111 C Felix Meiner Verlag, 1999, ISSN 0178-7128

(11)

8 Clemens Schwaiger

seit der Kontroverse zwischen Moses Mendelssohn und Thomas Abbt über die Be- st!mmung des Menschen, die l 764 durch das Erscheinen der siebten Auflage die-

se~ Erfolgsbüchleins ausgelöst worden ist, ist das Thema aus der Epoche nicht mehr wegzudenken.4

Während die Wirkungsgeschichte von Spaldings Bestseller zumindest in jüng- ster Zeit eine etwas stärkere Beachtung in der Forschung gefunden hat,5 sind die Quellengeschichte und der Entstehungshintergrund dieser Schrift und damit die Gründe für das Aufkommen dieser anthropologischen Fragerichtung noch weithin unerhellt. Darin spiegelt sich die generelle Unsicherheit bezüglich der Herkunft und der Einordnung der Neologie wider.6 Bereits der Frage nach möglichen Vor- läufern für den Titelbegriff selbst ist bislang kaum nachgegangen worden. 7 Auch hinsichtlich der maßgeblichen lnspirationsquelle von Spaldings erstem großen Wurf sind die Einschätzungen geteilt. Sehen die einen das Werk zunächst stark von Leibniz-Wolffschem Gedankengut getragen, ist es für andere ganz aus Shaftes- buryschen Anregungen erwachsen. s Im folgenden soll durch ein genaueres Stu-

• Vgl. Hans M. Wolff, Die Weltanschauung der deutschen Auflclärung in geschichtlicher Entwick- lung, &m und München 21963 (' 1949), 13; Norbert Hinske, Die tragenden Grundideen der deutschen Auflcllrung. Versuch einer Typologie, in: Raffaele Ciafardone, Die Philosophie der deutschen Auf- klärung. Texte und Darstellung. Deutsche Bearbeitung von Norbert Hinske und Rainer Sprecht, Stutt- gart 1990, 407-458, hier 434f., sowie die Quellentexte in Kap. 1 dieses Bandes unter dem Titel „Der Mensch und seine Bestimmung" (39-119).

' Vgl. z.B. Stefan Lorenz, Skeptizismus und natürliche Religion. Thomas Abbt und Moses Men- delssohn in ihrer Debatte Ober Johann Joachim Spaldings Bestimmung des Menschen, in: Michael Albrecht, Eva J. Engel und Norbert Hinske (Hg.), Moses Mendelssohn und die Kreise seiner Wirksam- keit, TObingen..1994, 113- 133; Norbert Hinske, Das stillschweigende Gespräch. Prinzipien der Anthro- pologie und Geschichtsphilosophie bei Mendelssohn und Kant, in: ebd„ 135-156.

6 Vgl. Bruno Bianco, „Vernünftiges Christentum". Aspects et problemes d'interpretation de la neo- logie allemande du XVIII' siecle, in: Archives de Philosophie 46 ( 1983), 179-218, hier l 82f.

1 In den europäischen Nachbarsprachen scheinen vergleichbare Termini schon früher in Gebrauch gewesen zu sein. So heißt es etwa bei dem apologetischen Schriftsteller Jacques Abbadie, Traite de la verite de la religion chrctienne, Bd. 1, Amsterdam 71729 (Rotterdam 11684), 11.5, 157 lapidar: „la Reli- gion fait la destination de l'homme." In der deutschen Übersetzung dieses Werks, die Spalding bereits in seiner allerersten Schrift, wenngleich in anderem Zusammenhang, zitiert (De calumnia Juliani Apostatae in confirmationem christianae religionis versa exercitatio tbeologica, Greifswald 1735, 13 [§ 10] und 25 (§21]), wird dieser Ausdruck noch als 'Endzweck des Menschen' wiedergegeben (zu- mindest in der mir vorliegenden Ausgabe: Gründlicher Tractat von der Warheit und Gewißheit der christlichen Religion, Leipzig und Rudolstadt 1739, 151). Angeregt durch die angeführte Bemerkung Abbadies wirkt das Schlagwort im Lateinischen schon vor Spalding titelbildend bei Christoph Friedrich Schott und Philipp Ulrich Moser, Dissertatio moralis, de praecipua hominis destinatione, TObingen 1739 (vgl. 9 [§ 8] und 14 [§ 13]). Auch der Greifswalder Magister Peter Ahlwardt, der auf Spaldings geistige Entwicklung Mitte der dreißiger Jahre entscheidenden Einfluß nahm (vgl. Johann Joachim Spalding's Lebensbeschreibung von ihm selbst aufgesetzt und herausgegeben mit einem Zusatze von dessen Sohne Georg Ludewig Spalding, Halle 1804, 7 f.), hat eine freilich undatierte und unveröffent- lichte ,.Abhandlung Ober die wahre Bestimmung des Menschen" (Friedrich Schlichtegroll, Nekrolog auf das Jahr 1791 , Zweytes Jahr. Erster Band, Gotha 1792, 369) hinterlassen. - Eine genauere sprach- geschichtliche Untersuchung der hier nur angedeuteten Wurzeln von Spaldings Begriffsverwendung bleibt ein Desiderat der Forschung.

• Vgl. z.B. Alexander Altmann, Moses Mendelssohn. A Biographical Study, University, Alabama 1973, 132: „Spalding's meditation was a faithful mirror of tbe Leibniz/Wolffian philosophy". Sehr skeptisch gegenober einer ROckfübrung von SpaldJngs Denken auf Einflüsse von Leibniz und Wolff äußert sich dagegen Giorgio Tonelli in seiner Rezension des genannten Werks in: l.ntcmational Studies

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Zur Frage nach den Quellen von Spaldings Bestimmung des Menschen 9

dium von Spaldings Werdegang und Schriftstellerei bis 1748 versucht werden, etwas mehr Liebt in das Dunkel seiner geistigen Ursprünge zu bringen.9 Dabei wird sich der junge Spalding als entschiedener Verfechter der Wolffschen Meta- physik zeigen, der dann aus seiner Übersetzungsarbeit am Oeuvre Shaft.esburys literarisch wie inhaltlich entscheidende Anstöße für seine Bestimmung des Men- schen empfängt. Es versteht sich dabei von selbst, daß angesichts der offenen For- schungslage das Aufkommen des anthropologischen Interesses bei Spalding hier nur in einer anfanghaften Spurensuche verfolgt werden kann. Ausgeklammert werden muß ferner die weitere Entwicklung seines Denkens, die sich in ständigen, oft einschneidenden Umarbeitungen späterer Auflagen dokumentiert und sein Bändchen zu einem getreuen Spiegelbild der philosophischen Wandlungen in der zweiten Jahrhunderthälfte macht.

/. Der kämpferische Anwalt der Wolf!schen Philosophie

Als Spalding im Frühjahr 1731 die Universität Rostock bezieht, um Theologie zu studieren, herrscht dort noch uneingeschränkt die althergebrachte aristotelisch- scholastische Orthodoxie. Die kleine, glanzlose Landesuniversität ist damals an einem Tiefpunkt ihrer Entwicklung angelangt. Zwar wird Wolff schon seit etwa 1724 oft als Thema philosophischer Dissertationen gewählt, aber dann nur zu po- lemischen Zwecken.10 „Man eiferte wider die Wolfische Philosophie großentheils als gegen ein Ungeheur, welches man nur vom Hörsagen kennete."11 Spaldings Entdeckung der Wolffianischen Philosophie etwa Anfang 1734 vollzieht sich außerhalb der Universität durch private Lektüre und hat wie bei manch anderen Zeitgenossen den Charakter einer ungemein befreienden Erleuchtung.12 Die phi- losophische Abschlußdissertation preist den ausgezeichneten Nutzen, den die jüngst erneuerte, von den Spitzfindigkeiten der Scholastiker gesäuberte Metaphy-

sik und zumal die philosophische Gotteslehre der Theologie erweisen könnten.13 Diese Arbeit zeigt noch ein recht verhülltes Bekenntnis zur Wolffianischen Philo- sophie, da sie bei ihrer Endredaktion durch den nicht eben Wolffisch gesinnten Praeses Peter Christian Kaempffer noch komprornißlerisch zurechtgestutzt wor-

in Philosophy 6 (1974), 222-223. Ähnlich sieht auch Joseph &:hollmeier, Johann Joachim Spalding.

Ein Beittag zur Theologie der AuflcJAnmg, GOtersloh 1967, 16-18 u.O., die Herausbildung von Spal- dings genuiner Position erst durch Shaftesbwys spltere Einwirlcung und nicht schon durch die frOhe Wolff-Lek!Ore veranlaßt.

9 Als Ausgangspunkt sehr hilfreich filr die Einordnung Spaldings in die geistige Situation der Zeit ist die leider unveröffentlicht gebliebene Dissertation von Dominique Soure!, La vie de Johann Joachim Spalding. Problemes de la theologie allemande au

xvnr

siecle, 2 Bde„ Paris 1980, bes. Bd. I, 91-146 und Bd. II, 87-132.

10 Vgl. Gustav Kohfeldt, Rostocker Professoren und Studenten im 18.Jahrhundert. &:hilderungen nach den Akten und nach zeitgenössischen Berichten, Rostock 1919, 114.

11 Spalding, Lebensbesclueibung (wie Anm. 7), 3f.

12 Vgl. ebd., 6f.

•l Vgl. Spalding, Disscrtatio philosophica, quaestionum metaphysicarum bigas sistens, Rostock 1736,3-20.

(13)

10 Clemens Schwaiger

den ist.14 Doch in den folgenden außeruniversitären Publikationen unternimmt Spalding einen literarisch originellen Werbefeldzug für die Sache Wolffs. In einer 'Bittschrift' beklagt sich die personifizierte Wolffsche Weltweisheit über ihre man- gelnde Aufnahme in dem kaltsinnigen Rostock, während ihr sonst fast überall der Aufenthalt gestattet werde. Sie werde nur deshalb beschuldigt, dem Christentum gefährlich und schädlich zu sein, weil man lediglich gegen ein selbstgemachtes Gespenst kämpfe, nicht aber sie selbst vor Augen habe. In Wirklichkeit aber be- streite niemand den Atheismus mit stärkeren Waffen als sie.15 In dieselbe Kerbe schlägt eine weitere Propagandaschrift, ein 'Traum' über die Vorteile einer gesun- den Philosophie. Die wahre Weltweisheit, womit zweifelsohne die Wolffsche Phi- losophie gemeint ist, fliehe nicht vor dem Unglauben, sondern sei mit ihrem Licht dazu behilflich, daß man den Weg zur geoffenbarten Religion finde.16

II. Der erfolgreiche Herold von Shaftesburys Philosophie

Schon in diesen ersten Gelegenheitsarbeiten kündigt sich Spaldings spätere litera- rische Meisterschaft an. Sein schriftstellerischer Ehrgeiz ist es denn auch, der ihn in der Folgezeit in die Arme Shaftesburys treibt und zu seiner zweiten geistigen Er- weckung führt.17 Der englische Starautor ist bereits in der ersten Hälfte des

18. Jahrhunderts in Deutschland kein Unbekannter mehr, aber erst Spaldings Über- setzungen verhelfen seinem Denken zum Durchbruch auf breiter Front.'8 Über- haupt haben die Englischübersetzungen der Neologen einen maßgeblichen Anteil an der nunmehr einsetzenden Anglomanie. Als einer der Männer der ersten Stunde überträgt der pommersche Theologe die beiden Hauptwerke des englischen Moral- philosophen ins Deutsche.19 Die Inquiry concerning Virtue and Merit und The Moralists. A Philosophical Rhapsody, die später den zweiten Band der Characte- risticks bilden, machen nach Shaftesburys eigener Ansicht das Herzstück seiner Philosophie aus.20 Doch auch die übrigen Werke Shaftesburys müssen angesichts

14 Vgl. Spalding, Lebensbeschreibung (wie Anm. 7), 12.

" Vgl. Spalding, Der Wolffischen Philosophie Bittschriffi an die Academie zu R•• ans Licht ge- stellet von einem Liebhaber der Wahrheit, Frankfurt und Leipzig 1738, S f. und 16. Die Schrift, die in der Bibliographie von Schollmeier, Johann Joachim Spalding (wie Anm. 8), ungenau zitien (233) und als in deutschen Bibliotheken nicht mehr vorhanden bezeichnet wird (239), lag mir in einer Kopie der Staatlichen Bibliothek Amberg (Sign.; 4 Phys. 221) vor.

16 Vgl. Johann Joachim Spalding, Die Vonheile der Herrschaft einer gesunden Weltweisheit, in einem Traume, an den Hm. M. Zach. David Schulemann, in; Belustigungen des Verstandes und des Witzes 2 (1741), 145-157.

11 Vgl. Spalding, Lebensbeschreibung (wie Anm. 7), 13 und l 7f.

11 Vgl. Herbert Grudzinski, Shaftesburys Einfluss auf Chr. M. Wieland. Mit einer Einleitung Qber den Einfluss Shaftesburys auf die deutsche Literatur bis 1760, Stuttgart 1913, 13.

" Vgl. Die Sittenlehrer oder Erzehlung philosophischer Gesprllche, welche die Natur und die Tu- gend betreffen. Aus dem Englischen des Grafen von Schaftesbury übersetzt. Nebst einem Schreiben an den Uebersetzer, Berlin 1745; Untersuchung über die Tugend, aus dem Englischen des Grafen von Schaftesbury übersetzt. Nebst einem Schreiben des Uebersetzers, Berlin 1747.

10 Vgl. Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury, Miscellaneous Reflections IV. I, in ; ders„ Standard Edition, Bd.1.2. Stuttgan-Bad Cann.statt 1989, 228-23 1.

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Zur Frage nach den Quellen von Spaldings Bestimmung des Menschen 11 der nahezu uneingeschränkten Begeisterung für den wahl- und geistesverwandten Engländer als wichtige Quellen für Spaldings eigenes Schaffen und zumal für sei- ne Bestimmung des Menschen im Blick behalten werden.21

Den aufinerksamen Zeitgenossen fiel hauptsächlich die sprachlich-literarische Nähe zwischen dem englischen Grafen und seinem kongenialen deutschen Inter- preten in die Augen.22 Vor allem der glänzende Einfall, die Betrachtungen über die Bestimmung des Menschen in Form eines inneren Dialogs zu gestalten, dürfte sich allem Vermuten nach der Anregung Shaftesburys verdanken. Denn letzterer hatte in einer eigenen Schrift mit dem Titel Soliloquy: or, Advice to an Author die Vorzüge der Methode des Selbstgesprächs hervorgehoben.23 Während das direkte Erteilen von Ratschlägen in Sachen Lebensweisheit gewöhnlich nicht gern ertra- gen werde und jedes philosophische Verfahren, das die geringste Ähnlichkeit mit einem Katechismusunterricht aufweise, abschreckend wirke, sei sozusagen die Verdopplung seiner selbst in zwei Personen eine ideale Methode der Prüfung. In- dem man seine eigenen Vorstellungen anrede und sich vertraulich an sie wende, sei man nämlich gezwungen, Farbe zu bekennen und Partei zu ergreifen.24

Den Wink von Shaftesburys Autorenratgeber zu beherzigen lag für Spalding zudem von seiner äußeren Situation her nahe, in der er sich bei der Niederschrift befand. Die durchwachten Nächte am Bett seines todkranken Vaters, in denen sei- ne Gedanken über die Bestimmung des Menschen nach und nach Gestalt annah- men, boten ihm genügend Gelegenheit zur stillen Einkehr in sich selbst. Das all- mähliche Dahinsterben des über Monate hinweg schwer leidenden Kranken, des- sen Pflege der Sohn alleine zu bewerkstelligen hatte, gaben diesen unfreiwilligen Mußestunden unerbittlichen existentiellen Emst.2S Spalding war im übrigen nicht

21 Daß die unObersetzten Schriften nicht einbezogen wurden, bezeichnet eine Grenze des ansonsten verdienstvollen, detaillierten Systemvergleichs zwischen Spalding und Shaftesbury bei Schollmeier, Johann Joachim Spalding (wie Anm. 8), 145- 156. Nicht zuzustimmen ist m. E. auch der These des Verfassers, Spalding stehe Hutcheson alles in allem nAber als Shaftesbury (vgl. 156). Wenn diese Ein- schätzung tatsAchlich zutrtfe, hAtte Spalding dann nicht viel eher die Schriften des schottischen Moral- philosophen übersetzen mOssen, die damals dem deutschen Publikum ebenfalls noch unbekannt waren?

22 Eine zweifelsfreie Identifikation zwischen dem unbekannten Shaftesbury-Übersetzer und dem anonymen Verfasser der 'Bestimmung' gelang aufgrund der Gleichheit des Stils Friedrich Christoph Oetinger, Jnquisitio in sensum communem et rationem, TObingen 1753, Nachdruck: Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, 264, was Spalding, Lebensbeschreibung (wie Anm. 7), 31, mit Recht als bemerlcens- wert notierte. Oetinger war freilich ein kompetenter Beurteiler in dieser Sache, denn er übte sich zu dieser Zeit ebenfalls als Übersetzer des englischen Grafen (vgl. die kommentierte Bibliographie zeit- genössischer Übersetzungen von Christian Friedrich Weiser, Shaftesbury und das deutsche Geistes- leben, Leipzig und Berlin 1916, Nachdruck: Dannstadt 1969, 558).

n Laut Weiser, Shaftesbury und das deutsche Geistesleben (wie Anm. 22), 557, handelt es sich da- bei um das einzige Werlc Shaftesburys, das schon vor (1738) bzw. dann nochmals während Spaldings Übersetzertlitigkeit ( 1746) in deutscher Sprache vorgelegt wurde. Zu den Motiven dieser ersten Über- setzungen, die im Gefolge Gottscheds entstanden sind, siehe Lothar Jordan, Shaftesbury und die deut- sche Literatur und Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Ein Prolegomenon zur Linie Gottsched - Wieland, in:

Germanisch-Romanische Monatsschrift NF 44 (1994), 410- 424, bes. 413- 415 .

" Vgl. Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury, Soliloquy: or, Advice to an Author 1.1, 1.2 und IU.2, in: ders., Standard Edition, Bd.1.1 , Stuttgart-Bad Cannstatt 1981 , 40-47, 84-87 und 230-233.

u Vgl. Spalding, Lebensbeschreibung (wie Anm. 7), 32f. und 35; Briefe von Herrn Spalding an Herrn Gleim, Frankfurt und Leipzig 1771 , 22 (Brief vom 8. MArz 1748). In diesem Schreiben, nur

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12 Clemens Schwaiger

der einzige, der den Überzeugungsgewinn zu nutzen versuchte, den ein derartiges Soliloquium verspricht. Auch der Berliner Hofprediger Sack, der mit ihm seit 1745 bekannt war und ihm als leuchtendes Vorbild auf dem Weg zum aufgeklärten Theo- logen voranging,26 arbeitet mit demselben literarischen Mittel. In seinem schon zi- tierten, gleichzeitig erschienenen apologetischen Werk Vertheidigter Glaube der Christen bedient er sich „der Art und Weise eines Selbst-Gesprächs, da ein nach- denckender Mensch, der die Warbeit sucht, mit sich selbst redet".27 Dennoch haben beide offenbar unabhängig voneinander dieselbe Darstellungsform gewählt, denn Spalding bekam die Schriftenreihe seines theologischen Freundes erst nach der Drucklegung seines eigenen Bändchens zu Gesicht, konnte aber dann eine gewis- se Enttäuschung über die auffällige Parallele nicht verhehlen.28

Bei allen drei Autoren handelt es sich nun aber bei dieser innerseelischen Rhe- torik nicht lediglich um einen raffinierten Kunstgriff oder gar um einen billigen Trick, der beliebig austauschbar wäre. Vielmehr ist die Vergewisserung des Ich im Gespräch mit sich selbst gerade da unabdingbar, wo es um den Menschen und sei- ne Bestimmung geht. Dort, wo die ureigensten Belange auf dem Spiel stehen und die persönliche Einsicht unverzichtbar ist, wäre es fehl am Platz, sich in fremde Angelegenheiten zu mischen und auf das Urteil anderer zu vertrauen. Als Ignorant erwiese sich, wer viel von Welt- und Menschenkenntnis daherredete, aber an Selbsterkenntnis nicht einmal gedacht hätte. Obwohl es also von der Sache her vordringlich wäre, in puncto menschlicher Bestimmung zunächst mit sich selbst ins reine zu kommen, setzt der Mensch die Prioritäten gewöhnlich genau anders- herum. Zumal Shaftesbury hat als eigentümliches Paradox immer wieder ein- drucksvoll herausgestellt, daß man gerne vor dem Studium seiner selbst davon- läuft, um sich desto intensiver auf die Erforschung äußerer Gegenstände stürzen zu können. Während viele um uns herum liegende Dinge, die keine Beziehung auf un- sere wahren Interessen hätten, gewissenhaft bis ins kleinste Detail verfolgt würden, stellten wir uns niemals ernsthaft die Frage, wer oder was wir seien und worin un- ser Endzweck bestünde. Für alles und jedes hätten wir eine gewisse Haushaltungs- kunst, nur diese innerliche Anatomie studierten die wenigsten unter uns. Niemand schäme sich hierin sogar der tiefsten Unwissenheit, sondern wir überließen es gütig anderen, dies für uns zu untersuchen, und vertrauten dabei bereitwillig den erstbesten. 29 Gegenüber dieser gleichsam natürlichen Tendenz zur Flucht in die

wenige Wochen nach dem Tod des Vaters 8n den Dichter und Freund Johann Wilhelm Ludwig Gleim gerichtet, gibt Spalding n.ebenbei auch eine aufschlußreiche Selbstcharakterisierung: „ Vielleicht haben Sie sich hierbey [=bei der Lektüre der 'Bestimmung'] mit Lust cinmaI einen geistlichen Verfasser vor- gestellet, der das glaubt, was er schreibt; und darin bitten Sie dann eben so gJ"Oß Unrecht nicht" (25 f.).

26 Vgl. Spalding, Lebensbeschreibung (wie Anm. 7), 22f. und 27-29.

21 August Friedrich Wilhelm Sack, Vertheidigter Glaube der Christen. Erstes Stück, Berlin 1748, 33.

21 Vgl. Briefe von Herrn Spalding an Herrn Gleim (wie Anm. 25), 28f.: ,,Daß Herrn Sacks Schrift die Einrichtung hat wie meine Bestimmung, das gelllllt mir nicht allerdings. Ich werde sein Nachahmer heisscn müssen. Doch Sacken kann ich endlich schon nachahmen. Ich hoffe es nAchstens zu bekom- men, was er zur Vertheidigung des Glaubens der Christen drucken lassen" (Brief vom 16. MArz 1748);

siehe auch 31-33 und 40.

29 Vgl. Shaftcsbury, Miscellaneous Reflcctions Ill.I (wie Anm. 20), 192-197; dcrs., Untersuchung Ober die Tugend U.1.2 (wie Anm. 19), 124; ders., Die Sittenlehrer 11.4 (wie Anm. 19), 134.

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